11

ES WAR EIN WINDSTILLER MORGEN; auf dem Wasser lagen flache, langgestreckte Nebelbänke. Als sich das Schiff der Landenge näherte, war die Stadt bereits im Dunst versunken. Von einem kahlen Baum am Ufer strich ein Krähenschwarm ab und umkreiste lautlos das Schiff. Hedin, der Steuermann, beobachtete ihn, bis der Schwarm in der dunklen Wand des Waldes versickert war. Jenseits der Landenge wandte sich das Schiff in weitem Bogen nach Osten; wo sein Kiel das glatte schwarze Wasser durchschnitten hatte, blieb ein rötlich schimmernder Streifen zurück, beiderseits gesäumt von den ringförmigen Spuren der Ruderblätter.

Neben Hedin stand Thormod. In seiner Kleidung unterschied er sich nicht von den anderen Männern, die teils auf den Ruderbänken saßen, teils, an die Reling gekauert, zu schlafen versuchten. Nur der Platz, den er einnahm, zeigte an, daß Thormod der Eigner und Schiffsführer war, denn die Schanze zu betreten, das schmale Deck vor dem Achtersteven, war außer diesem nur dem Steuermann erlaubt.

Hedin war für einen Steuermann bemerkenswert jung. Er selbst gab sein Alter mit dreißig Jahren an, aber keiner glaubte, daß er älter als fünfundzwanzig sei. Auch daß er aus Norwegen stamme, weckte bei manchen Zweifel, denn Hedin war nicht nur klein und schwarzhaarig, sondern unterschied sich von seinen Landsleuten auch dadurch, daß er jedem Zank aus dem Wege ging. Eines jedoch wurde bald von niemandem mehr bestritten: daß Hedin Gudmundursson ein guter Steuermann war.

Bei der Auswahl der übrigen Mannschaft schien Thormod vor allem seinem Hang zur Sparsamkeit gefolgt zu sein. Von den erfahrenen Seeleuten, die zur Sommerszeit von weither in die Stadt kamen und für gutes Geld ihre Dienste anboten, befand sich keiner darunter. Dagegen war es zwei stadtbekannten Hafenstrolchen gelungen, sich bei Thormod einzuschmeicheln, indem sie außer Beköstigung nur die Hälfte des üblichen Anteils verlangten. Der eine, Bjarki Fleischsuppe, pflegte haarsträubende Geschichten zu erzählen, die schon deswegen der Glaubwürdigkeit entbehrten, weil er behauptete, sie selbst erlebt zu haben. Der andere war Ketil Nase. Von ihm hieß es, er sei so faul, daß er es seiner Frau überlasse, ihm in seiner ungewöhnlich großen Nase zu bohren. Außer diesen gab es noch einen Mann an Bord, den Björn kannte. Er saß, in einen grauen, fadenscheinigen Mantel gehüllt, auf dem Mitteldeck, die Beine weit von sich gestreckt, den Rücken gegen den Mast gelehnt.

Wenn Vagn ihn wiedererkannt hatte, wußte er es geschickt zu verbergen. Er hatte Björn, als dieser an Bord kam, kurz zugenickt und sich wieder gleichmütig seiner Arbeit zugewandt. Sein Bart war weiß geworden, sein Körper aufgedunsen und schwerfällig. Björn verspürte einen Stich in der Brust, als er den schlafenden Vagn ansah. War es der Haß, der sich damit in Erinnerung brachte?

Die Besatzung des Schiffes bestand aus vierzehn Männern unterschiedlichen Alters. Björn zählte acht Ruderer, vier auf jeder Seite. Das Schiff lag tief im Wasser. Was es geladen hatte, wußte niemand außer Thormod; er hatte die Waren in abgedichteten Fässern oder in Häute eingenäht an Bord schaffen lassen.

An der Backbordseite tauchte die Burg auf, in der Björn einst gefangengehalten worden war. Einige Männer zeigten sich oberhalb des Palisadenzauns und schlugen ihre Schilde gegeneinander. Das Geräusch ließ Vagn aufhorchen. Er erhob sich schlaftrunken, hielt sich taumelnd am Mast fest und brüllte unverständliche Worte zur Burg hinauf. Die Männer antworteten mit mehrstimmigem Johlen. Vagn grinste. Und nun fiel sein Blick auf Björn. Langsam wich das Lächeln von seinem Gesicht, und seine Augen wurden schmal.

»Träume ich, oder bist du's wirklich, Hasenscharte?« fragte er.

»Du träumst nicht«, antwortete Björn und hielt seinem Blick stand, bis Vagn sich abwandte.

Die Fahrrinne verlief ein Stück am Fuß des Steilhangs entlang und schlängelte sich dann zwischen Untiefen zur Mitte der Förde hin. Björn sah die Stelle, wo er die Leiche des jungen Mädchens gefunden hatte, er erinnerte sich ihrer weißen Zähne, ihres im Tod erstarrten Lächelns. Nun schob sich der große Stein in sein Blickfeld, bei dem Bosi einst mit seiner Familie an Land gegangen war; ganz in der Nähe der Platz, von dem aus Björn, im Schilf verborgen, die fremden Schiffe beobachtet hatte. Vom Ufersaum bis zur halben Höhe des Hügels war ein Streifen Waldes gerodet worden; zwischen den von Gras überwucherten Baumstümpfen wuchs spärlicher Roggen. Oberhalb des Feldes, hinter den mächtigen, in rotes Sonnenlicht getauchten Buchen, mußte Bosis Hof liegen.

Wenig später rückten die Ufer so nahe zusammen, daß zwischen den Schilfgürteln nur ein schmaler Durchlaß blieb. Thormod weckte die schlafenden Männer und befahl ihnen, ihre Speere auf alles zu werfen, was sich im Dickicht bewege. Der Verlust eines Speeres, fügte er hinzu, sei leichter zu verschmerzen als der eines Schiffes samt Ladung. Die Männer verteilten sich, ihre Speere wurfbereit in den Händen, ringsum an der Reling und spähten in das Waldesdunkel.

»Das gilt auch für dich, Glücksbringer«, sagte Thormod und reichte Björn einen Speer, der um etliches länger war als er selbst.

»An der Eisenspitze erkennst du, wo vorn ist«, murmelte Vagn in seinen Bart. Björn sah seinen mit grauem Haarfilz bedeckten Nacken, sah, wie Vagns Schultern von lautlosem Lachen zuckten, und auf einmal wußte er, daß er Vagn töten würde.

Als sie wieder in freies Gewässer gelangt waren, wurden die Ruderer ausgewechselt. Auch Björn mußte auf einer der Ruderbänke Platz nehmen. Er lernte schnell, den schweren Riemen zu handhaben und seine Kraft gleichmäßig auf Oberkörper und Arme zu verteilen. Dennoch begann er, vor Anstrengung zu schwitzen. Die Landschaft glitt vorbei, ohne daß er etwas von ihr wahrnahm; er sah nur seine um den Riemen gespannten Hände und den Rücken des Vordermannes. Er kam aus dem Takt, versuchte aufzuholen, aber schon schlug sein Riemen mit dem seines Vordermannes zusammen, kurz darauf auch mit dem des hinter ihm sitzenden Ruderers, und beide Male versetzte es Björn einen Ruck, der ihm die Arme aus den Gelenken zu reißen drohte. Eine Flut von Schimpfworten ergoß sich über ihn, sein Hintermann trat ihm in den Rücken, Björn ruderte verbissen weiter, der Schweiß rann über sein Gesicht, er spürte, wie sich, von seinen Händen her, ein Gefühl der Leere in ihm ausbreitete, wie es von seinen Armen auf den übrigen Körper übergriff, in seinen Kopf vordrang, alles auslöschte bis auf den Willen, der ihn rudern, den Rudertakt einhalten hieß.

Nach einer Zeitspanne, die ihm unermeßlich lang erschien, entriß man ihm den Riemen und stieß ihn von der Ruderbank. Er ließ sich auf das Deck fallen und schlief sogleich ein. Er träumte von mannshohen Kämmen, die sich in langbeinige, krabbenähnliche Ungetüme verwandelten, sah sich von ihnen umzingelt, wollte fliehen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Thormods barsche Stimme schreckte ihn aus dem Schlaf.

»Geh an Land und sammle Holz, Björn Hasenscharte«, sagte der Schiffsführer. »Wir wollen etwas essen.«

Björn stand auf und schleppte sich mit zitternden Knien zur Reling. Undeutlich, als ob er durch trübes Glas blicke, nahm er wahr, daß das Schiff inmitten flachgewellter Sandbänke vor Anker lag. Er ließ sich ins Wasser gleiten und watete an Land. Dort hatten einige Männer schon einen Kessel an drei Stangen aufgehängt und ein Feuer unter ihm entfacht.

»Beeil dich, Faulpelz, sonst geht uns das Feuer aus!« sagte Ketil Nase, der es sich neben der Feuerstelle bequem gemacht hatte.

»Am Strand liegt genug Holz herum«, sagte ein anderer, den sie Gunne Seehundsfloh nannten.

Björn stapfte durch den weichen Sand, fand unterwegs ein Nest mit Möweneiern, die er in aller Eile ausschlürfte, und stieg auf einen kleinen Hügel. Von dort sah er zum ersten Mal das Meer; kein Windhauch rauhte die weite, im schrägen Sonnenlicht gleißende Fläche, und es erschien ihm kaum glaubhaft, daß es sich in jenes tobende, brüllende, allesverschlingende Ungeheuer verwandeln konnte, von dem er so oft hatte erzählen hören.

Der Strand war mit Treibholz übersät; da lagen Äste, Baumwurzeln, Bretter, zersplitterte Planken, sogar ganze, ihrer Rinde entblößte, vom Sand weißgeschliffene Baumstämme. Björn lud sich, soviel er tragen konnte, auf die Schultern, und kehrte zur Feuerstelle zurück. »Damit werden wir das Fleisch nicht zum Kochen bringen«, sagte Ketil Nase. »Hol mehr, Kleiner!«

»Geh selbst, wenn du meinst, daß es nicht reicht«, antwortete Björn.

»Ich bin es nicht gewohnt, mir so etwas von einem sagen zu lassen, der vor nicht allzu langer Zeit noch käuflich zu erwerben war«, entgegnete Ketil. Er hob, nicht ohne merken zu lassen, wieviel Anstrengung es ihn kostete, den Kopf und rief zum Schiff hinüber: »Was hat dir Swain für ihn bezahlt, Vagn?«

Von Bord kam keine Antwort, aber als nun Ketil den Kopf wieder auf seine verschränkten Arme legen wollte, kniete Björn auf seiner Brust und packte mit einer Hand Ketils Nase. »Ich bin kein Sklave mehr«, sagte Björn, ohne lauter als gewöhnlich zu sprechen. »Und du wirst es bereuen, wenn du mich wie einen solchen behandelst.« Ketil schrie vor Schmerz und beschimpfte Björn mit üblen Wörtern, bis dieser ihn mit einem Fausthieb zum Schweigen brachte.

Zum Essen kamen alle bis auf zwei Männer, die als Wache auf dem Schiff zurückblieben, an Land und setzten sich um das Feuer. Gunne schnitt das Fleisch in Stücke; das größte bekam Thormod, ein etwas kleineres Hedin, die übrigen erhielten gerade soviel, daß der ärgste Hunger gestillt wurde. Als sie ihre Fleischstücke hinuntergeschlungen hatten, sahen sie zu, wie Thormod mit sichtlichem Genuß den Knochen abnagte, ihn aufbrach, das Mark ausschlürfte und die Überbleibsel hinter sich ins Wasser warf.

»Ein voller Bauch macht träge und unvorsichtig«, sagte Thormod, während er seine Finger einzeln abschleckte. »Deshalb dürft ihr mich nicht für knauserig halten, wenn ich euch nur so viel zu essen gebe, daß ihr bei Kräften bleibt. Vor uns liegt eine weite Reise; wir werden in Gegenden kommen, wo noch keiner von euch war, da gilt es, beweglich und wachsam zu sein.«

Bjarki Fleischsuppe hob seine rechte Hand. »Ich habe, wie jeder von euch sehen kann, nur noch drei Finger an dieser Hand, die anderen hat mir eine Seeschlange abgebissen«, sagte er. »Aber selbst diese drei reichen aus, die Länder aufzuzählen, in denen ich noch nicht war. Wollte ich dagegen alle Länder aufzählen, auf die ich meinen Fuß gesetzt habe, so müßte ich zu meinen eigenen die Finger von euch allen zu Hilfe nehmen und eure Zehen noch dazu.«

Die Männer begannen zu lachen. Bjarki jedoch, statt sich darüber zu entrüsten, wartete geduldig, bis das Gelächter verklungen war, und fuhr dann fort: »Thormod ist gewiß weit herumgekommen, aber nicht einmal er dürfte in den Abgrund am Ende der Welt geblickt haben. Er ist das Furchtbarste, was Menschenaugen jemals sahen, das laßt euch von einem sagen, dem der Schreck noch heute in den Knochen sitzt.«

»Fragt ihn jetzt nicht, weshalb er nicht hinuntergefallen ist«, bat Ketil Nase die anderen. »Die Geschichte dauert eine ganze Nacht.«

Nun zeigte sich, daß Bjarki Fleischsuppe durchaus in Zorn geraten konnte. »Misch du dich nicht ein!« schrie er und machte Miene, sich auf Ketil zu stürzen. »Während ich die ganze Welt bereist habe bis dorthin, wo sie zu Ende ist, hast du nicht einmal deinen eigenen Bauchnabel gesehen.«

»Streitet euch nicht, Brüder«, sagte ein großer, hohlwangiger Mann, der sein Haar nach Art der Mönche geschnitten trug. Wie er Björn später in einer der langen Winternächte erzählte, war er in Schimpf und Schande aus dem Kloster gejagt worden, weil er anhand der Bibel nachgewiesen hatte, daß Gott ein Zwitter sei. »Wer weiß, ob uns ein solch ruhiger Abend noch einmal vergönnt sein wird.«

»Egbert hat recht«, sagte Thormod. »Vergeudet die Zeit nicht mit läppischem Gezänk, sondern nutzt sie zum Schlafen. Für die Westsee braucht es ausgeruhte Männer.«

Sie saßen noch eine Weile schweigend am Feuer, während die Sonne unterging und sich der Himmel über dem fernen Waldstreifen glühend rot färbte. Hedin sah zu den Wolken hin, die wie ein Haufen ausgekämmter Wolle im Osten über dem Horizont lagerten, und sagte: »Wir werden Wind bekommen, aber er wird es uns schwermachen, aufs Meer hinauszugelangen.«

Als es dämmrig zu werden begann, löschten sie die Glut und gingen an Bord. Thormod ließ das Schiff in tieferes Wasser verholen, um besser vor einem Überfall geschützt zu sein. Unter den Einheimischen, erläuterte er Hedin, sei es bekannt, daß die Sandbänke zwischen Förde und Meer ein beliebter Ankerplatz für auslaufende Schiffe seien, und daher habe schon mancher Seefahrer an dieser Stelle Ladung und Leben verloren.

