6.

 

Wir ent­fern­ten uns aus dem Son­nen­sys­tem mit aber­wit­zi­ger, stän­dig wach­sen­der Ge­schwin­dig­keit. Schon längst hat­ten sich re­la­ti­vis­ti­sche Ef­fek­te be­merk­bar ge­macht. Die Ster­ne vor uns glänz­ten in grel­lem Vio­lett, die hin­ter uns glüh­ten in dunklem Rot. Zu bei­den Sei­ten, über und un­ter uns wa­ren al­le Far­ben des sicht­ba­ren Spek­trums ver­tre­ten. Das Uni­ver­sum hat­te sich in einen Re­gen­bo­gen ver­wan­delt, der uns auf al­len Sei­ten um­gab.

Un­se­re Ge­schwin­dig­keit un­ter­schied sich nur noch um we­ni­ges von der Ge­schwin­dig­keit des Lichts. Die­se In­for­ma­ti­on hat­ten wir von un­se­ren ei­ge­nen Meß­ge­rä­ten, die wir mit­ge­bracht und an Bord in­stal­liert hat­ten. Die Ak­ze­le­ro­me­ter frei­lich funk­tio­nier­ten nicht. Da der An­druck­ab­sor­ber den Be­schleu­ni­gungsan­druck völ­lig ab­sor­bier­te, lie­fer­ten die Meß­ge­rä­te kei­ner­lei An­zei­ge. Nach ih­rer Aus­sa­ge hat­ten wir uns um kei­nen Zen­ti­me­ter von der Stel­le be­wegt. Aber es gab an­de­re Me­tho­den, un­se­re Ge­schwin­dig­keit zu er­mit­teln. Wir be­sa­ßen ein recht kom­pli­zier­tes Ge­rät, auf das un­se­re Ab­tei­lung für wis­sen­schaft­li­che Fein­werk­tech­nik mit Recht stolz war. Es be­nutz­te die Son­ne und Si­ri­us als Fix­punk­te und er­mit­tel­te un­se­re Be­we­gungs­grö­ßen, in­dem es die schein­ba­ren Ab­stän­de der bei­den Him­mels­kör­per mehr­mals pro Se­kun­de maß und die Ver­än­de­rung er­mit­tel­te. Das al­lein wä­re noch kei­ne son­der­li­che Leis­tung ge­we­sen. Aber an das Ge­rät war ein Mi­ni­com­pu­ter an­ge­schlos­sen, der auf ite­ra­ti­ve Wei­se den Ef­fekt der re­la­ti­vis­ti­schen Ver­zer­rung er­mit­tel­te und ihn bei der Aus­wer­tung der Meß­da­ten be­rück­sich­tig­te. Denn Son­ne und Si­ri­us stan­den für un­se­re Au­gen nicht da, wo ein un­be­weg­ter Be­ob­ach­ter sie ge­se­hen hät­te. Je hö­her un­se­re Ge­schwin­dig­keit, de­sto be­deut­sa­mer wur­de die Ab­wei­chung. Der Klein­st­rech­ner kom­pen­sier­te sie und lie­fer­te uns je­weils die rich­ti­gen Da­ten.

Seit dem Start war rund ei­ne Stun­de ver­gan­gen. Die Son­ne war zu ei­nem Stern ge­schrumpft, der sich kaum noch von der Fül­le der üb­ri­gen Ster­ne un­ter­schied. So weit wie dies­mal war noch kei­ner un­se­rer Test­flie­ger ins All vor­ge­sto­ßen. Wir hat­ten das Son­nen­sys­tem längst ver­las­sen. Wir hat­ten die Gren­zen durch­sto­ßen, die dem Men­schen bis­lang ge­setzt wa­ren. Wir wa­ren auf dem Weg hin­aus in den in­ter­stel­la­ren Raum. Mei­ne Angst, die ata­vis­ti­sche Furcht vor dem Un­be­kann­ten, hat­te sich ge­legt. Von Zeit zu Zeit öff­ne­te ich be­hut­sam den men­ta­len Schirm, der an­de­re Men­schen da­vor be­wahr­te, daß ih­re Be­wußt­seins­in­hal­te wie ein auf­ge­schla­ge­nes Buch vor mir la­gen. Ich woll­te nicht ih­re Ge­dan­ken be­lau­schen. Ich woll­te wis­sen, wie sie emp­fan­den. Und da be­merk­te ich, daß bei ih­nen die­sel­be Wand­lung ein­ge­setzt hat­te wie bei mir. Die Furcht war ge­schwun­den, oder doch we­nigs­tens ge­rin­ger ge­wor­den. Der Geist des großen Aben­teu­ers be­gann, die Män­ner und Frau­en der Be­sat­zung zu be­see­len. Es kam ih­nen zu Be­wußt­sein, was die Angst bis­her vor ih­nen ver­bor­gen hat­te, näm­lich daß wir Un­ge­heu­er­li­ches ta­ten, daß wir Pio­nier­ar­beit leis­te­ten, daß der Mensch der Er­de zum ers­ten Mal den Griff nicht nach den Pla­ne­ten des ei­ge­nen Son­nen­sys­tems, son­dern nach an­de­ren Son­nen wag­te.

