8.
Der Rufer in der Nacht … wer ist der Rufer in der Nacht? Das war der erste, matte Gedankenimpuls, der durch mein gequältes Bewußtsein zuckte, als es allmählich zu erwachen begann. Der Schädel dröhnte, der Körper schmerzte, mir war zum Speien übel, und dennoch empfand ich wilden Triumph, als mir zum Bewußtsein kam, daß ich noch lebte. Ich atmete noch, wenn mir auch bei jedem Atemzug der Brustkorb zu platzen drohte. Ich konnte Schmerzen empfinden, also lebte ich noch.
Es war finster um mich herum, auch als ich die Augen öffnete. Eine Welle des Entsetzens rollte über den Triumph hinweg und löschte ihn aus. Hatte ich das Augenlicht verloren? Ich horchte in die Finsternis und vernahm hundertfältige, leise Geräusche: ein Kratzen hier, ein Knistern dort, leises Summen über mir.
»Ist da jemand?« schrie ich, plötzlich von Panik erfüllt.
Und wieder kam der Ruf, der mich geweckt hatte, schwach, verzweifelt, wie aus weiter Ferne:
»Thor … Hannibal … Hilfe …!«
Moment – das war kein Ruf! Das war ein telepathischer Impuls! Augenblicklich legte sich meine Angst. Außer Hannibal und mir war nur noch Kiny Edwards an Bord, die sich auf diese Weise bemerkbar zu machen verstand. Sie war in Gefahr.
»Kiny? Hier ist Thor! Wo steckst du?«
Unter Telepathen gibt es keine Formalitäten. In der Sprache der Mentalimpulse ist es unmöglich, zwischen einer formellen und einer informellen Anrede zu unterscheiden. Ich horchte angestrengt. Kiny war in Gefahr, wahrscheinlich verletzt. Konnte sie mich überhaupt empfangen?
Augenblicke später kam ihre Antwort:
»Thor … in einem der unteren Decks … Nähe Triebwerksraum … ein Gerät ist umgestürzt und hat mich unter sich begraben …«
»Bleib bei Bewußtsein, Mädchen!« drängte ich sie. »Du mußt wach bleiben, damit ich mich an deinen Impulsen orientieren kann. Ich komme so rasch wie möglich, hörst du? Es wird schwer sein, denn ich kann nichts mehr sehen. Aber ich finde dich, du kannst dich darauf verlassen!«
»Oh … Gott sei Dank!« lautete ihre nächste Gedankenfolge. »Ich dachte schon …«
»Was dachtest du?«
»Ich kann auch nichts sehen … ich dachte, ich sei blind!«
Da fing ich an zu lachen. Die Dunkelheit war so vollkommen, daß wir beide denselben Gedanken gehabt hatten. In Wirklichkeit waren wir nicht blind – die Beleuchtung der BAPURA war ausgefallen. Ich versuchte mich aufzurichten. Neben mir bewegte sich etwas und stürzte polternd um. Ich betastete es. Es war mein Sessel. Ich erinnerte mich an den letzten schrecklichen Augenblick, wie ich mitsamt dem losgerissenen Möbelstück wie ein Geschoß durch die Luft gesaust war. Der Sessel mußte sich mit mir gedreht haben und zuerst gegen die Wand geprallt sein. Dadurch war mein Leben gerettet worden.
Ich stemmte mich in die Höhe. Um ein Haar hätte ich mir zuviel zugemutet. Der Schmerz, der in allen zehntausend Nervenenden des gemarterten Körpers zu sitzen schien und bei der geringsten Bewegung in Wellen dem Wahrnehmungsvermögen zufloß, hätte fast mein Bewußtsein von neuem ausgelöscht. Ich mußte vorsichtiger sein, wenn ich auf den Beinen bleiben wollte.
