4.

 

Was für ein merk­wür­di­ges Ding ist doch das mensch­li­che Be­wußt­sein! Es gibt In­for­ma­tio­nen, auf die es mit Be­stür­zung rea­giert, mit Pa­nik oder so­gar mit ei­nem to­ta­len Um­klap­pen, durch das es sich selbst zer­stört. Es ist der Ge­halt der In­for­ma­ti­on, der ei­ne sol­che Re­ak­ti­on aus­löst. Ge­wöhn­lich dreht es sich um Nach­rich­ten, aus de­nen das Be­wußt­sein ei­ne dro­hen­de Ge­fahr für sich selbst oder ei­ne dras­ti­sche Ver­schlech­te­rung sei­ner Le­bens­ge­wohn­hei­ten ent­nimmt.

Stei­gert sich je­doch der Ge­fah­ren­ge­halt der In­for­ma­ti­on noch um ei­ne Grö­ßen­ord­nung, dann rea­giert das mensch­li­che Be­wußt­sein ge­wöhn­lich ganz an­ders – näm­lich über­haupt nicht mehr. Die Ge­fahr ist so groß oder das Ri­si­ko, auf das der Trä­ger des Be­wußt­seins sich ein­zu­las­sen ent­schie­den hat, so un­faß­bar, daß das Be­wußt­sein sich vollends wei­gert, sich da­mit zu be­fas­sen.

So ging es uns in die­sem Au­gen­blick. Hät­te der Ro­bot ge­sagt: zwölf Licht­jah­re, dann wä­ren wir froh ge­we­sen. Hät­te er ge­sagt: fünf­zig Licht­jah­re, dann hät­ten wir lan­ge Ge­sich­ter ge­macht. Hät­te er ge­sagt: zwei­hun­dert Licht­jah­re, dann wä­ren wir in Pa­nik auf­ge­sprun­gen und hät­ten uns ge­gen­sei­tig zu er­klä­ren ver­sucht, wie ge­ring un­se­re Aus­sich­ten wa­ren, ein sol­ches Un­ter­neh­men le­bend zu über­ste­hen.

Aber mehr als vier­und­zwan­zig­tau­send Licht­jah­re? Das wa­ren an­dert­halb­mil­li­ar­den­mal der Ab­stand Son­ne-Er­de, oder drei­mil­li­ar­den­mal die ge­gen­wär­ti­ge Di­stanz Er­de-Mars, sechs­hun­dert­mil­li­ar­den­mal die Ent­fer­nung von der Er­de zum Mond oder knapp zwei­hun­dert­vier­zig­tau­send Bil­lio­nen Ki­lo­me­ter. Wer will da­zu noch et­was sa­gen, wer will sich da­zu noch et­was den­ken? Wir sa­ßen da und starr­ten ein­an­der an. Mi­nu­ten ver­gin­gen, oh­ne daß ein ein­zi­ger Laut zu hö­ren war.

Wie­der­um war es Han­ni­bal, der den Bann brach.

»Ei­nem Lai­en tut es wohl, einen Hau­fen hoch­de­ko­rier­ter Wis­sen­schaft­ler zu be­ob­ach­ten, die sich beim Ein­lau­fen der ers­ten un­güns­ti­gen Nach­richt an­stel­len wie die Kuh, wenn’s don­nert«, sag­te er mit bis­si­gem Spott.

Die Köp­fe wand­ten sich. Je­der­mann starr­te Han­ni­bal an, als ha­be er ei­ne Läs­te­rung von sich ge­ge­ben.

»Wie mei­nen Sie das?« frag­te Sno­fer spitz.