All­mäh­lich ver­brei­te­te sich ge­dämpf­te Be­geis­te­rung in un­se­rem Raum­schiff. Man re­de­te sich ein, daß im Grun­de ge­nom­men dies al­les doch gar nicht so schwie­rig und ge­fähr­lich war. Man be­gann an den Rech­nun­gen zu zwei­feln, die be­sag­ten, daß un­se­re Über­le­benschan­ce zwi­schen zehn und zwan­zig Pro­zent lag. Man sprach auf­ein­an­der ein und ver­such­te sich ge­gen­sei­tig zu über­zeu­gen, daß das ge­fürch­te­te Selbst­mord­un­ter­neh­men wohl eher ein aben­teu­er­li­cher Spa­zier­gang wer­den wür­de. Ich ließ die Leu­te ge­wäh­ren. Ich wuß­te, daß uns noch Schwe­res be­vor­stand, be­vor wir un­se­rem Ziel über­haupt na­he ka­men. Sie wuß­ten es auch, aber nach der Art klei­ner Kin­der, die sich vor dem schwar­zen Mann erst fürch­ten, wenn sie schon an der Kel­ler­tür ste­hen, sa­hen sie dar­über hin­weg.

Ich war ge­ra­de da­bei, ein vier­tes oder fünf­tes Mal her­um­zu­hor­chen, als ich plötz­lich einen kräf­ti­gen Im­puls emp­fing, der Pa­nik aus­drück­te. Ich horch­te auf. Das war Dr. Sno­fers Men­tal­stim­me! Was hat­te er? War der Au­gen­blick schon ge­kom­men, in dem wir zum zwei­ten Mal un­se­rer Angst Herr wer­den muß­ten?

Ein klei­ner Bild­schirm leuch­te­te auf. Sno­fers Ge­sicht er­schi­en, schweiß­be­deckt und vor Angst ver­zerrt.

»Et­was geht vor, Sir!« stieß er keu­chend her­vor. »Die An­zei­gen se­hen plötz­lich an­ders aus als bis­her. Al­les spielt ver­rückt. Ge­rä­te sind plötz­lich zum Le­ben er­wacht, die bis­lang kei­nen Mucks von sich ge­ge­ben ha­ben!«

Er war völ­lig au­ßer sich.

»Sie wis­sen, wor­auf wir al­le war­ten«, ant­wor­te­te ich. »Die­ses Raum­schiff kann ei­ne Ent­fer­nung von vier­und­zwan­zig­tau­send Licht­jah­ren nicht zu­rück­le­gen, in­dem es sich im re­la­ti­vis­ti­schen Flug durch un­ser vier­di­men­sio­na­les Kon­ti­nu­um be­wegt, nicht wahr? Das wür­de be­deu­ten, daß bei un­se­rer Rück­kehr zur Er­de dort an­nä­hernd achtund­vier­zig­tau­send Jah­re ver­gan­gen sein wür­den. Die Mar­sia­ner be­herrsch­ten oh­ne Zwei­fel den über­licht­schnel­len Flug durch den – na, sa­gen wir – Hyper­raum. Könn­ten die An­zei­gen et­was da­mit zu tun ha­ben, daß die BA­PU­RA sich vor­be­rei­tet, in den Hyper­raum vor­zu­sto­ßen?«

Er rauf­te sich die Haa­re. Er war ver­zwei­felt.

