8.

 

Der Ru­fer in der Nacht … wer ist der Ru­fer in der Nacht? Das war der ers­te, mat­te Ge­dan­ken­im­puls, der durch mein ge­quäl­tes Be­wußt­sein zuck­te, als es all­mäh­lich zu er­wa­chen be­gann. Der Schä­del dröhn­te, der Kör­per schmerz­te, mir war zum Spei­en übel, und den­noch emp­fand ich wil­den Tri­umph, als mir zum Be­wußt­sein kam, daß ich noch leb­te. Ich at­me­te noch, wenn mir auch bei je­dem Atem­zug der Brust­korb zu plat­zen droh­te. Ich konn­te Schmer­zen emp­fin­den, al­so leb­te ich noch.

Es war fins­ter um mich her­um, auch als ich die Au­gen öff­ne­te. Ei­ne Wel­le des Ent­set­zens roll­te über den Tri­umph hin­weg und lösch­te ihn aus. Hat­te ich das Au­gen­licht ver­lo­ren? Ich horch­te in die Fins­ter­nis und ver­nahm hun­dert­fäl­ti­ge, lei­se Ge­räusche: ein Krat­zen hier, ein Knis­tern dort, lei­ses Sum­men über mir.

»Ist da je­mand?« schrie ich, plötz­lich von Pa­nik er­füllt.

Und wie­der kam der Ruf, der mich ge­weckt hat­te, schwach, ver­zwei­felt, wie aus wei­ter Fer­ne:

»Thor … Han­ni­bal … Hil­fe …!«

Mo­ment – das war kein Ruf! Das war ein te­le­pa­thi­scher Im­puls! Au­gen­blick­lich leg­te sich mei­ne Angst. Au­ßer Han­ni­bal und mir war nur noch Ki­ny Ed­wards an Bord, die sich auf die­se Wei­se be­merk­bar zu ma­chen ver­stand. Sie war in Ge­fahr.

»Ki­ny? Hier ist Thor! Wo steckst du?«

Un­ter Te­le­pa­then gibt es kei­ne For­ma­li­tä­ten. In der Spra­che der Men­ta­lim­pul­se ist es un­mög­lich, zwi­schen ei­ner for­mel­len und ei­ner in­for­mel­len An­re­de zu un­ter­schei­den. Ich horch­te an­ge­strengt. Ki­ny war in Ge­fahr, wahr­schein­lich ver­letzt. Konn­te sie mich über­haupt emp­fan­gen?

Au­gen­bli­cke spä­ter kam ih­re Ant­wort:

»Thor … in ei­nem der un­te­ren Decks … Nä­he Trieb­werks­raum … ein Ge­rät ist um­ge­stürzt und hat mich un­ter sich be­gra­ben …«

»Bleib bei Be­wußt­sein, Mäd­chen!« dräng­te ich sie. »Du mußt wach blei­ben, da­mit ich mich an dei­nen Im­pul­sen ori­en­tie­ren kann. Ich kom­me so rasch wie mög­lich, hörst du? Es wird schwer sein, denn ich kann nichts mehr se­hen. Aber ich fin­de dich, du kannst dich dar­auf ver­las­sen!«

»Oh … Gott sei Dank!« lau­te­te ih­re nächs­te Ge­dan­ken­fol­ge. »Ich dach­te schon …«

»Was dach­test du?«

»Ich kann auch nichts se­hen … ich dach­te, ich sei blind!«

Da fing ich an zu la­chen. Die Dun­kel­heit war so voll­kom­men, daß wir bei­de den­sel­ben Ge­dan­ken ge­habt hat­ten. In Wirk­lich­keit wa­ren wir nicht blind – die Be­leuch­tung der BA­PU­RA war aus­ge­fal­len. Ich ver­such­te mich auf­zu­rich­ten. Ne­ben mir be­weg­te sich et­was und stürz­te pol­ternd um. Ich be­tas­te­te es. Es war mein Ses­sel. Ich er­in­ner­te mich an den letz­ten schreck­li­chen Au­gen­blick, wie ich mit­samt dem los­ge­ris­se­nen Mö­bel­stück wie ein Ge­schoß durch die Luft gesaust war. Der Ses­sel muß­te sich mit mir ge­dreht ha­ben und zu­erst ge­gen die Wand ge­prallt sein. Da­durch war mein Le­ben ge­ret­tet wor­den.