»Das mei­ne ich so«, ant­wor­te­te Han­ni­bal und setz­te sich in sei­nem Ses­sel be­hä­big zu­recht: »Wir hat­ten uns schon ent­schlos­sen, das Un­ter­neh­men zu wa­gen. Wir wuß­ten von vorn­her­ein, daß un­se­re Über­le­benschan­cen er­bärm­lich ge­ring wa­ren. Was für einen Sinn hat es da noch, jetzt mit lan­gem Ge­sicht und hän­gen­dem Un­ter­kie­fer da­zu­sit­zen, nur weil man ge­hört hat, daß die Ent­fer­nung nicht ein paar hun­dert Licht­jah­re, son­dern gleich vier­und­zwan­zig­tau­send be­trägt?«

Sno­fer war der­je­ni­ge, der auf Han­ni­bals Vor­wurf rea­giert hatte. Er fühl­te sich ver­pflich­tet, ihm nun auch zu ant­wor­ten. Al­ler­dings tat er es ein we­nig ver­le­gen, wie ei­ner, der sich sei­nes Ver­hal­tens schäm­te.

»Man darf doch wohl ein lan­ges Ge­sicht ma­chen«, sag­te er mit so we­nig Stim­me, daß wir un­se­re Oh­ren an­stren­gen muß­ten, »wenn man er­fährt, daß die Über­le­bens­aus­sich­ten noch viel win­zi­ger sind, als man ur­sprüng­lich dach­te.«

»Ma­jor Utan hat recht«, misch­te Jo­sua Aich sich mit kräf­ti­ger Stim­me ein und – wahr­haf­tig! – er lä­chel­te schon wie­der. »Wir wer­den es wa­gen, und da wir uns da­zu nun ein­mal ent­schlos­sen ha­ben, bringt es uns kei­nen Ge­winn, wenn wir über die ge­wal­ti­ge Ent­fer­nung lan­ge – und selbst­ver­ständ­lich un­nütz! – nach­den­ken. Wir ha­ben kei­ne Zeit zu ver­lie­ren. Ich schla­ge vor, wir be­ra­ten nun über die Ein­zel­hei­ten.«

So­viel Schwung riß mit. Wir ver­ga­ßen für den Au­gen­blick, was NEW­TON uns mit­ge­teilt hat­te. Wir wür­den uns heu­te nacht wie­der dar­an er­in­nern, wenn uns in der Ein­sam­keit un­se­rer Schlafräu­me vor lau­ter Angst die Au­gen nicht zu­fal­len woll­ten. Aber we­nigs­tens im Au­gen­blick wa­ren wir voll und ganz bei der Sa­che.

Ein Punkt war vor al­len an­de­ren zu dis­ku­tie­ren. Man konn­te die­se »Ope­ra­ti­on Sui­ci­de« – der Na­me dräng­te sich förm­lich auf, aber ich wür­de ihn so­fort ver­bie­ten, falls je­mand ihn tat­säch­lich aus­sprach – auf zwei ver­schie­de­ne Wei­sen an­pa­cken. Man konn­te ver­su­chen, den fer­nen Trans­mit­ter zu er­rei­chen und gleich­zei­tig ei­ne nam­haf­te Streit­macht auf dem Mars zu­rück­las­sen, so daß un­er­wünsch­ter Be­such aus dem All, falls er wäh­rend der Dau­er un­se­rer Ex­pe­di­ti­on ein­tref­fen soll­te, ge­büh­rend emp­fan­gen wer­den konn­te. Oder man konn­te sämt­li­ches ver­füg­ba­re Po­ten­ti­al in die ge­plan­te Ex­pe­di­ti­on ste­cken und ih­re Über­le­benschan­cen da­durch ein we­nig auf­but­tern – al­ler­dings um den Preis der Si­cher­heit des Son­nen­sys­tems.

Ich selbst neig­te ganz ent­schie­den der letz­te­ren Mög­lich­keit zu und er­war­te­te von mei­nen Dis­kus­si­ons­part­nern er­heb­li­chen Wi­der­stand. Daß ich mich nicht ge­täuscht hat­te, be­wie­sen die fol­gen­den zwei Stun­den.