»Ich weiß es nicht, Sir!« jam­mer­te er. »Ich kann die­se ver­damm­ten Leuch­t­an­zei­gen nicht deu­ten. Es gibt hier un­ten ein paar sta­tio­näre Ro­bo­ter. Sie ver­ste­hen und spre­chen Eng­lisch. Ich ha­be sie ge­fragt, aber al­les, was sie ant­wor­ten, ist: ›Ei­ne Be­ant­wor­tung Ih­rer Fra­ge ist un­mög­lich, da sie auf falschen Vor­aus­set­zun­gen be­ruht‹.«

Ich traf einen ra­schen Ent­schluß. Sno­fer war na­he dar­an, see­lisch zu zer­bre­chen. Er brauch­te Ge­sell­schaft, die ihm Mut zu­re­den konn­te.

»Ich schi­cke Ih­nen Aich und Scheu­ning«, sag­te ich. »In­zwi­schen schlie­ßen Sie die Au­gen und se­hen sich die An­zei­gen nicht mehr an. Das ist ein Be­fehl!«

Ich schal­te­te ab. We­ni­ge Au­gen­blick spä­ter gell­te mei­ne Stim­me über den Rund­sprech durch sämt­li­che Räu­me, Gän­ge und Decks des rie­si­gen Schif­fes:

»Die Her­ren Aich und Scheu­ning be­ge­ben sich bit­te zu Cap­tain Sno­fers Un­ter­stüt­zung in die Trieb­werks­zen­tra­le!«

Ich wie­der­hol­te den Ruf zwei­mal, dann lehn­te ich mich in mei­nen Ses­sel zu­rück und harr­te der Din­ge, die nun ge­sche­hen soll­ten. Ein kur­z­er men­ta­ler Rund­blick ge­nüg­te mir, mich zu über­zeu­gen, daß seit mei­nem Auf­ruf die Span­nung an Bord wie­der ge­stie­gen war.

 

Et­wa zehn Mi­nu­ten spä­ter mel­de­te sich Scheu­ning. Er war ein äl­te­rer Mann, das phy­si­ka­li­sche As der Er­de und kei­nes­wegs der Typ, der sich in der Ecke ver­kroch, um nur sei­nen Stu­di­en nach­zu­hän­gen. Da­mals, als wir die BA­PU­RA zum ers­ten­mal star­te­ten, um den an­flie­gen­den Hyp­nos ent­ge­gen­zu­ge­hen, war er als Spre­cher der wis­sen­schaft­li­chen Ge­mein­de auf­ge­tre­ten, die mei­ne Tak­tik be­män­gel­te.

Er wirk­te ru­hig und über­le­gen wie im­mer.

»Wir sind un­se­rer Sa­che al­les an­de­re als si­cher«, er­klär­te er, »aber Ih­re Ver­mu­tung ist wahr­schein­lich rich­tig. Die BA­PU­RA schickt sich an, in den Hyper­raum zu ge­hen. Ich ha­be hier un­ten ein paar Meß­ge­rä­te in­stal­liert, die mir im Au­gen­blick des Über­tritts hof­fent­lich ein paar Da­ten lie­fern, aus de­nen wir auf das Prin­zip des mar­sia­ni­schen Über­licht­flugs schlie­ßen kön­nen.«

Jo­sua Aich schob sich von links ins Bild.

»Das ist auch mei­ne Mei­nung, Sir«, sag­te er.

»Sno­fer …?« frag­te ich ein­fach.

»Ist in Ord­nung«, nick­te Scheu­ning. »Er brauch­te wirk­lich nur Ge­sell­schaft. Ich blei­be selbst­ver­ständ­lich hier, bis wir das Schlimms­te über­stan­den ha­ben.«

»Ich auch«, schloß Aich sich an.

»Noch et­was«, be­gann Scheu­ning von neu­em. »Die Theo­rie der Au­to­ma­ta gibt kei­ne ein­deu­ti­ge Aus­kunft dar­über, ob die­ser Ein­tritt in den Hyper­raum, wenn wir den Na­men schon ein­mal ge­brau­chen wol­len, von dem Au­to­pi­lo­ten in ei­ge­ner Macht­voll­kom­men­heit ein­ge­lei­tet wird, oder ob er da­zu ein Kom­man­do braucht. Wei­sen Sie bit­te die Pi­lo­ten an, dar­auf zu ach­ten, ob auf ih­ren Kon­so­len ir­gend­wo ei­ne neue und wahr­schein­lich be­son­ders auf­fal­len­de Leucht­mar­kie­rung er­scheint. Was sie dann zu tun ha­ben, das über­las­se ich Ih­rer Ent­schei­dung.«

Ich nick­te.