Thormod teilte die Wachen ein; die erste übernahmen Bjarki Fleischsuppe und Halfdan Lämmchen, ein Bauernsohn von Seeland. Die übrigen krochen zu zweit in die Fellsäcke, in denen tagsüber die Waffen und ihre persönliche Habe aufbewahrt wurden. Björn teilte einen Fellsack mit einem gleichaltrigen jungen Mann, der Leif hieß und ein entfernter Verwandter von Vagn war. Leif machte kein Hehl daraus, daß er Vagn nicht leiden konnte, ja, ihn zutiefst verabscheute. So entstand eine Freundschaft, die man Björn noch in hohem Alter rühmen hörte, ungeachtet dessen, daß sie ein schlimmes Ende fand.

In der Nacht wurde Björn durch ein Geräusch geweckt; ein Stück des Segels hatte sich aus der Verschnürung gelöst und flatterte im Wind; der Sternenhimmel drehte sich langsam um die Mastspitze, mal in dieser, mal in jener Richtung. Auf der Back stand Vagn; sein Gesicht war fahl, und grünliche Schatten lagen in seinen Augenhöhlen. Eine Zeitlang schien es Björn, daß Vagn ihn anblicke. Aber als sich das Schiff wieder drehte und das Mondlicht auf Vagns Gesicht fiel, sah er, daß er die Augen geschlossen hatte.

Noch vor Sonnenaufgang weckte Thormod die Mannschaft. Mit dem Wind hatte eine starke Strömung eingesetzt, so daß der Bug, obwohl das Schiff noch vor Anker lag, weiße Gischt aufwarf. Thormod befahl den Ruderern, sich mit aller Kraft in die Riemen zu legen, und schlug mit einem Speerschaft den Takt. Aber so sehr sich die Männer auch mühten: Das Ankertau blieb straff. Da sprang Thormod über Bord und forderte die anderen auf, seinem Beispiel zu folgen. Nun schoben sie, bis zur Brust im kalten Wasser stehend, das Schiff durch die enge Fahrrinne zwischen den Sandbänken hindurch ins Meer, und erst, als sie den Boden unter den Füßen verloren, kletterten sie wieder an Bord. Jetzt hatten die Ruderer es nur noch mit dem Wind zu tun, und jeder Riemenschlag trieb den Schiffsbug ein Stück weiter in die grünen Meereswogen vor. Außerhalb der gefährlichen Untiefen lenkte Hedin das Schiff auf Nordkurs und ließ das braune Segel setzen. Die Ruderer sanken erschöpft in sich zusammen; wie die anderen vom Meerwasser, waren sie von Schweiß durchnäßt.

Das Schiff machte gute Fahrt. Nachdem sie eine Weile in nördlicher Richtung an der Küste entlanggefahren waren, ging Hedin, so hoch wie möglich am Wind segelnd, auf Nordostkurs.

»Nach meinem Dafürhalten«, sagte Thormod zum Steuermann, »müssen wir weiter nach Norden segeln und dann auf günstigen Westwind warten. So machten es jedenfalls die Steuerleute, mit denen ich früher auf Fahrt ging.«

Hedin deutete auf eine riesige Doppeleiche, die einsam auf dem flachen Küstenstreifen stand: »Wenn wir diesen Baum querab an Backbord haben, gelangen wir auf Nordostkurs durch die Inseln, ohne auf Westwind warten zu müssen.«

»Du bist der Steuermann«, sagte Thormod. »Und doch wundert mich, wie gut du dich in dieser Gegend auskennst. Hast du mir nicht erzählt, du seist noch nie so weit südlich gewesen?«

»Ich weiß es von meinem Vater«, antwortete Hedin. »Er hat den größten Teil seines Lebens auf dem Meer verbracht, und als er alt wurde, gab er sein Wissen an mich weiter.«

Der Wind frischte noch mehr auf; die Wellen nahmen eine dunkelgrüne Farbe an; hier und da zeigten sich die ersten Schaumkronen. Die Männer hängten ihre Kleider zum Trocknen auf und kauerten sich fröstelnd an windgeschützte Stellen. Aber Thormod meinte, nichts wärme den Körper besser als Arbeit, und er befahl ihnen, das Wasser aus dem Laderaum zu schöpfen, das durch die Nietlöcher eingedrungen war. Nur Ketil Nase gelang es, dem wachsamen Auge des Schiffsführers zu entgehen, indem er sich in einen mit getrocknetem Fisch gefüllten Hautsack zwängte.

Gegen Mittag drehte der Wind auf Südost, wodurch das Schiff, seinen Kurs beibehaltend, an Fahrt gewann. Gischt sprühte vom Bug auf und ergoß sich schäumend über das Deck. Die Männer mußten die Schöpfkellen gegen Holzkübel austauschen, um der hereinbrechenden Flut Herr zu werden. Bald tauchten voraus die dunstigen Umrisse von Inseln auf. Mit zunehmender Annäherung löste sich das Grau in verschiedene Farbtöne auf: unten der von Gelb und Braun in ein rostiges Rot übergehende Ufersaum, darüber das helle Grün der Wiesen und das dunklere der Wälder. Von Ansiedlungen war nichts zu sehen; nur die dem Wald abgerungenen Felder, der Geruch eines Holzfeuers und ein geteerter Kahn, der am Wurzelgeflecht eines Baumes vertäut war, deuteten darauf hin, daß die Inseln bewohnt waren.

Ein Mann, der von einer dieser Inseln stammte und den sie Olaf Dorschbeißer nannten, weil er Fische durch einen Biß in den Kopf zu töten pflegte, schlug vor, die Nacht auf dem Hof seines Vaters zu verbringen; dort würden sie reichlich zu essen bekommen, und sein Vater braue ein gutes Bier. Doch Thormod schüttelte den Kopf: Angesichts der Strecke, die es zurückzulegen gelte, sei es nicht angebracht, unterwegs Verwandte zu besuchen, zumal dies erfahrungsgemäß in ein mehrtägiges Saufgelage ausarte. Im übrigen seien sie jetzt allesamt Seeleute, und für diese gäbe es kein anderes Zuhause als das Schiff.

Hedin beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Unbeirrt und mit einer Geschicklichkeit, die alle in Erstaunen setzte, steuerte er das Schiff durch das Gewirr kleiner und größerer Inseln, wich Untiefen aus, die von den anderen erst bemerkt wurden, wenn sie an der Bordwand vorbeiglitten, und nutzte jeden Windhauch, um das Schiff auf Kurs zu halten.

Der einzige Mensch, den sie an diesem Tag zu Gesicht bekamen, war ein Fischer, der, auf einem flachen Stein am Ufer stehend, mit weit ausgreifenden, gleichmäßigen Bewegungen sein Netz einholte. Olaf Dorschbeißer formte mit den Händen einen Trichter, rief dem Fischer seinen Namen sowie den seines Vaters zu und bat ihn, diesem auszurichten, daß er eine weite Reise unternehme, von der er als reicher Mann zurückkehren werde. Der Fischer gab durch nichts zu erkennen, daß er Olaf verstanden hatte; er blickte nicht einmal auf, als das Schiff, von einer Bö erfaßt, mit schäumender Bugwelle an ihm vorüberfuhr. Aber Bjarki Fleischsuppe erhob warnend seine drei Finger und sagte: »Ich könnte dir viel erzählen von Männern, die arm ausfuhren und mit noch weniger zurückkehrten, Olaf Dorschbeißer. Und nicht selten waren es jene, die den Mund zu voll genommen hatten.«

»Entweder komme ich mit einem Sack voll Gold und Silber zurück oder gar nicht«, antwortete Olaf zuversichtlich. Ob er auf die eine oder andere Weise recht behielt, entzieht sich unserer Kenntnis, weil er, wie noch zu berichten sein wird, eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Am Abend gingen sie im Windschatten einer dichtbewaldeten Insel vor Anker. Da das Ufer unübersichtlich war, erlaubte es Thormod nicht, daß an Land abgekocht wurde, und ließ Fladenbrot, gedörrten Fisch und Sauermilch austeilen. Als der Fisch aus dem Vorratssack geholt wurde, kam auch Ketil Nase wieder zum Vorschein, den bis dahin niemand vermißt hatte. Unter den Gerüchen, die er ausströmte, stach nun der nach Stockfisch besonders hervor und blieb trotz manchen unfreiwilligen Bades an ihm haften.

Nachts kam ein Sturm auf; die Böen stürzten sich über den Wald hinweg mit solcher Wucht auf das Schiff, daß das Ankertau zu reißen drohte. Thormod ließ ein zweites Tau ausbringen, das an einem Findling befestigt wurde. Nun konnte das Schiff zwar nicht mehr auf die tobende See hinausgetrieben werden, aber je nach der Richtung, aus der die Böen kamen, zerrte es mal an diesem, mal an jenem Tau, und jedesmal gab es einen Ruck, daß die Männer erschrocken aus dem Schlaf fuhren.

Gegen Morgen flaute der Sturm etwas ab. Der Wald stand wie eine schwarze gezackte Mauer vor einer grauen Wolkenbank, deren unterer Rand sich zu röten begann. Thormod ließ die Ankerleinen einholen und das Segel setzen; Hedin steuerte das Schiff aus dem Windschatten der Insel, blieb aber so nahe wie möglich unter der Küste, um es nicht der ganzen Kraft des Windes auszusetzen. Die Insel war sehr lang und so schmal, daß sie das Donnern der Brandung auf der anderen Seite hören konnten. Je weiter sie nach Norden kamen, desto lichter wurde der Wald; schließlich löste er sich in einzelne sturmzerzauste Bäume auf und gab die Sicht auf eine mit niedrigem Buschwerk bewachsene Landzunge frei. Das Schiff legte sich ächzend auf die Backbordseite und nahm Wasser über. Thormod bemerkte, daß einige der Männer ihn besorgt anblickten, er lachte. »Das ist das Wetter, bei dem ihr auf der Westsee schlafen werdet!« schrie er. »Denn dort gilt so etwas als Flaute.« Der Steuermann sagte nichts; seine Augen wanderten unablässig vom Segel zum Bug und von dort zu den Klippen vor der Nordspitze hinüber, an denen sich die Wogen mit dumpfem Grollen brachen.

Als die Landzunge hinter ihnen lag, ließ Hedin die Vorderkante des Segels mit dem Beitiàss steif durchsetzen und steuerte das Schiff so, daß Wind und Wellen fast von vorn kamen. Der Bug hob und senkte sich in mächtigen Schwüngen, aber es kam Ruhe in die Bewegungen des Schiffes, ganz so, als ob es tief und gleichmäßig zu atmen begonnen habe.

Sie fuhren so weit auf das Meer hinaus, bis die Küste von Seeland in Sicht kam. Dann warf Hedin das Ruder herum und ließ das Schiff mit achterlichem Wind nach Westen treiben. Aus den dahinjagenden Dunstschleiern trat immer deutlicher die Uferlandschaft einer großen Insel hervor. Björn sah ein im Sonnenlicht goldgelb aufleuchtendes Steilufer, wenig später schon die unzähligen Schlupflöcher der Seeschwalben, und während ihm das Donnern der Brandung noch in den Ohren dröhnte, war das Schiff bereits durch einen schmalen, kaum einen Steinwurf breiten Einschnitt in eine südwärts von Wald, nach Norden hin von Wiesen und Kornfeldern gesäumte Bucht gelangt.

Allmählich an Fahrt verlierend, aber noch immer von der Kraft des Windes zehrend, glitt das Schiff durch das seichte Wasser. Es war so klar, daß man den wellenförmig geriffelten Sandboden erkennen konnte, über den Schwärme blinkender Fischleiber zogen. Am jenseitigen Ufer der Bucht ließ Thormod das Schiff auflaufen.

»Ich werde zu Skjalm Hvide gehen und ihn fragen, ob ihm unser Besuch gelegen kommt«, sagte er zu Hedin, bevor er im Wald verschwand. Kurz darauf kehrte er mit einem Jüngling zurück, der Asser hieß und einer von Skjalms Söhnen war. Asser musterte die Besatzung schweigend, schien aber bald zu der Erkenntnis zu gelangen, daß keine Gefahr von ihr drohe, und bat sie, ihm zu folgen. Thormod ließ drei Männer als Wache beim Schiff zurück und schärfte den übrigen ein, sich gesittet zu betragen.

Skjalm Hvide nahm sie freundlich auf. Er entstammte einem Geschlecht, das seinen Ursprung auf den mit einer Riesin gezeugten Sohn des Gottes Baldur zurückführte, und wer ihn sah, mochte an seiner göttlichen Herkunft zweifeln, nicht aber daran, daß er ein Nachkomme der Riesin war. Sitzend überragte Skjalm alle, die neben ihm standen, sogar seine hünenhaften Söhne; wenn er sich jedoch erhob, wirkte er wie ein Baum, den statt eines Wipfels ein mächtiger, von grauem Haar umflatterter Kopf krönte. Gewaltig wie seine Körpermaße waren auch Skjalms Kraft und Stimme. Man sagte von ihm, daß er einem Ochsen mit bloßen Händen das Genick brechen und mit seinem dröhnenden Lachen ein Haus zum Einsturz bringen könne. Mochte das auch übertrieben sein, so war sich Thormods Mannschaft jedenfalls darin einig, daß Skjalm Hvide von allen lebenden Menschen der größte sei; selbst Bjarki Fleischsuppe fiel keine Geschichte ein, die das Gegenteil besagte.

