Fehlerteufel

 

 

 

Mit der unerwarteten Mitteilung, er müsse unbedingt für ein paar Stunden nach Aachen, überraschte mich Böhnke bei der Vorbereitung unseres Mittagessens aus der Dose. „Ich muss mir die Ermittlungsakte über den ,Metzger-Fair besorgen“, erklärte er mir, „ich möchte gerne konkret unsere Ermittlungsergebnisse mit Fleischmanns Geschichte vergleichen.“

Er solle ruhig fahren, redete ich Böhnke zu. Ich hätte genügend zu tun, meinte ich mit einem Fingerzeig auf die Bücher. „Nur eine Bitte habe ich: Bringen Sie die AZ mit.“ Ich verspürte keine Lust, allein durch die Landschaft zu laufen, um mir in Simmerath oder Imgenbroich eine Tageszeitung zu besorgen.

Böhnke hatte es offensichtlich eilig. Ehe ich mich versah, hatte der Kommissar die Ravioli verschlungen, saß im Wagen und fuhr davon.

Ich machte es mir im Wohnzimmer vor dem Kachelofen bequem. Obwohl wir erst Oktober hatten, war es schon ungemütlich kalt in der Eifel. Der mit Buchenscheiten befeuerte Kachelofen strahlte die behagliche Wärme aus, die ich brauchte, um konzentriert mit Fleischmanns Werk arbeiten zu können.

Wie in Fleischmanns Erstling, so blieb ich auch im zweiten Buch, das seinen Ausgang im plötzlichen Ableben eines Jahrmarktbeschickers hatte, beim Lesen bei den wenigen und deshalb auffälligen Schreibfehlern hängen. Sie waren im Prinzip die einzigen Mängel, die ich in dem Werk finden konnte, von einer technischen Angelegenheit einmal abgesehen. Dieser Roman war in einer anderen Druckerei hergestellt worden. Aber nach einem Blick in die Folgebücher stellte ich fest, dass lediglich das erste Werk in einer Druckerei in Niederkrüchten, alle anderen dagegen in Eschweiler gedruckt worden waren. Wahrscheinlich hatte diese Druckerei günstigere Herstellungskosten angeboten als die erste, vermutete ich. Bei passender Gelegenheit würde ich mir von Wagner die Bestätigung meiner Vermutung holen, nahm ich mir vor.

Bei der Schreibweise von Aachen hatte Fleischmann offenbar Probleme. Mehrfach fehlt ein „a“. Beim Kontrollieren der Satzfahnen hatte sowohl er als auch die Lektorin das mehrmalige „Achen“ überlesen. Aber auch dieser Fehler war erklärlich: Wenn ich etwas immer wieder lese, dann erkenne ich es als richtig, obwohl es falsch geschrieben ist.

Beim dritten Roman konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Ich fand einfach nichts, nicht einmal einen Schreibfehler, einen Verdreher, geschweige denn Fakten oder Hinweise, die auf bestimmte Personen oder Verhaltensweisen aufmerksam machen konnten. Ich stolperte nur über allenfalls einen grammatikalischen Streitfall, ob es nämlich „des Buchs“ oder „des Buches“ hieß. Aber das war wirklich ein Problem nur für Germanisten, nicht für Leser.

Der Roman war schlichtweg perfekt. Falls er eine wahre Begebenheit in veränderter Form wiedergab, hatte Fleischmann optimal gearbeitet.

Im vierten Roman fand ich ein im Text freistehendes „r“. Ansonsten war der Roman wieder ein Genuss sondergleichen.

Mehr und mehr fand ich Gefallen an diesem Autor, dessen schriftstellerische Karriere schon wieder zu Ende war. Ich hätte Fleischmann gerne kennen gelernt. Zugleich zollte ich Renate Leder Anerkennung. Sie hatte offenbar ein Juwel an der Hand gehabt und ich verstand mittlerweile, weshalb sie sich Sorgen um Fleischmann gemacht hatte. Im Nachhinein musste ich der Lektorin Abbitte leisten. Ich hätte sie vielleicht doch nicht so brüsk abweisen sollen. Jetzt saß ich gewissermaßen in der Tinte und versuchte, Renate bei einer Sache zu helfen, von der ich nicht einmal wusste, ob es sie überhaupt gab. Aber ich fühlte mich in ihrer Schuld.

Es machte eigentlich wenig Sinn, die technischen Fehler in den Romanen überhaupt zu notieren. Ich schrieb sie auf, weil sie das Einzige waren, was überhaupt zu merken war, Flüchtigkeitsfehler, unbeabsichtigte Defizite, die einen nach Perfektion strebenden Menschen massiv verärgern können.

Insofern hätte ich mich an Fleischmanns Stelle auch über den kleinen Mangel im fünften Roman maßlos aufgeregt. Darin war Hoffnung einmal nur mit einem „f“ geschrieben.