Ich stemm­te mich in die Hö­he. Um ein Haar hät­te ich mir zu­viel zu­ge­mu­tet. Der Schmerz, der in al­len zehn­tau­send Ner­ve­n­en­den des ge­mar­ter­ten Kör­pers zu sit­zen schi­en und bei der ge­rings­ten Be­we­gung in Wel­len dem Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen zu­floß, hät­te fast mein Be­wußt­sein von neu­em aus­ge­löscht. Ich muß­te vor­sich­ti­ger sein, wenn ich auf den Bei­nen blei­ben woll­te.

Ich streck­te die Ar­me aus und tat be­hut­sam Schritt um Schritt, bis ich ge­gen ein Hin­der­nis stieß. Das muß­te die Wand des Kom­man­doraums sein, ent­we­der die run­de oder die ge­ra­de. Ich tas­te­te mich an ihr ent­lang. Das war ein müh­se­li­ges Un­ter­fan­gen, denn auf dem Bo­den la­gen Trüm­mer­stücke zer­stör­ter Ma­schi­nen und Ge­rä­te zer­streut, und man­che da­von wa­ren so groß, daß ich sie um­ge­hen und da­bei die Ori­en­tie­rungs­hil­fe der Wand ver­las­sen muß­te. Von Zeit zu Zeit muß­te ich an­hal­ten, um Luft zu ho­len. Der Brust­korb schmerz­te, als hät­te ich mir sämt­li­che Rip­pen ge­bro­chen. Ich konn­te nur flach at­men, was zur Fol­ge hat­te, daß der Kör­per nur man­gel­haft mit Sau­er­stoff be­lie­fert wur­de.

Von Zeit zu Zeit un­ter­hielt ich mich mit Ki­ny Ed­wards. Ih­re Zu­ver­sicht war ge­stie­gen, seit­dem sie mit mir Ver­bin­dung auf­ge­nom­men hat­te. Sie sag­te, sie kön­ne das Ge­wicht der auf ihr ru­hen­den Ma­schi­ne noch ei­ne Zeit­lang er­tra­gen. Erst bei die­ser Un­ter­hal­tung fiel mir, der ich dar­an ge­wohnt war, den fes­ten Bo­den ei­nes Pla­ne­ten un­ter den Fü­ßen zu ha­ben, auf, daß of­fen­bar das künst­li­che Schwe­re­feld an Bord der BA­PU­RA nach wie vor funk­tio­nier­te, sonst wä­ren wir al­le mit­samt den aus ih­ren Hal­te­run­gen ge­ris­se­nen Ma­schi­nen ge­wichts­los in der Luft um­her­ge­schwebt. Die Ka­ta­stro­phe war al­so nicht all­um­fas­send ge­we­sen. Ver­schie­de­ne Din­ge hat­ten sie über­stan­den. Die­se Er­kennt­nis gab mir neu­en Mut. Ich kam auf ein­mal zü­gi­ger vor­wärts und muß­te nach mei­ner Schät­zung dem Haupt­schott ziem­lich na­he sein, da traf mich un­er­war­tet und mit ele­men­ta­rer Wucht der we­nig ge­sell­schafts­fä­hi­ge Aus­fluß ei­nes wei­te­ren te­le­pa­thisch be­gab­ten Ge­hirns.

»Ver­damm­ter Mist … man kann nicht ein­mal den Fin­ger rüh­ren, oh­ne daß es weh tut!«

Über­rascht blieb ich ste­hen. Ein Ge­fühl un­sag­ba­rer Er­leich­te­rung quoll in mir auf und wärm­te mich. Han­ni­bal! Er hat­te das Un­glück eben­falls über­stan­den! Ich öff­ne­te mei­nen Men­tal­block und ließ ihn hö­ren:

»Du soll­test erst mal pro­bie­ren, wie es sich an­fühlt, wenn man die Knie durch­drückt!«

Einen Atem­zug lang war es im Men­ta­läther völ­lig still. Dann kam, ver­zagt, Ki­nys Fest­stel­lung:

»Das kann ich nicht … die Knie durch­drücken. Die Ma­schi­ne …«

Sie mein­te, ich hät­te zu ihr ge­spro­chen.