Skjalms Hof ähnelte einer Festung: Rings um die kreisförmig angeordneten Wohnhäuser und Stallungen befand sich eine Mauer aus hohen, oben zugespitzten Baumstämmen. Skjalm Hvide hatte viele Neider und Feinde, und mit besonderem Stolz erfüllte es ihn, daß auch König Harald zu ihnen zählte. Diesem war der Großbauer und Jarl ein Dorn im Auge, denn Skjalm ließ kein Thing aus, ohne öffentlich zu verkünden, daß ihm, ginge es nach Reichtum, Klugheit und dem Alter seines Geschlechts, die Königswürde gebühre. Nun war ihm zu Ohren gedrungen, daß Harald Christ geworden war, und er war begierig, Näheres darüber zu hören.

Der Jarl ließ einen Ochsen und drei Lämmer schlachten und bewirtete seine Gäste mit einem Bier, das Björn schon nach dem ersten Becher die Sinne zu benebeln begann. Skjalm saß, von seinen zwölf Söhnen und einer unübersehbar großen Schar halbwüchsiger Enkel umgeben, am Kopfende der Tafel. Obwohl es warm war, trug er einen schweren kostbaren Pelz, denn Skjalm war nicht nur reich, er liebte es auch, seinen Reichtum zu zeigen. Anders als Harald duldete Skjalm keine Frauen an seiner Tafel. Im Beisein von Frauen, pflegte er zu sagen, suchten die Männer einander an eitlem Gebaren zu übertreffen, statt sich ungezwungener Fröhlichkeit hinzugeben; außerdem sei es in seiner Sippe immer so gewesen, und er denke nicht daran, auch nur um Haaresbreite von dem abzuweichen, was seine Vorfahren für gut befunden hätten.

»Nun laßt es euch schmecken«, rief er seinen Gästen zu, als die Speisen aufgetragen wurden. »Und wehe dem, der von meinem Tisch aufsteht, bevor er satt und besoffen ist!« Das Lachen, das diesen Worten folgte, brachte manchen dazu, sich für den Fall, daß das Haus zusammenstürzen sollte, nach einem Fluchtweg umzuschauen.

Wie eine Meute hungriger Wölfe fiel Thormods Mannschaft über die dampfenden Fleischberge her. Bjarki wurde seinem Beinamen vollauf gerecht, indem er die kochendheiße Brühe aus den Schüsseln schlürfte. Thormod bemerkte es mit Mißfallen, und um Skjalm von den rüden Tischsitten seiner Leute abzulenken, übermittelte er ihm König Haralds Grüße.

»Ich danke dir, wenngleich ich sicher bin, daß er dir keine Grüße an mich aufgetragen hat«, schmunzelte der Jarl. »Doch laß mich hören, was Harald Blauzahn dazu brachte, den alten Göttern abzuschwören.«

Nun erzählte Thormod von König Haralds Fest und Poppos Feuerprobe. Obwohl er nicht ahnte, daß außer ihm noch ein weiterer Zeuge des denkwürdigen Ereignisses am Tisch saß, hielt er sich im großen und ganzen an die Wahrheit. Als er geendet hatte, sagte Skjalm: »Wie immer es dieser Poppo zuwege gebracht haben mag, daß er sich nicht die Hände verbrannte: Für Harald bedeutet die Taufe ein gutes Geschäft. Denn wie ich höre, hat ihm der Kaiser sämtliche Abgaben erlassen. Nun kann er aus eigenen Mitteln ein Heer aufstellen und uns das Leben schwermachen. Aber so wahr ich Skjalm Hvide heiße: Niemand soll mir nachsagen, ich sei den alten Göttern untreu geworden.«

Mit diesen Worten, befand Thormod nach angemessenem Schweigen, habe sich Skjalm erneut als ein Mann ausgewiesen, der zu Höherem berufen sei, und falls es der Jarl nicht als Kränkung empfinde, von einem einfachen Kaufmann ein Geschenk anzunehmen, bäte er um die Erlaubnis, ihm ein solches überreichen zu dürfen. Skjalm Hvide nickte wohlwollend, und Thormod ließ einen Hautsack vom Schiff holen, den er vor Skjalms Augen aufschlitzte. Der Sack barg eine größere Zahl von Schwertklingen. Thormod nahm eine heraus, strich liebevoll über die Schneide und deutete auf die Runen, die in die Klinge geritzt waren: »Ulfberht der Franke hat sie geschmiedet; hier siehst du seinen Namen.« Damit legte er die Klinge in Skjalms Hände.

Die Augen des Jarls leuchteten auf. »Ich habe von Ulfberht gehört, und man hat mir berichtet, daß niemand bessere Klingen schmiedet als er«, sagte Skjalm. »Du machst mir mit diesem Geschenk eine große Freude, Thormod. Aber was verlangst du für die übrigen?«

Thormod entgegnete, er sei als Gast auf Skjalms Hof gekommen, nicht als Händler. Dies bestätigte der Jarl nachdrücklich und ließ ein Faß Bier anzapfen, das er sich, wie er sagte, nur mit seinen besten Freunden zu leeren vorgenommen habe. So ging das Gespräch eine Weile hin und her, bis sie sich handelseinig wurden und die Schwertklingen den Besitzer wechselten. Beide waren zufrieden. Skjalm glaubte die Waffen für einen Spottpreis erworben zu haben, und Thormod fand die Erfahrung bestätigt, daß nichts eine Ware so begehrenswert macht wie der gute Name ihres Herstellers; deshalb hatte er große Sorgfalt darauf verwandt, Ulfberhts Runen eigenhändig in die Klingen zu ritzen.

Sie blieben drei Tage auf Skjalm Hvides Hof. Den größten Teil der Zeit verbrachten sie schmausend und trinkend an der Tafel des Großbauern. Nebenher verkaufte Thormod dem Jarl eiserne Speer- und Pfeilspitzen, Streitäxte, Helme und Kettenhemden. Der herzliche Abschied ließ darauf schließen, daß beide der Meinung waren, einen guten Schnitt gemacht zu haben. Skjalm schenkte der Mannschaft ein Faß Bier und geleitete sie persönlich zum Schiff.

Der Wind hatte sich gelegt. Sie ruderten das Schiff aus der Bucht auf das Meer hinaus. Vor der Küste stand eine hohe Dünung, aber die Brise war zu schwach, das Schiff allein durch die Wellen zu treiben. Deshalb befahl Thormod den Ruderern, an den Riemen zu bleiben. Björn hatte inzwischen herausgefunden, daß das Rudern zu jenen Arbeiten zählt, die um so besser von der Hand gehen, je weniger man sich bei ihrer Verrichtung des Verstandes bedient. So konnte er seine Aufmerksamkeit ungeschmälert den Männern zuwenden, mit denen ihn das Schicksal auf dem Schiff zusammengeführt hatte. Da war, außer jenen, die wir bereits erwähnt haben, Hemmo der Kurze, der noch kleiner war als Björn, aber über ungewöhnliche Körperkraft verfügte; er pflegte seine Gegner von hinten mit den Armen zu umschlingen und ihnen den Brustkorb einzudrücken. Ein anderer hieß Torkel Hakenlachs; er fiel Björn dadurch auf, daß er sich ausschließlich von Fischen ernährte, die er unterwegs angelte und in rohem Zustand verschlang. Schließlich war da noch Tosti Einauge, der nur mit einem Auge, dem linken, zur Welt gekommen war. Dies beeinträchtigte zwar sein Sehvermögen, hatte jedoch seinen Geruchssinn derart geschärft, daß er nicht nur Land riechen konnte, bevor es in Sicht kam, sondern auch mit untrüglicher Sicherheit vorauszusagen wußte, ob es bewohnt war. Und wenn dies allein schon erstaunlich genug war, so konnte er darüber hinaus noch riechen, ob sich unter den Bewohnern Frauen befanden. Denn Frauen, behauptete er, zumal mannbare, strömten einen unverwechselbaren Geruch aus. Mit dieser Fähigkeit erwarb sich Tosti Einauge bei der Besatzung große Achtung, und es kam im weiteren Verlauf der Reise des öfteren vor, daß der Steuermann Tosti zu Rate zog.

Von den übrigen Männern, die hier ungenannt bleiben, nahm Björn nicht mehr wahr, als daß sie zusammen mit ihm an Bord lebten und arbeiteten, daß sie, wie er, hungerten und kämpften und, einer auf diese, der andere auf jene Weise, den Tod fanden.

Bei mäßigem Wind aus Südwest segelten sie weiter nach Norden. Bald blieb Seeland hinter ihnen zurück, und während auf der Backbordseite die buchtenreiche Küste von Jütland vorüberzog, dehnte sich steuerbord das Meer. Die Männer lagen an Deck, einige schliefen, andere vertrieben sich die Zeit mit Spielen oder lauschten, von den Tafelfreuden des Jarlhofes ermattet, mit halbem Ohr Bjarki Fleischsuppes unglaublichen Geschichten. Björn saß mit Leif auf der Back, und dieser erzählte ihm, daß er aus dem nördlichen Angeln stamme. Nachdem sein älterer Bruder den Hof übernommen habe, sei er in die Stadt zu Vagn gegangen, der ein Vetter seines Vaters war. Doch Vagn habe ihn nicht nur bei jeder Gelegenheit spüren lassen, wie unwillkommen er ihm war, sondern wie einen Knecht behandelt. Manches von dem, was Leif berichtete, erinnerte Björn an die Zeit, die er selbst bei Vagn verbracht hatte, aber davon erzählte er nichts. Er wollte seinen Haß mit niemandem teilen.

Nachts ankerten sie in Buchten, die sich nur dadurch unterschieden, daß der Wald am Ufer, je weiter sie nach Norden kamen, immer spärlicher und niedriger wurde. Bald fiel es schwer, einen windgeschützten Ankerplatz zu finden, denn statt von Wald waren die Buchten jetzt nur noch von dornigem Gestrüpp gesäumt. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont baumlose, sumpfige Heide. Auch Thormod hatte unterdessen Vertrauen zu Tostis Geruchssinn gefaßt; wenn Tosti Einauge keine Menschen witterte, ließ Thormod einige Männer an Land gehen, um das Essen zu kochen.

Eines Abends opferte Thormod einen kleinen gelben Hund, der bislang, von den meisten unbemerkt, in einem Verschlag unter dem Schanzdeck eingesperrt gewesen war. Thormod öffnete ihm die Schlagader, ließ das Blut über seine Hände strömen und hob diese dann, den Meeresgott Njörd mit lauter Stimme um seinen Beistand anrufend, zum Himmel empor. Das Bild prägte sich Björns Gedächtnis ein: Thormod, bis zu den Knien in verkrüppeltem Gesträuch auf einem Hügel am Ufer stehend, seine blutigen Hände mit gespreizten Fingern emporgestreckt, dahinter der in ein fleckiges Rot getauchte Abendhimmel. Später ließ Thormod einen Holzstoß errichten, auf dem er den Kadaver des Hundes verbrannte.

An diesem Abend gab es reichlich zu essen und mehr von Skjalm Hvides Starkbier zu trinken, als einige der Männer vertragen konnten. Halfdan Lämmchen watete trunken am Schiff vorbei in die Bucht hinaus, wo ihn die Strömung erfaßte und auf das Meer hinausgetrieben hätte, wäre er nicht an einem von Torkels Angelhaken hängengeblieben. Bei Ketil Nase führte der übermäßige Biergenuß dazu, daß ihn das Verlangen überkam, Björn einen faustgroßen Stein an den Kopf zu werfen. Da er, wenn er sich überhaupt bewegte, dies sehr langsam tat, gelang es Leif, ihm einen Schlag auf den zum Wurf ausholenden Arm zu versetzen. Erst Ketils Schrei ließ Björn herumfahren und erkennen, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Er dankte Leif und nahm sich vor, Ketil Nase nie wieder den Rücken zuzukehren.

Thormods Opfer schien den Meeresgott gnädig zu stimmen: Als das Schiff um die Mittagszeit des folgenden Tages die Nordspitze Jütlands rundete, zeigte allein die dunkelblaue Farbe des Wassers an, daß sie in die Westsee gelangt waren. Das für seine Wildheit berüchtigte Meer glitzerte glatt und friedlich in der Sonne. Ein schwacher, aber stetiger Wind trieb das Schiff nach Norden; die Sanddünen der Landzunge versanken hinter der Kimm. Nun befanden sie sich auf dem offenen Meer.

Das gleichmäßige Dahingleiten, das eintönige Rauschen des Wassers an der Bordwand, das träge Knarren der Takelage machten die Männer schläfrig. Sie dösten blicklos vor sich hin und wiegten ihre Körper in den sanften Bewegungen des Schiffes. Nur Hedin ließ keine Müdigkeit erkennen. Der unerwartete Empfang, den ihnen die Westsee bereitete, schien den Steuermann mit Mißtrauen zu erfüllen; unablässig suchten seine Augen den Horizont ab, folgten dem Flug der Seevögel oder wandten sich seinem eigenen Schatten zu, der kurz und gedrungen vor ihm auf dem Schanzdeck lag.

Als der Sonnenball westwärts ins Meer tauchte, kam voraus ein flacher, grauer, eine Daumenbreite über dem Wasserspiegel schwebender Streifen in Sicht. Die Männer, durch den Ruf des Stevenmannes aufgeschreckt, stritten darüber, ob es Land oder eine Nebelbank sei. Sie baten Hedin um seine Meinung; dieser gab die Frage stumm an Thormod weiter, denn nur dem Schiffsführer stand es zu, der Mannschaft Auskünfte zu erteilen.

»Es ist die Küste von Norwegen«, beschied Thormod die Fragenden. »Wenn Njörd uns weiterhin wohlgesinnt ist, wird sie unserer Reise von nun an für viele Wochen die Richtung geben.«

Nachdem er eine Weile mit Hedin beratschlagt hatte, gab Thormod der Mannschaft seinen Entschluß bekannt, die Nacht auf dem Meer zu verbringen, statt durch die Suche nach einem geeigneten Ankerplatz Zeit zu verlieren. Dies fand nicht bei allen Zustimmung, denn es bedeutete, daß sie sich mit kalter Verpflegung begnügen mußten, die vorwiegend aus Sauermilch, Stockfisch und verschimmeltem Fladenbrot bestand.

Die Nacht war sternenklar und beinahe windstill. Riesige Möwen umstrichen lautlos und schattenhaft das Schiff. Als die Männer in der Morgendämmerung aus den taubenetzten Fellsäcken krochen, sahen sie, daß das Schiff jetzt nach Westen segelte und auf ein schroff zum Meer hin abfallendes Kap zuhielt. Die Küste war felsig und zerklüftet; weiter im Landesinneren traten die Umrisse wellenförmiger Hügelketten aus dem Dunst hervor.