»Okay, blei­ben Sie im Bild!«

Die Bild­flä­che blieb an­ge­schal­tet. Scheu­ning und Aich mach­ten sich an den Meß­ge­rä­ten zu schaf­fen, die sie im Trieb­werks­raum auf­ge­baut hat­ten. Hin­ter ih­nen sah ich die mäch­ti­gen Me­tall­do­me frem­der Ma­schi­nen, die die für die Trieb­wer­ke be­nö­tig­ten, un­ge­heu­ren Ener­gi­en nach un­be­kann­ten Prin­zi­pi­en er­zeug­ten. Die bei­den Pro­fes­so­ren ent­fern­ten sich von dem Auf­nah­me­ge­rät, bis ich ih­re Stim­men nicht mehr hö­ren konn­te. Sno­fer war nir­gend­wo zu se­hen. Wahr­schein­lich ruh­te er sich aus.

Ich sah auf dem Bild­schirm einen klei­nen Aus­schnitt des Wand­teils, der aus­schließ­lich den An­zei­gen mar­sia­ni­scher Meß­in­stru­men­te vor­be­hal­ten war. Es war das üb­li­che Bild. Das Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen der al­ten Mar­sia­ner muß­te auf ei­nem an­de­ren Prin­zip be­ruht ha­ben als das un­se­re. Un­se­re In­stru­men­te hat­ten Zei­ger, die auf einen Zah­len­wert deu­te­ten, oder zeig­ten in di­gi­ta­ler Aus­füh­rung die Zahl selbst. Die Mar­sia­ner schie­nen nichts von Zah­len ge­hal­ten zu ha­ben. Bei ih­nen über­mit­tel­te die Far­be ei­nes Licht­si­gnals die ge­wünsch­te In­for­ma­ti­on. Far­ben hat­ten für die Her­ren die­ser ur­al­ten Tech­no­lo­gie die­sel­be Be­deu­tung wie für uns Zah­len. Ihr Seh­ver­mö­gen muß­te ei­ne fast un­glaub­li­che Fä­hig­keit be­ses­sen ha­ben, selbst die ge­ring­fü­gigs­ten Farb­va­ria­tio­nen von­ein­an­der zu un­ter­schei­den. Das sicht­ba­re Spek­trum der elek­tro­ma­gne­ti­schen Strah­lung um­faß­te den Län­gen­wel­len­be­reich von 4000 bis 7000 Angst­rö­mein­hei­ten. Nach mo­na­te­lan­ger Be­ob­ach­tung der mar­sia­ni­schen Meß­an­zei­gen wa­ren un­se­re Wis­sen­schaft­ler zu der An­sicht ge­langt, daß die Mar­sia­ner zwei Far­ben, de­ren Wel­len­län­gen nur um zehn Angst­röm aus­ein­an­der­la­gen, ein­deu­tig von­ein­an­der zu un­ter­schei­den ge­wußt hat­ten. Wo das un­emp­find­li­che mensch­li­che Au­ge nur die sechs Grund­far­ben wahr­nahm, näm­lich Rot, Oran­ge, Gelb, Grün, Blau und Vio­lett, da hat­ten die Mar­sia­ner ins­ge­samt drei­hun­dert ver­schie­de­ne Far­ben deut­lich von­ein­an­der un­ter­schei­den kön­nen.

Wir wa­ren uns dar­über im kla­ren, daß selbst drei­hun­dert Far­ben, so un­glaub­lich das auch klin­gen moch­te, nicht aus­reich­ten, um all die ver­schie­de­nen Zah­len­wer­te zu er­set­zen, die un­se­re Meß­in­stru­men­te lie­fer­ten. Un­se­re Fach­leu­te wa­ren da­her zu dem Schluß ge­kom­men, daß auch die räum­li­che An­ord­nung der ein­zel­nen Si­gna­le un­ter- und zu­ein­an­der einen In­for­ma­ti­ons­ge­halt be­sit­zen müs­se. Far­be und Or­ga­ni­sa­ti­on, das al­so wa­ren die bei­den Grund­zü­ge der mar­sia­ni­schen Meß- und Re­gel­tech­nik. Und un­ser Pro­blem war es, daß wir bis­lang we­der in dem einen, noch dem an­de­ren einen Sinn er­ken­nen konn­ten. Wir konn­ten nur Ver­än­de­run­gen re­gis­trie­ren – al­so fest­stel­len, wann ein mar­sia­ni­sches Meß­in­stru­ment et­was an­de­res an­zeig­te, als es bis vor kur­z­em an­ge­zeigt hat­te. Das war al­les.

