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EIN DÜSTERER STEINKLOTZ inmitten sumpfiger Wiesen, mächtige, vom Seewind glattgeschliffene Mauern, efeuberankte Türme über zerbröckelnden Zinnen: so bot sich die Jomsburg ihren Augen dar, als sie das vorgelagerte Kap umschifft hatten. Sie war einst von Palnatoki erbaut worden, der von Fünen fliehen mußte und die Landschaft Jom vom Wendenkönig zum Geschenk bekam. Palnatoki gab ihr den Namen Jomsburg, während die Slawen sie Jumne nannten. Sie verfügte über eigene Brunnen und große Vorratslager; ihr Hafen bot Platz für dreihundert Schiffe und war mit eisernen Toren versehen, die im Falle eines Angriffs geschlossen werden konnten. Als die Jomswikinger die Burg für immer verlassen hatten, nahm der Obodritenkönig Burislav sie in Besitz und nach ihm sein Sohn Mistui.

Mit geschwelltem Segel lief das Schiff in den Hafen ein. Am Kai stand ein dürrer Mann, der sie zu erwarten schien. Er hatte seinen Oberkörper nach vorn gebeugt und suchte mit wedelnden Armen ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Styrbjörn fragte ihn, was das Fuchteln zu bedeuten habe, und der Mann antwortete in kaum verständlicher Sprache, er sei von König Mistui geschickt worden, König Harald und seine Begleiter willkommen zu heißen und in die Burg zu führen. Ohne sich aufzurichten, ging er ihnen voran. Hier flechten wir ein, daß Jaczko, so hieß der dürre Mann, die gekrümmte Haltung nicht aus Unterwürfigkeit oder infolge eines Gebrechens einnahm, sondern sie als Hinweis auf das Amt verstanden wissen wollte, durch das er sich das besondere Vertrauen des Obodritenkönigs erworben hatte.

Sie gingen durch schmale, schummrige Gänge, deren Wände vom Ruß der Fackeln geschwärzt waren. Die Mauern strömten eine feuchte Kühle aus und den fauligen Geruch von Pilzen. Am Ende einer steilen Treppe öffnete Jaczko eine Tür und ließ ihnen den Vortritt.

In der Mitte eines mit Teppichen ausgelegten Raumes saß König Mistui. Die obere Hälfte seines runden Kopfes war kahl, während die untere von einem üppigen grauen Bart umwuchert war. An seinen Ohrläppchen hingen handtellergroße goldene Ringe, sonst trug er keinen Schmuck. Er musterte sie schweigend aus seinen schräggestellten Augenschlitzen, dann erhob er sich und ging ihnen mit kleinen schnellen Schritten entgegen. Jetzt sah man, daß auch sein Körper von kugeliger Gestalt war, und wenn Björn später von Mistui erzählte, verstieg er sich gelegentlich zu der Behauptung, der Obodritenkönig sei nicht höher als breit gewesen. Kaum daß Mistui aufgestanden war, hatte Jaczko sich hinter ihn gestellt und war ihm in gebückter Haltung gefolgt.

Mistui umarmte Harald und zog seinen Kopf zu sich herunter, damit er ihn auf die Wangen küssen konnte. »Verzeih mir, Bruder«, sagte er, »daß ich dich nicht selbst am Tor empfing. Aber ich lag auf einer Frau, als mir deine Ankunft gemeldet wurde, und ich bin nicht mehr so jung, daß ich zum zweiten Mal an einem Tag auf ein strammes Glied hoffen kann.« Nun wandte er sich Styrbjörn zu, begrüßte ihn auf die gleiche Weise und sagte: »Willkommen daheim, Schwager. Ich will meine Schwester schonend darauf vorbereiten, daß du zurückgekehrt bist. Die langen Jahre ohne Mann haben sie ein wenig schrullig gemacht.« Dann deutete er auf Bue den Dicken und Björn und fragte: »Ist dein Gefolge nicht etwas klein für eine weite Reise, Bruder?«

Da geschah es, daß König Harald in Tränen ausbrach. Mistui trat betroffen einen Schritt zurück und blickte Styrbjörn fragend an. Dieser berichtete nun in knappen Worten von den Ereignissen, die dazu geführt hatten, daß Harald sein Land verlassen mußte, und Mistui vernahm es mit wachsender Besorgnis. Als Styrbjörn geendet hatte, ließ Mistui einen Wind fahren. Sogleich näherte sich Jaczko mit geblähten Nasenflügeln Mistuis Gesäß und begann, andächtig zu schnuppern. Dann richtete er sich auf und flüsterte Mistui etwas zu.