Kurz nach Sonnenaufgang hatte Björn Hemmo den Kurzen als Stevenmann abgelöst. So kam es, daß er als erster das Schiff sichtete, das lang und schmal hinter einem Felsen hervorschoß. Einen Augenblick lähmte ihm der Schreck die Zunge; er brachte nur ein Stammeln über die Lippen, dem unvermittelt ein schriller Ton folgte. Nun sah auch Hedin das fremde Schiff; er riß das Ruder herum und steuerte auf das Meer hinaus. Aber der schwerfällige Knorr hatte kaum beigedreht, als das mit zwanzig Ruderern bemannte Langschiff schon auf gleicher Höhe war. Auf der Back stand ein vierschrötiger Mann; er trug einen zottigen Pelz, der seine Arme freiließ, und als sich der Abstand zwischen den Schiffen weiter verringerte, konnte Björn erkennen, daß nicht nur seine Arme von den Fingerspitzen bis zu den Schultern, sondern auch sein Gesicht tätowiert waren.

Der Anblick des Mannes ließ Hedin erbleichen. »Das ist Thorgeir Bryntroll«, flüsterte er Thormod zu.

»Du kennst ihn?« fragte Thormod leise.

»Mein Vater und er sind früher gemeinsam auf Wiking gegangen«, antwortete der Steuermann. »Daher weiß ich, daß Thorgeir ebenso grausam wie unberechenbar ist.«

»Das erstere könnte uns nützlich sein«, sagte Thormod. »Vielleicht freut es ihn, dem Sohn seines einstigen Schiffsgenossen zu begegnen.« Er ließ das Segel streichen und wies die Mannschaft an, ihre Waffen griffbereit hinter das Schanzkleid zu legen.

Die Schiffe dümpelten jetzt, beide mit meerwärts gewandtem Bug, nur noch einige Riemenlängen voneinander entfernt in der schwachen Dünung. Der Wikinger hob die Waffe, die ihm seinen Beinamen verliehen hatte: eine zweischneidige Streitaxt, deren oberes Ende mit einer Eisenspitze versehen war. Dann fragte er nach dem Namen des Schiffsführers, nach der Ladung des Schiffes und dem Ziel der Reise. Als Thormod dies alles beantwortet hatte, wobei er allerdings die mitgeführten Waren als wertlosen, für die Wilden im Nordland bestimmten Plunder abtat, lachte Thorgeir und sagte: »Du brauchst nicht so weit nach Norden zu fahren, wenn du mit Wilden Handel treiben willst, Thormod Grisson. Wildere Männer als uns wirst du schwerlich treffen. Laß mich also sehen, was du zu bieten hast.«

Thormod entgegnete: »Es ist wenig darunter, was dein verwöhntes Auge erfreuen könnte, Thorgeir. Aber ich lasse es mich gern einen Beutel Silber kosten, daß ich mich rühmen darf, dem großen Thorgeir Bryntroll von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben.«

»Wie alle Händler bist auch du ein Schwätzer«, sagte Thorgeir. »Deshalb rate ich dir, nicht durch weiteres Reden meinen Zorn zu wecken. Zeig mir, was du geladen hast, dann wollen wir weitersehen.« Er befahl den Ruderern, die Riemen gegen Enterhaken auszutauschen und sich an der Reling aufzustellen.

»Sprich du mit ihm«, tuschelte Thormod seinem Steuermann zu und schob ihn nach vorn. Hedin nannte seinen Namen und gab sich als Sohn des Gudmundur Einarsson zu erkennen, der mit Thorgeir viele Jahre auf Raub ausgefahren war. Der Wikinger hörte es mit Verdruß, denn er rühmte sich gern seines Edelmuts, und dieser verlangte es, daß er mit dem Sohn seines Freundes und dessen Gefährten glimpflich verfuhr. Als Hedin schließlich noch erwähnte, daß sein Vater Thorgeir einst das Leben gerettet hatte, gebot der Wikinger ihm mit einer Handbewegung zu schweigen und sagte: »Du hast Glück, Thormod, daß du dir Hedin Gudmundursson zum Steuermann nahmst. Doch es wäre zuviel des Glücks, wollte ich dich gänzlich ungeschoren davonkommen lassen. Gib mir für jeden deiner Leute eine Mark Silber, und wir wollen im Guten voneinander scheiden.«

Dieses Verlangen versetzte Thormod in große Erregung. Er raufte sich das Haar und rief alle Götter zu Zeugen an, daß er eine solche Menge Silbers nie und nimmer zu zahlen imstande sei. Daraufhin ließ sich Thorgeir einen Speer geben und schleuderte ihn auf einen von Thormods Männern. Der Speer durchbohrte seine Brust und heftete ihn an den Mast.

»Jetzt kommt es dich etwas billiger«, grinste Thorgeir. »Und so werde ich weitermachen, bis du meine Forderung erfüllen kannst.«

Mit zitternden Händen zerrte Thormod einen prallgefüllten Lederbeutel unter dem Schanzdeck hervor und warf ihn auf Thorgeirs Schiff hinüber. Der Wikinger öffnete ihn, prüfte den Inhalt und schüttelte den Kopf. »Das reicht gerade für Hedin Gudmundursson und dich selbst«, sagte er. »Wollt ihr das Schiff allein nach Nordland segeln?«

»Mehr habe ich nicht!« schrie Thormod. Aber als der Wikinger nun abermals die Hand nach einem Speer ausstreckte, nestelte Thormod zwei kleinere Beutel von seinem Gürtel und warf sie Thorgeir zu. »Ich schwöre dir, daß ich jetzt kein einziges Stück Silber mehr besitze«, sagte er mit brüchiger Stimme.

»Auf den Schwur eines Kaufmannes gebe ich nichts«, erwiderte Thorgeir. »Aber die Erinnerung an meinen Weggefährten Gudmundur hat mein Herz erweicht, deshalb beeilt euch, mir aus den Augen zu kommen, bevor ich meinen Großmut bereue.«

Ohne Thormods Befehl abzuwarten, stürzten die Männer zu den Ruderbänken und brachten das Schiff mit peitschendem Riemenschlag aus der Reichweite der Wikingerspeere.

»Mit dem Geld, das ich für euch bezahlt habe, hätte ich eine Mannschaft ausgesuchter Seeleute anheuern können«, sagte Thormod zu den Männern. »Da ihr aber ein Haufen nichtsnutziger Landratten seid, werde ich den Anteil eines jeden von euch um die Hälfte kürzen, und ich denke, daß euch euer Leben soviel wert ist.« Dagegen erhob sich zunächst kein Widerspruch, aber als sie abends im Windschatten einer Felsinsel vor Anker lagen, hörte Björn, wie Egbert den Schiffsführer einen Halsabschneider nannte.

Mehrere Tage lang hielt das gute Wetter an. Es schien, als ob die Westsee ihren bösen Ruf Lügen strafen wolle. Nachdem das Schiff die Südspitze Norwegens in weitem Bogen umsegelt hatte, ging es wieder auf Nordkurs. Mehr von einer starken Meeresströmung als vom Wind getrieben, fuhr das Schiff an einer baumlosen Schärenküste entlang, hinter der sich schroffe, bis zur halben Höhe bewaldete Berge erhoben. Zuweilen öffnete sich auf der Steuerbordseite ein tief ins Land vorstoßender, von Steilhängen gesäumter Fjord.

Dann frischte der Wind auf, und an der Wolkenbildung war zu erkennen, daß er noch zunehmen würde. Hedin steuerte das Schiff zwischen die Schären, wo es zwar vor dem Wind geschützt war, aber ständig Gefahr lief, an einer der zahllosen, teils sichtbaren, teils knapp unter dem Wasserspiegel verborgenen Klippen zu zerschellen. Nun hing alles von Hedins Können ab, und es erregte Bewunderung, wie umsichtig und geschickt er den Knorr durch die Schären lenkte.

 

Die Männer gaben es auf, die Tage zu zählen, die seit ihrer Abreise vergangen waren. Jeder Tag glich dem anderen, wie ein Ankerplatz dem nächsten ähnelte. Die stete Wiederkehr des Gleichen führte dazu, daß die Zeit nach Ereignissen gemessen wurde, die sich vom Gewohnten unterschieden. Die Begegnung mit dem Wikinger Thorgeir Bryntroll war eines jener Ereignisse, mit dem eine neue Zeitrechnung begann. Ein anderes war mit einer Frau verknüpft, die Dagbjört hieß. Wir schildern den Vorfall so, wie Björn ihn in späteren Jahren am Herdfeuer erzählte.

Eines Abends hätten sie auf einer flachen Felsplatte am Ufer gesessen und einen Topf mit Grütze auf dem Feuer gehabt. Die Felsplatte sei noch warm von der Sonne gewesen. Vom Meer her habe man das Tosen der Brandung hören können, hinter den Schären jedoch sei es beinahe windstill gewesen. Mückenschwärme hätten über ihren Köpfen getanzt. Plötzlich hätten sich Tostis Nasenflügel gebläht; er habe die Luft schnuppernd eingesogen, seinen Kopf zum Land hin gedreht und gesagt, ganz in der Nähe müsse sich eine Frau befinden, dem Geruch nach zu urteilen nicht mehr jung, aber noch gut im Fleisch. Nun seien die Männer aufgesprungen und in die Richtung gegangen, in die Tostis Nase wies. Hinter einem Stein sei eine Frau hervorgekommen und vor den Männern davongelaufen. Alle, sogar der faule Ketil, hätten sich an die Verfolgung gemacht. Nur Thormod und Hedin seien beim Schiff zurückgeblieben. Die Frau habe, obwohl sie ziemlich dick gewesen sei, sehr schnell laufen können, aber einige der Männer seien noch schneller gewesen; sie hätten der Frau, kurz bevor sie den Wald habe erreichen können, den Weg abgeschnitten. Nun sei die Frau stehengeblieben und habe sich umgewandt. Trotz ihres Alters sei die Frau noch schön gewesen, sie habe langes braunes Haar und große Brüste gehabt. Die Männer hätten einen Kreis um die Frau gebildet, und die Frau habe heftig atmend einen nach dem anderen angeblickt. Dann habe sie ihr Kleid bis zu den Hüften hochgehoben, habe sich rücklings in das Moos gelegt und die Beine gespreizt. Die Männer seien unschlüssig gewesen, wer von ihnen den Anfang machen sollte, aber dann habe Torkel Hakenlachs seine Hose fallen lassen und sich auf die Frau gelegt. Als nächster sei Egbert drangekommen und nach diesem die anderen. Die Frau habe sich währenddessen nicht bewegt, auch keinen Laut von sich gegeben, sie habe nur so dagelegen und die Beine breitgemacht. Als alle ihren Samen losgeworden seien, habe sie sich mit dem Rocksaum abgewischt und aufgerichtet. Sie hätten dann noch eine Weile miteinander im Moos gesessen, und die Frau habe erzählt, daß sie Dagbjört heiße und in den Wald gegangen sei, um Beeren zu sammeln. Dann habe sie die Männer gefragt, wer sie seien und woher sie kämen, und als alles gesagt gewesen sei, habe Dagbjört gefragt, ob man sie nun gehenlassen würde, und die Männer hätten nichts dagegen gehabt.

Als Thormod davon erfuhr, wurde er sehr wütend und schimpfte die Männer hirnlose Lüstlinge; keinem, schrie er, hätte er eine Träne nachgeweint, wenn sie von der Frau in einen Hinterhalt gelockt und allesamt erschlagen worden wären. Weil er Egbert als einzigem einen Funken Verstand zubilligte, ließ er diesen an den Mast fesseln und achtete darauf, daß er einige Tage nichts zu essen bekam. Dadurch machte er sich Egbert zum Feind.

Der Westwind dauerte zwei Wochen lang an; deshalb vermied es Hedin, auf das offene Meer hinauszusteuern, und hielt, so gut es ging, an der Leeseite der Schären nordwärts. Weil dort aber entweder Flaute herrschte oder unerwartete Böen das Schiff zum Kentern bringen konnten, mußten sie die meiste Zeit rudern. An Björns Händen hatte sich eine aus Blut, Schmutz und Eiter bestehende Kruste gebildet, die, wenn er nach stundenlangem Rudern die Finger von den Riemen löste und sie dehnte, von den Innenflächen seiner Hände platzte.

Dagbjört war fast schon in Vergessenheit geraten, als ein weiteres Ereignis die Gemüter erregte und für neuen Gesprächsstoff sorgte. Die Männer hatten sich so daran gewöhnt, daß hinter der vor ihnen liegenden Schäreninsel eine nächste auftauchte, kahl und unbewohnt wie diese, und hinter jener eine weitere, daß sie ihren Augen zunächst nicht trauen wollten, als unversehens ein Hof vor ihnen lag. Er war von einer Steinmauer umgeben und bestand aus mehreren niedrigen Gebäuden, deren grasbewachsene Dächer fast den Erdboden berührten. Aus einem der Häuser stieg Rauch empor, aber es waren weder Menschen noch Vieh zu sehen.

Thormod gab Befehl, den Anker auszuwerfen, und ließ das Schiff so nahe ans Ufer treiben, bis sein Kiel über felsigen Boden schrammte.

Hedin riet zur Vorsicht. Daß sich niemand zeige, sei kein gutes Zeichen; er vermute, daß sie von den Hofbewohnern längst bemerkt worden seien und diese sich in Verteidigungsbereitschaft gesetzt hätten. Aber Thormod meinte, auch ein Bauer könne unschwer einen Knorr von einem Langschiff unterscheiden, und nach seiner Erfahrung seien Händler in dieser Einöde stets willkommen. Dann sagte er zu Björn: »Du kommst mit mir, Glücksbringer«, und watete an Land.

Auf dem Hof rührte sich nichts. Als sie an die Steinmauer gelangten, begann ein Hund zu bellen, verstummte jedoch nach kurzem Aufheulen, als sei er durch einen Tritt zum Schweigen gebracht worden.

Thormod rief seinen Namen zu dem Haus hinüber, aus dem Rauch durch ein Loch im Dachfirst hervorquoll. Er und seine Leute kämen in friedlicher Absicht, und er habe Waren an Bord, die es sich anzuschauen lohne.