Ich streckte die Arme aus und tat behutsam Schritt um Schritt, bis ich gegen ein Hindernis stieß. Das mußte die Wand des Kommandoraums sein, entweder die runde oder die gerade. Ich tastete mich an ihr entlang. Das war ein mühseliges Unterfangen, denn auf dem Boden lagen Trümmerstücke zerstörter Maschinen und Geräte zerstreut, und manche davon waren so groß, daß ich sie umgehen und dabei die Orientierungshilfe der Wand verlassen mußte. Von Zeit zu Zeit mußte ich anhalten, um Luft zu holen. Der Brustkorb schmerzte, als hätte ich mir sämtliche Rippen gebrochen. Ich konnte nur flach atmen, was zur Folge hatte, daß der Körper nur mangelhaft mit Sauerstoff beliefert wurde.
Von Zeit zu Zeit unterhielt ich mich mit Kiny Edwards. Ihre Zuversicht war gestiegen, seitdem sie mit mir Verbindung aufgenommen hatte. Sie sagte, sie könne das Gewicht der auf ihr ruhenden Maschine noch eine Zeitlang ertragen. Erst bei dieser Unterhaltung fiel mir, der ich daran gewohnt war, den festen Boden eines Planeten unter den Füßen zu haben, auf, daß offenbar das künstliche Schwerefeld an Bord der BAPURA nach wie vor funktionierte, sonst wären wir alle mitsamt den aus ihren Halterungen gerissenen Maschinen gewichtslos in der Luft umhergeschwebt. Die Katastrophe war also nicht allumfassend gewesen. Verschiedene Dinge hatten sie überstanden. Diese Erkenntnis gab mir neuen Mut. Ich kam auf einmal zügiger vorwärts und mußte nach meiner Schätzung dem Hauptschott ziemlich nahe sein, da traf mich unerwartet und mit elementarer Wucht der wenig gesellschaftsfähige Ausfluß eines weiteren telepathisch begabten Gehirns.
»Verdammter Mist … man kann nicht einmal den Finger rühren, ohne daß es weh tut!«
Überrascht blieb ich stehen. Ein Gefühl unsagbarer Erleichterung quoll in mir auf und wärmte mich. Hannibal! Er hatte das Unglück ebenfalls überstanden! Ich öffnete meinen Mentalblock und ließ ihn hören:
»Du solltest erst mal probieren, wie es sich anfühlt, wenn man die Knie durchdrückt!«
Einen Atemzug lang war es im Mentaläther völlig still. Dann kam, verzagt, Kinys Feststellung:
»Das kann ich nicht … die Knie durchdrücken. Die Maschine …«
Sie meinte, ich hätte zu ihr gesprochen.
»Kiny?« hörte ich Hannibals zweifelnden Ruf. »Bist du das?«
»Ja, ich bin hier …«, erklang die Antwort.
»Aber das mit den durchgedrückten Knien, das warst nicht du, wie? Zum Donnerwetter … Großer, bist du vielleicht auch noch am Leben?«
»Es scheint so«, antwortete ich.
»Hallelujah!« rief der Kleine. »Dann können wir vielleicht diesen alten Kahn wieder in Gang bringen und weiterfahren!«
Das war sein unverwüstlicher Optimismus, von dem ich heute noch nicht weiß, ob er echt ist oder nur Gehabe.
»Lieber als das wäre mir jetzt eine Lampe«, sagte ich. »Kiny liegt unter einer umgestürzten Maschine begraben, und ich denke nicht, daß ihr viel damit geholfen ist, wenn wir zuerst die BAPURA wieder in Gang bringen. Ganz abgesehen davon, daß ich keine Ahnung habe, wie du das anfangen willst.«
»Oh, das wußte ich nicht«, rief er bestürzt, »ich meine, die Sache mit Kiny. Eine Lampe? Ich habe eine in meinem Gepäck. Mein Quartier liegt höchstens dreißig Meter den Gang entlang. Warte, ich hole das Ding. Ich muß nur zuerst … au, verdammt, das tut weh!«
Die Unterhaltung spielte sich noch immer auf telepathischem Wege ab. Ich hatte meinen Block weit geöffnet, und als Hannibal nun schwieg, hörte ich aus der Ferne das dumpfe Rumoren, fremder unartikulierter Gedanken, die ersten Ausstrahlungen eines Bewußtseins, das im Begriff ist, wieder zu sich zu finden. Die Mannschaft kam allmählich wieder zu sich – oder das, verbesserte ich mich traurig, was von ihr übrig geblieben war.
