4.
Was für ein merkwürdiges Ding ist doch das menschliche Bewußtsein! Es gibt Informationen, auf die es mit Bestürzung reagiert, mit Panik oder sogar mit einem totalen Umklappen, durch das es sich selbst zerstört. Es ist der Gehalt der Information, der eine solche Reaktion auslöst. Gewöhnlich dreht es sich um Nachrichten, aus denen das Bewußtsein eine drohende Gefahr für sich selbst oder eine drastische Verschlechterung seiner Lebensgewohnheiten entnimmt.
Steigert sich jedoch der Gefahrengehalt der Information noch um eine Größenordnung, dann reagiert das menschliche Bewußtsein gewöhnlich ganz anders – nämlich überhaupt nicht mehr. Die Gefahr ist so groß oder das Risiko, auf das der Träger des Bewußtseins sich einzulassen entschieden hat, so unfaßbar, daß das Bewußtsein sich vollends weigert, sich damit zu befassen.
So ging es uns in diesem Augenblick. Hätte der Robot gesagt: zwölf Lichtjahre, dann wären wir froh gewesen. Hätte er gesagt: fünfzig Lichtjahre, dann hätten wir lange Gesichter gemacht. Hätte er gesagt: zweihundert Lichtjahre, dann wären wir in Panik aufgesprungen und hätten uns gegenseitig zu erklären versucht, wie gering unsere Aussichten waren, ein solches Unternehmen lebend zu überstehen.
Aber mehr als vierundzwanzigtausend Lichtjahre? Das waren anderthalbmilliardenmal der Abstand Sonne-Erde, oder dreimilliardenmal die gegenwärtige Distanz Erde-Mars, sechshundertmilliardenmal die Entfernung von der Erde zum Mond oder knapp zweihundertvierzigtausend Billionen Kilometer. Wer will dazu noch etwas sagen, wer will sich dazu noch etwas denken? Wir saßen da und starrten einander an. Minuten vergingen, ohne daß ein einziger Laut zu hören war.
Wiederum war es Hannibal, der den Bann brach.
»Einem Laien tut es wohl, einen Haufen hochdekorierter Wissenschaftler zu beobachten, die sich beim Einlaufen der ersten ungünstigen Nachricht anstellen wie die Kuh, wenn’s donnert«, sagte er mit bissigem Spott.
Die Köpfe wandten sich. Jedermann starrte Hannibal an, als habe er eine Lästerung von sich gegeben.
»Wie meinen Sie das?« fragte Snofer spitz.
»Das meine ich so«, antwortete Hannibal und setzte sich in seinem Sessel behäbig zurecht: »Wir hatten uns schon entschlossen, das Unternehmen zu wagen. Wir wußten von vornherein, daß unsere Überlebenschancen erbärmlich gering waren. Was für einen Sinn hat es da noch, jetzt mit langem Gesicht und hängendem Unterkiefer dazusitzen, nur weil man gehört hat, daß die Entfernung nicht ein paar hundert Lichtjahre, sondern gleich vierundzwanzigtausend beträgt?«
Snofer war derjenige, der auf Hannibals Vorwurf reagiert hatte. Er fühlte sich verpflichtet, ihm nun auch zu antworten. Allerdings tat er es ein wenig verlegen, wie einer, der sich seines Verhaltens schämte.
»Man darf doch wohl ein langes Gesicht machen«, sagte er mit so wenig Stimme, daß wir unsere Ohren anstrengen mußten, »wenn man erfährt, daß die Überlebensaussichten noch viel winziger sind, als man ursprünglich dachte.«
»Major Utan hat recht«, mischte Josua Aich sich mit kräftiger Stimme ein und – wahrhaftig! – er lächelte schon wieder. »Wir werden es wagen, und da wir uns dazu nun einmal entschlossen haben, bringt es uns keinen Gewinn, wenn wir über die gewaltige Entfernung lange – und selbstverständlich unnütz! – nachdenken. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich schlage vor, wir beraten nun über die Einzelheiten.«
Soviel Schwung riß mit. Wir vergaßen für den Augenblick, was NEWTON uns mitgeteilt hatte. Wir würden uns heute nacht wieder daran erinnern, wenn uns in der Einsamkeit unserer Schlafräume vor lauter Angst die Augen nicht zufallen wollten. Aber wenigstens im Augenblick waren wir voll und ganz bei der Sache.