Das sechste Buch schließlich war absolut fehlerfrei, sofern ich das mit meiner nachlassenden Konzentration beurteilen konnte.

Ich pustete durch, als ich das letzte Buch zur Seite legte, und erschrak, als ich beim Blick auf die Uhr erkannte, dass es schon auf den späten Abend zuging. Ich saß wenig begeistert in meinem Sessel und musste mir eingestehen, nicht sonderlich produktiv gewesen zu sein. ,Was hatte mir die Arbeit gebracht?’, fragte ich mich. ,Nichts, oder zumindest nicht viel’, gab ich mir als Antwort.

 

 

Die Arbeit war für die Katz’ gewesen, so kam es mir vor.

Ich war froh, als ich Böhnkes Dienstwagen knirschend auf den Kiesweg zum Hühnerstall einbiegen hörte. Ich war gespannt, was Böhnke mir zu berichten hatte, und hoffte, dass er die Zeitung dabei hatte.

Der Kommissar brachte nicht nur den Lesestoff mit. In seinem Einkaufskorb hatte er auch zwei heiße, in Kartons eingepackte Pizzen verstaut, die er bei der Rückfahrt über Simmerath gekauft hatte. „Ich habe mir gedacht, dass Sie nichts gegessen haben“, vermutete er nicht zu Unrecht, als er unsere Mahlzeit auf dem Tisch abstellte. Die zusammengefaltete Zeitung schob er auf eine Ablage hinter sich außerhalb meiner Griffweite. Mit Heißhunger schob ich mir das klebrige, nicht sonderlich appetitlich riechende, aber dennoch leckere Käse-Teig-Gemisch in den Mund. „Was haben Sie herausbekommen?“, fragte ich mit vollem Mund kauend.

Böhnke ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schluckte erst den Bissen herunter, ehe er sagte: „Ich möchte wissen, woher Fleischmann so gut informiert war. Der hat in seinem Roman mehr an Informationen verpackt, als wir besitzen.“

„Wieso?“

Der Kommissar kaute erneut sehr lange an einem Pizzastück, ehe er sich zu einer Antwort bequemte. „Beispielsweise hat Fleischmann in seinem Roman geschrieben, dass die Rinder zunächst auf Weiden in den Niederlanden gebracht wurden und von dort nach Deutschland, was wir bisher nicht wussten. Meine Kollegen haben im Laufe des Tages festgestellt, dass unser Metzger tatsächlich so vorgegangen sein muss. Aber wir kennen den Ort jenseits der Grenze noch nicht.“ Darüber hinaus gebe es weitere Kleinigkeiten, die den Ermittlern bislang nicht bekannt gewesen seien. Böhnke winkte ab. „Das ist aber jetzt nicht mehr mein Thema. Ich habe meine Kollegen darauf aufmerksam gemacht, sie sollen sich drum kümmern.“

„Warum weiß Fleischmann mehr als die Polizei?“ So schnell wollte ich das Thema nicht abhaken.

Als Böhnke schweigend weiterkaute, dachte ich laut nach: „Er weiß mehr, weil er die besseren Informationen hat. Das bedeutet aber auch, dass er die Informationen nicht oder nicht nur von Ihrem Maulwurf hat, denn der Maulwurf weiß nur das, was bei der Staatsanwaltschaft bekannt ist. Oder?“

Böhnke nickte. Es war ihm anzusehen, dass ihm meine Überlegung über diese Entwicklung nicht sonderlich gefiel. Zu schnell wechselten die Verdachtsmomente, wurden Verdächtige entlastet und andere verstärkt belastet. Jetzt gab es vielleicht einen neuen Unbekannten, einen weiteren oder vielleicht auch nur den einzigen Informanten, der Fleischmann ausgeschaltet hatte. „Stimmt’s?“ Erwartungsvoll betrachtete ich meinen älteren Freund. Mit sorgenvoller Miene blickte mich Böhnke an. „Es stimmt. Und die Sache wird noch komplexer, verflucht noch mal.“ Der Kommissar langte nach der Zeitung in seinem Rücken. „Ich habe eine weitere Überraschung für Sie“, sagte er stöhnend. „Lesen Sie!“

 

 

Seine Überraschung war in der Tat gelungen, wenn sie mir auch überhaupt nicht gefiel und noch weniger in meine Kombinationen passte. Schon auf ihrer Titelseite berichtete die Zeitung unübersehbar mit einem großen, farbigen Bild über einen Brand in der vergangenen Nacht in einer Buchdruckerei in Eschweiler; ausgerechnet in jener Druckerei, in der Fleischmanns Verleger die Bücher drucken ließ.