Und eben das ge­sch­ah in die­sem Au­gen­blick! Ich riß die Au­gen weit auf, als ich sah, wie die Licht­si­gna­le auf dem Meß­bild­schirm im Hin­ter­grund des Trieb­werks­rau­mes ih­re Far­be und ih­re An­ord­nung in Se­kun­den­schnel­le wech­sel­ten. Es war ein wir­res Ge­hu­sche von Leucht­ef­fek­ten, mit de­nen viel­leicht das flin­ke Au­ge ei­nes Mar­sia­ners et­was hät­te an­fan­gen kön­nen. Für mich je­doch wa­ren sie sinn­los. Ich konn­te ih­nen nur ent­neh­men, daß et­was Un­ge­wöhn­li­ches im Gan­ge war.

Ich war so ver­tieft in den An­blick, daß ich die drei Bild­schirme nicht be­merk­te, die über mei­ner Kon­so­le zu­sätz­lich zu leuch­ten be­gon­nen hat­ten. Erst als ich Na­ru Ke­no­ne­wes Stim­me hör­te, un­ge­wöhn­lich laut und er­regt, fuhr ich auf.

»Sir, auf mei­ner Kon­so­le er­scheint un­über­seh­bar ei­ne neue An­zei­ge!« mel­de­te er.

Auf den bei­den an­de­ren Bild­schir­men er­kann­te ich die Ge­sich­ter un­se­rer zwei Ko­pi­lo­ten, Cap­tain Do­gen­dal und un­se­ren rus­si­schen Cho­le­ri­ker, Ste­pan Tronss­kij.

»Die­sel­be An­zei­ge ist bei mir zu se­hen, Sir«, be­rich­te­te Do­gen­dal.

»Und bei mir auch, zum Don­ner­wet­ter!« groll­te Ste­pan mit tiefer Stim­me und blit­zen­den Au­gen. »Was hat das zu be­deu­ten?«

»Na­ru!« sprach ich den Chef­pi­lo­ten an. »Be­fin­det sich ir­gend­ein He­bel, Schal­ter oder Knopf in un­mit­tel­ba­rer Nä­he der An­zei­ge?«

»Das ist rich­tig, Sir«, ant­wor­te­te der Afri­ka­ner. »Die An­zei­ge selbst be­steht aus ei­ner et­wa fünf­zehn mal acht Zen­ti­me­ter großen Leucht­plat­te, die bis­her dun­kel war, jetzt je­doch in grel­lem Grün glüht. Un­mit­tel­bar un­ter­halb die­ser Leucht­plat­te gibt es einen brei­ten Kipp­schal­ter, des­sen Tast­flä­che jetzt eben­falls er­leuch­tet ist, und zwar ein­fach weiß.«

Un­ten in der Trieb­werks­zen­tra­le wa­ren Aich und Scheu­ning wie­der auf das Auf­nah­me­ge­rät zu­ge­eilt. Da sie mich be­schäf­tigt sa­hen, spra­chen sie mich nicht an, son­dern ver­such­ten mit wil­dem Ar­me­schwen­ken, mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich zu len­ken.

»Ich weiß, ich weiß, mei­ne Her­ren«, be­ru­hig­te ich sie. »Die BA­PU­RA ist fer­tig zum Ein­tritt in den Hyper­raum. Die Kon­so­len der Pi­lo­ten zei­gen ein neu­es Leucht­si­gnal.«

Da lie­ßen sie die Ar­me sin­ken, und Scheu­ning frag­te un­ver­blümt:

»Wie wer­den Sie sich ent­schei­den?«

»Ich ha­be mich schon ent­schie­den«, lä­chel­te ich ihn an. »Da­mals, als ich Ge­ne­ral Re­lings Be­fehl ent­ge­gen­nahm. Wir wuß­ten die gan­ze Zeit über, daß wir den Mars-Ver­sor­ger Al­pha-sechs nicht in nor­ma­lem Raum­flug er­rei­chen kön­nen. Warum soll­ten wir jetzt al­so plötz­lich zö­gern, das Un­ver­meid­li­che zu tun?«

Er sah ein paar Se­kun­den vor sich hin, dann blick­te er wie­der auf.