Ein Punkt war vor allen anderen zu diskutieren. Man konnte diese »Operation Suicide« – der Name drängte sich förmlich auf, aber ich würde ihn sofort verbieten, falls jemand ihn tatsächlich aussprach – auf zwei verschiedene Weisen anpacken. Man konnte versuchen, den fernen Transmitter zu erreichen und gleichzeitig eine namhafte Streitmacht auf dem Mars zurücklassen, so daß unerwünschter Besuch aus dem All, falls er während der Dauer unserer Expedition eintreffen sollte, gebührend empfangen werden konnte. Oder man konnte sämtliches verfügbare Potential in die geplante Expedition stecken und ihre Überlebenschancen dadurch ein wenig aufbuttern – allerdings um den Preis der Sicherheit des Sonnensystems.
Ich selbst neigte ganz entschieden der letzteren Möglichkeit zu und erwartete von meinen Diskussionspartnern erheblichen Widerstand. Daß ich mich nicht getäuscht hatte, bewiesen die folgenden zwei Stunden.
»Das Sonnensystem muß geschützt werden!« forderte Snofer. »Einer von Ihnen beiden, entweder Sie, Sir, oder Major Utan muß hier auf dem Mars bleiben. Wer sonst soll mit NEWTON Kontakt unterhalten?«
Das war ein schwerwiegendes Argument. Hannibal und ich waren die einzigen Personen, die das Robotgehirn als direkt befehlsberechtigt anerkannte. Wenn wir beide an der Expedition teilnahmen, war niemand mehr da, von dem NEWTON Befehle entgegennehmen würde. Wie das Robotgehirn in einem solchen Fall auf von uns eingesetzte und befürwortete Befehlshaber – beispielsweise Professor Josua Aich – reagieren würde, war nicht abzusehen. Ich war mir darüber im klaren gewesen. Dieses Argument mußte als erstes entkräftigt werden. Wenn es nicht ad acta gelegt werden konnte, würde ich die Entscheidung kraft meiner Befehlsgewalt treffen müssen, und das widerstrebte mir angesichts der Gefährlichkeit unseres Unternehmens.
»Gehen wir von folgender Überlegung aus«, schlug ich vor. »Wenn es unserem Unternehmen nicht gelingt, den Sendetransmitter abzuschalten, ist die Erde verloren, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt!« antwortete Snofer sofort. »Wir könnten vielleicht doch versuchen, den Empfangstransmitter unter der Erdoberfläche zu sprengen.«
»Das ist eine Möglichkeit«, gab ich zu. »Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs? Dabei möchte ich Erfolg definiert wissen als: Zerstörung des Empfangstransmitters, ohne daß dadurch die Erde unbewohnbar gemacht wird.«
Snofer wiegte den Schädel.
»Schwer zu sagen«, brummte er. »Im Augenblick jedenfalls auf weniger als dreißig Prozent.«
»Sehen Sie!« rief ich ihm zu. »Also gibt es nur eine Möglichkeit, die Erde zu retten: den Sendetransmitter abzuschalten. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Erde von fremden Intelligenzen entdeckt und unterjocht wird, ist geringer als die, daß sie in der unaufhörlichen Flut von Versorgungsgütern erstickt, daß ihre Umdrehung sich immer mehr verlangsamt und daß sie schließlich zu einem Planeten wird wie der Merkur, der der Sonne stets dieselbe Seite zuwendet, so daß auf der einen Hälfte das Blei kocht, während auf der anderen die Luft zu Eis gefriert.«
»Zugegeben«, knurrte Snofer.
Er war ein kluger Mann und bemerkte bereits jetzt, daß er den Disput verlieren würde. Das ärgerte ihn.