»Das Son­nen­sys­tem muß ge­schützt wer­den!« for­der­te Sno­fer. »Ei­ner von Ih­nen bei­den, ent­we­der Sie, Sir, oder Ma­jor Utan muß hier auf dem Mars blei­ben. Wer sonst soll mit NEW­TON Kon­takt un­ter­hal­ten?«

Das war ein schwer­wie­gen­des Ar­gu­ment. Han­ni­bal und ich wa­ren die ein­zi­gen Per­so­nen, die das Ro­bot­ge­hirn als di­rekt be­fehls­be­rech­tigt an­er­kann­te. Wenn wir bei­de an der Ex­pe­di­ti­on teil­nah­men, war nie­mand mehr da, von dem NEW­TON Be­feh­le ent­ge­gen­neh­men wür­de. Wie das Ro­bot­ge­hirn in ei­nem sol­chen Fall auf von uns ein­ge­setz­te und be­für­wor­te­te Be­fehls­ha­ber – bei­spiels­wei­se Pro­fes­sor Jo­sua Aich – rea­gie­ren wür­de, war nicht ab­zu­se­hen. Ich war mir dar­über im kla­ren ge­we­sen. Die­ses Ar­gu­ment muß­te als ers­tes ent­kräf­tigt wer­den. Wenn es nicht ad ac­ta ge­legt wer­den konn­te, wür­de ich die Ent­schei­dung kraft mei­ner Be­fehls­ge­walt tref­fen müs­sen, und das wi­der­streb­te mir an­ge­sichts der Ge­fähr­lich­keit un­se­res Un­ter­neh­mens.

»Ge­hen wir von fol­gen­der Über­le­gung aus«, schlug ich vor. »Wenn es un­se­rem Un­ter­neh­men nicht ge­lingt, den Sen­de­trans­mit­ter ab­zu­schal­ten, ist die Er­de ver­lo­ren, nicht wahr?«

»Nicht un­be­dingt!« ant­wor­te­te Sno­fer so­fort. »Wir könn­ten viel­leicht doch ver­su­chen, den Emp­fangstrans­mit­ter un­ter der Erd­ober­flä­che zu spren­gen.«

»Das ist ei­ne Mög­lich­keit«, gab ich zu. »Wie hoch schät­zen Sie die Wahr­schein­lich­keit ei­nes Er­folgs? Da­bei möch­te ich Er­folg de­fi­niert wis­sen als: Zer­stö­rung des Emp­fangstrans­mit­ters, oh­ne daß da­durch die Er­de un­be­wohn­bar ge­macht wird.«

Sno­fer wieg­te den Schä­del.

»Schwer zu sa­gen«, brumm­te er. »Im Au­gen­blick je­den­falls auf we­ni­ger als drei­ßig Pro­zent.«

»Se­hen Sie!« rief ich ihm zu. »Al­so gibt es nur ei­ne Mög­lich­keit, die Er­de zu ret­ten: den Sen­de­trans­mit­ter ab­zu­schal­ten. Die Wahr­schein­lich­keit, daß die Er­de von frem­den In­tel­li­gen­zen ent­deckt und un­ter­jocht wird, ist ge­rin­ger als die, daß sie in der un­auf­hör­li­chen Flut von Ver­sor­gungs­gü­tern er­stickt, daß ih­re Um­dre­hung sich im­mer mehr ver­lang­samt und daß sie schließ­lich zu ei­nem Pla­ne­ten wird wie der Mer­kur, der der Son­ne stets die­sel­be Sei­te zu­wen­det, so daß auf der einen Hälf­te das Blei kocht, wäh­rend auf der an­de­ren die Luft zu Eis ge­friert.«

»Zu­ge­ge­ben«, knurr­te Sno­fer.

Er war ein klu­ger Mann und be­merk­te be­reits jetzt, daß er den Dis­put ver­lie­ren wür­de. Das är­ger­te ihn.