»Sie ha­ben na­tür­lich recht, Sir«, ant­wor­te­te er. Er lä­chel­te so­gar ein we­nig. »Ich weiß gar nicht, was mir da durch den Kopf ge­gan­gen ist!«

»Wir wa­gen den Sprung«, ent­schied ich. »Ver­lie­ren Sie Ih­re Meß­in­stru­men­te nicht aus den Au­gen! Es ist wich­tig zu er­fah­ren, nach wel­chem Prin­zip der mar­sia­ni­sche Über­licht­flug funk­tio­niert.«

Die bei­den Wis­sen­schaft­ler eil­ten da­von. Ich wand­te mich wie­der den drei Pi­lo­ten zu.

»Na­ru, es ist so­weit!« er­klär­te ich. »Be­tä­ti­gen Sie den wei­ßen Kipp­schal­ter!«

 

Einen Atem­zug lang ge­sch­ah über­haupt nichts.

Dann aber er­hob sich ir­gend­wo un­ter uns ein ur­welt­haf­tes To­sen. Das rie­si­ge Raum­schiff be­gann zu zit­tern, als sei es in die Fän­ge ei­ner über­le­ge­nen Macht ge­ra­ten. Die mäch­ti­ge Ku­gel­zel­le gab ein klin­gen­des Ge­räusch von sich, als wol­le sie zer­bers­ten. Lich­ter fla­cker­ten. Ei­ne ent­setz­li­che Se­kun­de lang be­herrsch­te mich der Ge­dan­ke, der jahr­zehn­tau­sende­al­te Raum­schiff­kör­per sei den Be­las­tun­gen, die beim Ein­tritt in den Hyper­raum auf­tra­ten, nicht mehr ge­wach­sen und wer­de zu­sam­men­bre­chen.

Da aber war der Spuk auch schon vor­bei. Ich schüt­tel­te den Kopf und ver­such­te, das un­an­ge­neh­me Sau­sen los­zu­wer­den, das die ge­wal­ti­ge Ge­räusch­ent­wick­lung in mei­nen Oh­ren hin­ter­las­sen hat­te, da gell­te plötz­lich durch das Rund des Kom­man­do­stands ein ent­setz­ter Schrei. Ich blick­te auf, sah die Män­ner von ih­ren Ses­seln auf­sprin­gen und zu den Bild­schir­men hin­auf­deu­ten. Dröh­nen­des Stim­men­ge­wirr er­füll­te den Kom­man­doraum.

Als ich sah, was die Auf­re­gung ver­ur­sach­te, stock­te mir der Atem. Die Meß­bild­schir­me bo­ten noch den­sel­ben An­blick wie zu­vor, aber die op­ti­schen und die Or­ter­bild­ge­rä­te zeig­ten sich gänz­lich ver­än­dert. Von den Op­tik­schir­men leuch­te­te ein blas­ses, kon­tur­lo­ses mit blau­en Farb­tö­nen ver­misch­tes Grau. Die Or­ter­schir­me da­ge­gen glom­men in düs­te­rem Grün. Es war ein ge­spens­ti­scher An­blick, der Furcht aus­lös­te. Da­bei hät­ten wir das Phä­no­men er­war­ten und uns geis­tig dar­auf vor­be­rei­ten müs­sen!

Ich nahm das Mi­kro­phon zur Hand.

»Be­ge­ben Sie sich wie­der an Ih­re Plät­ze!« be­fahl ich den Leu­ten. Und als sie zö­gernd ge­horch­ten, fuhr ich fort: »Der Vor­gang ist ganz selbst­ver­ständ­lich. Vor we­ni­gen Au­gen­bli­cken hat die BA­PU­RA das vier­di­men­sio­na­le Kon­ti­nu­um ver­las­sen und ist in einen Raum vor­ge­sto­ßen, den wir aus Man­gel an bes­se­rem Ver­ständ­nis vor­erst ein­mal Hyper­raum ge­nannt ha­ben. Die Ge­ge­ben­hei­ten die­ses Raum­es sind of­fen­bar so, daß auch die mar­sia­ni­schen Auf­nah­me­ge­rä­te nichts mit ih­nen an­fan­gen, das heißt sie nicht ab­bil­den kön­nen. Da­her al­so die lee­ren Bild­schir­me. Bit­te ru­fen Sie sich im­mer wie­der in Er­in­ne­rung zu­rück, daß dies ein Un­ter­neh­men ist, wie es die Men­schen noch nie durch­ge­führt ha­ben. Mit Über­ra­schun­gen muß ge­rech­net wer­den, und es dient un­ser al­ler Wohl, wenn nicht auf je­des un­ge­wöhn­li­che Er­eig­nis mit Pa­nik rea­giert wird!«

