12.
»Schott auf!« rief ich in den Helmsender meines Raumanzugs.
»Schott fährt auf!« antwortete Stepan Tronsskij aus dem Kommandoraum.
Vor uns entstand ein Spalt in der bisher geschlossenen Metallmasse des Schleusenschotts und vergrößerte sich rapide. Wir befanden uns unmittelbar über dem Südpol der gewaltigen Kugel, die die BAPURA war. Ein flimmerndes, schlauchförmiges Energiefeld entstand, das vom Ausgang der Schleuse bis auf den Boden der Halle hinabreichte. Ich war der erste, der in die Mündung des Feldes trat und nach unten glitt. Die anderen folgten mir dichtauf. Uns allen saß die Angst in den Knochen. Wir fühlten uns nur sicher, solange wir zusammenblieben. Die schlimmste Vorstellung war die, von den anderen getrennt zu werden und allein in den endlosen, verworrenen Gängen dieses Labyrinths umherwandern zu müssen.
Wir waren elf Mann – Tancanoc, Scheuning, Petronko, ich und sieben Mann der Besatzung. Wir hatten auf die überlegenen Waffen der Marsianer, die uns in Fülle zur Verfügung standen, verzichtet und trugen statt dessen die vergleichsweise unbeholfenen, primitiven Thermo-Rak-Pistolen, die zur Standardausrüstung der GWA-Schatten gehörten. Denn wir hatten in der GODAPOL-Anlage die Erfahrung gemacht, daß die Schutzpanzer der Yedocekoner wohl die gefährliche Strahlung der marsianischen Handwaffen zu absorbieren vermochten, nicht aber die hochenergetischen Thermo-Rak-Projektile unserer altmodischen Pistolen. Man kann Defensiv-Maßnahmen übertreiben. Die Yedocekoner, ausgehend von ihrer keineswegs umfassenden Kenntnis der marsianischen Technologie, hatten es auf ihre Weise getan: sie waren für hochentwickelte Waffen unverwundbar, aber unseren alten Thermo-Rak-Geschossen hatten sie keine vernünftige Abwehr entgegenzusetzen.
Hannibal war an Bord der BAPURA zurückgeblieben. Für den Fall, daß mir etwas zustieß, mußte er verfügbar sein, um sich aufgrund seines hohen NOQ als nachfolgender Erbberechtigter anerkennen zu lassen. Es war mir nicht leicht gefallen, ihn zum Zurückbleiben zu überreden. Aber schließlich hatte er die taktische Notwendigkeit eingesehen.
Ich trug, auf den rechten Ärmel meiner Raumschutzmontur geklebt, eine Vergrößerung einer der Aufnahmen, die Hannibal von dem Bildschirm in dem kleinen Konferenzraum gemacht hatte. Das Bild wies den Weg zum Kontrollzentrum. Meine vordringlichste Aufgabe war, direkt zu TECHNO zu sprechen und ihn davon zu überzeugen, daß der Transmitter unverzüglich abgeschaltet werden müsse. Ich war nicht sicher, ob ich mit dieser Anweisung Erfolg haben würde. Schließlich war TECHNO darüber informiert worden, daß im Heimat-Sonnensystem seiner Erbauer der Gefahrenfall MUTOOC herrschte, und es war äußerst fraglich, ob die Aussagen eines relativ bedeutungslosen Mannes, wie ich es war, ausreichten, um TECHNO von der für diesen Fall in Kraft tretenden Gefahrenprogrammierung abweichen zu lassen.
Mit anderen Worten: Wir durften uns nicht nur auf TECHNOs Wohlwollen verlassen. Falls er sich weigerte, auf unsere Wünsche einzugehen, mußten wir andere Maßnahmen ergreifen. Tancanoc, Petronko und ich trugen je eine Mikro-N-Sprengkapsel, eine Kernbombe in Miniaturausgabe, die immerhin noch die Sprengkraft von fünfhundert Tonnen des konventionellen chemischen Explosivstoffs TNT entwickelte. Kernbomben solcher Winzigkeit hatte man erst vor kurzem entwickeln können, seitdem man gelernt hatte, einen Neutronenreflektor herzustellen, dessen Wirkung selbst geringste Mengen von Kernbrennstoff sofort kritisch werden ließ.
Wir waren also gut ausgerüstet. Es gab in unserem Vorhaben nur eine einzige Unbekannte: das Verhalten der Yedocekoner. Ihretwegen hatten wir Tancanoc mitgenommen, der übrigens nicht einen unserer Raumanzüge trug – es gab ohnehin keinen, der ihm gepaßt hätte – sondern den Schutzpanzer, den er auch in GODAPOLs unterirdischen Räumen getragen hatte und der ihn seinen Landsleuten gegenüber ausweisen mußte.
An der Peripherie der Halle, in der die BAPURA gelandet war, betraten wir einen weiten und leeren, aber hell erleuchteten Gang, der auch auf meinem Kartenbild eingezeichnet war und anscheinend auf dem geradesten Wege zu TECHNOs Kontrollzentrale führte. Es gab auf unserem Pfad nur diesen Gang, dem wir einfach bis zum Ende zu folgen hatten. Zu beiden Seiten des Ganges lagen ausgedehnte Räume, die jedoch in einer Farbe gekennzeichnet waren, die nach unserem primitiven Violett, das verwässert und von Natur aus unauffällig wirkte. Es gab nur einen einzigen kritischen Punkt, nämlich eine Art Rundhalle mit einem Durchmesser von annähernd fünfzig Metern, wenn wir TECHNOs Maßstab richtig deuteten, auf die von acht verschiedenen Richtungen her andere Gänge mündeten.
Falls die Yedocekoner von unserer Anwesenheit Wind bekommen hatten und falls sie beabsichtigten, unseren Besuch in TECHNOs Kontrollzentrale zu verhindern, dann war die Halle der Punkt, an dem sie uns auflauern mußten. Die Räume zu beiden Seiten des Ganges hatten sie wohl kaum besetzt. Es war für jemand, der sich den Gang entlangbewegte, zu einfach, sich durch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen gegen eine Umklammerung zu schützen. Also blieb wirklich nur die Halle. Ich hatte mir vorgenommen, Tancanoc vorauszuschicken, sobald wir in die Nähe des Kreuzungspunktes gelangten, und zu warten, wie die Yedocekoner auf sein Erscheinen reagierten. Wir alle trugen marsianische Translatoren, die Tancanoc so präpariert hatte, daß sie einwandfrei auf die Sprache seines Volkes reagierten.