»Al­so sa­ge ich«, fuhr ich fort, »daß man al­les tun muß, um un­se­rer Ex­pe­di­ti­on zum Er­folg zu ver­hel­fen. Denn von ihr hängt letzt­lich das Wohl der Er­de ab. Selbst wenn wir das Son­nen­sys­tem gänz­lich von Wis­sen­schaft­lern und Ex­per­ten ent­blö­ßen, wä­re da­mit der Mensch­heit noch mehr ge­dient, als wenn die Ex­pe­di­ti­on auf die Mit­nah­me die­ser Leu­te ver­zich­te­te und sich da­durch ih­re Er­folgs­aus­sicht ver­rin­ger­te.«

Das war noch längst nicht al­les. Jo­sua Aich schlug sich auf Sno­fers Sei­te, und An­ne Bur­ner wuß­te lan­ge Zeit nicht, mit wem sie es hal­ten soll­te. Die Wo­gen der Er­re­gung schlu­gen hoch. Aber schließ­lich setz­te ich mich durch. Das Ex­pe­di­ti­ons­corps wür­de so vie­le Ko­ry­phä­en auf­neh­men, wie sich frei­wil­lig mel­de­ten. Han­ni­bal und ich wür­den an dem Un­ter­neh­men teil­neh­men. Der Mars und die Er­de blie­ben sich selbst über­las­sen – sich selbst und NEW­TON; von dem man nicht oh­ne wei­te­res be­haup­ten konn­te, daß er im Ge­fah­ren­fal­le von sich aus nichts un­ter­neh­men wür­de, um das Son­nen­sys­tem zu schüt­zen.

Al­ler­dings war dies ei­ne nicht mehr als va­ge Mög­lich­keit, mit der wir, wenn wir ob­jek­tiv blei­ben woll­ten, nicht rech­nen durf­ten. Wir muß­ten von der Vor­aus­set­zung aus­ge­hen, daß – wenn sich wirk­lich al­le Ex­per­ten, an die wir im Au­gen­blick dach­ten, frei­wil­lig mel­de­ten – das Son­nen­sys­tem der Eli­te sei­ner Wis­sen­schaft be­raubt sein wür­de, so­lan­ge un­ser Un­ter­neh­men dau­er­te. Da sich un­ter die­ser Eli­te haupt­säch­lich die­je­ni­gen be­fan­den, die mit der mar­sia­ni­schen Tech­no­lo­gie in en­ge­ren Kon­takt ge­kom­men wa­ren, be­deu­te­te dies gleich­zei­tig, daß die Er­de im Fal­le ei­ner In­va­si­on aus dem All nicht auf das Er­be der al­ten Mar­sia­ner wür­de zu­rück­grei­fen kön­nen.

Die­ser Ge­dan­ke be­un­ru­hig­te uns mehr als je­der an­de­re – mehr so­gar als die Er­in­ne­rung an die ent­setz­li­che Zahl, die NEW­TON vor knapp zwei Stun­den preis­ge­ge­ben hat­te. Aber das war un­ser – und der Mensch­heit – Schick­sal. Wir al­le muß­ten da­mit le­ben.

 

Un­ter all den Er­wä­gun­gen, die mich in die­sen Ta­gen be­schäf­tig­ten, war ein Ge­dan­ke, der im­mer wie­der er­schi­en, auch wenn ich ihn bei­sei­te dräng­te. Er nag­te an mei­nem Be­wußt­sein. Da­bei be­un­ru­hig­te er mich we­der, noch er­füll­te er mich an­de­rer­seits mit Zu­ver­sicht. Er war ein­fach da, mah­nend, all­ge­gen­wär­tig – et­was, wo­mit man sich be­schäf­ti­gen muß­te.

War es wirk­lich denk­bar, daß NEW­TON, das rie­si­ge Re­chen­ge­hirn, nichts oder nur we­nig von der Be­die­nung der mar­sia­ni­schen Raum­schif­fe ver­stand? Wie oft hat­te ich in mei­nen Un­ter­hal­tun­gen mit dem Ro­bot­ge­hirn In­for­ma­tio­nen zu er­hal­ten ver­sucht, die es uns leich­ter ma­chen wür­den, mit den mar­sia­ni­schen Raum­rie­sen zu­recht­zu­kom­men … und wie dürf­tig war mei­ne Aus­beu­te ge­we­sen!