Es fiel mir nicht leicht, die­sen Ta­del aus­zu­spre­chen. Schließ­lich hat­te ich sel­ber die Luft an­ge­hal­ten, als ich die lee­ren Bild­schir­me er­blick­te. Aber ich ver­folg­te einen be­stimm­ten Zweck. Ich wuß­te, daß sie sich über mei­ne Wor­te är­gern wür­den, und je mehr sie sich är­ger­ten, de­sto we­ni­ger an­fäl­lig wa­ren sie für Pa­nik. Es gibt nichts bes­se­res als den Zorn, um aus dem Men­schen einen ver­bis­se­nen Kämp­fer zu ma­chen.

Der Flug der BA­PU­RA nahm sei­nen Fort­gang. Von Aich und Scheu­ning war vor­läu­fig nichts zu hö­ren. Wahr­schein­lich wa­ren sie da­bei, ih­re Meß­er­geb­nis­se aus­zu­wer­ten. Im Kom­man­do­stand wur­de es ru­hig. Die Leu­te hat­ten nichts zu tun. Sie be­ob­ach­te­ten die mar­sia­ni­schen Farb­an­zei­gen und ver­such­ten, ih­ren Sinn zu ent­rät­seln. Fünf Stun­den nach dem Ein­tritt in den Hyper­raum er­schi­en Han­ni­bal auf der Sze­ne und lös­te mich ab. Ich war ihm dank­bar da­für. Ich brauch­te drin­gend ein paar Stun­den Ru­he.

 

Man sah Scheu­ning an, wie er ver­zwei­felt nach Wor­ten such­te, die es nicht gab, um Din­ge zu be­schrei­ben, die sich nicht an­schau­lich be­schrei­ben lie­ßen. Un­ser Ge­spräch fand in mei­nem Pri­vat­quar­tier statt. Aich war eben­falls zu­ge­gen. Seit dem Ein­tritt in den Hyper­raum wa­ren knapp drei­ßig Stun­den ver­gan­gen. Han­ni­bal hat­te die Lei­tung im Kom­man­do­stand.

»Ers­tens ist die Be­zeich­nung Hyper­raum völ­lig falsch«, brach es schließ­lich aus Scheu­ning her­vor. Er war är­ger­lich über die ei­ge­ne Un­fä­hig­keit, sich aus­zu­drücken. »Wir be­fin­den uns in ei­ner Art Zwi­schen­kon­ti­nu­um, ei­nem Grenz­ge­biet zwi­schen dem vier­di­men­sio­na­len Raum, den wir ken­nen, und ei­nem noch un­be­kann­ten über­ge­ord­ne­ten Kon­ti­nu­um. In die­ser Zwi­schen­zo­ne gibt es ener­ge­ti­sche Schwin­gun­gen un­be­kann­ter Art. Im Au­gen­blick des Über­tritts ha­ben un­se­re Trieb­wer­ke die BA­PU­RA eben­falls in einen schwin­gen­den Zu­stand ver­setzt, wenn Sie sich das vor­stel­len kön­nen …«

»Nein, kann ich nicht!« un­ter­brach ich ihn tro­cken.

Er sah mich ei­ne Se­kun­de lang ir­ri­tiert an, dann fuhr er fort, als hät­te ich über­haupt nichts ge­sagt:

»Die Trieb­wer­ke sind of­fen­bar be­strebt, ei­ne Re­so­nanz zwi­schen den Schwin­gun­gen des Zwi­schen­kon­ti­nu­ums und de­nen der BA­PU­RA her­zu­stel­len. Je ge­nau­er die bei­den Fre­quen­zen über­ein­stim­men, de­sto ra­scher be­wegt sich das Raum­schiff. Der Weg, den es da­bei zu­rück­legt, durch­schnei­det oh­ne al­len Zwei­fel die Krüm­mung des vier­di­men­sio­na­len Raum­es. Auf die­se Wei­se wer­den Ge­schwin­dig­kei­ten er­zielt, die nach un­se­rer Schät­zung«, da­bei warf er Jo­sua Aich einen auf­mun­tern­den Blick zu, »um ein Mil­lio­nen­fa­ches über der Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­keit der elek­tro­ma­gne­ti­schen Wel­len lie­gen, wenn man sie in das Vier-D-Kon­ti­nu­um zu­rück­rech­net.«

»Was er sich nicht zu sa­gen ge­traut«, er­klär­te Aich mit ei­nem fei­nen Lä­cheln, »ist, daß wir für die­se Zwi­schen­zo­ne schon einen Na­men ge­fun­den ha­ben. Auf­grund ih­rer Ei­gen­schaf­ten ha­ben wir sie die ›Re­so­nanz-Krüm­mungs­zo­ne‹ ge­nannt.«

Ich konn­te nicht an­ders, ich muß­te la­chen.