»Dein Sohn ist ebenso hartnäckig wie schlau«, sagte der Obodritenkönig zu Harald. »Ich rate dir, weiter nach Osten zu fahren, Bruder. Dort, in der Gegend von Aldeigjuborg, lebt mein Vetter Vanhala, ein karelischer Fürst. In seinen Wäldern seid ihr sicherer als hier.«

Styrbjörn deutete auf den dürren Mann: »Hat er dir das ins Ohr geflüstert, Schwager?«

»Jaczko sagt, ihr bringt mich in Gefahr«, erwiderte Mistui. »Und ich habe allen Grund, ihm zu glauben. Denn bislang hat er sich noch nie geirrt.«

»Ein seltsamer Ratgeber, der seinem Herrn am Arsch schnüffelt«, ließ sich Bue der Dicke vernehmen.

Nun erfuhren sie, daß Jaczko über die Gabe verfügte, aus dem Geruch eines Furzes mehr oder weniger bedeutsame Erkenntnisse zu gewinnen. So roch er nicht nur, was der Furzende gegessen und getrunken hatte, wie es um seine Gesundheit bestellt war und welche Sorgen ihn drückten, sondern auch, wie sich seine Zukunft gestalten würde, falls er den Dingen ihren Lauf ließ. Durch diese Fähigkeit hatte er sich Mistui unentbehrlich gemacht, und es hieß, daß der König morgens nicht das Bett verließ, bevor Jaczko seine ersten Fürze auf das zu Erwartende hin gedeutet hatte.

»Mistui, bist du mein Freund?« fragte Harald mit zitternder Stimme.

»Bislang gab ich dir keinen Anlaß, daran zu zweifeln«, erwiderte Mistui abwartend.

»Dann höre, daß ich nicht die Absicht habe, mich in den karelischen Wäldern zu verkriechen. Ich bitte dich, mir und meinen Leuten Gastfreundschaft zu gewähren.«

Der Obodritenkönig furzte ein weiteres Mal, und wiederum sog Jaczko den Geruch begierig ein. Der Befund schien Mistui etwas zuversichtlicher zu stimmen, denn er sagte: »Du sollst nicht um etwas bitten, worauf du mehr als jeder andere Anspruch hast, Bruder. Fühlt euch wie zu Hause.« Er klatschte in die Hände, woraufhin ein gutes Dutzend junger Frauen mit einer stattlichen Kinderschar hereinkam.

»Da seht ihr, daß ich nicht faul war«, sagte Mistui. »Ich habe dreiunddreißig Söhne gezeugt. Der jüngste wurde gestern geboren, und die ältesten üben sich schon im Schwertkampf. Eines Tages werden sie ihre toten Brüder rächen.« Mit einer Handbewegung scheuchte er die Frauen und Kinder wieder hinaus und ließ sich mit seinen Gästen auf dem Fußboden nieder. Mägde brachten Brot, Fleisch und Bier, und Björn sah mit Erstaunen, welche ungeheuren Mengen der Obodritenkönig verschlang.

Währenddessen tauschten die beiden Könige Erinnerungen an ihre Jugendzeit am Hof Gorms des Alten aus, und mehr als einmal sanken sie einander tränenselig in die Arme. Später gesellte sich Gaut zu ihnen, weil es Mistui danach verlangte, seine lustigen Geschichten zu hören. Der Seeräuber erntete lärmende Heiterkeit; auch Björn lachte ein wenig, damit man ihm nicht unterstelle, daß er neidisch sei. Als die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hatte, lüpfte Harald seinen Hintern, ließ einen knarrenden Wind streichen und bat Jaczko, ihn zu deuten. Dieser kauerte sich hinter dem König nieder, und nachdem er eine Weile geschnuppert hatte, sprach er zu Mistui in wendischer Sprache.

»Was sagt er?« fragte Harald gespannt.

»Deine Seele ist vergiftet von Haß«, erwiderte Mistui.

»Das ist nicht alles, er hat noch mehr gesagt«, warf Styrbjörn ein. »War nicht auch vom Tod die Rede?«

»Alle alten Männer riechen nach Tod«, sagte Mistui und reckte sich gähnend. »Ihr sollt in diesem Zimmer schlafen; es ist das schönste in der ganzen Burg.« Damit stand er auf und ging hinaus. Jaczko folgte ihm wie ein gekrümmter Schatten.