»Also sage ich«, fuhr ich fort, »daß man alles tun muß, um unserer Expedition zum Erfolg zu verhelfen. Denn von ihr hängt letztlich das Wohl der Erde ab. Selbst wenn wir das Sonnensystem gänzlich von Wissenschaftlern und Experten entblößen, wäre damit der Menschheit noch mehr gedient, als wenn die Expedition auf die Mitnahme dieser Leute verzichtete und sich dadurch ihre Erfolgsaussicht verringerte.«
Das war noch längst nicht alles. Josua Aich schlug sich auf Snofers Seite, und Anne Burner wußte lange Zeit nicht, mit wem sie es halten sollte. Die Wogen der Erregung schlugen hoch. Aber schließlich setzte ich mich durch. Das Expeditionscorps würde so viele Koryphäen aufnehmen, wie sich freiwillig meldeten. Hannibal und ich würden an dem Unternehmen teilnehmen. Der Mars und die Erde blieben sich selbst überlassen – sich selbst und NEWTON; von dem man nicht ohne weiteres behaupten konnte, daß er im Gefahrenfalle von sich aus nichts unternehmen würde, um das Sonnensystem zu schützen.
Allerdings war dies eine nicht mehr als vage Möglichkeit, mit der wir, wenn wir objektiv bleiben wollten, nicht rechnen durften. Wir mußten von der Voraussetzung ausgehen, daß – wenn sich wirklich alle Experten, an die wir im Augenblick dachten, freiwillig meldeten – das Sonnensystem der Elite seiner Wissenschaft beraubt sein würde, solange unser Unternehmen dauerte. Da sich unter dieser Elite hauptsächlich diejenigen befanden, die mit der marsianischen Technologie in engeren Kontakt gekommen waren, bedeutete dies gleichzeitig, daß die Erde im Falle einer Invasion aus dem All nicht auf das Erbe der alten Marsianer würde zurückgreifen können.
Dieser Gedanke beunruhigte uns mehr als jeder andere – mehr sogar als die Erinnerung an die entsetzliche Zahl, die NEWTON vor knapp zwei Stunden preisgegeben hatte. Aber das war unser – und der Menschheit – Schicksal. Wir alle mußten damit leben.
Unter all den Erwägungen, die mich in diesen Tagen beschäftigten, war ein Gedanke, der immer wieder erschien, auch wenn ich ihn beiseite drängte. Er nagte an meinem Bewußtsein. Dabei beunruhigte er mich weder, noch erfüllte er mich andererseits mit Zuversicht. Er war einfach da, mahnend, allgegenwärtig – etwas, womit man sich beschäftigen mußte.
War es wirklich denkbar, daß NEWTON, das riesige Rechengehirn, nichts oder nur wenig von der Bedienung der marsianischen Raumschiffe verstand? Wie oft hatte ich in meinen Unterhaltungen mit dem Robotgehirn Informationen zu erhalten versucht, die es uns leichter machen würden, mit den marsianischen Raumriesen zurechtzukommen … und wie dürftig war meine Ausbeute gewesen!
Beim zweiten Einflug der Orghs, die wir – bis wir ihren wahren Namen kannten – Hypnos genannt hatten, waren ich und unsere Mars-Experten zu der Überzeugung gelangt, daß NEWTON nicht die Fähigkeit besaß, marsianische Raumschiffe von sich aus zu starten und die Verteidigung des Planeten ohne menschliches Dazutun in die eigene Hand zu nehmen. Wir hatten dies daraus geschlossen, daß keine der startbereiten Einheiten selbsttätig – oder vielmehr von NEWTON ferngesteuert – aufgestiegen war, obwohl die drei Fahrzeuge der Orghs sich dem Mars bereits bis auf bequeme Feuerweite genähert hatten. Der Start war erst erfolgt, als unsere Besatzungen auf die Knöpfe drückten, von denen sie mit viel Zuversicht und ohne jegliches Wissen behaupten zu können glaubten, daß sie der Starteinleitung dienten.
So etwa war unser Gedankengang gewesen. NEWTON verstand nichts von der Praxis der Raumschiffahrt. Er konnte Raumschiffe nicht fernbedienen, und er verstand es nicht, uns in ihrer Bedienung zu unterrichten. Der Trubel der vergangenen Wochen und Monate war so hektisch gewesen, daß kaum jemand dazu gekommen war, über diesen Fragenkomplex weiter nachzudenken.