»Mei­ne Her­ren, ich weiß mir die Mü­he zu schät­zen, die Sie sich ma­chen, um mir an­hand ei­nes Mo­dell­bil­des un­se­re La­ge zu ver­deut­li­chen. Aber ich muß Ih­nen ge­ste­hen, daß ich nicht mit­kom­me. Viel­leicht ver­su­chen Sie, die Sa­che ma­the­ma­tisch zu mo­del­lie­ren. Wo die An­schau­ung nicht wei­ter­hilft, da muß man sich mit Glei­chun­gen be­gnü­gen. Üb­ri­gens: nach­dem Sie sich bis­her über das Trans­port­me­di­um aus­ge­las­sen ha­ben, durch das wir uns be­we­gen, wie wä­re es, wenn Sie auch paar Wor­te über die Art des Trans­por­tes ver­lö­ren?«

Scheu­ning kratz­te sich mür­risch den Kopf.

»Da sind wir noch nicht so­weit ge­die­hen«, brumm­te er. »Fest steht le­dig­lich, daß die BA­PU­RA sich durch den Re­so­nanz­krüm­mungs­raum be­wegt wie ein Kör­per, der mit Über­schall­ge­schwin­dig­keit durch die Luft fliegt. Es ent­steht ei­ne Schock­wel­le, die die Form ei­nes Pa­ra­bo­lo­ids hat. Na­tür­lich ist die ener­ge­ti­sche Struk­tur der BA­PU­RA-Schock­wel­le grund­sätz­lich ver­schie­den von der des akus­ti­schen Über­schall-Schocks.«

Er sah mich fra­gend an, als wol­le er sich ver­ge­wis­sern, daß ich ihm die­se Fest­stel­lung auch ab­nahm. Dann sprach er wei­ter:

»Die Schock­wel­le ent­stand in dem Au­gen­blick, in dem die BA­PU­RA, um in das Zwi­schen­kon­ti­nu­um ein­zu­tre­ten, einen un­ge­heu­er­li­chen Po­ten­tial­un­ter­schied über­wand, bei dem po­ten­ti­el­le Ener­gie in ki­ne­ti­sche Ener­gie um­ge­wan­delt wur­de. Na­tür­lich ist hier nicht von kon­ven­tio­nel­len Ener­gie­for­men die Re­de. Ich soll­te bes­ser im­mer sa­gen: das Äqui­va­lent der po­ten­ti­el­len Ener­gie …«

»Nein, nein, ich ver­ste­he schon«, un­ter­brach ich ihn. »Wir kön­nen uns hier nur mit Denk­mo­del­len be­hel­fen. Wenn ich Sie rich­tig ver­ste­he, war es al­so beim Ein­tritt in die Re­so­nanz-Krüm­mungs­zo­ne so, als ob die BA­PU­RA von ei­nem ho­hen Berg her­un­ter­fie­le?«

»Als hät­te sie einen Sturz aus be­deu­ten­der Hö­he ge­tan, ja«, be­stä­tig­te Scheu­ning. »Na­tür­lich nur bild­lich ge­spro­chen.«

»Klar doch!« lach­te ich. »Un­se­re Art der Fort­be­we­gung lie­ße sich al­so zu­tref­fend mit dem Aus­druck ›Hoch­sturz-Pa­ra­bol­flug‹ be­zeich­nen, nicht wahr?«

Scheu­ning ver­zog säu­er­lich das Ge­sicht.

»Ich weiß nicht, Sir …«, be­gann er.

Ich kam nicht da­zu, ihm wei­ter zu­zu­hö­ren. Ein Men­ta­lim­puls von un­ge­wöhn­li­cher In­ten­si­tät er­reich­te mich. Er kam von Han­ni­bal.

»Großer!« hör­te ich: »Et­was scheint schief­zu­ge­hen. Die Ro­bo­ter sind wie­der auf dem Plan …!«