In die Stille, die nun eintrat, mischte sich ein schwirrendes Geräusch. Björn warf sich auf Thormod und riß ihn zur Seite. Wo Thormod eben noch gestanden hatte, steckte ein Pfeil mit zitterndem Schaft im Erdreich.

»Du hast eine grobe Art, mir Glück zu bringen, Björn Hasenscharte«, stöhnte Thormod, während er hinter dem Steinwall Schutz suchte.

»Der Pfeil muß von dort oben gekommen sein«, sagte Björn und deutete zum Berghang empor, wo man die grobgefügten Mauern eines Schafstalls erkennen konnte.

Mit lauter Stimme beteuerte Thormod erneut, daß er nichts anderes im Sinn habe, als den Hofleuten seine Waren zu zeigen und ihnen, falls sie dafür Verwendung hätten, das eine oder andere zu verkaufen.

Nun öffnete sich die Tür des Wohnhauses, und eine alte Frau trat daraus hervor. Sie war groß und breitschultrig wie ein Mann; in der einen Hand hielt sie eine Axt, mit der anderen machte sie eine Einhalt gebietende Gebärde zum Schafstall empor. Hinter ihr zeigte sich eine weitere Frau in der Tür, auch sie war von kräftigem Körperbau, aber jünger; diese trug einen Speer.

»Wir brauchen nichts«, sagte die alte Frau. »Laßt uns in Ruhe und fahrt weiter.«

»Ist es bei euch Sitte, daß die Hausfrau das Wort führt?« fragte Thormod. »Sag deinem Mann, daß ich mit ihm sprechen will.«

»Hier ist keiner, der mit dir reden will«, antwortete die Frau und verschwand im Haus. Sie hörten, wie die Tür von innen verriegelt wurde.

»Da wohnen arme Leute, Thormod«, sagte Hedin, als sie zum Schiff zurückkehrten. »Was willst du denen verkaufen?«

»Wenn es so wäre: Weshalb treten uns dann sogar die Frauen bewaffnet entgegen?« erwiderte der Schiffsführer. »Wer nichts besitzt, hat auch nichts zu beschützen.«

»Dafür gibt es eine einfache Erklärung«, mischte sich Tosti Einauge in das Gespräch ein: »Sie beschützen sich selbst, denn in dem Haus dort befinden sich nur Frauen.« Er schnupperte in den Wind, der vom Berghang herniederstrich: »Auch der Bogenschütze ist eine Frau.«

»Da Tosti sich bislang noch nicht geirrt hat, wird er auch diesmal recht haben«, sagte Hedin. Nun erzählte er, daß die meisten Bauern dieser Gegend im Sommer auf Wiking gingen, weil der Boden zu karg sei, ihnen ausreichend Nahrung zu geben; oft blieben nur die Frauen und Kinder auf den Höfen zurück. »Aber«, schloß er warnend, »man sagt von ihnen, daß sie sich gut zu wehren wissen.«

In Thormods Augen trat ein fiebriges Glitzern. Er rief Hemmo den Kurzen zu sich, zeigte ihm den Schafstall und sagte: »Dort oben ist eine, die von dir umarmt werden möchte. Aber mach es leise.« Hemmo entblößte grinsend seinen zahnlosen Kiefer und kletterte im Geröll eines Bachbetts am Berghang empor. Nach einer Weile kehrte er mit einem Bogen und einem Köcher zurück, in dem ein Pfeil fehlte. »Zu Mittag hat es Lammfleisch gegeben«, sagte er, indem er auf seinen rechten Unterarm deutete, an dessen Haarfilz die Reste von Erbrochenem klebten.

»Laß es damit genug sein«, bat Hedin den Schiffsführer. »Wenn wir vor dem Winter aus dem Nordland zurückkehren wollen, dürfen wir keine Zeit vergeuden.«

»Bisher bin ich überall freundlich aufgenommen worden«, entgegnete Thormod. »Deshalb ärgert es mich, hier vor verschlossener Tür zu stehen.« Er gab den Männern Bier zu trinken, aber nichts zu essen. Im Haus, sagte er, würden sie genug finden, womit sie ihren Hunger stillen könnten, und wenn auf Tostis Nase Verlaß sei, würden sie dort auch in anderer Hinsicht nicht zu kurz kommen.

»Ich mache nicht mit«, sagte Hedin. »Denn wenn es sich herumspricht, daß ich an dem Überfall beteiligt war, kann ich nicht wieder in diese Gegend kommen, ohne um mein Leben fürchten zu müssen.«

Da lachte Thormod und sagte: »Redet so der Sohn eines Wikingers, Hedin Gudmundursson? Aber bleib meinetwegen an Bord; wir brauchen deine Hilfe nicht, um die Weiber die einfachsten Regeln der Gastfreundschaft zu lehren.«

Als die Sonne untergegangen war und sich eine fahle Dämmerung über die Schären senkte, ließ Thormod die Männer rings um den Hof ausschwärmen. Er selbst ging, wiederum nur von Björn begleitet, zu der Steinmauer und forderte die Frauen auf, ihm und seinen Männern für die kommende Nacht Obdach zu gewähren; wenn sie sich aber weigerten, werde er sich mit Gewalt Einlaß verschaffen.

Die Antwort war ein Pfeil, der, aus der halbgeöffneten Tür eines Stalls hervorschnellend, nur um Haaresbreite Thormods Kopf verfehlte. Nun gab er den Männern Befehl, von allen Seiten gleichzeitig zum Hof vorzudringen. Thormod sprang über die Mauer, entging durch rasches Wegducken einem weiteren Pfeil und stürmte mit gezücktem Schwert in den Stall. Björn folgte ihm. Als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er zwei halbwüchsige Mädchen, von denen das eine mit einer klaffenden Halswunde am Boden lag, während das andere einen Speer auf Thormod gerichtet hatte. Thormod hebt sein Schwert, Blut trieft zähflüssig von der Klinge, das Mädchen starrt wie gebannt auf die Blutstropfen, Thormod geht langsam auf sie zu, stößt den Speer mit seinem Schwert beiseite, jetzt berührt die Schwertspitze ihre Brust, dringt ein, dringt tief ein, ohne daß sich der Klinge Widerstand zu bieten scheint, das Mädchen öffnet die Lippen, als ob es etwas sagen wolle, dann bricht es zusammen. Thormod zieht die Klinge aus ihrer Brust, wischt das Blut an ihrem Kleid ab, vor Björns Augen taucht das Bild auf, wie Dagbjört mit dem Rocksaum ihre Scham abwischte, dort der Samen, hier das Blut.

»Sie wäre schön geworden, wenn sie noch ein wenig gelebt hätte«, sagte Thormod.

Er ging zum Wohnhaus hinüber und stellte sich seitwärts neben die Tür. »Drei von euch sind tot«, rief er. »Euch da drinnen wird es genauso ergehen, wenn ihr uns nicht hereinlaßt.« Als keine Antwort kam, gab er Hemmo ein Zeichen; dieser warf sich mit der ganzen Wucht seines Körpers gegen die Tür. Sie sprang aus den Angeln. Aber bevor die Männer in das Haus eindringen konnten, stürzte die Alte aus ihm hervor. Sie wandte sich sogleich, ihre Axt schwingend, Thormod zu. Er wich ihr aus, die Axt grub sich knirschend in Halfdan Lämmchens Kopf. Nun sprang Olaf Dorschbeißer vor und hieb der Alten den Arm ab. Sie bückte sich, streckte die linke Hand nach der Axt aus, die ihre rechte noch umklammert hielt, aber Thormod stieß ihr das Schwert in die Rippen. Die alte Frau fiel auf den Bauch, drehte ihren Kopf aber so, daß sie Thormod sehen konnte, und sagte: »Du wirst mich von nun an nicht wieder loswerden, Thormod. Wenn du wach bist, werde ich hinter dir stehen, wenn du schläfst, werde ich durch deine Träume geistern, wenn du stirbst, werde ich zuschauen. Und es wird mein Dorn sein, der dir ins Herz dringt.« Damit starb sie.

»Was kümmert mich das Geschwätz eines alten Weibes«, sagte Thormod. Aber ihm war anzusehen, daß ihre Worte ihn erschreckt hatten. Dann befahl er den übrigen Frauen, aus dem Haus zu kommen, wenn sie weiteres Blutvergießen vermeiden wollten.

Nacheinander traten sie aus der Tür: eine kleine, verhutzelte Greisin, die die Mutter jener Frau sein mochte, die Thormod getötet hatte, zwei junge Frauen, von denen die eine schwanger war, und ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren. Dieses lief zu der toten Frau und warf sich weinend über sie.

Die Männer scharten sich um die jungen Frauen. Hemmo tätschelte der Schwangeren den Bauch und meinte, bei ihrem Zustand sei es wohl besser, wenn er es ihr von hinten besorge. Doch Thormod scheuchte seine Männer fort und bat die Frauen, ihnen etwas zu essen zu geben. Die Männer murrten, denn ihr Verlangen nach Frauen war noch größer als ihr Hunger.

Später saßen sie auf weichen Fellen rings um das Herdfeuer, dessen spärliches Licht nur ihre Gesichter aus dem Dunkel hob. Sie aßen geräucherte Hammelköpfe und tranken Bier, das Thormod vom Schiff hatte holen lassen. Die Frauen waren schweigsam; wenn man sie etwas fragte, gaben sie einsilbige Antworten. Aber soviel erfuhren die Männer, daß Thormod eine Frau getötet hatte, die in der ganzen Gegend als Zauberin bekannt war.

Dies bot Bjarki Fleischsuppe Gelegenheit, von Erik Blutaxt zu erzählen, der eines Tages achtzig Zauberer, darunter zwei seiner Brüder, ertränkt habe. Da aber bekanntlich die letzten Worte eines Zauberers in Erfüllung gingen und sein letzter Blick Unglück brächte, habe Erik ihnen den Mund mit Werg stopfen und einen Sack über den Kopf stülpen lassen, bevor man sie ins Wasser warf. Obwohl dies offenkundig der Anfang einer längeren Geschichte war, mußte Bjarki es dabei bewenden lassen, denn Thormod schnitt ihm unwirsch das Wort ab. »Es war nicht meine Schuld, daß sie ums Leben kam«, sagte er. »Oder hätte ich mir von ihr den Schädel spalten lassen sollen, wie es Halfdan geschah?«

Gleichwohl sei es ratsam, dafür zu sorgen, daß sie ihre Drohung nicht wahrmachen könne, meinte Björn.

»Das ist ein guter Rat, Glücksbringer«, sagte Thormod. »Ich hoffe nur, du weißt auch, was da zu tun ist.«

Noch am gleichen Abend hoben sie eine Grube unter der Türschwelle aus, legten die Alte hinein, schnitten ihr den Kopf ab und trieben einen Pfahl durch ihre Brust. Dann schütteten sie das Loch zu, und Björn ritzte Zeichen in die Erde, die er sogleich wieder verwischte.

Als alles getan war, sagte Thormod: »Mir scheint, daß es Bischof Poppo wahrlich gut mit mir meinte, als er dich zu mir schickte, Björn Hasenscharte. Aber die Art, wie du Wiedergänger bannst, kommt mir nicht gerade christlich vor. Wer hat es dich gelehrt?«

»Gris der Weise«, antwortete Björn. Nun erzählte er, daß sie einander schon einmal begegnet seien, damals in Gris' Höhle, und Thormod erinnerte sich des Jünglings, der neben seinem Vater am Feuer gesessen hatte. Von diesem Tage an herrschte zwischen Thormod und Björn ein gutes Einvernehmen; öfter als die anderen zog der Schiffsführer ihn ins Gespräch und fragte ihn um Rat. Es sollte sich jedoch erweisen, daß Björns Gegenzauber dem Fluch der alten Frau nicht gewachsen war.

Am nächsten Morgen begruben sie Halfdan Lämmchen in einer flachen Felsmulde in der Nähe des Wassers; weil nicht genug Erde da war, häuften sie Steine und Moos auf den Leichnam. Als sie den Anker lichteten und das Schiff, von einer leichten Brise erfaßt, in die Schären hinaussegelte, gingen die Frauen ihrer Arbeit nach, als ob nichts geschehen sei. Aber gegen Ende des Sommers würde der Bauer mit seinen Söhnen heimkehren, und die Frauen würden von dem Überfall erzählen und Thormod und seine Mannschaft so genau beschreiben, daß man sie noch Jahre später als die Männer wiedererkennen würde, an denen es Rache zu nehmen galt.

Hedin stellte keine Fragen. Vermutlich hätte er ohnehin keine Antwort erhalten, denn die Männer waren verbittert und gereizt; auch Thormod hüllte sich in düsteres Schweigen. Ihm war, wie er Björn später erzählte, noch in derselben Nacht die alte Frau im Traum erschienen.

Der Wind war günstig, so daß Hedin es wagte, das Schiff aus den Schären auf das Meer hinauszusteuern. Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto deutlicher traten hinter den bewaldeten Kuppen des Vorgebirges die schroffen Flanken gewaltiger Felstürme hervor; oben waren sie von Wolken umhüllt, die nur selten den Blick auf einen schneebedeckten Gipfel freigaben. Nie zuvor habe er eine derart wilde und furchteinflößende Bergwelt gesehen, meinte Leif, und es falle ihm schwer, sich vorzustellen, daß dort Menschen lebten. Der Küstenstrich sei tatsächlich nahezu unbewohnt, entgegnete Hedin. Aber am Rand der tief ins Land einschneidenden Fjorde gäbe es Wiesen und fruchtbare Acker, und die Fjorde selbst wie auch die Bäche und Bergseen seien reich an Fischen. In einem der Täler, fuhr der Steuermann fort, habe er seine Kindheit verbracht, und es erfülle ihn mit Schmerz, in diesem Land nun geächtet zu sein.

»Du hast dir doch nichts zuschulden kommen lassen«, sagte Björn.

»Ich hätte einen Kurs steuern können, daß keiner von euch den Hof bemerkt hätte«, erwiderte Hedin. Und nun senkte er seine Stimme zu einem Flüstern: »Aber ich dachte, daß ich das Schiff eines Händlers steuere, nicht das eines Seeräubers. Und wenn es schon eine Dummheit war, den Hof zu überfallen, so war es eine noch größere, auch nur eine einzige von den Frauen am Leben zu lassen.«

Einige Tage darauf kreuzte ein Walfänger ihren Kurs. Die Schiffe näherten sich einander bis auf Rufnähe, und der Steuermann des Walfängers rief etwas herüber, was außer Hedin keiner verstand.