Nur mich hatte der Gedanke nicht losgelassen. Und jetzt, da ich mich ernsthaft mit ihm zu befassen begann, kam ich zu dem Schluß, daß unsere bisherigen Überlegungen mancherlei Lücken aufwiesen. Es war schlechthin unvorstellbar, daß NEWTON, der Alleswisser, ausgerechnet über die marsianische Raumfahrt so schlecht Bescheid wußte. Es war fast ebenso unvorstellbar, daß NEWTON, der sonst auf jede Lebensäußerung dieses Planeten Einfluß zu nehmen verstand, nicht in der Lage sein sollte, Raumschiffe zu starten und sie einem gefährlichen Gegner entgegenzusenden.
Gesetzt den Fall aber, er verstand wirklich all das, was ich ihm unterstellte, wie ließ sich sein Verhalten dann erklären? War er nicht daran interessiert, uns beizustehen? Es gab Hinweise, die in eine gänzlich andere Richtung zeigten. Hatte er nicht die Position der Versorgungswelt für uns ermittelt, ohne daß er darum gebeten worden wäre?
Gut, konnte man fragen, warum gibt er uns dann nicht auch die Mittel in die Hand, den Versorgungsplaneten sicher und ohne Zeitverlust zu erreichen?
An dieser Frage hing alles. NEWTON war bereit, uns bis zu einem gewissen Maße zu helfen, uns ein gewisses Stück des Weges entgegenzukommen. Den Rest überließ er uns.
Warum?
Ich konnte mir nicht helfen … meine Gedanken kehrten immer wieder zu der Möglichkeit zurück, daß es sich bei NEWTONS seltsamem Verhalten um eine Art Prüfung handeln müsse. Er hatte Hannibal und mich und Aich als befehlsberechtigt anerkannt, als Nachfolger seiner Erbauer. Bedingungslos? Wohl kaum. Er schien es darauf angelegt zu haben, daß wir unsere Befähigung zur Nachfolge, zum Antritt des Erbes, unter Beweis stellen mußten, bevor er den letzten Vorbehalt fallenließ.
War das ein beruhigender Gedanke? Man hätte daraus die Vorstellung ableiten können, daß NEWTON, sobald es uns wirklich dreckig ging, zu guter Letzt dennoch eingreifen würde, um uns aus dem Schlamassel zu ziehen. Er würde uns danach weiterhin für nur bedingt erbberechtigt halten, weil wir die Schwierigkeit nicht aus eigener Kraft hatten meistern können. Aber wenigstens wäre unsere Haut gerettet.
Aber diese Vorstellung war trügerisch. Wir hatten die Besatzung eines marsianischen Raumschiffs verloren, das bei gewagten Manövern im All explodiert war. Wir hatten drei Techniker verloren, die in den unterirdischen Programmiersaal des Robotgehirns eingedrungen waren und Schaltungen bedient hatten, von deren Funktion sie nichts wußten.
NEWTON war also keineswegs der gütige Überlegene, der uns Unwissende zappeln ließ, bis er unsere Hilflosigkeit erkannte, und dann einschritt, um uns Rettung zu bringen. Er war ein erbarmungsloser Prüfmeister, der sich die Aufgabe gestellt hatte, zu ermitteln, ob wir zur Nachfolge der alten Marsianer befähigt waren oder nicht, und diese Prüfung würde sich nicht nach den irdischen Vorstellungen vom Wert und der Unverletzbarkeit menschlichen Lebens richten.
Das waren meine Überlegungen. Ob sie richtig waren oder nicht, würde die nahe Zukunft weisen.
Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Die Plasmaflotte war in ständiger Bewegung und lieferte Proviant, Geräte, Monturen und was sonst noch alles für eine Expedition wie die vorgesehene vonnöten war. Die Plasmaraumer wurden unterstützt von der 1418, die die Strecke Erde-Mars um ein Vielfaches schneller zurücklegen konnte als die terranischen Raumschiffe, dafür jedoch auch ein weitaus geringeres Ladevolumen hatte. Als erste Ladung kamen fünftausend Antitronhelme auf dem Mars an, genug für eine Besatzung von dreitausend Mann und den Ersatz für etwaige Ausfälle. Die Helme waren von äußerster Wichtigkeit. Sollten wir auf unserer Reise mit den Orghs oder anderen suggestiv begabten Intelligenzen in Verbindung kommen, waren die Helme unser einziger Schutz. Sie behüteten das menschliche Gehirn davor, einem suggestiven Einfluß zu erliegen. Bei dem letzten Besuch der Orghs auf dem Mars hatten sie eine entscheidende Rolle gespielt. Sie allein hatten es fertiggebracht, den Orghs den Eindruck zu vermitteln, daß die Besatzung des Mars und die mit ihr völkisch verwandte Menschheit der Erde mit den üblichen Orgh-Methoden nicht kleinzukriegen seien.
Um die Proviantmenge abzuschätzen, die für unser Unternehmen benötigt wurde, hatten wir die voraussichtliche Dauer der Expedition wenigstens ungefähr bestimmen müssen. Selbstverständlich gab es für eine derartige Bestimmung keinerlei Anhaltspunkte. Hannibal und ich hatten uns im Einvernehmen mit mehreren Wissenschaftlern schließlich auf ein Jahr geeinigt. Was sollte es? Irgendeine Zahl war besser als gar keine. Die BAPURA übernahm also für ein Jahr Proviant und sonstige Bedarfsmittel. Wenn die Reise länger dauerte …
Nun, wir würden sehen.
Die Werbung von Freiwilligen schritt munter fort. Ich weiß bis heute nicht, welchem Umstand wir unseren Erfolg zu verdanken hatten: der Lust zum Abenteuer oder der Erkenntnis, daß man, wenn im Mißlingensfall die Erde ohnehin zum Tod verdammt war, sich ebensogut zu einem Selbstmordunternehmen melden könne. Vielleicht spielten auch beide Motive zusammen. Auf jeden Fall hatten wir keine Schwierigkeit, eine geeignete Besatzung zusammenzutrommeln. Jeder Ressortleiter warb Freiwillige für sein eigenes Fachgebiet. Ich, als Befehlshaber und ohne Fachgebiet, war für »Allgemeines« verantwortlich. Das heißt: zu werben brauchte ich eigentlich kaum. Zu Anfang hatte ich mir meine Aufgabe – und die der anderen Führungskräfte – als ungemein schwierig vorgestellt. Die darauffolgenden Tage jedoch entwickelten sich zu einer nachhaltigen Lektion in Positivismus und Man-soll-die-Leute-nicht-für-schlechter-halten-als-sie-sind.
Ein Beispiel dafür sei, stellvertretend für viele andere, hier erwähnt. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und brütete über Listen mit Ladungsziffern. Die Plasmaflotte hatte soeben die letzte Lieferung abgesetzt, und ich wollte mich vergewissern, daß die Ist-Ladung des marsianischen Superschlachtschiffs mit der Soll-Ladung übereinstimmte. Ich betätigte mit Hingebung meinen Tischrechner, als sich Philip Botcher, mein Adjutant, über Interkom meldete. Auf dem Bildschirm wirkte sein bleiches, ernstes Gesicht, als wolle er um Entschuldigung bitten.
»Sir, Don Esteban de Fereira ersucht dringend um eine Unterredung.«
Ich war überrascht. Don Esteban war der Leiter der Artistengruppe, die »die Blauen Zwerge von Bawala V« spielte.
»Ist das wichtig?« erkundigte ich mich, denn ich hatte alle Hände voll zu tun und glaubte, meine Zeit besser verwerten zu können.
»Er sagt, er bedauere außerordentlich, daß er Sie überhaupt stören müsse«, antwortete Botcher gewissenhaft, »aber erstens sei es äußerst notwendig, und zweitens werde es nur wenige Minuten dauern.«
Ich zögerte nicht lange.
»Also gut, lassen Sie ihn rein!« sagte ich zu Botcher.