Wie gesagt: wir waren gut ausgerüstet. Wer sich die Liste der Vorsichtsmaßnahmen ansah, die wir getroffen hatten, der mußte zu dem Schluß gelangen, daß wir gegen alle Gefahren gewappnet waren. Dabei übersah er allerdings eines: wir hatten uns nur gegen solche Fährnisse wappnen können, die sich voraussehen ließen. Die unvorhersehbaren waren die, die uns Schwierigkeiten machen würden.
Knapp dreißig Meter vor uns zeichnete sich eine Öffnung ab. Ich verglich anhand der Anzeige meines Hodometers die bisher zurückgelegte Entfernung mit der Strecke, die das Kartenbild andeutete. Es gab keinen Zweifel: wir standen unmittelbar vor dem kritischen Kreuzungspunkt.
Tancanoc sah mich bedeutungsvoll an. Die Augen lagen unter der weit hervorspringenden Stirn in tiefem Schatten und erschienen als winzige, undeutliche Leuchtpunkte. Der kleine Mund mit den harten, von Hornhaut verkleideten Lippen war fest geschlossen.
»Es ist soweit, Tancanoc«, sprach ich in das Mikrophon meiner Helmanlage.
»Ich weiß«, antwortete er.
Dann griff er in den Gürtel, zog die Pistole und reichte sie mir.
»Ich werde sie nicht brauchen«, erklärte er.
»Du bist zu optimistisch«, warnte ich ernst.
»Und selbst wenn ich sie brauchte … sie würde mich zuvor verraten.«
Das war ein Argument, das ich gelten lassen mußte. Es würde an uns liegen, ein Auge auf Tancanoc zu haben. Er wandte sich ab und schritt davon. Das Licht vor uns in der Halle war intensiver als die Beleuchtung des Ganges. Er erschien als eine gedrungene, krafterfüllte Silhouette, an der keine Einzelheiten zu erkennen waren. Er erreichte das Ende des Ganges und zögerte einen Atemzug lang, bevor er in die Weite der Halle hineintrat. Dann ging er weiter. Die Deckenbeleuchtung erfaßte ihn. Er war jetzt trotz der Entfernung deutlicher zu sehen als zuvor. Ich ertappte mich dabei, wie ich seine Schritte zählte. Die Halle durchmaß fünfzig Meter. Die Yedocekoner hatten kurze Beine, und dennoch: einhundertmal einen Fuß vor den andern gesetzt, und er war durch!
Aber soweit kam er nicht. Und merkwürdig: ich wußte ebenso wie er, daß er es nicht schaffen würde. Die Stimme kam aus der Dunkelheit eines der Gänge, die auf den Verteiler mündeten. Sie klang hart und erbarmungslos, selbst in der Übersetzung, die der Translator anfertigte.
»Halt! Du bist keiner von uns … obwohl du so aussiehst! Identifiziere dich!«
Tancanoc, das konnten wir deutlich sehen, hielt abrupt an. Er blieb einfach stehen, ohne den Kopf zu wenden: ein deutliches Anzeichen dafür, daß auch er nicht wußte, woher die Stimme kam.
»Laß mich dich sehen«, antwortete er grimmig. »Dich und deine Leute – dann will ich euch sagen, ob ich einer von euch bin oder nicht!«
»Wie ist dein Name?«
»Ich bin Tancanoc!«
Ein überraschter Ausruf, dann:
»Tancanoc – der sich mit seiner Gruppe der Maschine anvertraute?«
»Derselbe!«
»Du warst lange fort, Tancanoc«, sprach die fremde Stimme. »Die Mannschaft hier ist inzwischen abgelöst worden. Unter uns ist keiner, der dich kennt. Du wirst durch deinen Bericht beweisen müssen, daß du wirklich der bist, für den du dich ausgibst.«
»Ich?« erwiderte Tancanoc überrascht und empört zugleich. »Ich brauche mich vor niemand auszuweisen. Man kennt mich auf Yedocekon und auf Roqaloc, und wenn du mich nicht kennst, dann bist du es, der sich verdächtig macht!«
»Du sprichst kühn, Tancanoc!« höhnte der andere. »Aber uns überzeugst du damit nicht. Wir haben von Tancanoc gehört. Er war immer ein treuer Diener der Maschine. Wir aber halten die Maschine für eine Ausgeburt des Bösen. Wir sind hier, um sie zu bekämpfen und ihrer Herrschaft ein Ende zu machen …«
Ich hörte Tancanoc lachen. Es war ein glucksendes Geräusch, das mehr Bitterkeit als Erheiterung zum Ausdruck zu bringen schien.
»Du armer Narr«, fiel Tancanoc dem andern ins Wort. »Weißt du nicht, daß ihr nur deswegen noch am Leben seid, weil eine uralte Programmierung der Maschine verbietet, euch körperlichen Schaden zuzufügen? Gäbe es diese Programmierung nicht, wäret ihr alle längst eines unrühmlichen Todes gestorben. Und dennoch stehst du da und verkündest lauthals …«
»Verräter!« schrie der andere. »Wie kannst du das wissen, wenn du nicht mit der Maschine in Verbindung stehst?«
Die Gefahr, in der Tancanoc sich befand, war handgreiflich. Ich wandte mich um und wollte einen Befehl geben. Da stellte ich fest, daß Petronko und drei Mann der Besatzung verschwunden waren. Ich wurde zornig. Ausgerechnet jetzt, wo wir auch den letzten Mann brauchten, um Tancanoc aus der Patsche zu hauen.
»Wo, zum Donnerwetter …«
Es war, als hätte Petronko nur auf diesen Ausbruch gewartet. Ich hörte seine Stimme im Helmsender.
»Ich habe einen Durchgang gefunden, Sir«, unterbrach er mich.
Zum erstenmal schenkte ich den Wänden des Ganges Beachtung. Ich stellte fest, daß zu meiner Linken, wenn ich den Gang zurückblickte, eine Tür geöffnet worden war. Einer der Leute deutete darauf und gab mir zu verstehen, daß Petronko auf diesem Weg verschwunden war.