»Es sind Männer aus Tröndelag«, sagte er zu Thormod. »Sie kennen einen Platz, wo wir über Nacht bleiben können, und sie laden uns ein, von ihrem Walfleisch zu kosten.«

»Kann man ihnen trauen?« fragte Thormod.

Es komme gelegentlich vor, daß sich Seeräuber als Händler tarnten, selten jedoch als Walfänger, entgegnete Hedin - eine Antwort, die Thormod sichtlich verdroß. Mit barscher Stimme befahl er, dem Walfänger zu folgen.

Sie gelangten zu einer Felsklippe, die zum Meer hin einen aus großen Steinen bestehenden Ringwall bildete und den Schiffen Schutz vor Wind und Wellen bot. Die Walfänger trugen einen Kessel an das Ufer, und während einige von ihnen Treibholz sammelten, machten sich andere daran, den Schwanzteil eines Grindwals zu zerlegen.

Nachdem Thormod seinen Männern eingeschärft hatte, auf der Hut zu sein und sich auf keinen Streit einzulassen, ging er mit seiner Mannschaft an Land. Es zeigte sich jedoch, daß die Walfänger friedfertige Leute waren, denen an nichts anderem gelegen war, als etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Die Verständigung war allerdings schwierig, denn die Männer aus Tröndelag redeten in einem rauhkehligen Singsang, in dem nur wenige bekannte Wörter auszumachen waren.

Das Walfleisch war saftig und wohlschmeckend; einige von Thormods Männern verschlangen es mit solcher Gier, daß ihnen übel wurde. Aber kaum, daß sie sich erbrochen hatten, fischten sie aufs neue dampfende Fleischlappen aus dem Kessel und würgten sie beinahe unzerkaut hinunter.

Der Steuermann des Walfängers hieß Tungu-Odd. Sein gedrungener Körper war ganz in zottiges Fell gehüllt, und auch seine Hände und sein Gesicht waren nahezu vollständig behaart. Tungu-Odd erzählte, daß er am nördlichsten von allen Norwegern wohne. Das Land erstrecke sich zwar noch sehr weit nach Norden, aber es sei unbewohnt - mit Ausnahme weniger Plätze, an denen sich Finnen aufhielten, die im Winter jagten und im Sommer fischten. Als Thormod verlauten ließ, daß er noch weiter nach Norden zu segeln beabsichtige, fragte Tungu-Odd den Steuermann, ob er sich in den nördlichen Gewässern auskenne. Hedin verneinte; weder sein Vater noch er selbst seien jemals so weit nach Norden gelangt.

Dann sei es mehr als waghalsig weiterzufahren, sagte Tungu-Odd, er habe etliche Schiffe nach Norden segeln sehen, aber nur selten sei eines von ihnen zurückgekommen. Denn das Meer dort sei rauh, die Küste voller tückischer Gefahren, und die Bjarmen seien unberechenbarer als wilde Tiere. Dies alles malte Tungu-Odd in solch düsteren Farben aus, daß es Thormods Männern kalt über den Rücken lief. Doch der gewitzte Händler hatte längst erkannt, daß Tungu-Odds in Schreckensbildern schwelgende Beredsamkeit allein dem Zweck diente, den Preis einer noch nicht näher bezeichneten Ware in die Höhe zu treiben.

»Frag ihn, welchen Rat er mir gibt, falls ich dennoch nicht von meinem Vorhaben ablasse«, bat Thormod seinen Steuermann.

Als Hedin dies übersetzt hatte, schwieg Tungu-Odd längere Zeit und kaute nachdenklich auf seinen Lippen. Dann sagte er, er habe einen Finnen namens Karhu in seiner Mannschaft, der von der Halbinsel Ter im äußersten Norden stamme und dort oben jeden Stein kenne, gleichgültig, ob sich dieser auf dem Land oder im Wasser befinde. Aus diesem Grund könne er allerdings kaum auf Karhu verzichten, ja, wenn er es recht bedenke, sei er ihm schlechthin unentbehrlich, und Thormod möge verzeihen, daß er einen flüchtigen Gedanken in Worte gefaßt habe.

Als die Schiffe früh am nächsten Morgen die Anker lichteten, gehörte Karhu zu Thormods Mannschaft; Tungu-Odd hatte ihn Thormod für eine Handvoll Glasperlen, zwei Speerspitzen und ein Messer verkauft. Karhu war jung, fast noch ein Knabe; er hatte breite Backenknochen und flinke schwarze Augen. Seine Bewegungen waren schwerelos und geschmeidig wie die eines Eichhörnchens, deshalb belustigte es die Männer, als sie erfuhren, daß sein Name ›der Bär‹ bedeutete.

Drei Tage fuhren sie, dem Verlauf der Küste folgend, nach Nordosten, und die ganze Zeit lag das öde Land an Steuerbord und die offene See an Backbord. Dann hatten sie jenen Punkt erreicht, von dem Karhu sagte, daß die Walfänger selten über ihn hinaus nach Norden führen. Von dort segelten sie drei weitere Tage, ohne nachts vor Anker zu gehen, bis sich die Küste nach Osten bog. Auf Karhus Rat warteten sie in Lee einer senkrecht aus dem Meer emporsteigenden Felswand nordwestlichen Wind ab und segelten dann ohne Unterbrechung vier Tage ostwärts am Land entlang. Nun bog die Küste nach Süden, und nach fünf Tagen gelangten sie an die Mündung eines breiten Flusses, dessen Wasser sich lehmig-trüb ins Meer ergoß. Mit günstigem Nordwind segelten sie ein Stück flußaufwärts, bis die Strömung so stark wurde, daß das Schiff kaum noch Fahrt machte.

Die ganze Zeit über hatten sie längs der Küste keine Anzeichen menschlicher Besiedlung entdeckt. Nun aber sahen sie beiderseits des Flusses bebautes Land. Dies sei das Gebiet der Bjarmen, sagte Karhu. Er riet jedoch davon ab, es zu betreten, bevor sie von den Bewohnern dazu aufgefordert worden seien. Zunächst gelte es, ihnen klarzumachen, daß man in friedlicher Absicht gekommen sei.

Karhu ließ sich von Thormod eine kleine Auswahl seiner Waren geben und legte sie auf einen flachen Stein am Ufer. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden; statt dessen lagen einige Marder-und Otterfelle, ein Stück geräucherten Rentierfleisches sowie ein aus Walroßhaut gefertigtes Tau auf dem Stein. So ging es einige Tage weiter, ohne daß sie ihre Tauschpartner zu Gesicht bekamen. Als aber Thormod eines Abends eine Schwertklinge auf den Stein legte, zeigte sich am darauffolgenden Morgen eine Anzahl seltsam gekleideter Männer am Ufer, die wie plumpe Vögel aussahen, denn sowohl ihre Hüte wie auch ihre Mäntel waren mit bunten Federn gespickt. Einer gab durch Gebärden zu verstehen, daß sie mit den Fremden zu sprechen wünschten, woraufhin Thormod das Schiff näher an das Ufer rudern ließ.

Als Karhu eine Weile mit den Männern gesprochen hatte, übermittelte er Thormod ihre Einladung, mit ihnen ins Dorf zu kommen, wo man bereits Vorkehrungen für einen ehrenvollen Empfang getroffen habe. Ohne seine Stimme zu verändern, fügte er hinzu, daß dies zweifellos eine Falle sei, denn die Bjarmen seien als äußerst hinterlistig bekannt, und wenn jene dort auch keine Waffen trügen, so sei zu vermuten, daß sich ganz in der Nähe eine größere Anzahl bewaffneter Männer verberge.

»Ich wäre ein schlechter Händler, wenn ich einer List nicht eine bessere entgegenzusetzen wüßte«, schmunzelte Thormod. »Welcher von ihnen, glaubst du, ist der angesehenste?«

»Der, mit dem ich gesprochen habe«, antwortete Karhu.

Thormod belud nun drei seiner Männer mit allerlei wertlosem Tand und watete mit ihnen ans Ufer. Dort ließ er die Waren ausbreiten, und als sich die Bjarmen neugierig über sie beugten, packte er jenen, den Karhu als den angesehensten bezeichnet hatte, und brachte ihn, obwohl er sich heftig sträubte, an Bord. Die Männer waren kaum auf das Schiff zurückgekehrt, als ein Hagel von Pfeilen auf sie herniederprasselte. So schnell sie konnten, ruderten sie das Schiff auf den Strom hinaus, und nun sahen sie, daß Karhu recht gehabt hatte, denn hinter jedem Stein, der einem Mann Deckung bieten konnte, sprang ein Bogenschütze hervor und stürzte zum Ufer hinunter.

Thormod ließ das Schiff an einem Felsen vertäuen, der mitten im Fluß aus dem Wasser ragte. So brauchten sie nur das Tau zu kappen und sich von der Strömung auf das Meer hinaustreiben zu lassen, falls die Bjarmen versuchen sollten, mit Booten an sie heranzukommen.

Der Gefangene war weder durch Drohungen noch durch Schläge zum Reden zu bringen. Erst als Thormod ihm ein Ohr abschnitt, gab er sich als Priester und Häuptling zu erkennen. Nun setzte ein langwieriges Feilschen ein, das damit endete, daß Thormod den Gefangenen gegen drei Bärenfelle, fünfzehn Marderfelle und zwanzig Walroßzähne eintauschte. Dann nagelte er das Ohr an den Mast und meinte, er habe selten ein so gutes Geschäft gemacht.

Karhu drängte zum Aufbruch; nun, da sich der Priester und Häuptling in Sicherheit befinde, sei jederzeit mit einem Überfall zu rechnen. Wiederum sollte der Finne recht behalten: Als sich das Schiff der Flußmündung näherte, sahen sie sich plötzlich von kleinen, mit Häuten bespannten Booten umringt. Von allen Seiten schwirrten Harpunen heran; eine durchbohrte den Hals eines Ruderers, eine andere schlug Björn das Schwert aus der Hand. Die Männer duckten sich hinter das Schanzkleid, deshalb bemerkten sie nicht, daß einige Boote längsseits gingen und mit Messern bewaffnete Bjarmen an Bord kletterten. Einer von ihnen warf sich auf Leif; Björn riß eine Harpune aus den Decksplanken und bohrte sie dem Bjarmen zwischen die Schulterblätter. Eine Zeitlang schien es, als würden die immer zahlreicher an Deck enternden Bjarmen die Oberhand gewinnen, aber da wurde Hemmo der Kurze von einer Harpune ins Gesäß getroffen. Vor Schmerz und Wut brüllend stürmte er über das Deck und hieb seine Axt blindlings in das Menschengewimmel. Wie Karhu später erzählte, galten Berserker unter den Bjarmen als Schützlinge der Götter, gegen die niemand die Hand erheben durfte, und weil Hemmo sich wie ein solcher gebärdete, ließen die Bjarmen ehrfürchtig die Waffen sinken und sich widerstandslos von ihm niedermetzeln. So verdankten es Thormod und seine Mannschaft genaugenommen den Göttern der Bjarmen, daß sie noch einmal mit dem Leben davonkamen.

Sie ruderten das Schiff aus der Flußströmung und segelten weiter nach Osten. Gegen Abend sahen sie oberhalb der Felsküste, in einer flachen Senke zwischen steil aufragenden Bergflanken, eine Anzahl spitzkegeliger Zelte; ihre Form erinnerte Björn an jene der Nomaden, die einst die Stadt belagert hatten.

Das seien Terfinnen, sagte Karhu, und er sei sicher, daß sie ihnen Gastfreundschaft gewähren würden. Außerdem seien die Terfinnen Meister der Heilkunst, und da kaum einer von Thormods Männern unverletzt geblieben sei, empfehle er, ihnen einen Besuch abzustatten. Thormod, dem selbst der Arm vom Schultergelenk bis zum Ellbogen aufgeschlitzt worden war, fand, das sei ein guter Vorschlag, und ließ das Schiff unterhalb des Zeltlagers vor Anker gehen.

Es war so, wie Karhu gesagt hatte: Die Terfinnen nahmen sie freundlich auf. Sie bewirteten die ausgehungerten Männer mit Bären- und Rentierfleisch und rohem Fisch, dessen abscheulicher Gestank die meisten davon abhielt, seinen köstlichen Geschmack zu genießen. Dann gingen die Frauen daran, die Verwundeten zu versorgen. Je nachdem, an welchem Teil des Körpers sich die Wunde befand, wandten die Frauen verschiedene Mittel an: hier Kräuter und den Saft ausgepreßter Wurzeln, dort einen Brei aus Grütze und Harn, gelegentlich auch rohes Fleisch, das schon merklich in Verwesung übergegangen war. Um den Mann, dessen Hals von einer Harpune durchbohrt worden war, kümmerten sie sich nicht; er habe den Tod bereits in den Augen, übersetzte Karhu. Kurz darauf starb der Mann.

Das Oberhaupt des Stammes, auch er Häuptling und Priester zugleich, hieß Yrrjölä und war, wenngleich schon sehr alt, flink und wendig wie ein Jüngling. Yrrjölä galt unter den Terfinnen als ein reicher Mann, denn er besaß vierhundert Rentiere, von denen allerdings die meisten halbwild umherstreiften und nur mit Hilfe zahmer Rentiere angelockt und eingefangen werden konnten.

Als Thormods Männer wieder zu Kräften gekommen waren, nahm Yrrjölä sie mit auf die Jagd. Jenseits des gebirgigen Küstenstreifens erstreckte sich ein weites Hochmoor. Es bot sich den Seefahrern in verschwenderischer Farbenpracht dar: Das grelle Gelb der Zwergbirken und Rentierflechten wetteiferte mit dem satten Rot der Blaubeersträucher; in den Sumpfseen spiegelte sich der blaue Himmel.

Der Winter werde nicht mehr lange auf sich warten lassen, meinte Yrrjölä, und die Fremden täten gut daran, ihn in den Koten seines Stammes zu verbringen, statt wieder auf das Meer hinauszufahren.