»Ki­ny?« hör­te ich Han­ni­bals zwei­feln­den Ruf. »Bist du das?«

»Ja, ich bin hier …«, er­klang die Ant­wort.

»Aber das mit den durch­ge­drück­ten Kni­en, das warst nicht du, wie? Zum Don­ner­wet­ter … Großer, bist du viel­leicht auch noch am Le­ben?«

»Es scheint so«, ant­wor­te­te ich.

»Hal­le­lu­jah!« rief der Klei­ne. »Dann kön­nen wir viel­leicht die­sen al­ten Kahn wie­der in Gang brin­gen und wei­ter­fah­ren!«

Das war sein un­ver­wüst­li­cher Op­ti­mis­mus, von dem ich heu­te noch nicht weiß, ob er echt ist oder nur Ge­ha­be.

»Lie­ber als das wä­re mir jetzt ei­ne Lam­pe«, sag­te ich. »Ki­ny liegt un­ter ei­ner um­ge­stürz­ten Ma­schi­ne be­gra­ben, und ich den­ke nicht, daß ihr viel da­mit ge­hol­fen ist, wenn wir zu­erst die BA­PU­RA wie­der in Gang brin­gen. Ganz ab­ge­se­hen da­von, daß ich kei­ne Ah­nung ha­be, wie du das an­fan­gen willst.«

»Oh, das wuß­te ich nicht«, rief er be­stürzt, »ich mei­ne, die Sa­che mit Ki­ny. Ei­ne Lam­pe? Ich ha­be ei­ne in mei­nem Ge­päck. Mein Quar­tier liegt höchs­tens drei­ßig Me­ter den Gang ent­lang. War­te, ich ho­le das Ding. Ich muß nur zu­erst … au, ver­dammt, das tut weh!«

Die Un­ter­hal­tung spiel­te sich noch im­mer auf te­le­pa­thi­schem We­ge ab. Ich hat­te mei­nen Block weit ge­öff­net, und als Han­ni­bal nun schwieg, hör­te ich aus der Fer­ne das dump­fe Ru­mo­ren, frem­der un­ar­ti­ku­lier­ter Ge­dan­ken, die ers­ten Aus­strah­lun­gen ei­nes Be­wußt­seins, das im Be­griff ist, wie­der zu sich zu fin­den. Die Mann­schaft kam all­mäh­lich wie­der zu sich – oder das, ver­bes­serte ich mich trau­rig, was von ihr üb­rig ge­blie­ben war.

Plötz­lich spür­te ich ei­ne Be­we­gung in un­mit­tel­ba­rer Nä­he. Ein krat­zen­des Ge­räusch kam aus der Fins­ter­nis vor mir. Es wie­der­hol­te sich in rhyth­mi­schen Ab­stän­den, als wä­re da ei­ne Maus da­bei, einen Bal­ken an­zu­na­gen. Ich bück­te mich lang­sam, bis ich ge­nau wuß­te, wo­her das Ge­räusch kam. Dann schoß ich nach vor­ne – um den Preis ei­nes mus­kel­läh­men­den Schmer­zes, der mir das Rück­grat hin­auf­fuhr – und lan­de­te mit dem Ge­sicht zu­erst in ei­nem Hau­fen Schrott. Die Hän­de tra­fen auf­ein­an­der, oh­ne et­was ge­faßt zu ha­ben. In un­mit­tel­ba­rer Nä­he aber hör­te ich ein lei­ses Sur­ren, das sich rasch ent­fern­te, und ein mat­ter Luft­zug strich mir übers Ge­sicht.

Da lag ich nun, noch halb be­nom­men von dem Sturz, und es dau­er­te ei­ne gan­ze Wei­le, bis mir die Er­leuch­tung kam. Es war ei­ner der mar­sia­ni­schen Ro­bo­ter ge­we­sen, der das Ge­räusch er­zeugt hat­te. Er war sei­ner Auf­ga­be nach­ge­gan­gen, und ich hat­te ihn da­bei ge­stört. Da der Be­fehl, Men­schen nicht in den Weg zu kom­men, in sei­nem po­sitro­ni­schen Ge­hirn hart ver­drah­tet war, hat­te er die Flucht er­grif­fen, als ich nach ihm zu fas­sen such­te.