»Was heißt Durchgang?« fragte ich scharf, noch immer nicht ganz besänftigt.
»Ich befinde mich mit meinen Leuten in einem der anderen Korridore, die auf den Rundplatz münden, Sir«, antwortete der Russe.
Ich schaltete blitzschnell. Durch seinen Alleingang hatte Petronko uns einen unschätzbaren Vorteil verschafft. Wären wir aus einer einzigen Gangmündung hervorgebrochen, hätten die Yedocekoner Dutzende von Möglichkeiten gehabt, uns auszuweichen und gleich darauf mit der Verfolgung zu beginnen. Jetzt jedoch konnten wir aus zwei verschiedenen Richtungen am Kreuzungspunkt erscheinen. Sie mußten glauben, daß wir weite Gebiete der unterirdischen Anlage bereits besetzt hielten, und würden in ihren weiteren Reaktionen entsprechend vorsichtig sein.
»Gut, Petronko!« lobte ich. »Halten Sie sich zurück und warten Sie auf mein Kommando!«
Inzwischen war vorn auf dem Kreuzungspunkt die Unterhaltung weitergegangen. Soeben erklärte der Anführer der aufständischen Yedocekoner:
»Ich kann dir nicht trauen! Du bist mein Gefangener!«
Worauf Tancanoc mit bitterem Spott antwortete:
»Und du bist ein armer Narr! Glaubst du wirklich, ich wäre ohne Schutz gekommen?«
»Faßt ihn, Leute!« schrie der Yedocekoner.
»Vorwärts!« befahl ich meinen Männern. »Petronko, Sie halten sich noch eine Weile zurück. Wir schießen, um zu töten, aber wir schießen nur, wenn es unbedingt notwendig ist!«
Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Rand des kreisrunden Platzes, auf dem Tancanoc stand. Die Aufständischen, etwa zwanzig an der Zahl und in schimmernde Panzer gekleidet, näherten sich in der Hauptsache von links her. Sie bewegten sich vorsichtig, als befürchteten sie, daß Tancanoc doch irgendeine verborgene Waffe bei sich trage.
»Halt!« schrie ich und trat aus dem Gang hervor. »Dieser Mann ist mein Freund, und ihr werdet ihn in Ruhe lassen!«
Sie fuhren herum und starrten mich an. Hinter mir lösten sich meine Begleiter aus dem Schatten des Ganges. Den Yedocekonern mußten wir wie fremde Ungeheuer vorkommen. Sie hatten Wesen unserer Art noch nie zu Gesicht bekommen.
Aber ihr Schreck währte nur einen Atemzug lang. Der Anführer – ein stämmiger Kerl, der seine Artgenossen um eine halbe Schädelhöhe überragte – deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich. Der Translator übersetzte seine Worte, so, wie er vor ein paar Sekunden die meinigen in die Sprache der Yedocekoner übertragen hatte.
»Fremde! Freunde der Maschine! Sie tragen keine Schutzpanzer! Macht sie nieder!«
»Feuer!« befahl ich ruhig.
Fauchend entluden sich unsere Pistolen. Mit grellem, feurigem Schweif schossen die hochbrisanten Projektile auf die vor Schreck erstarrenden Yedocekoner zu. Nur zwei Salven waren gut gezielt: sie durchbrachen mühelos den yedocekonischen Schutzpanzer. Die Geschosse explodierten und erzeugten ungeheure Glutbälle, in denen die Träger der Panzer in Sekundenschnelle zu Asche vergingen. Ich selbst – und auch einige andere aus unserer Gruppe – hatten absichtlich auf Punkte an der gegenüberliegenden Wand des Platzes gezielt. Die Geschosse detonierten dort und brachten das Felsgestein zum Schmelzen, so daß es in glutflüssigen Bächen herabrann und auf dem Boden rauchende Lachen bildete. Die Luft im Kreuzungspunkt war auf einmal kochend heiß.
»Das als Beweis!« rief ich den entsetzten Yedocekonern zu. »Wir sind nicht unbedingt Freunde der Maschine. Aber wir sind hierhergekommen, damit sie uns einen wichtigen Dienst erweist. Zu diesem Zweck müssen wir mit ihr verhandeln, und ihr werdet uns daran nicht hindern. Geht beiseite und laßt uns unangefochten vorbei.«
Noch während ich sprach, sah ich, wie die Yedocekoner sich über den Kreuzungspunkt zu verteilen begannen und strategische Positionen einnahmen. Wir hatten es mit einer harten Mannschaft zu tun, die mir wider Willen Respekt abnötigte. Sie wollten nicht aufgeben.
»Wir werden nichts dergleichen tun!« rief der Anführer mir zu. »Wir sind die Herren dieser Anlage. Ihr habt uns zu gehorchen, und wir sorgen dafür, daß ihr die Maschine niemals zu Gesicht bekommt!«
Ich ließ ihn zu Ende reden; dann sagte ich:
»Petronko, rücken Sie an!«
»Ich komme, Sir«, lautete die Antwort.
Aus einer anderen Gangmündung fauchte eine kurze Thermo-Rak-Salve. Auch sie schlug nutzlos in die Wand und beschränkte sich darauf, die Luft in der kleinen Halle noch mehr zu erhitzen. Aber das war genug. Die Yedocekoner warfen sich zu Boden und krochen, so rasch sie konnten, in die Deckung der halbdunklen Gänge zur Linken. Ich jagte eine Salve hinter ihnen her und über sie hinweg, die weit im Hintergrund eines der Gänge detonierte und eine Kugel aus wabernder, blauleuchtender Glut erzeugte, in deren Widerschein die hastig flüchtenden Gestalten der Aufständischen deutlich zu erkennen waren.
Die Gänge zur Linken führten von TECHNOs Kontrollraum fort. Das war mir willkommen. Gerade deswegen hatte ich es begrüßt, daß es Boris Petronko gelungen war, einen Durchgang nach der anderen Richtung hin zu finden. Auf diese Weise konnten wir die Yedocekoner aus unserer Marschrichtung abdrängen. Ich war mir darüber im klaren, daß sie über kurz oder lang wieder hier erscheinen würden – und zwar mit einer vielfach stärkeren Streitmacht, um uns den Rückweg zu verlegen. Fürs erste jedoch war unser Problem gelöst. Der Weg war frei.