Thormod dankte ihm in wohlgesetzten Worten, ließ jedoch offen, ob er Yrrjöläs Einladung annehmen werde. Als sie sich aber ein Stück von den anderen abgesondert hatten, sagte er zu Björn: »Diese Wilden besitzen nichts, um das sich zu handeln lohnt, deshalb denke ich nicht daran, mich noch länger bei ihnen aufzuhalten.«

Sie erlegten einen Bären, wobei es Thormods Männer in Erstaunen setzte, wie nahe die Terfinnen das mächtige Tier an sich herankommen ließen, bevor sie es töteten. Karhu erklärte ihnen, daß sein Volk die Bären zu den Menschen zähle und daß es Unglück bringe, einem Bären das Leben zu nehmen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von ihm getötet zu werden. Andernfalls verwandle sich der Bär nach seinem Tode in einen Troll und nähme als solcher furchtbare Rache.

Als sie sich nach einem reichhaltigen Abendessen zum Schlaf niederlegten, teilte Yrrjölä jedem eine Frau zu und empfahl, nach Kräften dafür zu sorgen, daß sich sein Stamm um eine Anzahl hellhäutiger Kinder vermehre. Bei der Zuteilung verfuhr Yrrjölä so, daß er die dicksten Frauen für Thormod und Hedin auswählte, während sich die Mannschaft mit weniger beleibten zufriedengeben mußte. Zu Björn kroch eine Frau unbestimmbaren Alters unter die Felldecke. Sie schnalzte nah an seinem Ohr, was unter den Terfinnen offenbar ein bewährtes Mittel war, die Männer in Erregung zu versetzen. Auf Björn jedoch verfehlte es seine Wirkung, denn der ranzige Trangeruch ihres Körpers unterdrückte in ihm jedes Lustgefühl. Aber spät in der Nacht wurde er durch ein Stöhnen geweckt und fand sich zu seiner Verwunderung auf der Frau liegen. Er sah in der fahlen Morgendämmerung ihr Gesicht; sie lächelte und schnalzte leise mit der Zunge.

Unter Thormods Männern galt es als ausgemacht, daß man den Winter über bei den Terfinnen bleiben würde. So gut wie hier, meinten sie, würden sie es während der kalten Jahreszeit nirgends finden, und für die meisten hatte der Gedanke an Heimkehr ohnehin nichts Verlockendes; es gab niemanden, der sie erwartete oder dem es gar Freude bereitet hätte, sie wiederzusehen. Thormod ließ sich jedoch nicht umstimmen. Als Yrrjölä eines Tages mit seinen Leuten das Lager verließ, um die Rentiere einzufangen, rief er seine Mannschaft zusammen und gab ihr seinen Entschluß bekannt, unverzüglich in See zu stechen.

Nun trat ihm Egbert entgegen, den die Männer zu ihrem Sprecher bestimmt hatten. Mit großer Beredsamkeit beschwor er Thormod, von seinem Vorhaben abzulassen; er verstieg sich sogar zu der Behauptung, ihm sei die Jungfrau Maria erschienen und habe ihn wissen lassen, daß sie allesamt umkommen würden, falls sie sich so kurz vor Anbruch des Winters auf das Meer hinauswagten.

Thormod hörte ihm geduldig zu. Als Egbert geendet hatte, sagte er, seine Götter hätten ihm, nachdem er sie auf altbewährte Weise befragt habe, das Gegenteil verkündet, und da nun Meinung gegen Meinung stehe, bleibe keine andere Wahl, als die Entscheidung durch einen Holmgang herbeizuführen. Als Kampfplatz schlug er eine flache, kaum einen Steinwurf vom Ufer entfernte Felsinsel vor.

Da blickte Egbert auf seine schmalen Hände und sagte: »Es hätte wenig Sinn, dafür erschlagen zu werden, daß du in den Augen der anderen recht bekommst.«

»Dann wollen wir nicht weiter darüber reden«, sagte Thormod.

Sie kreuzten vier Tage gegen den Wind, bis sich das Land an Backbord nach Westen bog. Vor der Küste stand eine hohe Dünung, so daß Hedin auf Thormods Geheiß weiter nach Norden hielt. Bald sahen sie sich nur noch von Meer umgeben. Regen setzte ein, der später in großflockigen Schnee überging. Die Männer drängten sich zitternd vor Kälte und naß bis auf die Haut im Windschatten des Schanzkleids.

Karhu war der erste, der voraus einen milchigen Schimmer am Horizont bemerkte. Er rief Hedin etwas zu, worauf dieser sogleich das Ruder herumwarf und nach Westen abfiel.

»Warum bleibst du nicht auf Kurs!« schrie ihn Thormod an.

»Willst du, daß dein Schiff vom Eis zermalmt wird?« erwiderte Hedin ruhig.

Jetzt spürten sie den frostigen Hauch der Eismasse, und der Wind trug ein dumpfes Knirschen an ihr Ohr. Der helle Widerschein des Eises dehnte sich aus und nahm die Form einer riesigen Kuppel aus blendend weißem Licht an.

Thormod stieg zu Hedin auf das Schanzdeck und legte ihm begütigend eine Hand auf die Schulter. »Wie weit, glaubst du, ist es entfernt?« fragte er.

»Nicht weit genug, daß es überflüssig wäre, Njörd um günstigen Wind zu bitten«, antwortete der Steuermann.

»Njörd ist ein launischer Gott«, sagte Thormod. »Nachdem er uns so lange wohlgesonnen war, könnte es ihm gefallen, uns diesmal übel mitzuspielen. Deshalb wird es das beste sein, wenn wir auf Südkurs gehen.«

So lenkte Hedin das Schiff nun auf die Küste zu. Als sie sich ihr näherten, sahen sie, daß sich mächtige Wellen an den Felsen brachen; Berge aus Schaum stiegen empor und sanken donnernd in sich zusammen. Karhu beschwor den Steuermann mit aufgeregten Gebärden, der Brandung nicht zu nahe zu kommen, aber Hedin behielt unbeirrt den Kurs bei.

Was nun geschehen sei, erzählte Björn später, könne er nicht in allen Einzelheiten wiedergeben, weil er in Erwartung des fürchterlichen, alles zerschmetternden Aufpralls die Augen geschlossen habe. Das Schiff sei mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Küste zugerast, auf beiden Seiten hätten sich schimmernde Wände aus Fels oder Wasser erhoben, voraus habe ihn der gähnende Schlund der Unterwelt angestarrt. Von diesem Augenblick an habe er nichts mehr gesehen, nichts mehr sehen wollen, er erinnere sich nur noch an ein ungeheures Getöse und daß ihn ein Wasserschwall auf das Deck warf und daß er ein Bein umklammert hielt und daß er das Bein nicht losließ, als er gegen den Mast und von dort gegen die Reling geschleudert wurde, und daß nach einem ohrenbetäubenden Krach unvermittelt Ruhe eingetreten sei. Diese Ruhe sei unbeschreiblich wohltuend gewesen; er habe eine Weile mit geschlossenen Augen dagelegen und darüber nachgedacht, ob es einem Toten erlaubt sei, die Augen zu öffnen. Doch dann habe er der Verlockung nicht widerstehen können, sich in Niflheim ein wenig umzuschauen.

Das Schiff lag auf dem steinigen Grund eines Trichters, der, bis auf einen engen Spalt, ringsum von schwarzen Felswänden umgeben war. Zwischen den Rändern des Trichters war ein Stück grauen Himmels zu sehen. Björn richtete sich auf und bemerkte, daß es Bjarki Fleischsuppes Bein war, das er umklammert hielt. Bjarki blutete aus der Nase; er öffnete den Mund, und während ihm nun auch Blut über die Lippen rann, sagte er: »Wenn ich jemals erzählen werde, wie wir in dieses Loch gelangt sind, wird es mir wie mit meinen anderen Geschichten gehen: Niemand wird mir glauben.«

Von den Männern hatte keiner die Strandung unversehrt überstanden; auch Thormod blutete aus klaffenden Wunden. »Wir brauchen uns jetzt nicht mehr darüber zu streiten, wo wir den Winter verbringen wollen«, sagte er griesgrämig. »Denn wenn ihr das Schiff anseht, wird euch auffallen, daß es zwar um einiges schmaler, aber darum nicht unbedingt seetüchtiger geworden ist.« Dann fuhr er Hedin heftig an: »Hättest du uns nicht an einer anderen Stelle an Land setzen können, du Tölpel!«

»Sei froh, daß ich diese gefunden habe, sonst könntest du mich jetzt nicht beschimpfen«, erwiderte der Steuermann.

Am Algenbewuchs einiger Steine war zu erkennen, daß das Meer bisweilen auch in den Trichter vordrang. Deshalb schleppten sie das arg beschädigte Schiff vor dem Dunkelwerden auf einen höhergelegenen Steinsockel, stützten es mit Planken ab und legten sich unter ihm schlafen. Dies war die erste von vielen Nächten, die sie in dem Felstrichter verbringen sollten.

Am nächsten Morgen türmte sich grünlich schimmerndes Eis vor dem Spalt. Nun waren sie von allen Seiten eingeschlossen, und aus dem beklemmenden Gefühl, in einer Falle zu sitzen, wurde Angst. Es würde Monate dauern, bis das Eis den Durchlaß zum Meer wieder freigab, und obwohl sie nicht darüber sprachen, waren sie sich darin einig, daß keiner von ihnen diesen Tag erleben würde, wenn sie die Zeit mit untätigem Warten verbrachten.

Gunne Seehundsfloh erbot sich freiwillig, die steile Felswand zu erklimmen. Er war im Klettern geübt, denn er stammte von einer Insel, deren Bewohner sich hauptsächlich von den Eiern der Seevögel ernährten. Er gelangte zu einem Absatz, der wie ein Sims aus hellerem Gestein aus dem schwarzen Fels hervorragte, aber angesichts der über ihm befindlichen, nach außen gewölbten Trichterwand verließ ihn der Mut. Nun versuchte Karhu sein Glück. Er kletterte an den Eisschollen empor, die sich in den Spalt geschoben hatten, stieg von dort auf den Fels über, schwang sich mit pendelnden Bewegungen von einem Vorsprung zum nächsten, flog schließlich, wie vom Aufwind erfaßt, über den Trichterrand und war den Blicken entschwunden.

Während einige Männer schon die Vermutung äußerten, er sei meerwärts vom Felsen gestürzt, erschien Karhu auf der gegenüberliegenden Seite des Trichterrands und bat, ihm ein Tau zuzuwerfen.

Als dies geschehen war, ließ Thormod eine Strickleiter anfertigen, auf der er selbst und die Männer nacheinander aus dem Trichter stiegen. Oben angelangt, sahen sie sich von einer Felswüste umgeben, die einem aufgepeitschten, zu Stein erstarrten Meer ähnelte. Zwischen schartigen Berggipfeln gähnten dunkle Abgründe; außer Flechten und Moos bot der Fels keinen Pflanzen Schutz und Nahrung. Eine lauernde Feindseligkeit haftete der felsigen Einöde an, und als sie in den Trichter zurückkehrten, sprach Torkel Hakenlachs aus, was alle dachten: »Heute morgen kam mir unser Loch viel ungemütlicher vor.«

Thormod rief die Männer zu einer Beratung zusammen. Nach seiner Schätzung, sagte er, reichten die Eßvorräte noch für drei bis vier Wochen; er halte es demnach für lebensnotwendig, sich beizeiten mit zusätzlicher Nahrung, vor allem mit frischem Fleisch zu versorgen. Von Karhu wisse er, daß es sie an eine unbewohnte Küste verschlagen habe; die nächstgelegenen Ansiedlungen befänden sich weit im Landesinnern und seien nur auf zeitraubenden Umwegen zu erreichen. Andererseits hege Karhu Zweifel, ob es möglich sei, die Mannschaft den Winter über durch Jagd und Fischfang zu ernähren. Schließlich wolle er nicht verschweigen, daß ihn der Gedanke, in diesem Loch gefangen zu sein, mit großer Sorge erfülle; selbst wenn das Schiff wieder instandgesetzt und das Eis getaut sei, halte er es für ausgeschlossen, durch den Spalt wieder auf das Meer hinauszugelangen.

»Wenn du auf unseren Rat gehört hättest, müßten wir jetzt nicht den Worten eines ratlosen Schiffsführers lauschen«, sagte Egbert. Darauf erwiderte Thormod nichts, aber Björn sah, wie die Adern an seinen Schläfen schwollen.

»Wieviel Zeit bleibt uns noch, bis der Winter kommt?« fragte Olaf Dorschbeißer.

Thormod zuckte die Achseln und blickte Karhu an. Dieser deutete stumm auf das Eis, das sich knirschend in den Spalt zwängte.

»Was rätst du, Hedin?« fragte Thormod den Steuermann.

»Tu das, was du selbst für richtig hältst«, antwortete Hedin. »Einen besseren Rat kannst du von einem Tölpel nicht erwarten.«

In der Nacht begann es zu schneien. Am Morgen war der Grund des Trichters mit einer knöchelhohen Schneeschicht bedeckt, und es schneite unaufhörlich weiter. Thormod befahl, Mast und Steven abzunehmen und das Schiff umzudrehen. In den folgenden Tagen verkleideten sie die offenen Seiten mit Planken und Brettern und dichteten die Fugen mit Tang und Moos ab. So entstand nach und nach eine Hütte, die sich nur noch durch ihre ungewöhnliche Form als ein kieloben liegendes Schiff zu erkennen gab. Das Schiffshaus bot den Männern Schutz vor den Unbilden des Winters und vermittelte ihnen ein Gefühl der Geborgenheit. Wenn sie abends in ihren Fellsäcken lagen und der Rauch des Feuers in dicken Schwaden über ihren Köpfen hing, wenn sie das Krachen des Eises hörten und das Heulen des Schneesturms am Trichterrand, gelang es ihnen zuweilen, sich einzureden, daß ihr Los, alles in allem, nicht das schlechteste sei.

Als der Sturm sich gelegt hatte, scheuchte Thormod die Männer aus den klammen Fellsäcken. Eine Gruppe, zu deren Führer er Karhu bestimmte, schickte er auf die Jagd; er selbst stieg, von Björn und einigen anderen gefolgt, aus dem Trichter, um die Küste zu erkunden. Die Zurückbleibenden hieß er, das reichlich vorhandene Treibholz auf einem trockenen Platz zusammenzutragen und dabei nach Holzteilen Ausschau zu halten, mit denen das Schiff ausgebessert werden konnte. Unter den letzteren war auch Egbert. Wie sich später erwies, nutzte er Thormods Abwesenheit, um die Männer gegen ihn aufzuwiegeln.