Sie streckten sich auf den Teppichen aus, und Harald fragte: »Willst du heute nacht nicht bei deiner Frau liegen, Styrbjörn?«

»Mir scheint, daß ich hier besser aufgehoben bin als in ihrem Bett«, antwortete der Jomswikinger. »Wenn ihr eigener Bruder sie schrullig nennt, muß man sich auf Schlimmeres gefaßt machen.«

»Mistui ist fett und träge geworden. Er wird nicht leicht dafür zu gewinnen sein, gegen den Zwerg in den Krieg zu ziehen«, murmelte der König. »Womit könnte ich ihn ködern, Styrbjörn? Soll ich ihm eine der östlichen Inseln als Belohnung versprechen?«

»Für ein Versprechen würde Mistui nicht den kleinen Finger rühren«, sagte Styrbjörn. »Du hast nur einen Köder, auf den er beißt, Herr: seine Rachsucht.«

»So dachte ich auch«, seufzte der König. »Aber wie es aussieht, läßt er sie auf kleiner Flamme schmoren. Da ich den Tag nicht mehr erleben werde, an dem Mistuis zweite Brut imstande ist, den Tod seiner ersten zu rächen: Wie soll ich aus deinen Worten Hoffnung schöpfen?«

»Hättest du mich, wie es mir zukommt, um Rat gefragt, wärst du zuversichtlicher gestimmt, Herr«, ließ sich Bues Fistelstimme vernehmen. »Denn statt auf Mistuis Rachsucht zu setzen, sollten wir der Tatsache Beachtung schenken, daß Mistui seinem Furzdeuter blindlings vertraut. Wenn dieser ihm riete, in Dänemark einzufallen, würde Mistui nicht lange zögern. Man müßte Jaczko also dazu bringen, daß er Mistuis Winde auf eine Weise deutet, die deinen Absichten entgegenkommt.«

»Glaubst du, wir könnten ihn bestechen?«

»Die Frage ist nur, womit. Überlaß es mir, das herauszufinden, Herr.«

Dies war jedoch schwieriger, als Bue angenommen hatte. Denn durch sein Amt war Jaczko gezwungen, sich stets im Windschatten seines Herrn aufzuhalten, und es hieß, daß er sogar neben Mistui schlief, damit ihm kein nächtlicher Furz entgehe. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, mit Jaczko ein Gespräch unter vier Augen zu führen, überraschte Bue den Furzdeuter eines Tages im Pferdestall, wo er einer schönen jungen Stute den Hengst machte. Bue erzählte, Jaczko habe sich bei dieser Verrichtung nicht im geringsten stören lassen, sondern sei keuchend und vor Anstrengung schwitzend zum Erguß gekommen. Hinterher habe der Furzdeuter ihn jedoch gebeten, den Vorfall für sich zu behalten, und ihm sei Erleichterung anzumerken gewesen, als Bue dies zugesagt habe. Seitdem sah man Bue und Jaczko zuweilen miteinander tuscheln, und Mistui begann immer häufiger davon zu reden, daß es bald an der Zeit sei, Vergeltung zu üben.

Zwischen der Jomsburg und der Stadt am Ende der Förde bestand ein reger Handelsverkehr. So konnte Sven Gabelbart nicht verborgen bleiben, wo sich sein Vater aufhielt. Doch schien er mit wichtigeren Dingen beschäftigt zu sein, als Harald in seinem Schlupfwinkel aufzuspüren. Händler berichteten, Sven Gabelbart habe im Norden Jütlands und auf den Inseln eine Anzahl kreisrunder Wallanlagen bauen lassen, die ständig mit einigen Hundertschaften besetzt seien. Ob diese dort für den Angriff auf ein anderes Land ausgebildet wurden oder das eigene vor fremden Heeren schützen sollten, war nicht in Erfahrung zu bringen. Des weiteren wurde erzählt, daß Sven eine Tochter des Königs von Uppsala geheiratet habe und sie bereits guter Hoffnung sei. Sven, hieß es, sei überzeugt, daß seine Frau ihm einen Sohn schenken würde, und er habe öffentlich verkündet, daß dieser als Sohn des Königs von Dänemark zur Welt kommen werde.

Mistui vermerkte anfangs befremdet, bald aber mit wachsendem Verdruß, wie sehr solche Nachrichten seinen alten Freund in Zorn versetzten. Statt in geselliger Runde von alten Zeiten zu reden und Geschichten zu erzählen, mußte er Haralds Tobsuchtsanfälle über sich ergehen lassen, sah er sich genötigt, den Schmähungen beizupflichten, mit denen der Vater den Sohn bedachte. So gern er seinen eigenen Gefühlen freien Lauf ließ, so widerwärtig fand Mistui die Gefühlsausbrüche anderer. Wir vermuten daher, daß Haralds zügellose Raserei Mistui auf den Gedanken brachte, seinen Freund mit einer Aufgabe zu betrauen, die dessen häufige Abwesenheit erforderte. Eines Abends, als Harald nach langem Gezeter schluchzend in sich zusammengesunken war, bat er ihn, die Obodriten das Seeräubern zu lehren.

Harald faßte sich erstaunlich schnell und maß Mistui mit tränenfeuchtem Blick. »Was soll ich deinen Leuten noch beibringen, Bruder?« fragte er, indem er seiner Stimme Festigkeit zu geben suchte.