Beim zwei­ten Ein­flug der Or­ghs, die wir – bis wir ih­ren wah­ren Na­men kann­ten – Hyp­nos ge­nannt hat­ten, wa­ren ich und un­se­re Mars-Ex­per­ten zu der Über­zeu­gung ge­langt, daß NEW­TON nicht die Fä­hig­keit be­saß, mar­sia­ni­sche Raum­schif­fe von sich aus zu star­ten und die Ver­tei­di­gung des Pla­ne­ten oh­ne mensch­li­ches Da­zu­tun in die ei­ge­ne Hand zu neh­men. Wir hat­ten dies dar­aus ge­schlos­sen, daß kei­ne der start­be­rei­ten Ein­hei­ten selbst­tä­tig – oder viel­mehr von NEW­TON fern­ge­steu­ert – auf­ge­stie­gen war, ob­wohl die drei Fahr­zeu­ge der Or­ghs sich dem Mars be­reits bis auf be­que­me Feu­er­wei­te ge­nä­hert hat­ten. Der Start war erst er­folgt, als un­se­re Be­sat­zun­gen auf die Knöpfe drück­ten, von de­nen sie mit viel Zu­ver­sicht und oh­ne jeg­li­ches Wis­sen be­haup­ten zu kön­nen glaub­ten, daß sie der Star­tein­lei­tung dienten.

So et­wa war un­ser Ge­dan­ken­gang ge­we­sen. NEW­TON ver­stand nichts von der Pra­xis der Raum­schif­fahrt. Er konn­te Raum­schif­fe nicht fern­be­die­nen, und er ver­stand es nicht, uns in ih­rer Be­die­nung zu un­ter­rich­ten. Der Tru­bel der ver­gan­ge­nen Wo­chen und Mo­na­te war so hek­tisch ge­we­sen, daß kaum je­mand da­zu ge­kom­men war, über die­sen Fra­gen­kom­plex wei­ter nach­zu­den­ken.

Nur mich hat­te der Ge­dan­ke nicht los­ge­las­sen. Und jetzt, da ich mich ernst­haft mit ihm zu be­fas­sen be­gann, kam ich zu dem Schluß, daß un­se­re bis­he­ri­gen Über­le­gun­gen man­cher­lei Lücken auf­wie­sen. Es war schlecht­hin un­vor­stell­bar, daß NEW­TON, der Al­les­wis­ser, aus­ge­rech­net über die mar­sia­ni­sche Raum­fahrt so schlecht Be­scheid wuß­te. Es war fast eben­so un­vor­stell­bar, daß NEW­TON, der sonst auf je­de Le­bens­äu­ße­rung die­ses Pla­ne­ten Ein­fluß zu neh­men ver­stand, nicht in der La­ge sein soll­te, Raum­schif­fe zu star­ten und sie ei­nem ge­fähr­li­chen Geg­ner ent­ge­gen­zu­sen­den.

Ge­setzt den Fall aber, er ver­stand wirk­lich all das, was ich ihm un­ter­stell­te, wie ließ sich sein Ver­hal­ten dann er­klä­ren? War er nicht dar­an in­ter­es­siert, uns bei­zu­ste­hen? Es gab Hin­wei­se, die in ei­ne gänz­lich an­de­re Rich­tung zeig­ten. Hat­te er nicht die Po­si­ti­on der Ver­sor­gungs­welt für uns er­mit­telt, oh­ne daß er dar­um ge­be­ten wor­den wä­re?

Gut, konn­te man fra­gen, warum gibt er uns dann nicht auch die Mit­tel in die Hand, den Ver­sor­gungs­pla­ne­ten si­cher und oh­ne Zeit­ver­lust zu er­rei­chen?