Auf dem von Eis und Wind glattgeschliffenen Fels hatte der Schnee keinen Halt gefunden; er hatte sich in den Mulden gesammelt und die Schluchten teilweise mit einer dünnen, brüchigen Kruste überzogen. Deshalb mieden sie die harschigen Schneeflächen und suchten sich ihren Weg auf dem bloßliegenden Felsboden. Von einer Anhöhe aus sahen sie das Meer. Es war bis zur Kimm mit übereinandergetürmten Eisschollen bedeckt und ging dort in einen schorfigen grauen Himmel über. Auf der Eisfläche waren hier und dort dunkle Punkte zu erkennen.

»Das sind Robben«, sagte der scharfäugige Torkel Hakenlachs, und Thormod ließ einen Schnaufer der Erleichterung hören.

Kurze Zeit später nahm ihnen dichtes Schneetreiben die Sicht. Sie tasteten sich Schritt für Schritt über den felsigen Grund und schlossen dicht auf, um einander nicht aus den Augen zu verlieren. Nach vorn gebeugt, die Gesichter von den peitschenden Schneeflocken abgewandt, stapften sie durch die weiße, heulende Leere. Einmal gelangten sie an den Rand einer Schlucht, deren schneebedeckte Ränder sie wie die Zähne eines Ungeheuers anbleckten; sie mußten, ihrem Verlauf folgend, bergan steigen, bis die Schlucht so schmal wurde, daß sie sie überqueren konnten. Ein andermal befanden sie sich unversehens vor einem Krater, aus dessen Tiefe ein dumpfes Grollen an ihr Ohr drang. Hier geschah es, daß Thormod plötzlich Björns Arm packte und mit schreckensbleichem Gesicht in den Abgrund deutete.

»Siehst du sie auch?« flüsterte er.

»Laß uns weitergehen«, sagte Björn, ohne zu fragen, wen er meinte.

Schließlich fanden sie, wonach Thormod offenbar gesucht hatte: eine Bucht, die einen schiffbaren Zugang zum Meer besaß und zugleich Schutz vor Wind und Wellen bot. Sie stiegen hinab und kamen im inneren Teil der Bucht zu einem von Treibholz übersäten Sandstrand. Zwischen dem faulenden Holz lag ein Gerippe. Bis auf den Brustkorb war es vom Treibholz zerdrückt worden, so daß zunächst nicht auszumachen war, ob es sich um das Skelett einer Robbe oder eines Menschen handelte. Aber dann fand Hemmo einen Schuh und kurz darauf einen menschlichen Schädel, aus dessen Augenhöhlen trockener Tang hervorringelte. Alle wußten, daß ein Ort, an dem ein unbestatteter Leichnam lag, von bösen Geistern bewohnt wurde und daß es Unglück brachte, an ihm zu verweilen. Doch Thormod war nicht geneigt, den Geistern einen Platz zu überlassen, der ihm für sein Vorhaben günstig erschien; er ließ die Gebeine des Toten nahe am Felssockel im Sand verscharren.

Abends erläuterte er den Männern seinen Plan: Sobald es das Wetter zuließe, würden sie das Schiff in seine Bestandteile zerlegen, diese einzeln in die Bucht schaffen und dort wieder zusammensetzen. Nachdem dies geschehen sei, gelte es nur noch, darauf zu warten, daß das Eis zurückweiche, um von jener Bucht aus die Weiterfahrt anzutreten.

»Da du, wie es scheint, an Wunder glaubst, Thormod«, sagte Egbert, »weshalb ersparst du uns nicht die Mühe und bittest Gott, daß er uns Flügel wachsen läßt, damit wir auf geradem Weg nach Süden fliegen können?«

»Wenn ich nicht jeden Mann brauchte, würde ich dir jetzt mit einem glühenden Holzscheit dein Mundwerk stopfen«, entgegnete Thormod grimmig.

»Auf mich und ein paar andere wirst du ohnehin verzichten müssen«, sagte Egbert. »Wir haben beschlossen, uns soviel von den Vorräten zu nehmen, wie uns zusteht, und uns in bewohnte Gegenden durchzuschlagen.«

»Du würdest anders reden, wenn du heute mit uns dort oben gewesen wärst«, sagte Torkel Hakenlachs. »Falls ihr nicht vorher in eine Schlucht gestürzt seid, werdet ihr entweder erfrieren oder verhungern.«

»Ein Dach über dem Kopf zu haben macht noch nicht satt«, sagte Vagn, der damit zu erkennen gab, daß er auf Egberts Seite stand.

»Sieh dir Karhus Jagdbeute an und sag mir, warum du glaubst, daß wir hier sicherer vor dem Hungertod sind als woanders«, wandte sich Egbert an Thormod.

»Wir haben Robben gesehen«, sagte Thormod zu den anderen, denn von nun an sprach er nicht mehr mit Egbert.

»Nach den Walen sind die Robben die schlauesten Meerestiere«, ließ sich nun Bjarki Fleischsuppe vernehmen. »Als ich vor Jahren oben auf Svalbard war, das soweit nördlich liegt, daß man die gefrorenen Nebelwolken von Niflheim sehen kann, lockten uns die Robben auf dünnes Eis, so daß wir allesamt einbrachen und uns nur mit knapper Not auf eine glatte, seltsam geformte Insel retten konnten. Hört nun, daß diese Insel gar keine Insel war, sondern der Rücken eines –«

»Ich hindere niemanden daran zu gehen, wohin er will«, unterbrach Thormod Bjarkis Redefluß. »Aber ich weigere mich, jemanden, dessen Tod gewiß ist, mit Wegzehrung auszustatten.« Nun wandte er sich an Hemmo und sagte: »Du wirst Egberts Anteil bekommen, wenn du dafür sorgst, daß sich keiner an unseren Vorräten vergreift.«

»Komm und hol dir was«, sagte Hemmo zu Egbert und setzte sich, die Axt griffbereit zwischen seinen Knien, auf den Fellsack, der alles barg, was sie noch an Nahrungsmitteln besaßen. Thormod zog sein Schwert und legte es neben sich, um Hemmo, falls es erforderlich werden sollte, zu Hilfe zu kommen.

Darauf verließen Egbert, Vagn, Olaf Dorschbeißer, Ketil Nase, Tosti Einauge sowie zwei weitere Männer das Schiffshaus und beratschlagten draußen mit gedämpften Stimmen. Als sie wieder hereinkamen, sagte Egbert zu Thormod: »Wir werden morgen aufbrechen, mit oder ohne Verpflegung.«

Thormod hob die Schultern und blickte gleichmütig ins Feuer.

Am nächsten Morgen stiegen sie nacheinander die Strickleiter empor, als erster Egbert, dann die anderen, zuletzt Vagn. Björn sah, wie er ächzend und schnaufend und immer wieder vor Erschöpfung verharrend eine Sprosse nach der anderen erklomm. Er verspürte ein schwach aufkeimendes Gefühl der Erleichterung: Jetzt würde es nicht seine Hand sein, die Vagn den Tod brachte. Zugleich aber fühlte er sich um etwas betrogen, auf das sein Haß Anspruch erhob. Sein Haß wollte nicht, daß Vagn in einer Felsspalte erfror. Sein Haß verlangte, daß er ihn tötete. Sein Haß holte ihn zurück. Unterhalb des Trichterrands verließen Vagn die Kräfte. Sein Fuß glitt von einer Sprosse ab, und nun rutschte Vagn, sich mit beiden Händen an die Seile klammernd, nach unten. Er fiel rücklings auf den Felsboden und brüllte vor Schmerz. Im Trichter verbreitete sich der eklige Geruch versengten Fleisches. In diesem Augenblick wußte sich Björn mit den Göttern im Bunde; sie hatten ihm Vagn ausgeliefert.

Später drehte der Wind auf Süden und brachte anderes Wetter. Zwischen den Wolken zeigten sich kleine Splitter blauen Himmels, die Sonne brach durch, und ein Schwall dumpfiger Wärme kroch in den Trichter hinab. Einige meinten, wenn dieses Wetter noch länger anhalte, könne es Egbert und seinen Gefährten vielleicht doch gelingen, besiedeltes Gebiet zu erreichen, und Gunne Seehundsfloh bat Thormod zu erwägen, ob man sich ihnen nicht anschließen sollte. Aber dieser hüllte sich in Schweigen. Am Abend drehte der Wind abermals, und nun brach ein Unwetter über sie herein, wie sie es bis dahin noch nicht erlebt hatten. Es wurde stockfinster, das Eis drang mit vielstimmigem Kreischen durch den Spalt in den Trichter, und von oben stürzten große Schneeklumpen mit solcher Wucht auf das Schiffshaus, daß es wie bei starkem Seegang zu schaukeln begann.

In der Nacht wurden sie durch Rufe geweckt. Drei von Eis und Schnee verkrustete Gestalten taumelten in die Hütte. An ihren Stimmen konnten sie erkennen, daß es Egbert, Ketil Nase und Tosti Einauge waren. Sie schälten sie aus ihren steifgefrorenen Kleidern, rieben ihre Körper mit Schnee ab, wuschen sie mit heißem Wasser. Als sie sich soweit erholt hatten, daß sie wieder zusammenhängende Sätze sprechen konnten, erzählten sie, daß sie dank des günstigen Wetters ein gutes Stück vorangekommen seien. Sie hätten sogar ihren Hunger stillen können, denn in einer Schlucht hätten sie ein verendetes Rentier gefunden, dessen Fleisch noch genießbar gewesen sei. Dann jedoch habe Tosti Einauge das herannahende Unwetter gewittert, und kurz darauf hätten sie eine schwarze Wolkenwand bemerkt, die wie eine riesige Woge auf sie zugekommen sei. Sie hätten sich in einer Felsspalte verkrochen, und was dann geschehen sei, lasse sich mit Worten nicht beschreiben. Außer Egbert hätten alle geglaubt, über ihnen tobe die Ragnarök, die letzte große Schlacht zwischen den Göttern und den Riesen. Obwohl sie sich mit Händen und Füßen am Boden festgekrallt hätten, seien zwei von ihnen fortgerissen und gegen eine Felswand geschleudert worden. Als der Schneesturm etwas nachgelassen habe, hätten sie beschlossen, auf dem kürzesten Wege zurückzukehren, aber das Unwetter habe die Felslandschaft in einen Wald aus Eis verwandelt. Stundenlang seien sie bei nun wieder einsetzendem Schneesturm in ihm umhergeirrt. Dann habe Olaf Dorschbeißer plötzlich zu lachen begonnen und gesagt, all dies sei ein Schabernack, den ihnen die Unterirdischen spielten, er aber lasse sich nicht länger von ihnen narren, denn er wisse jetzt genau, in welche Richtung sie gehen müßten, um auf Menschen zu treffen. Sie hätten ihn zurückzuhalten versucht, aber er habe ihnen vergnügt auf die Schulter geklopft und sei im Schneetreiben verschwunden. Nun seien sie nur noch zu dritt gewesen, und daß sie lebend zurückgekehrt seien, verdankten sie allein Tosti Einauges guter Nase.

»Was würdet ihr an meiner Stelle mit einem Mann tun, der schuld daran ist, daß ich drei meiner Männer verloren habe?« fragte Thormod jene, die bei ihm geblieben waren.

»Laß mich mit ihm vor die Tür gehen«, grinste Hemmo der Kurze. »Ich verspreche dir, daß nur einer von uns beiden wieder hereinkommen wird.«

Thormod dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Von einem toten Mann kann ich nicht verlangen, daß er für drei arbeitet und für sich selbst noch dazu.« Mehr wurde darüber nicht gesprochen.

Das Unwetter dauerte mehrere Tage lang an. Über den Trichterrand schoben sich Schneewächten, die ihre wulstigen weißen Zungen tief herabhängen ließen. Zuweilen brach eine von ihnen ab und zerbarst mit lautem Knall auf dem Grund des Trichters. Aus Angst, unter den herabstürzenden Schneemassen begraben zu werden, wagten sich die Männer nicht mehr ins Freie. Ihre Nahrung bestand nur noch aus Stockfisch, und der Fellsack, auf dem Hemmo tagsüber saß und nachts schlief, wurde mit jeder Mahlzeit schlaffer.

Eines Tages versammelte Thormod die Männer um sich und sagte: »Bislang habe ich euch durchgefüttert, jetzt werdet ihr selbst für euren Lebensunterhalt sorgen müssen.« Er teilte die Mannschaft in zwei Gruppen ein; der einen befahl er, jeden Fußbreit der Felswüste nach eßbarem Getier, sei es tot oder lebendig, abzusuchen; mit der anderen, zu der wiederum Björn gehörte, machte er sich auf den Weg nach der Bucht, um von dort aus Robben zu jagen. Diesmal duldete er es nicht, daß einer im Schiffshaus zurückblieb; deshalb mußte sich auch Vagn an der schwankenden Strickleiter emporquälen.

Am Abend kehrten sie mit leeren Händen in die Hütte zurück. So war es auch am zweiten und dritten Abend. Vagn spuckte einen seiner Zähne ins Feuer und schwor, er werde nie wieder seinen Fuß auf die Strickleiter setzen, denn es werde sein Tod sein, wenn er diese ein weiteres Mal erklimmen müsse. Als er sich am nächsten Morgen tatsächlich weigerte, ließ ihm Thormod ein Tau um den Körper schlingen und ihn wie einen Sack aus dem Trichter ziehen. Dies führte dazu, daß sie am Abend des vierten Tages reichlich zu essen bekamen, denn es war Vagn, der vor Erschöpfung ins Straucheln geriet, einen Abhang hinunterrollte und durch sein lautes Gezeter einen Bären aus dem Winterschlaf weckte. Karhu erlegte das vom Schlaf benommene Tier, indem er auf seinen Rücken sprang und ihm sein Messer in den Nacken stieß.

Zum letzten Mal für lange Zeit konnten sie sich satt essen. Denn das Unwetter, das Egbert und seine Gefährten zur Umkehr gezwungen hatte, war nur ein Vorbote des Winters gewesen. Nun tobten Tag für Tag Schneestürme über den Trichter und hielten sie in ihrer schwankenden Hütte gefangen. Der Winter drang von allen Seiten auf sie ein; es war, als ob er von der Belagerung zum Angriff übergegangen sei.