Wie der Rückweg zu bewältigen war, darüber würden wir uns den Kopf zerbrechen, wenn es an der Zeit war.
Wir kamen unbehindert vorwärts und mußten unserem Ziel recht nahe sein, als ich zur rechten Hand plötzlich einen kleinen, schmalen Seitengang bemerkte, der nur mäßig erleuchtet war und in unbekannte Tiefen der unterirdischen Anlage zu führen schien. Er war auf dem Kartenbild nicht vermerkt. Wahrscheinlich gehörte er zu den Verbindungen, die TECHNO aus dem Bild entfernt hatte, nachdem er aufgefordert worden war, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Was mich an dem Gang faszinierte, war der Umstand, daß er ziemlich genau in die Richtung führte, in der auf dem Kartenbild die Transmitterstation eingezeichnet war. Der einzige Zugang zum Transmitter, der auf dem Bild eingezeichnet war, ging vom Kontrollzentrum aus, und das war – je nach dem Verlauf unserer Verhandlungen mit TECHNO – womöglich nicht gerade derjenige, den wir am günstigsten einschlagen sollten.
Einige hundert Meter weiter bot sich uns plötzlich ein völlig neuer Anblick. Unser Gang mündete auf einen Quergang von beachtlicher Breite. Auf der anderen Seite des Quergangs erhob sich eine Wand aus schimmerndem MA-Stahl. Der Mündung unseres Ganges gegenüber zeichneten sich in der sonst fugenlosen Wand die Umrisse eines Portals ab. So ähnlich sah der Zugang zu NEWTON in der unterirdischen Stadt Topthar aus. Nur die beiden stationären Roboter, die uns aus glitzernden Linsensystemen musterten, fehlten dort.
»Ich erkenne General Konnat von Okolar-drei«, quarrte eine der beiden Maschinen.
»Ich bin General Konnat«, bestätigte ich über Helmfunk und nahm als selbstverständlich an, daß die Maschinen auf den Empfang kurzwelliger Radiostrahlung eingerichtet waren. »Dies hier sind meine Begleiter. Wir haben mit TECHNO zu sprechen.«
»Sie sind identifiziert und zum Zutritt berechtigt«, schnarrte der Robot. »Das Verhalten Ihrer Begleiter unterliegt Ihrer Verantwortung.«
Nach dieser etwas ominösen Ankündigung öffnete sich das Portal. Wir blickten nicht, wie auf dem Mars, in einen Gang, dessen Wände mit Waffen und Erkennungsgeräten gespickt waren, sondern unmittelbar in die Kontrollzentrale. Auch hier gab es im Hintergrund eine Art Podest, das jedoch nicht durch ein Energiegitter von dem Rest des Raumes getrennt war. In der Wand hinter dem Podest wölbte sich nur eine Metallkuppel, und vor der Hauptschaltkonsole stand nur ein einziger Sessel. Die Anlage war einfacher, zweckmäßiger und unkomplizierter als die in Topthar.
Ich schritt durch das Portal, und meine zehn Begleiter folgten mir dichtauf. Am Fuße des Podestes hielten sie an. Ich jedoch schritt die drei Stufen hinauf, ging auf den Sessel zu und ließ mich darin nieder. Falls TECHNO mich beobachtete, dann mußte er aus meinem Verhalten schließen, daß ich nicht nur befehlsberechtigt, sondern auch befehlsgewohnt war.
»General Konnat an TECHNO«, erhob ich die Stimme. »Ich bin hier, um dir eine Reihe von Anweisungen zu erteilen. Die aufständischen Yedocekoner wollten uns den Weg verlegen, aber wir haben sie geschlagen.«
»TECHNO an General Konnat«, antwortete das Gehirn. »Ich registrierte ungewöhnliche Vorgänge entlang der Peripherie dieser Anlage, konnte jedoch nicht feststellen, was sich dort zutrug.«
Diese Eröffnung elektrisierte mich. Was hatte ich unter »registrieren« zu verstehen? Ich war von NEWTON und ZONTA gewohnt, daß sie alles wahrnahmen – in übertragenem Sinn auf optische Weise wahrnahmen –, was sich in ihrem innersten Machtbereich abspielte. Hatte TECHNO diese Fähigkeit nicht? Konnte er nicht sehen … was immer man bei einem Robotgehirn auch unter Sehen verstehen wollte? Ich nahm mir vor, später auf diesen Punkt zurückzukommen. Vorerst jedoch gab es Wichtigeres zu besprechen.
»Auf Okolar-drei«, erklärte ich dem Roboter, »bahnt sich infolge des ohne Anlaß aktivierten Alarmfalles MUTOOC eine Katastrophe an. Die Gütersendungen deines Transmitters drohen den Planeten zu überschwemmen. Ich verlange, daß der Transmitter augenblicklich in den Ruhezustand versetzt wird.«
TECHNO ließ nicht lange auf sich warten. Seine Antwort entsprach meinen finstersten Erwartungen.
»Eine Abschaltung des Transmitters während des Gefahrenfalles MUTOOC ist unmöglich, General Konnat.«
»Der Gefahrenfall MUTOOC existiert nicht«, widersprach ich. »Es handelt sich um einen Fehlalarm.«
»Diese Feststellung ist von meiner Programmierung her unverständlich, General Konnat.«
Der Zorn ging mit mir durch.
»Dann muß eben deine Programmierung geändert werden, zum Donnerwetter …!«
Und dann geschah das, womit ich nicht gerechnet hatte. TECHNO antwortete mir nicht mehr akustisch, sondern durch eine Leuchtschrift. Das war nicht seine eigene Meinungsäußerung, die er nach Befragung seiner Logiksektoren hervorbrachte, sondern der Output einer hartverdrahteten Schaltung, die auf meinen Vorschlag zur Umprogrammierung reagiert hatte.
An einer bisher unauffälligen, düsteren Stelle der Wand erschien plötzlich eine Art Spruchband, von dem in grellen Farben, in meiner eigenen Sprache, die Worte zu mir herableuchteten:
PROGRAMMIERUNG AUSGESCHLOSSEN
Ich gab mich geschlagen. Von TECHNO war in diesem Fall keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil: er würde rücksichtslos gegen jeden vorgehen, der den Transmitter in seiner Tätigkeit zu hindern suchte. Eben das aber war mein nächstes Ziel.