»Verglichen mit euch Wikingern sind sie allesamt Stümper«, antwortete Mistui. »Sie nehmen, was ihnen der Zufall in die Hände spielt, während ihr das Seeräubern wie ein Handwerk betreibt, das, je besser man es beherrscht, desto größeren Gewinn bringt. Ich würde dich nicht um diesen Gefallen bitten, wüßte ich nicht aus eigener Erfahrung, wie nützlich deine Unterweisungen sind.«

»Ach ja, das waren noch Zeiten, als wir drüben in Schonen auf Beute ausgingen«, schmunzelte König Harald. »Erinnerst du dich, wie wir Skaneyrr plünderten?«

»Du könntest statt Skaneyrr ein Dutzend anderer Namen nennen, und alles stünde mir vor Augen, als wäre es gestern gewesen«, erwiderte Mistui. »Du bist ein berühmter König geworden, Bruder, doch als Wikinger hättest du nicht geringeren Ruhm geerntet.«

Harald deutete mit einem Lächeln an, wie wohl ihm die Schmeichelei tat. »Dem König ist manches Mal zugute gekommen, daß ein Wikinger in ihm steckt, lieber Bruder«, sagte er. »Erlaubst du mir, die Männer selbst auszuwählen?«

»Ich lasse dir in allem freie Hand, Bruder.«

»Es sollen nicht mehr als dreißig sein, jeweils zehn auf drei kleine Schiffe verteilt. Von meinen Leuten will ich Styrbjörn dabeihaben und Björn Hasenscharte. Der eine soll deinen Männern zeigen, wie ein Wikinger kämpft, und den anderen möchte ich im Auge behalten.« Dabei zwinkerte er Björn einäugig zu und schnitt eine schiefe Fratze.

Wenn Björn später von Harald Blauzahns letzten Tagen erzählte, zog er gern den Vergleich mit einem alten morschen Baum, der noch einmal grüne Triebe zeigt, bevor der Sturm ihn fällt. Bereits am nächsten Morgen habe Harald unter Mistuis Männern dreißig ausgewählt, und der Obodritenkönig habe ihm versichert, daß er selbst keine bessere Wahl hätte treffen können. Kurz darauf seien sie mit drei Schiffen zu einer Bucht im Norden der vorgelagerten Insel gesegelt. Dort habe Harald die Obodriten in eine harte Zucht genommen und ihnen binnen kurzer Zeit Kenntnisse vermittelt, die zu erwerben er, Björn, Jahre gebraucht habe. In jenen von strenger Unterweisung erfüllten Tagen und Nächten habe sich manches ereignet, das sich zu erzählen lohne, aber am tiefsten habe sich seiner Erinnerung eingeprägt, welche erstaunliche Wandlung mit König Harald vor sich gegangen sei. Mit jedem Tag habe sich der von Gebrechen geplagte Greis gleichsam um Jahre verjüngt; man habe förmlich sehen können, wie das Leben in den von Alter und Krankheit gezeichneten Körper zurückgekehrt sei. Statt wehleidig zu klagen, habe man ihn Befehle brüllen, scherzen, oft auch lachen hören. Kraftvoll, als sei sie schon immer seine Schwerthand gewesen, habe seine Linke das Schwert geschwungen, und es sei sogar vorgekommen, daß er eine Weile unter Wasser verbracht habe, um den Obodriten zu zeigen, wie man durch ein Schilfrohr atmet.

Als der Herbst sich mit den ersten Stürmen ankündigte, fand Harald, es sei nun an der Zeit, zur Tat zu schreiten. Sie überfielen einige Dörfer an der Küste, und der König vermerkte befriedigt, daß die Obodriten sich mit den Fertigkeiten der Wikinger auch deren Skrupellosigkeit angeeignet hatten, denn es waren ihre eigenen Landsleute, die sie mordend und plündernd heimsuchten. Auf eine härtere Probe wurden sie gestellt, als sie in einer Vollmondnacht westwärts fuhren und auf eines von Thorgrim Flachnases Schiffen stießen. Einen Augenblick, erzählt Björn, hätten die Obodriten gezaudert, dann jedoch seien sie, von Harald lauthals angefeuert, längsseits gegangen und hätten das Wikingerschiff geentert. Dies habe Thorgrims Männer dermaßen verblüfft, daß sie erst zu kämpfen begonnen hätten, als ihre Lage schon aussichtslos gewesen sei.

Mit dem Wikingerschiff im Schlepptau kehrten sie in den Hafen der Jomsburg zurück. Als sie dort anlegten, hörte Björn den König zu Styrbjörn sagen: »Es ist lange her, daß ich mich so wohl gefühlt habe. Was hindert mich, auf diese Weise den Rest meines Lebens zu verbringen?«

»Dein Sohn, Herr«, war Styrbjörns knappe Antwort.