Plötzlich spürte ich eine Bewegung in unmittelbarer Nähe. Ein kratzendes Geräusch kam aus der Finsternis vor mir. Es wiederholte sich in rhythmischen Abständen, als wäre da eine Maus dabei, einen Balken anzunagen. Ich bückte mich langsam, bis ich genau wußte, woher das Geräusch kam. Dann schoß ich nach vorne – um den Preis eines muskellähmenden Schmerzes, der mir das Rückgrat hinauffuhr – und landete mit dem Gesicht zuerst in einem Haufen Schrott. Die Hände trafen aufeinander, ohne etwas gefaßt zu haben. In unmittelbarer Nähe aber hörte ich ein leises Surren, das sich rasch entfernte, und ein matter Luftzug strich mir übers Gesicht.
Da lag ich nun, noch halb benommen von dem Sturz, und es dauerte eine ganze Weile, bis mir die Erleuchtung kam. Es war einer der marsianischen Roboter gewesen, der das Geräusch erzeugt hatte. Er war seiner Aufgabe nachgegangen, und ich hatte ihn dabei gestört. Da der Befehl, Menschen nicht in den Weg zu kommen, in seinem positronischen Gehirn hart verdrahtet war, hatte er die Flucht ergriffen, als ich nach ihm zu fassen suchte.
Die Roboter also funktionieren auch noch! Der Himmel mochte wissen … Hannibals Traum von der Fortsetzung des Fluges würde vielleicht doch noch in Erfüllung gehen! Ich raffte mich behutsam wieder auf. Da hörte ich seitwärts aus der Dunkelheit ein Stöhnen. Hörten denn die Überraschungen in der verdammten Finsternis überhaupt nicht mehr auf? Ich wandte mich in die Richtung, aus der ich den Laut gehört hatte, und stieß schließlich mit den Spitzen meiner Stiefel in die schwere, nachgiebige Masse eines menschlichen Körpers.
»Hnngggh …?« machte es vor mir.
»Kommen Sie zu sich!« fuhr ich den Unbekannten an. »Wir brauchen alle Hände. Wer sind Sie?«
»Ich … ich weiß nicht«, ächzte es aus dem Dunkel. »Ich glaube … in meiner vorherigen Existenz … nannte man mich Jim Dogendal.«
»Dogendal, Mensch!« schrie ich begeistert. »Sie leben noch, und Ihr Glaube an die Seelenwanderung ist ebenfalls noch intakt!«
»Jawohl, Sir«, antwortete Dogendal mit einer Stimme, die andeutete, daß ihm das Sprechen Schmerzen bereitete. »Ich glaube gar, Sie sind General Konnat, wie?«
»Wie er leibt und lebt!« rief ich und beugte mich nieder, um Dogendal auf die Beine zu helfen.
In diesem Augenblick geschah das Wunder. Ich konnte es mir nur so erklären, daß die Marsroboter von der ersten Sekunde nach der Katastrophe an unermüdlich an der Arbeit gewesen sein mußten. Sie mußten nach dem Prinzip vorgegangen sein: das Wichtigste zuerst. Und es hatte sich zufällig so getroffen, daß, was nach Meinung des Autopiloten das Wichtigste war, auch für uns überragende Bedeutung hatte: das Licht.
Das Licht …! Plötzlich war es wieder da. In unglaublicher Grelle fuhr es von der Decke herab und mir in die Augen. Ich taumelte und kniff die Lider fest zusammen, denn der unerwartete Aufprall der Helligkeit erzeugte peinigenden Kopfschmerz. Ich ließ eine Minute verstreichen, bevor ich es wagte, zwischen nur halb geöffneten Lidern hindurchzublinzeln. Ich ließ dem geplagten Gesichtssinn Zeit, sich an die Lichtfülle zu gewöhnen. Aber als ich endlich so weit war, daß ich mich umblicken konnte, da bot sich mir ein Anblick, der mich wünschen ließ, ich hätte die Augen nie geöffnet oder das Licht wäre für immer ausgeblieben.