»Ich stelle einen Widerspruch fest«, bemerkte ich. »Aufständische Yedocekoner bewegen sich frei innerhalb der unterirdischen Anlagen. Sie sind allen Maschinen feind. Ihr Trachten ist es, dich und den Transmitter zu zerstören. Du jedoch darfst dich gegen die Aufständischen nicht wehren. Wie erklärt sich das?«
»Ich wehre mich nicht, solange die Yedocekoner nicht die lebenswichtigen Installationen dieser Anlage bedrohen. Sollten sie das doch tun, so bin ich gezwungen, sie als gefährliche Feinde einzustufen und ihren Schutzstatus zu annullieren.«
Jetzt war der kritische Augenblick gekommen.
»Wie kannst du feststellen«, fragte ich scheinbar beiläufig, »ob lebenswichtige Einrichtungen bedroht werden, da dein Wahrnehmungsvermögen doch offenbar getrübt ist?«
Ich wollte wissen, was es mit der ungewöhnlichen Bemerkung auf sich hatte, die vor wenigen Minuten gefallen war, als TECHNO mir zu verstehen gab, daß er »ungewöhnliche Vorgänge registriert« habe, ohne jedoch zu wissen, worum es ginge. Es zeigte sich, daß das Robotgehirn sich nicht zierte, über seine Gebrechen offen zu diskutieren.
»Es liegt in der Tat eine Wahrnehmungsbehinderung vor. Das optische Sensorsystem wurde von den Aufständischen schon in einer frühen Phase ihres Aufstandes beschädigt und unbrauchbar gemacht.«
»Dann sehe ich nicht, wie du diese Anlage noch wirksam schützen kannst!«
»Der Schutz dieser Anlage ist meine vordringlichste Aufgabe«, antwortete TECHNO standhaft. »Mir stehen einige hundert Kampfroboter zur Verfügung. Außerdem ersuche ich Sie, General Konnat, mir einen Teil der Besatzung Ihres Raumschiffs zu Patrouillenzwecken zur Verfügung zu stellen.«
Ich begriff sofort den ungeheuren Wert des Angebots, das mir hier unterbreitet wurde. Trotzdem zögerte ich, darauf einzugehen. Der Robot durfte aus einer allzu großen Bereitwilligkeit meinerseits keinen Verdacht schöpfen.
»Das ist mit Schwierigkeiten verbunden …«, zögerte ich. »Eine kleine Truppe, das ließe sich vielleicht machen … und überhaupt: was ist, wenn meine Leute mit einem deiner Kampfroboter zusammentreffen? Ich lege keinen Wert darauf …«
»Die Kampfroboter sind bereits informiert«, unterbrach mich TECHNO. »Sie betrachten Ihre Leute als befreundetes Personal und werden ihnen keine Schwierigkeiten in den Weg legen.«
Ich triumphierte. Das war genau das, worauf ich ursprünglich hinauswollte! Das Robotgehirn hatte uns zu Wächtern bestellt. Den Bock zum Gärtner gemacht! Ich öffnete meinen Mentalblock und rief nach Hannibal. Der Kleine meldete sich sofort. Ich setzte ihm auseinander, was mit TECHNO besprochen worden war. Auch ohne daß ich eine Erklärung abgab, erriet er meinen Plan sofort.
»Ich brauche Hilfe!« drängte ich. »Die Yedocekoner haben sich inzwischen von ihrem Schock erholt und sind ohne Zweifel dabei, sich zu reorganisieren. Sie werden sich nicht darauf beschränken, nur den Gang zu blockieren, durch den wir gekommen sind. Sie werden die Gegend absuchen und dabei vielleicht auch in die Nähe des Transmitters gelangen.«
»Hm, das wird gefährlich für euch«, antwortete er mißmutig. »Sie sind euch wahrscheinlich mehrfach überlegen. Wie könnte man …«
»Ich habe einen Plan«, unterbrach ich seinen Gedankenstrom. »Nimm dir etwa fünfzig Leute und unternimm einen Ausfallversuch in Richtung Kontrollzentrum. Die Yedocekoner müssen annehmen, daß du kommst, um uns den Weg freizukämpfen. Sie werden ihre Leute in unmittelbarer Nähe des Hauptgangs konzentrieren. Unterdessen haben wir die Chance …«
»Verstehe, verstehe!« rief er. »Wie aber findet ihr vom Transmitter zur BAPURA zurück? Auf dem alten Weg dürft ihr nicht mehr zurückkehren, das ist klar!«
»Wir werden es schon schaffen«, vertröstete ich ihn. »Laß das unsere Sorge sein! Deine Sache ist es, uns den Rücken und die Flanken freizuhalten.«
»Wird gemacht, Großer!« versprach Hannibal. »Halt die Ohren steif!«
Die Verbindung brach ab. Ich wandte mich an TECHNO.
»Es ist notwendig, daß ich an Bord meines Raumschiffs zurückkehre«, erklärte ich. »Ich werde dort eine Mannschaft zusammenstellen, die im Verein mit deinen Kampfrobotern die Gänge dieser Anlage kontrollieren und die Aufständischen im Zaum halten kann.«
»Ich danke, General Konnat«, antwortete das Robotgehirn.
Wir waren entlassen. Das Schott fuhr auf, und wir standen wieder auf dem breiten Quergang, der das Kontrollzentrum in seiner ganzen Ausdehnung zu umgeben schien. Die beiden stationären Roboter rührten sich nicht. Wir überquerten die breite Fläche und drangen in den Gang ein, durch den wir gekommen waren. Kurze Zeit später standen wir vor der Abzweigung des Seitenganges, der nun, da wir uns aus entgegengesetzter Richtung näherten, nach links führte.
In wenigen Minuten würde sich herausstellen, ob mein verwegener Plan etwas wert war oder nicht.
Der schmale Gang schien nicht zum ursprünglichen Plan der Anlage gehört zu haben. Er wand sich nach rechts und links, die Wände waren zum Teil nur halb bearbeitet, und die wenigen Leuchtkörper sahen so aus, als verdankten sie ihre Existenz einer Notlösung. Trotzdem bewegte sich der Gang generell in der Richtung, in der nach TECHNOs Kartenbild der Transmitter liegen mußte. Für uns gab es vorläufig also keinen Grund zu verzagen.