Die Ro­bo­ter al­so funk­tio­nie­ren auch noch! Der Him­mel moch­te wis­sen … Han­ni­bals Traum von der Fort­set­zung des Flug­es wür­de viel­leicht doch noch in Er­fül­lung ge­hen! Ich raff­te mich be­hut­sam wie­der auf. Da hör­te ich seit­wärts aus der Dun­kel­heit ein Stöh­nen. Hör­ten denn die Über­ra­schun­gen in der ver­damm­ten Fins­ter­nis über­haupt nicht mehr auf? Ich wand­te mich in die Rich­tung, aus der ich den Laut ge­hört hat­te, und stieß schließ­lich mit den Spit­zen mei­ner Stie­fel in die schwe­re, nach­gie­bi­ge Mas­se ei­nes mensch­li­chen Kör­pers.

»Hnngggh …?« mach­te es vor mir.

»Kom­men Sie zu sich!« fuhr ich den Un­be­kann­ten an. »Wir brau­chen al­le Hän­de. Wer sind Sie?«

»Ich … ich weiß nicht«, ächz­te es aus dem Dun­kel. »Ich glau­be … in mei­ner vor­he­ri­gen Exis­tenz … nann­te man mich Jim Do­gen­dal.«

»Do­gen­dal, Mensch!« schrie ich be­geis­tert. »Sie le­ben noch, und Ihr Glau­be an die See­len­wan­de­rung ist eben­falls noch in­takt!«

»Ja­wohl, Sir«, ant­wor­te­te Do­gen­dal mit ei­ner Stim­me, die an­deu­te­te, daß ihm das Spre­chen Schmer­zen be­rei­te­te. »Ich glau­be gar, Sie sind Ge­ne­ral Kon­nat, wie?«

»Wie er leibt und lebt!« rief ich und beug­te mich nie­der, um Do­gen­dal auf die Bei­ne zu hel­fen.

In die­sem Au­gen­blick ge­sch­ah das Wun­der. Ich konn­te es mir nur so er­klä­ren, daß die Mars­ro­bo­ter von der ers­ten Se­kun­de nach der Ka­ta­stro­phe an un­er­müd­lich an der Ar­beit ge­we­sen sein muß­ten. Sie muß­ten nach dem Prin­zip vor­ge­gan­gen sein: das Wich­tigs­te zu­erst. Und es hat­te sich zu­fäl­lig so ge­trof­fen, daß, was nach Mei­nung des Au­to­pi­lo­ten das Wich­tigs­te war, auch für uns über­ra­gen­de Be­deu­tung hat­te: das Licht.

Das Licht …! Plötz­lich war es wie­der da. In un­glaub­li­cher Grel­le fuhr es von der De­cke her­ab und mir in die Au­gen. Ich tau­mel­te und kniff die Li­der fest zu­sam­men, denn der un­er­war­te­te Auf­prall der Hel­lig­keit er­zeug­te pei­ni­gen­den Kopf­schmerz. Ich ließ ei­ne Mi­nu­te ver­strei­chen, be­vor ich es wag­te, zwi­schen nur halb ge­öff­ne­ten Li­dern hin­durch­zu­blin­zeln. Ich ließ dem ge­plag­ten Ge­sichts­sinn Zeit, sich an die Licht­fül­le zu ge­wöh­nen. Aber als ich end­lich so weit war, daß ich mich um­bli­cken konn­te, da bot sich mir ein An­blick, der mich wün­schen ließ, ich hät­te die Au­gen nie ge­öff­net oder das Licht wä­re für im­mer aus­ge­blie­ben.

Der frü­her so wohl­or­ga­ni­sier­te Kom­man­do­stand der BA­PU­RA war ein wüs­tes Trüm­mer­feld.