Der früher so wohlorganisierte Kommandostand der BAPURA war ein wüstes Trümmerfeld.
Wir fanden Kiny ohne sonderliche Mühe. Aber auf dem Weg hinab zu den unteren Decks wurde uns das Ausmaß der Verwüstung noch deutlicher. Die lebenswichtigen Funktionen der BAPURA waren noch vorhanden, aber sonst war sie ein Wrack. Es schien unvorstellbar, daß dieses Raumschiff jemals wieder in Gang gebracht werden könne.
Kinys Lage war nicht so ernst, wie wir zuerst geglaubt hatten. Die Maschine lag nicht mit vollem Gewicht auf ihr, sondern wurde halb und halb durch einen Träger gestützt, der unweit des Mädchens von der Decke herabgestürzt war. Den Träger als Hebel verwendend, wuchteten wir die Maschine in die Höhe und zogen Kiny darunter hervor. Sie war bleich und ihre Montur an vielen Stellen zerfetzt. Als sie endlich frei war, stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und mit heftigem Schluchzen fiel sie Hannibal um den Hals. Wir brachten sie zurück in ihr Quartier und brachten sie dazu, daß sie sich zuerst einmal ausruhte. Sobald wir einen Arzt aufgetrieben hatten, versprachen wir ihr, würden wir ihn zu ihr schicken.
Dann machten wir uns an die traurige Aufgabe der Bestandsaufnahme. Wir, das waren Hannibal, Dogendal und ich. Rings um uns kam die Besatzung des Schiffes allmählich wieder zu sich. Wir kamen zunächst oberflächlich und später anhand detaillierter Informationen zu dem Schluß, daß das Schicksal mit den Menschen wesentlich gnädiger verfahren war als mit den Maschinen. Die Leute, denen wir unterwegs begegneten, hatten zumeist nur Prellungen erlitten. Hier und da fanden wir einen, der sich den Arm gebrochen hatte. Wir halfen, wo wir konnten, und wo es außerhalb unserer Macht lag, da baten wir die Leute, stillzuliegen und auf den Arzt zu warten.
Bei unserer Rückkehr in den Kommandostand harrte unser eine neue Überraschung. Die Bildschirme hatten den Betrieb wieder aufgenommen. Das hieß: die Meßbildschirme waren noch immer außer Betrieb. Aber die Schirme, die die Eindrücke der Außenbordkameras und der Ortergeräte vermittelten, waren wieder intakt. Ich atmete erleichtert auf, als ich auf einer der größten Bildflächen das vertraute Bild des Alls sah: silbern glitzernde Sterne auf schwarzem Hintergrund. Ich war zu wenig Astronom, um zu erkennen, ob das Bild bekannte Konstellationen zeigte oder nicht. Mir genügte es zu wissen, daß wir die mörderische Resonanz-Krümmungszone endlich verlassen hatten und in unser vertrautes Kontinuum zurückgekehrt waren.
Auch im Kommandostand regte man sich wieder. Die Bewußtlosen waren zu sich gekommen und arbeiteten sich unter den Trümmermassen hervor. Das wüste Durcheinander wurde zusätzlich belebt von einer sicherlich nach Tausenden zählenden Menge von marsianischen Klein- und Kleinstrobotern, die so eifrig an der Arbeit waren, als gäbe es tatsächlich noch eine Aussicht, die BAPURA jemals wieder in flugtüchtigen Zustand zu versetzen. Die Besatzung des Kommandostands war knapp vierzig Mann stark gewesen. Darunter gab es keinen einzigen Schwerverletzten. Der schlimmste Fall war der von Stepan Tronsskij, der sich das rechte Bein ausgekugelt hatte. Abgesehen davon gab es noch ein Dutzend Gehirnerschütterungen, sowie zahllose Beulen und Schürfwunden. Wir waren, das mußte man dem Schicksal lassen, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Ich war dabei, meine Leute zu sortieren, da näherten sich mir, quer über das Trümmerfeld kommend, zwei Gestalten. Ich erkannte Josua Aich und Professor Scheuning. Aich trug einen weißen Verband um die Stirn, durch den hier und da ein frischer Blutfleck hindurchschimmerte. Scheunings breites Gesicht dagegen wies mehrere blaue Stellen auf, die so gut verteilt waren, daß es einem schwerfiel, seine grimmige Miene ernst zu nehmen.