Wir mochten von dem Hauptgang aus etwa einen Kilometer zurückgelegt haben, als ich im Halbdunkel vor mir plötzlich eine schattenhafte Bewegung gewahrte. Ich erstarrte sofort, und meine Begleiter, Scheuning ausgenommen, waren ausreichend kampferprobt, um die Bedeutung meines Verhaltens sofort zu erfassen. Wir standen da wie elf Statuen und lauschten mit weit geöffneten Ohren den seltsamen Geräuschen, die aus den Tiefen des Ganges auf uns zukamen. Schlurfen und Rasseln, hin und wieder metallisches Klicken und leises Rattern, als griffen zwei defekte Zahnräder ineinander. Was konnte das sein?
Der Schatten des Unbekannten wuchs plötzlich vor uns auf. Ich erkannte eine eckige, humanoide Gestalt und sah undeutlich das Glitzern zweier riesenhafter Augen. Ein Kampfroboter! fuhr es mir durch den Sinn. Unwillkürlich spannte ich die Muskeln, als müßte ich die mächtige Maschine im nächsten Augenblick anspringen.
Plötzlich erwachte mein Translator zum Leben. Der Robot beherrschte unsere Sprache noch nicht. Er sprach yedocekonisch.
»Wächter eins-drei-sieben erkennt General Konnat!«
Meine Erleichterung war so groß, daß ich einen Augenblick lang vergeblich nach Worten suchte. Dann kehrte die Fassung zurück, und ich herrschte die Maschine an: »Gib den Weg frei und laß uns passieren!«
Der Translator übersetzte meine Worte. Der Robot drückte sich gegen die Wand und antwortete:
»Ich gehorche, General Konnat.«
Wir eilten an ihm vorüber. Einige hundert Meter weiter blieben wir stehen und horchten, ob er uns etwa folgte. Aber das rasselnde, schlurfende Geräusch war nicht mehr zu hören. Wächter 137 hatte seinen Patrouillengang in der ursprünglichen Richtung fortgesetzt.
Vor uns wurde es plötzlich heller. Wir schienen uns einem wichtigen Kreuzungspunkt zu nähern. Ich hob die Hand zum Zeichen, daß wir von jetzt an vorsichtiger vordringen müßten. Ich wollte etwas sagen … aber da traf es mich wie der Faustschlag eines unsichtbaren Riesen. Plötzlich hatte ich keinen Boden mehr unter den Füßen. Ich stürzte, während sengender, beißender Schmerz mir durch den Körper zuckte. Ich hörte Schreie, ohne zu wissen, daß auch ich schrie. Ich schlug hart auf und hörte ein vibrierendes Singen und Pfeifen in den Ohren. Für Sekunden verlor ich das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, war der Spuk vorbei. Wir alle hockten auf dem Boden und starrten einander verstört an. Nur auf Tancanocs breitem Gesicht lag ein wissendes Lächeln.
»Was … was war das?« stieß Scheuning stotternd hervor.
»Der Transmitter«, antwortete der Yedocekoner. »Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe des Hauptschaltelements. Soeben ist ohne Zweifel wieder eine Sendung an die Erde abgegangen. Obwohl das eigentliche Transmitterfeld in den großen unterirdischen Verladeräumen entsteht, in denen die Güter vor dem Versand zusammengetragen werden, bekommen wir auch in der Nähe der Schalteinheit die Auswirkungen der Transmittertätigkeit zu spüren.«
Er hob den Arm und wies voraus. Mein Blick folgte seinem Wink. Ich sah durch die Mündung unseres Ganges hinaus auf einen freien, kreisrunden Platz. Er war grell beleuchtet, und in seinem Zentrum erhob sich eine gigantische Maschine, die nach oben über den Rand meines Blickfelds hinausragte. Ich raffte mich auf. Mit weiten Sprüngen hetzte ich den Gang entlang, verließ ihn und trat auf den Platz hinaus. Er durchmaß wenigstens zweihundert Meter. Die Schalteinheit selbst war von allgemein zylindrischer Form, leicht konisch und hatte an der Basis einen Durchmesser von dreißig Metern. Ihre Höhe schätzte ich auf wenigstens das Dreifache des Durchmessers. Die Halle selbst hatte annähernd die Form einer Halbkugel. Aus dem Zenit glühte mit blendender Helligkeit eine künstliche Atomsonne.
Ich ließ das Bild auf mich wirken. Hier also stand ich vor der Wurzel des Übels, das die Erde befallen hatte. Eine gigantische Maschine, und doch, verglichen mit den Energien, die sie spielerisch handhabte, und den ungeheuren Entfernungen, die ihre Sendungen überbrückten, ein Zwerg. Unsere Sprengkapseln würden sie zu Fall bringen, und damit war – wenn auch nicht für uns, so doch wenigstens für die Erde – vorläufig alle Gefahr beseitigt.
Wir deponierten die Sprengkapseln rund um den Fuß des Maschinengiganten. Die Kapseln waren, wie wir es zur Gewohnheit gemacht hatten, mit einem Telepathiezünder versehen, der von mir, Hannibal oder Kiny Edwards betätigt werden konnte. Telepathiezünder hatten gegenüber den herkömmlichen elektronischen Zündmechanismen den Vorteil, daß sie nicht störanfällig waren, und vor den noch älteren Zeitzündern zeichnete sie der Umstand aus, daß sie betätigt werden konnten, wenn der Zeitpunkt dafür am günstigsten war, und sich nicht einem fest vorgegebenen Zeitablauf unterwerfen mußten.
Damit war unsere Arbeit getan. Die Kapseln konnten jederzeit zur Detonation gebracht werden. Die Gefahr für die Erde war so gut wie beseitigt. Von neuem überkam mich das Gefühl unendlicher Erleichterung. Die Aufgabe, den Weg zurück zur BAPURA zu finden, erschien mir wie eine lächerliche Kleinigkeit im Vergleich mit den Problemen, die wir seit unserem Start vom Mars hatten lösen oder umgehen müssen.