Ich hatte meine Zweifel, ob das ein Zufall war. Gespannt schlug ich Seite drei auf und las aufmerksam den reichlich bebilderten Bericht. Von Brandstiftung im Papierlager war die Rede, von einem stundenlangen Einsatz der Feuerwehr und einem Schaden in Millionenhöhe. Nicht nur das Papierlager war restlos ausgebrannt, auch der Bereich, in dem fertige Drucksachen aufbewahrt wurden, war ein Raub der Flammen geworden. Vom Papierlager hatten die Flammen auf die Büroräume übergegriffen. Dort waren sämtliche Akten und Geschäftspapiere vernichtet worden und obendrein auch die Filme, auf denen die Druckseiten der verschiedenen Bücher abgelichtet waren. „Es gibt nichts mehr, das auf eine Buchdruckerei hinweist“, merkte der Berichterstatter nüchtern an.

Aber nicht nur die Druckerei war restlos zerstört worden. Das neben dem Unternehmen liegende, von mehreren Buchverlagen betriebene Auslieferungslager für ihre Bücher war ebenfalls abgebrannt. Einige Verlage, darunter auch der Christian-Maria-Wagner-Verlag, ließen nicht nur in Eschweiler drucken, sie lagerten in dem benachbarten Betrieb auch ihre Werke, die von dort an den Buchhandel versandt wurden.

Besonders schlimm habe es den Christian-Maria-Wagner-Verlag aus Baesweiler getroffen, schrieb daher der Berichterstatter. In der Druckerei sei die Auflage des neuen Werkes von Renatus Fleischmann verbrannt, sämtliche Filme aller Fleischmann-Romane, aber auch der anderen Autoren, seien verloren und zu allem Leidwesen sei das komplette Buchsortiment vernichtet. Die Konsequenz lag auf der Hand: „Der Verlag steht damit gewissermaßen vor dem Aus.“

Die dramatische Geschichte am Rande war geradewegs zwangsläufig. „Starautor tot, Lektorin im Koma, Bombenanschlag auf Verleger und Brandstiftung im Warenlager – da kann niemand mehr von Zufall sprechen“, las ich in dem Artikel, „hier will jemand systematisch Existenzen vernichten.“ Insofern stimmte der Berichterstatter mit meinen Überlegungen überein.

Die Polizei wollte diese nahe liegende Behauptung nicht bestätigen. Man stehe vor einem Berg von Problemen, räumte der Pressesprecher lediglich ein. Man könne aber nicht mit Gewissheit sagen, dass die genannten Fakten in einem erkennbaren Zusammenhang stünden. Es könne sich durchaus auch um eine Verkettung unglücklicher Zufälle handeln. „Glauben Sie etwa Ihrem Kollegen?“, fragte ich Böhnke mit zweifelndem Blick.

Sein verlegenes Grinsen erklärte genug. „Was soll er anders sagen?“, antwortete der Kommissar. Bislang sei die Polizei davon ausgegangen, dass primär Fleischmann ausgeschaltet werden sollte, jetzt wachse der Verdacht, es könne hinter dem Mord und den Folgetaten noch mehr stecken. „Aber ich weiß nicht, wohin die Reise führt.“ Es könne auch sein, dass der Mord an Fleischmann losgelöst zu sehen sei von den drei anderen Aktionen, wobei immer noch nicht geklärt sei, ob die Lektorin bei einem Unfall oder bei einem Attentat zu Schaden gekommen war. „Was wollen Sie tun?“ Ich steckte die Pizzaverpackung zusammen und schob sie zur Tischmitte.

Böhnke stand auf und trug den Müll zum Abfalleimer. „Ich werde diesbezüglich überhaupt nichts tun. Ich werde mich auf meinen eigentlichen Auftrag konzentrieren. Ich muss und will den Maulwurf in unseren Reihen finden. Danach sehe ich weiter“, sagte er wenig begeistert. Im Übrigen würde ich vielleicht mehr Durchblick haben, wenn ich die „Metzger-Geschichte“ gelesen hätte. „Sie fällt, wie ich schon sagte, aus dem Rahmen“, behauptete er, als er mir das Manuskript in die Hand drückte. „Muss das sein?“, stöhnte ich, als ich den dicken Ordner aufschlug.

Aber Böhnke schien kein Erbarmen zu kennen. „Es muss sein. Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Sie lesen!“ Der Kommissar zog sich mit den Romanen in seine Ecke zurück, ich hockte lustlos in meinem Sessel und blätterte ohne Begeisterung in dem umfangreichen Manuskript. „Das bringt doch nichts“, maulte ich nach wenigen Minuten. Ich brachte einfach nicht die Bereitschaft auf, mich in den Text zu vertiefen. Ich hatte für heute schon genug Fantasie konsumiert. Ich brauchte wirkliches Leben.

Böhnke hatte glücklicherweise ein Einsehen mit mir oder selbst keine Lust mehr auf spätabendliche Ermittlungsarbeit. Er schlug jedenfalls das Taschenbuch zu und erhob sich ächzend. „Na gut. Gehen wir ein Bier trinken.“