»Ich weiß genau, wie es vor sich ging, Sir!« rief er mir schon von weitem zu und schwang dazu die Faust, als sei ich es, der an dem ganzen Unglück schuld war.
»So«, sagte ich, als er schließlich vor mir stand: »Dann lassen Sie mich’s mal hören!«
Er holte tief Luft, aber das schien ihm nicht sonderlich gut zu bekommen, denn er verzog das Gesicht zu einer ganz fürchterlichen Grimasse, so daß ich das Lachen kaum verkneifen konnte. Mit etwas weniger Elan, als er ursprünglich geplant hatte, erklärte er:
»Aich und ich sind uns darüber einig, daß die Rückkehr eines Raumschiffes wie der BAPURA in das vierdimensionale Kontinuum ein allmähliches, stufenweises Abschalten des parabolischen Schockfeldes erfordert, welches das Fahrzeug vor sich herschiebt.«
Er sah mich auffordernd an, als müsse mir schon aufgrund dieser Äußerung der unermeßliche Umfang seiner Weisheit klargeworden sein.
»Na und?« machte ich.
Er prustete empört.
»Das ist doch glasklar!« rief er vehement, aber die Beulen und Schrammen machten ihm erneut einen Strich durch die Rechnung und ließen ihn schmerzhaft zusammenzucken. »Völlig klar!« hauchte er. »Der Mechanismus, der einen solchen Vorgang kontrolliert, muß ungeheuer kompliziert sein. Hinzu kommt, daß er seit beinahe zweihunderttausend Jahren nicht mehr aktiviert worden ist. Er funktionierte also nicht richtig. Er baute das ganze Feld mit einem Ruck ab oder tat sonst irgend etwas, wodurch die BAPURA um ein Haar zerrissen worden wäre.«
»Das ist eine interessante Hypothese«, antwortete ich gelassen. »Aber zwei andere Dinge wären für mich im Augenblick weitaus wichtiger.«
Er nahm mir mein mangelndes Interesse nicht übel.
»Und die wären?« fragte er.
»Erstens: in welchem Raumsektor befinden wir uns? Und zweitens: was kann getan werden, um eine Wiederholung des Unglücks zu verhindern?«
Er warf einen Blick auf die Bildschirme.
»Die erste Frage ist wahrscheinlich recht einfach zu beantworten – falls wir uns noch nicht allzuweit von der Erde entfernt haben und falls Sie die Ziffer nicht bis auf achtzehn Stellen Genauigkeit brauchen. Aber die zweite Frage …«, er zuckte hilflos mit den Schultern, und sein notorisch verbissenes Gesicht zeigte auf einmal ein freundliches Lächeln: »Sie erwarten doch nicht im Ernst von uns, daß wir dafür schon eine Antwort parat haben, oder?«
Ich schlug ihm auf die Schulter.
»Keineswegs, Professor! Bringen Sie mir eine halbwegs genaue Antwort auf die erste Frage, und ich werde Ihren Namen in der Welt der Wissenschaft rühmen, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet!«
Wir machten Bestandsaufnahme. Die Katastrophe hatte elf Besatzungsmitgliedern das Leben gekostet: neun Männern und zwei Frauen. Wir bestatteten sie, indem wir die Leichen in Raumanzüge kleideten, die das Emblem der Geheimen Wissenschaftlichen Abwehr und das der vereinigten Erdvölker trugen, und sie durch eine Schleusenöffnung in das Weltall hinaustreiben ließen.