Ich rief Hannibal. Es dauerte eine Zeitlang, bis er antwortete, und ich bemerkte, daß der Strom seiner Gedanken verzerrt und undeutlich war.
»Was ist los?« erkundigte ich mich besorgt.
»Ich fürchte, wir haben uns ein zu großes Stück Kuchen abgeschnitten«, antwortete er gepreßt. »Ich liege hier mit meinen fünfzig Mann, von denen ich etwa acht inzwischen verloren habe, und die Yedocekoner sind auf allen Seiten. Mein Gott, so viele Yedocekoner auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen …!«
»Wo steckt ihr?« wollte ich wissen.
»Unmittelbar vor dem Kreuzungspunkt, auf dem ihr mit den Kerlen zusammengestoßen seid. Aber sie sind nicht nur vor uns, sondern sie kommen auch aus den Räumen, die zu beiden Seiten des Ganges liegen.«
Ich grinste bitter.
»Das ist kein Problem, das nicht mit einem Überraschungsvorstoß aus dem Rücken des Gegners gelöst werden könnte, Kleiner! Halt aus, wir kommen!«
»Du bist verrückt!« ächzte er. »Es sind wenigstens zweihundert Mann. Ihr habt keine Chance …«
Ich unterbrach einfach die Verbindung. Scheuning und Petronko hatten an meiner Starre bemerkt, daß ich mit Hannibal in Kontakt getreten war. Scheuning starrte mich fragend und ein wenig mißtrauisch an.
»Wir müssen unseren Leuten aus der Klemme helfen«, erklärte ich. »Major Utan und fünfzig Mann sind von Yedocekonern umzingelt.«
Einen Augenblick lang sah Scheuning so aus, als wolle er protestieren. Dann jedoch senkte er plötzlich den Kopf und nickte vor sich hin.
»Selbstverständlich«, murmelte er.
Also kehrten wir doch zu dem Gang zurück, durch den wir gekommen waren. Je näher wir dem Kreuzungspunkt kamen, desto deutlicher waren die Geräusche des Kampfes zu hören. Helles, feindseliges Singen vermischte sich mit wütendem Fauchen. Das Singen kam von den Strahlwaffen der Aufständischen, das Fauchen war das Abschußgeräusch unserer Thermo-Rak-Pistolen. Wir hasteten vorwärts. Wenn die Yedocekoner überhaupt zu dem Schluß gekommen waren, daß Hannibals Vorstoß nur dem Zweck diente, uns bei der Rückkehr aus dem Kontrollzentrum den Weg zu ebnen, so hatten sie daraus offenbar nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Kein einziger Aufständischer hielt in unserer Richtung Ausschau. Wir erreichten den Rand des Platzes, den der Kreuzungspunkt bildete, und sahen drüben, auf der anderen Seite, gepanzerte Yedocekoner zu beiden Seiten der Gangmündung kauern, hinter der Hannibal und seine Leute lagen. Die Luft war kochendheiß. Aus dem Gang auf der anderen Seite kam das ununterbrochene Dröhnen der Explosionen.
»Ich bin hier, Kleiner!« rief ich Hannibal auf telepathischem Wege zu. »Wenn es geht, dann mach deinen Leuten klar, daß sie nicht auf uns halten sollen!«
Dann konzentrierte ich mich auf die Zünder der Sprengkapseln, die wir am Fuße der Transmitter-Schaltelemente deponiert hatten. Ich rascher Folge betätigte ich einen nach dem andern. Ich war kaum fertig, da drang aus dem Innern des Planeten ein Tosen und Dröhnen, das den Lärm des Kampfes im Nu erstickte. Unter mir zitterte der Boden. Aus den Gangwänden brachen große Stücke Verkleidung und stürzten herab. Vor uns waren die Yedocekoner überrascht aufgefahren und sahen sich um. Einer war so unvorsichtig, vor die Mündung des Ganges zu treten und wurde sofort von einer Rak-Salve erfaßt, die einer von Hannibals Leuten abgefeuert haben mußte.
»Jetzt drauf!« schrie ich meine Leute an.
Wir brachen aus dem Gang hervor. Ich werde nie das panische Geheul vergessen, das die Yedocekoner ausstießen, als sie aus einer Richtung, von der her sie sich völlig sicher wähnten, einen neuen Gegner auftauchen sahen. Jetzt erst bekam mein Wort Gewicht: wir schossen, um zu töten. Wir konnten es uns nicht leisten, anders zu verfahren. Vor uns her schoben wir eine Front von glühenden, sonnenheißen Explosionsbällen, die die yedocekonische Streitmacht aufrieben und die Wände der Gänge zum Schmelzen brachten. Durch die schützenden Schichten unserer Raumanzüge hindurch spürten wir die mörderische Hitze, die den Kampfplatz erfüllte.
Ich handelte nur noch mechanisch. Erkennen – zielen – feuern – Magazin auswechseln … dabei schritt ich stetig vorwärts. Ich überquerte den Kreuzungspunkt, drang in den gegenüberliegenden Gang ein.
Plötzlich ein Schrei:
»Aufhören! Um Gottes willen … aufhören!«
Ich erwachte wie aus der Trance. Das war kein normaler Schrei gewesen, kein akustischer, sondern einer, der nur in meinem Gehirn widerhallte.
»Hannibal …?«
»Gott sei Dank!« Das klang wie aus tiefster Seele. »Ich dachte schon, du wolltest uns auch noch auslöschen!«
Ich sah mich um. Rings um mich glühten die Wände des Ganges, rauchten glühendheiße, halbflüssige Gesteinsmassen auf dem Boden. Hinter mir, durch den Dunst gerade noch erkennbar, erschienen die Gestalten meiner Begleiter.
»Die Yedocekoner …?« begann ich.
»Sind verschwunden«, fiel mir Hannibal ins Wort. »Hals über Kopf, als sei die wilde Jagd hinter ihnen her.«
Da wurden mir plötzlich die Knie weich. Der Transmitter war zerstört, die Yedocekoner waren geschlagen. Die Kampfeswut, die sich in meinem Innern aufgespeichert hatte, verpuffte plötzlich und hinterließ eine Leere.
»Dann machen wir uns am besten auf den Rückweg …«, murmelte ich dumpf.