Ich lehnte mich in meinen Sessel zurück und wartete, bis die Tür sich öffnete. Mein Besucher jedoch blieb vorläufig unsichtbar. Erst als ich mich nach vorn beugte, um über die Vorderkante des Schreibtischs zu blicken, nahm ich ihn wahr. Da stand er, kaum einen Schritt diesseits der Türöffnung, den Kopf demütig gebeugt, als befände er sich wirklich vor Tumadschin Khan, dem Herrn der Heerscharen, in seiner ganzen Größe: Don Esteban de Fereira, der Liliputaner, ganze einhundertundacht Zentimeter hoch.
»Was führt Sie zu mir, Don Esteban?« fragte ich freundlich. »Bitte, treten Sie näher!«
Er hob den Kopf und trat von der Seite her auf den Schreibtisch zu. Ich kannte seine Eigenart und erhob mich ebenfalls. Er reagierte durchaus ungemütlich, wenn ein normalgewachsener Mensch ihn durch seine Verhaltensweise auf seine Kleinheit aufmerksam machte. Er wurde absolut fuchsteufelswild, wenn sich jemand auf den Boden kniete, um bequemer mit ihm sprechen zu können. Auch ertrug er es nicht, wenn er bei einer Unterhaltung stehen mußte, während der andere saß, andererseits erschien es ihm würdelos, seinerseits auf einen für normales menschliches Ausmaß hergestellten Sessel hinaufzuklettern. Die einzige Art, seiner Würde gerecht zu werden, war, daß man selbst ebenfalls aufstand. Der Größenunterschied von nahezu einem Meter, der dann erst voll zur Geltung kam, schien Don Esteban nichts auszumachen.
»Ich habe gehört, Sir, daß Sie auf Ihrem gefährlichen Unternehmen wahrscheinlich mit anderen Sternenvölkern zusammentreffen werden«, sagte er mit seiner hellen, klaren Stimme.
»Da haben Sie richtig gehört, Don Esteban«, versicherte ich.
»Nun, in diesem Falle, Sir«, bemerkte er klug, »ist es von Wichtigkeit, daß Sie auf diese Fremden denselben Eindruck machen wie auf die Hypnos, als sie auf dem Mars erschienen, nicht wahr?«
»Das kommt darauf an, Don Esteban, ob die, denen wir begegnen, ebenfalls eine überlegene Technologie besitzen und eine Gefahr für die Erde darstellen.«
»Diese Möglichkeit kann man aber doch nicht ausschließen, oder …?« blinzelte er mich an.
»Nein, leider nicht, Don Esteban.«
Die Antwort schien ihn glücklich zu machen. Er hüpfte tatsächlich in die Höhe und krähte vor Vergnügen:
»Ausgezeichnet, Sir, ganz ausgezeichnet! Dann können Sie nämlich auf uns nicht verzichten, auf uns, die Blauen Zwerge von Bawala-fünf, die Spaßmacher Ihres Hofstaates. Ich bin nämlich gekommen, um Sie zu bitten, daß Sie uns auf die Reise mitnehmen!«
Es mag lächerlich klingen – aber in diesem Augenblick war ich gerührt. Das Angebot kam so überraschend, daß ich erst einmal schlucken mußte. Dann fragte ich Don Esteban ernst:
»Sind Sie sich darüber im klaren, daß unsere Aussichten, dieses Unternehmen lebend zu überstehen, beklagenswert gering sind?«
»Auch das hat man mir gesagt, Sir«, antwortete er laut und deutlich, und seine Augen leuchteten dazu. »Aber wenn Sie bereit sind, das Risiko auf sich zu nehmen, warum sollten wir dann wie Hasenfüße zurückstehen?«
Ich konnte nicht anders … ich bückte mich und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie schweigend, wenigstens die letzten drei Finger, denn mehr konnte er mit seiner kleinen Hand nicht fassen.
»Ich danke Ihnen, Don Esteban«, sagte ich und unterdrückte mit Mühe ein seltsames Würgen im Hals. »Ihr Angebot ehrt mich und wird selbstverständlich angenommen.«
Da wurde auch er plötzlich ernst. Er sah zu mir auf und verkündete mit strahlenden Augen:
»Ich bin es, der zu danken hat, Sir. Sie machen mich stolz!«
Dann ließ er meine drei Finger los, wandte sich um und schritt wieder hinaus, stolz wie ein Spanier und würdevoll wie … ein Mensch.