An die­ser Fra­ge hing al­les. NEW­TON war be­reit, uns bis zu ei­nem ge­wis­sen Ma­ße zu hel­fen, uns ein ge­wis­ses Stück des Weges ent­ge­gen­zu­kom­men. Den Rest über­ließ er uns.

Warum?

Ich konn­te mir nicht hel­fen … mei­ne Ge­dan­ken kehr­ten im­mer wie­der zu der Mög­lich­keit zu­rück, daß es sich bei NEW­TONS selt­sa­mem Ver­hal­ten um ei­ne Art Prü­fung han­deln müs­se. Er hat­te Han­ni­bal und mich und Aich als be­fehls­be­rech­tigt an­er­kannt, als Nach­fol­ger sei­ner Er­bau­er. Be­din­gungs­los? Wohl kaum. Er schi­en es dar­auf an­ge­legt zu ha­ben, daß wir un­se­re Be­fä­hi­gung zur Nach­fol­ge, zum An­tritt des Er­bes, un­ter Be­weis stel­len muß­ten, be­vor er den letz­ten Vor­be­halt fal­len­ließ.

War das ein be­ru­hi­gen­der Ge­dan­ke? Man hät­te dar­aus die Vor­stel­lung ab­lei­ten kön­nen, daß NEW­TON, so­bald es uns wirk­lich dre­ckig ging, zu gu­ter Letzt den­noch ein­grei­fen wür­de, um uns aus dem Schla­mas­sel zu zie­hen. Er wür­de uns da­nach wei­ter­hin für nur be­dingt erb­be­rech­tigt hal­ten, weil wir die Schwie­rig­keit nicht aus ei­ge­ner Kraft hat­ten meis­tern kön­nen. Aber we­nigs­tens wä­re un­se­re Haut ge­ret­tet.

Aber die­se Vor­stel­lung war trü­ge­risch. Wir hat­ten die Be­sat­zung ei­nes mar­sia­ni­schen Raum­schiffs ver­lo­ren, das bei ge­wag­ten Ma­nö­vern im All ex­plo­diert war. Wir hat­ten drei Tech­ni­ker ver­lo­ren, die in den un­ter­ir­di­schen Pro­gram­mier­saal des Ro­bot­ge­hirns ein­ge­drun­gen wa­ren und Schal­tun­gen be­dient hat­ten, von de­ren Funk­ti­on sie nichts wuß­ten.

NEW­TON war al­so kei­nes­wegs der gü­ti­ge Über­le­ge­ne, der uns Un­wis­sen­de zap­peln ließ, bis er un­se­re Hilf­lo­sig­keit er­kann­te, und dann ein­schritt, um uns Ret­tung zu brin­gen. Er war ein er­bar­mungs­lo­ser Prüf­meis­ter, der sich die Auf­ga­be ge­stellt hat­te, zu er­mit­teln, ob wir zur Nach­fol­ge der al­ten Mar­sia­ner be­fä­higt wa­ren oder nicht, und die­se Prü­fung wür­de sich nicht nach den ir­di­schen Vor­stel­lun­gen vom Wert und der Un­ver­letz­bar­keit mensch­li­chen Le­bens rich­ten.

Das wa­ren mei­ne Über­le­gun­gen. Ob sie rich­tig wa­ren oder nicht, wür­de die na­he Zu­kunft wei­sen.