Wir fan­den Ki­ny oh­ne son­der­li­che Mü­he. Aber auf dem Weg hin­ab zu den un­te­ren Decks wur­de uns das Aus­maß der Ver­wüs­tung noch deut­li­cher. Die le­bens­wich­ti­gen Funk­tio­nen der BA­PU­RA wa­ren noch vor­han­den, aber sonst war sie ein Wrack. Es schi­en un­vor­stell­bar, daß die­ses Raum­schiff je­mals wie­der in Gang ge­bracht wer­den kön­ne.

Ki­nys La­ge war nicht so ernst, wie wir zu­erst ge­glaubt hat­ten. Die Ma­schi­ne lag nicht mit vol­lem Ge­wicht auf ihr, son­dern wur­de halb und halb durch einen Trä­ger ge­stützt, der un­weit des Mäd­chens von der De­cke her­ab­ge­stürzt war. Den Trä­ger als He­bel ver­wen­dend, wuch­te­ten wir die Ma­schi­ne in die Hö­he und zo­gen Ki­ny dar­un­ter her­vor. Sie war bleich und ih­re Mon­tur an vie­len Stel­len zer­fetzt. Als sie end­lich frei war, stürz­ten ihr die Trä­nen aus den Au­gen, und mit hef­ti­gem Schluch­zen fiel sie Han­ni­bal um den Hals. Wir brach­ten sie zu­rück in ihr Quar­tier und brach­ten sie da­zu, daß sie sich zu­erst ein­mal aus­ruh­te. So­bald wir einen Arzt auf­ge­trie­ben hat­ten, ver­spra­chen wir ihr, wür­den wir ihn zu ihr schi­cken.

Dann mach­ten wir uns an die trau­ri­ge Auf­ga­be der Be­stands­auf­nah­me. Wir, das wa­ren Han­ni­bal, Do­gen­dal und ich. Rings um uns kam die Be­sat­zung des Schif­fes all­mäh­lich wie­der zu sich. Wir ka­men zu­nächst ober­fläch­lich und spä­ter an­hand de­tail­lier­ter In­for­ma­tio­nen zu dem Schluß, daß das Schick­sal mit den Men­schen we­sent­lich gnä­di­ger ver­fah­ren war als mit den Ma­schi­nen. Die Leu­te, de­nen wir un­ter­wegs be­geg­ne­ten, hat­ten zu­meist nur Prel­lun­gen er­lit­ten. Hier und da fan­den wir einen, der sich den Arm ge­bro­chen hat­te. Wir hal­fen, wo wir konn­ten, und wo es au­ßer­halb un­se­rer Macht lag, da ba­ten wir die Leu­te, still­zu­lie­gen und auf den Arzt zu war­ten.

Bei un­se­rer Rück­kehr in den Kom­man­do­stand harr­te un­ser ei­ne neue Über­ra­schung. Die Bild­schir­me hat­ten den Be­trieb wie­der auf­ge­nom­men. Das hieß: die Meß­bild­schir­me wa­ren noch im­mer au­ßer Be­trieb. Aber die Schir­me, die die Ein­drücke der Au­ßen­bord­ka­me­ras und der Or­ter­ge­rä­te ver­mit­tel­ten, wa­ren wie­der in­takt. Ich at­me­te er­leich­tert auf, als ich auf ei­ner der größ­ten Bild­flä­chen das ver­trau­te Bild des Alls sah: sil­bern glit­zern­de Ster­ne auf schwar­zem Hin­ter­grund. Ich war zu we­nig Astro­nom, um zu er­ken­nen, ob das Bild be­kann­te Kon­stel­la­tio­nen zeig­te oder nicht. Mir ge­nüg­te es zu wis­sen, daß wir die mör­de­ri­sche Re­so­nanz-Krüm­mungs­zo­ne end­lich ver­las­sen hat­ten und in un­ser ver­trau­tes Kon­ti­nu­um zu­rück­ge­kehrt wa­ren.