Ansonsten gab es keine Verletzungen, deren unsere Ärzte mit dem von der Erde mitgebrachten Gerät nicht hätten Herr werden können. Wir waren, um es in einem Wort zu sagen, glimpflich davongekommen. Das Unglück hätte ebensogut die Hälfte oder drei Viertel der Mannschaft vernichten können. Fast wollte man an eine gütige Macht glauben, die ihre schützende Hand über uns hielt. Und wer mochte wissen … vielleicht war es so!
Atemberaubend erwies sich im Verlauf der nächsten zehn Stunden die Aktivität der marsianischen Roboter. Sie waren überall, in allen Größen, Formen und Funktionen, zu Hunderten, zu Tausenden. Und sie brachten fertig, was keiner von uns für möglich gehalten hätte: sie beseitigten die Trümmer, und aus Ersatzteilen, die sie in unermüdlicher Arbeit herbeischleppten, fertigten sie neue Geräte und Maschinen. Die Aufräumarbeiten nahmen insgesamt sechs Stunden in Anspruch. Sofort danach begann der Wiederaufbau, und es war für uns, als sähen wir einen Zeitrafferfilm, der uns zeigte, wie die Innenausstattung eines Raumschiffs installiert wurde. Wir konnten die Maschinen förmlich wachsen sehen!
Mitten in all dem Durcheinander meldete sich Professor Scheuning von neuem. Er kam, anstatt mich anzurufen, zu mir in den Kommandostand, wo ich mit einer Gruppe meiner Offiziere die ungeheure Aktivität der Roboter bestaunte. Er hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf, sondern steuerte durch die Menge der vor mir Stehenden direkt auf mich zu und brachte mit freudestrahlender Miene hervor:
»Wir haben es, wir haben es! Es lag gerade noch an der Grenze unserer Möglichkeiten. Noch ein paar hundert Lichtjahre weiter, und wir hätten nichts mehr ausmachen können!«
»Wir – das sind Sie und Professor Aich, nehme ich an«, antwortete ich einigermaßen verwirrt. »Aber was ist es?«
Er war überrascht, beinahe verletzt.
»Aber, Sir … Sie gaben mir doch den Auftrag zu ermitteln, wie weit wir von der Erde entfernt sind!«
Ich erinnerte mich wieder. Im Zuge der allgemeinen Aufregung hatte ich mein Anliegen völlig vergessen. Ich entschuldigte mich bei Scheuning, und forderte ihn freundlich auf, die Ergebnisse seiner Untersuchung darzutun.
»Wir sind in diesem Augenblick – das haben Aich und ich aufgrund der Beobachtung weit von der Erde entfernter Konstellationen ermittelt – knapp viertausend Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernt. Um genauer zu sein: zwischen dreitausendachthundert und viertausend Lichtjahren. Aber, Sir … was haben Sie denn?«
Mir waren plötzlich die Knie schwach geworden. Der Schreck mußte sich in meinem Gesicht spiegeln, das veranlaßte Scheuning zu seinem besorgten Ausruf. Ich Narr! Ich hatte elf Leute in den Tod geschickt, weil ich fürchtete, die BAPURA werde am Ziel vorbeischießen und den Rückweg nicht mehr finden. Dabei hatte sie erst den sechsten Teil der Gesamtdistanz zurückgelegt, und der Autopilot hatte wahrscheinlich weiter nichts im Sinn gehabt, als das Fahrzeug zu einer kurzen Verschnaufpause in den Normalraum zurückkehren zu lassen, bevor er wieder Fahrt aufnahm und die BAPURA von neuem in der Resonanz-Krümmungszone verschwinden ließ. Ich hatte übereilt gehandelt. In dieser Lage hätte es uns nicht geschadet, wenn ich Naru Kenonewe angehalten hätte, mit der Betätigung des Leuchtschalters so lange zu warten, bis die Instandsetzungsroboter den Defekt gefunden und beseitigt hatten.
Ich war der Schuldige!
Ich trug die Verantwortung dafür, daß elf Leute den Tod gefunden hatten!
Ich gehörte vor ein Kriegsgericht gestellt!
Mit tonloser Stimme hörte ich mich zu Scheuning sagen:
»Ich danke für Ihre Auskunft, Professor!«