Vier Stunden waren vergangen. Wir wußten nicht, wie es in den unterirdischen Anlagen des Mars-Versorgers aussah. Wir wußten nur, daß seit der Zündung der Sprengkapseln keine einzige Transmitter-Schockwelle mehr registriert worden war. Es sah so aus, als hätten wir unsere Aufgabe tatsächlich gelöst.
Die Frage war natürlich, was weiter aus uns werden würde. Noch immer stand die BAPURA auf ihrem unterirdischen Landeplatz. Wir konnten versuchen zu starten, aber wir wußten nicht, welche Gefühle TECHNO nach der Zerstörung des Transmitters uns gegenüber hegte, ob er uns der Tat verdächtigte oder nicht und ob er uns ohne weiteres starten lassen würde. Ich hatte mich entschlossen, noch einen Standardtag zu warten und, falls ich bis dahin noch nichts von TECHNO gehört hatte, dann einen Startversuch zu wagen.
Die aufständischen Yedocekoner schienen sich weit in den Hintergrund der unterirdischen Anlagen zurückgezogen zu haben. Ihre Mentalimpulse waren kaum mehr zu spüren. Wir hatten ihnen einen heilsamen Schrecken eingejagt. Ich bedauerte zutiefst, daß die erste Begegnung zwischen unseren beiden Völkern nicht unter günstigeren Vorzeichen hatte stattfinden können. Wir beklagten auf unserer Seite elf Tote und achtundzwanzig Schwerverletzte. Von den Yedocekonern waren nach vorsichtiger Schätzung wenigstens siebzig gefallen.
Ich saß in meinem Arbeitsraum und musterte mit einem gewissen Abscheu den Prunk, den aufzubauen man aus den bekannten Gründen für nötig empfunden hatte, da meldete sich über Interkom Captain Botcher, mein stets aufmerksamer, pedantischer Adjutant.
»Professor Scheuning, Sir, um Ihnen eine Hypothese darzulegen.«
Ich brachte nicht mehr fertig, ernst zu sein.
»Lassen Sie Scheuning und seine Hypothese rein!« gebot ich Botcher.
Wenige Augenblicke später saß Scheuning vor mir.
»Sie erinnern sich, Sir, an das trichterförmige Energiegebilde, das wir beim Anflug auf diesen Planeten bemerkten, in das, von der Sonne her kommend, ein bläulich leuchtender Blitz herniederzuckte?« begann er vorsichtig.
»Ich erinnere mich«, antwortete ich würdevoll.
»Es ist mir ein ungeheuerlicher Gedanke gekommen«, ereiferte sich Scheuning. »Ich habe ihn sofort durchgerechnet und bin zu dem Ergebnis gelangt, daß er im Prinzip durchführbar ist – vorausgesetzt, das technologische Know-how und die entsprechenden Geräte sind vorhanden.«
»Um was für einen Gedanken dreht es sich, Professor?« erkundigte ich mich geduldig.
»Auf der Erde, Sir«, antwortete er, »landen Tag für Tag Güter, die nicht nur von unschätzbarem Wert sind, sondern auch eine Masse von mehreren Billionen Tonnen darstellen. Sie alle kommen von dieser Welt, vom Mars-Versorger Alpha-sechs. Woher nimmt der Versorger all diese Materie? Zehrt er sich selbst auf? Verbraucht er die eigene Substanz, um die Erde mit Versorgungsgütern zu beliefern? Das müßte man doch merken, nicht wahr? Es müßte sich selbst mit unseren vergleichsweise primitiven Meßinstrumenten feststellen lassen, ob der Versorger in den vergangenen Wochen pro Tag mehrere Billionen Tonnen Masse verloren hat. Das ist aber nicht der Fall. Also schließe ich: es fand kein Masseschwund statt. Die Substanz, aus der die Versorgungsgüter gefertigt wurden, wurde aus anderer Quelle besorgt.«
»Und jetzt kommt die Geschichte mit dem blauen Blitz«, nickte ich spöttisch.
»In der Tat, Sir!« rief Scheuning. »Eine geheimnisvolle Maschinerie zapft die Sonne dieses Planetensystems an, einen blauen Riesen übrigens, der über ungeheure Energiereserven verfügt. Diesem Riesen wird Energie abgesaugt. Sie entlädt sich in Form von Blitzen in den Auffangtrichter, den wir gesehen haben. Irgendwo unterhalb dieses Trichters befindet sich eine Station, die Energie in Materie verwandelt, zunächst in einfachen Wasserstoff, aus dem in stufenweisen Fusionsprozessen schwerere Elemente erzeugt werden.«
Er schwieg und gab mir Zeit, über seine ungeheuerliche Hypothese nachzudenken. Materieerzeugung aus Energie! Seit Einstein wußten wir, daß es so etwas im Prinzip gab. Und hatten wir die Technologie der Marsianer nicht schon genug Wunder vollbringen sehen, um rückhaltlos zu glauben, daß sie auch das Mirakel der Energieumwandlung vollziehen könne?
Eine Vision tauchte vor meinem geistigen Auge auf: die Menschheit hatte die Geheimnisse der marsianischen Technik entschlüsselt. Sie beherrschte das Erbe, das eine uralte Zivilisation ihr hinterlassen hatte – eine Zivilisation übrigens, die es nicht fertiggebracht hatte, zu überleben. Es fröstelte mich plötzlich. Wir Menschen waren trotz unserer Uneinigkeiten und Kriege Zeit unseres Daseins ein seelisch stabiles, sozusagen unverwüstliches Völkchen gewesen. Was aber kam da jetzt auf uns zu …?
Als ich aus meinen Träumen erwachte, bemerkte ich, daß Scheuning mich inzwischen verlassen hatte – enttäuscht wahrscheinlich über meinen Mangel an Reaktion auf seine sensationelle Entdeckung. Ich mußte ihn anrufen. Ich mußte ihn trösten. Ich mußte ihm sagen, daß ich seine Hypothese für das Erzeugnis eines brillanten Geistes hielt.
Ich mußte so vieles. Aber mit einemmal hatte ich keine Kraft mehr dazu. Heimtückisch und hinterlistig hatte sich abgrundtiefe Müdigkeit meiner bemächtigt. Ich mußte jetzt nur noch eines.
Schlafen …
ENDE