Auch im Kom­man­do­stand reg­te man sich wie­der. Die Be­wußt­lo­sen wa­ren zu sich ge­kom­men und ar­bei­te­ten sich un­ter den Trüm­mer­mas­sen her­vor. Das wüs­te Durch­ein­an­der wur­de zu­sätz­lich be­lebt von ei­ner si­cher­lich nach Tau­sen­den zäh­len­den Men­ge von mar­sia­ni­schen Klein- und Klein­stro­bo­tern, die so eif­rig an der Ar­beit wa­ren, als gä­be es tat­säch­lich noch ei­ne Aus­sicht, die BA­PU­RA je­mals wie­der in flug­tüch­ti­gen Zu­stand zu ver­set­zen. Die Be­sat­zung des Kom­man­do­stands war knapp vier­zig Mann stark ge­we­sen. Dar­un­ter gab es kei­nen ein­zi­gen Schwer­ver­letz­ten. Der schlimms­te Fall war der von Ste­pan Tronss­kij, der sich das rech­te Bein aus­ge­ku­gelt hat­te. Ab­ge­se­hen da­von gab es noch ein Dut­zend Ge­hirn­er­schüt­te­run­gen, so­wie zahl­lo­se Beu­len und Schürf­wun­den. Wir wa­ren, das muß­te man dem Schick­sal las­sen, noch ein­mal mit ei­nem blau­en Au­ge da­von­ge­kom­men.

Ich war da­bei, mei­ne Leu­te zu sor­tie­ren, da nä­her­ten sich mir, quer über das Trüm­mer­feld kom­mend, zwei Ge­stal­ten. Ich er­kann­te Jo­sua Aich und Pro­fes­sor Scheu­ning. Aich trug einen wei­ßen Ver­band um die Stirn, durch den hier und da ein fri­scher Blut­fleck hin­durch­schim­mer­te. Scheu­nings brei­tes Ge­sicht da­ge­gen wies meh­re­re blaue Stel­len auf, die so gut ver­teilt wa­ren, daß es ei­nem schwer­fiel, sei­ne grim­mi­ge Mie­ne ernst zu neh­men.

»Ich weiß ge­nau, wie es vor sich ging, Sir!« rief er mir schon von wei­tem zu und schwang da­zu die Faust, als sei ich es, der an dem gan­zen Un­glück schuld war.

»So«, sag­te ich, als er schließ­lich vor mir stand: »Dann las­sen Sie mich’s mal hö­ren!«

Er hol­te tief Luft, aber das schi­en ihm nicht son­der­lich gut zu be­kom­men, denn er ver­zog das Ge­sicht zu ei­ner ganz fürch­ter­li­chen Gri­mas­se, so daß ich das La­chen kaum ver­knei­fen konn­te. Mit et­was we­ni­ger Elan, als er ur­sprüng­lich ge­plant hat­te, er­klär­te er:

»Aich und ich sind uns dar­über ei­nig, daß die Rück­kehr ei­nes Raum­schif­fes wie der BA­PU­RA in das vier­di­men­sio­na­le Kon­ti­nu­um ein all­mäh­li­ches, stu­fen­wei­ses Ab­schal­ten des pa­ra­bo­li­schen Schock­fel­des er­for­dert, wel­ches das Fahr­zeug vor sich her­schiebt.«

Er sah mich auf­for­dernd an, als müs­se mir schon auf­grund die­ser Äu­ße­rung der un­er­meß­li­che Um­fang sei­ner Weis­heit klar­ge­wor­den sein.

»Na und?« mach­te ich.

Er prus­te­te em­pört.

»Das ist doch glas­klar!« rief er ve­he­ment, aber die Beu­len und Schram­men mach­ten ihm er­neut einen Strich durch die Rech­nung und lie­ßen ihn schmerz­haft zu­sam­men­zu­cken. »Völ­lig klar!« hauch­te er. »Der Me­cha­nis­mus, der einen sol­chen Vor­gang kon­trol­liert, muß un­ge­heu­er kom­pli­ziert sein. Hin­zu kommt, daß er seit bei­na­he zwei­hun­dert­tau­send Jah­ren nicht mehr ak­ti­viert wor­den ist. Er funk­tio­nier­te al­so nicht rich­tig. Er bau­te das gan­ze Feld mit ei­nem Ruck ab oder tat sonst ir­gend et­was, wo­durch die BA­PU­RA um ein Haar zer­ris­sen wor­den wä­re.«

»Das ist ei­ne in­ter­essan­te Hy­po­the­se«, ant­wor­te­te ich ge­las­sen. »Aber zwei an­de­re Din­ge wä­ren für mich im Au­gen­blick weitaus wich­ti­ger.«

Er nahm mir mein man­geln­des In­ter­es­se nicht übel.

»Und die wä­ren?« frag­te er.

»Ers­tens: in wel­chem Raum­sek­tor be­fin­den wir uns? Und zwei­tens: was kann ge­tan wer­den, um ei­ne Wie­der­ho­lung des Un­glücks zu ver­hin­dern?«

Er warf einen Blick auf die Bild­schir­me.

»Die ers­te Fra­ge ist wahr­schein­lich recht ein­fach zu be­ant­wor­ten – falls wir uns noch nicht all­zu­weit von der Er­de ent­fernt ha­ben und falls Sie die Zif­fer nicht bis auf acht­zehn Stel­len Ge­nau­ig­keit brau­chen. Aber die zwei­te Fra­ge …«, er zuck­te hilf­los mit den Schul­tern, und sein no­to­risch ver­bis­se­nes Ge­sicht zeig­te auf ein­mal ein freund­li­ches Lä­cheln: »Sie er­war­ten doch nicht im Ernst von uns, daß wir da­für schon ei­ne Ant­wort pa­rat ha­ben, oder?«

Ich schlug ihm auf die Schul­ter.

»Kei­nes­wegs, Pro­fes­sor! Brin­gen Sie mir ei­ne halb­wegs ge­naue Ant­wort auf die ers­te Fra­ge, und ich wer­de Ih­ren Na­men in der Welt der Wis­sen­schaft rüh­men, wo im­mer sich Ge­le­gen­heit da­zu bie­tet!«

 

Wir mach­ten Be­stands­auf­nah­me. Die Ka­ta­stro­phe hat­te elf Be­sat­zungs­mit­glie­dern das Le­ben ge­kos­tet: neun Män­nern und zwei Frau­en. Wir be­stat­te­ten sie, in­dem wir die Lei­chen in Raum­an­zü­ge klei­de­ten, die das Em­blem der Ge­hei­men Wis­sen­schaft­li­chen Ab­wehr und das der ver­ei­nig­ten Erd­völ­ker tru­gen, und sie durch ei­ne Schleu­sen­öff­nung in das Weltall hin­aus­trei­ben lie­ßen.

An­sons­ten gab es kei­ne Ver­let­zun­gen, de­ren un­se­re Ärz­te mit dem von der Er­de mit­ge­brach­ten Ge­rät nicht hät­ten Herr wer­den kön­nen. Wir wa­ren, um es in ei­nem Wort zu sa­gen, glimpf­lich da­von­ge­kom­men. Das Un­glück hät­te eben­so­gut die Hälf­te oder drei Vier­tel der Mann­schaft ver­nich­ten kön­nen. Fast woll­te man an ei­ne gü­ti­ge Macht glau­ben, die ih­re schüt­zen­de Hand über uns hielt. Und wer moch­te wis­sen … viel­leicht war es so!

Atem­be­rau­bend er­wies sich im Ver­lauf der nächs­ten zehn Stun­den die Ak­ti­vi­tät der mar­sia­ni­schen Ro­bo­ter. Sie wa­ren über­all, in al­len Grö­ßen, For­men und Funk­tio­nen, zu Hun­der­ten, zu Tau­sen­den. Und sie brach­ten fer­tig, was kei­ner von uns für mög­lich ge­hal­ten hät­te: sie be­sei­tig­ten die Trüm­mer, und aus Er­satz­tei­len, die sie in un­er­müd­li­cher Ar­beit her­bei­schlepp­ten, fer­tig­ten sie neue Ge­rä­te und Ma­schi­nen. Die Auf­räum­ar­bei­ten nah­men ins­ge­samt sechs Stun­den in An­spruch. So­fort da­nach be­gann der Wie­der­auf­bau, und es war für uns, als sä­hen wir einen Zeitraf­fer­film, der uns zeig­te, wie die In­nen­aus­stat­tung ei­nes Raum­schiffs in­stal­liert wur­de. Wir konn­ten die Ma­schi­nen förm­lich wach­sen se­hen!

Mit­ten in all dem Durch­ein­an­der mel­de­te sich Pro­fes­sor Scheu­ning von neu­em. Er kam, an­statt mich an­zu­ru­fen, zu mir in den Kom­man­do­stand, wo ich mit ei­ner Grup­pe mei­ner Of­fi­zie­re die un­ge­heu­re Ak­ti­vi­tät der Ro­bo­ter be­staun­te. Er hielt sich nicht lan­ge mit ei­ner Be­grü­ßung auf, son­dern steu­er­te durch die Men­ge der vor mir Ste­hen­den di­rekt auf mich zu und brach­te mit freu­de­strah­len­der Mie­ne her­vor:

»Wir ha­ben es, wir ha­ben es! Es lag ge­ra­de noch an der Grenze un­se­rer Mög­lich­kei­ten. Noch ein paar hun­dert Licht­jah­re wei­ter, und wir hät­ten nichts mehr aus­ma­chen kön­nen!«

»Wir – das sind Sie und Pro­fes­sor Aich, neh­me ich an«, ant­wor­te­te ich ei­ni­ger­ma­ßen ver­wirrt. »Aber was ist es

Er war über­rascht, bei­na­he ver­letzt.

»Aber, Sir … Sie ga­ben mir doch den Auf­trag zu er­mit­teln, wie weit wir von der Er­de ent­fernt sind!«

Ich er­in­ner­te mich wie­der. Im Zu­ge der all­ge­mei­nen Auf­re­gung hat­te ich mein An­lie­gen völ­lig ver­ges­sen. Ich ent­schul­dig­te mich bei Scheu­ning, und for­der­te ihn freund­lich auf, die Er­geb­nis­se sei­ner Un­ter­su­chung dar­zu­tun.

»Wir sind in die­sem Au­gen­blick – das ha­ben Aich und ich auf­grund der Be­ob­ach­tung weit von der Er­de ent­fern­ter Kon­stel­la­tio­nen er­mit­telt – knapp vier­tau­send Licht­jah­re von un­se­rem Son­nen­sys­tem ent­fernt. Um ge­nau­er zu sein: zwi­schen drei­tau­sen­dacht­hun­dert und vier­tau­send Licht­jah­ren. Aber, Sir … was ha­ben Sie denn?«

Mir wa­ren plötz­lich die Knie schwach ge­wor­den. Der Schreck muß­te sich in mei­nem Ge­sicht spie­geln, das ver­an­laß­te Scheu­ning zu sei­nem be­sorg­ten Aus­ruf. Ich Narr! Ich hat­te elf Leu­te in den Tod ge­schickt, weil ich fürch­te­te, die BA­PU­RA wer­de am Ziel vor­bei­schie­ßen und den Rück­weg nicht mehr fin­den. Da­bei hat­te sie erst den sechs­ten Teil der Ge­samt­di­stanz zu­rück­ge­legt, und der Au­to­pi­lot hat­te wahr­schein­lich wei­ter nichts im Sinn ge­habt, als das Fahr­zeug zu ei­ner kur­z­en Ver­schnauf­pau­se in den Nor­mal­raum zu­rück­keh­ren zu las­sen, be­vor er wie­der Fahrt auf­nahm und die BA­PU­RA von neu­em in der Re­so­nanz-Krüm­mungs­zo­ne ver­schwin­den ließ. Ich hat­te über­eilt ge­han­delt. In die­ser La­ge hät­te es uns nicht ge­scha­det, wenn ich Na­ru Ke­no­ne­we an­ge­hal­ten hät­te, mit der Be­tä­ti­gung des Leucht­schal­ters so lan­ge zu war­ten, bis die In­stand­set­zungs­ro­bo­ter den De­fekt ge­fun­den und be­sei­tigt hat­ten.

Ich war der Schul­di­ge!

Ich trug die Ver­ant­wor­tung da­für, daß elf Leu­te den Tod ge­fun­den hat­ten!

Ich ge­hör­te vor ein Kriegs­ge­richt ge­stellt!

Mit ton­lo­ser Stim­me hör­te ich mich zu Scheu­ning sa­gen:

»Ich dan­ke für Ih­re Aus­kunft, Pro­fes­sor!«