 

Die Vor­be­rei­tun­gen lie­fen auf Hoch­tou­ren. Die Plas­maflot­te war in stän­di­ger Be­we­gung und lie­fer­te Pro­vi­ant, Ge­rä­te, Mon­tu­ren und was sonst noch al­les für ei­ne Ex­pe­di­ti­on wie die vor­ge­se­he­ne von­nö­ten war. Die Plas­ma­rau­mer wur­den un­ter­stützt von der 1418, die die Stre­cke Er­de-Mars um ein Viel­fa­ches schnel­ler zu­rück­le­gen konn­te als die ter­ra­ni­schen Raum­schif­fe, da­für je­doch auch ein weitaus ge­rin­ge­res La­de­vo­lu­men hat­te. Als ers­te La­dung ka­men fünf­tau­send An­ti­tron­hel­me auf dem Mars an, ge­nug für ei­ne Be­sat­zung von drei­tau­send Mann und den Er­satz für et­wai­ge Aus­fäl­le. Die Hel­me wa­ren von äu­ßers­ter Wich­tig­keit. Soll­ten wir auf un­se­rer Rei­se mit den Or­ghs oder an­de­ren sug­ge­s­tiv be­gab­ten In­tel­li­gen­zen in Ver­bin­dung kom­men, wa­ren die Hel­me un­ser ein­zi­ger Schutz. Sie be­hü­te­ten das mensch­li­che Ge­hirn da­vor, ei­nem sug­ge­s­ti­ven Ein­fluß zu er­lie­gen. Bei dem letz­ten Be­such der Or­ghs auf dem Mars hat­ten sie ei­ne ent­schei­den­de Rol­le ge­spielt. Sie al­lein hat­ten es fer­tig­ge­bracht, den Or­ghs den Ein­druck zu ver­mit­teln, daß die Be­sat­zung des Mars und die mit ihr völ­kisch ver­wand­te Mensch­heit der Er­de mit den üb­li­chen Or­gh-Me­tho­den nicht klein­zu­krie­gen sei­en.

Um die Pro­vi­ant­menge ab­zu­schät­zen, die für un­ser Un­ter­neh­men be­nö­tigt wur­de, hat­ten wir die vor­aus­sicht­li­che Dau­er der Ex­pe­di­ti­on we­nigs­tens un­ge­fähr be­stim­men müs­sen. Selbst­ver­ständ­lich gab es für ei­ne der­ar­ti­ge Be­stim­mung kei­ner­lei An­halts­punk­te. Han­ni­bal und ich hat­ten uns im Ein­ver­neh­men mit meh­re­ren Wis­sen­schaft­lern schließ­lich auf ein Jahr ge­ei­nigt. Was soll­te es? Ir­gend­ei­ne Zahl war bes­ser als gar kei­ne. Die BA­PU­RA über­nahm al­so für ein Jahr Pro­vi­ant und sons­ti­ge Be­darfs­mit­tel. Wenn die Rei­se län­ger dau­er­te …

Nun, wir wür­den se­hen.

Die Wer­bung von Frei­wil­li­gen schritt mun­ter fort. Ich weiß bis heu­te nicht, wel­chem Um­stand wir un­se­ren Er­folg zu ver­dan­ken hat­ten: der Lust zum Aben­teu­er oder der Er­kennt­nis, daß man, wenn im Miß­lin­gens­fall die Er­de oh­ne­hin zum Tod ver­dammt war, sich eben­so­gut zu ei­nem Selbst­mord­un­ter­neh­men mel­den kön­ne. Viel­leicht spiel­ten auch bei­de Mo­ti­ve zu­sam­men. Auf je­den Fall hat­ten wir kei­ne Schwie­rig­keit, ei­ne ge­eig­ne­te Be­sat­zung zu­sam­men­zu­trom­meln. Je­der Res­sort­lei­ter warb Frei­wil­li­ge für sein ei­ge­nes Fach­ge­biet. Ich, als Be­fehls­ha­ber und oh­ne Fach­ge­biet, war für »All­ge­mei­nes« ver­ant­wort­lich. Das heißt: zu wer­ben brauch­te ich ei­gent­lich kaum. Zu An­fang hat­te ich mir mei­ne Auf­ga­be – und die der an­de­ren Füh­rungs­kräf­te – als un­ge­mein schwie­rig vor­ge­stellt. Die dar­auf­fol­gen­den Ta­ge je­doch ent­wi­ckel­ten sich zu ei­ner nach­hal­ti­gen Lek­ti­on in Po­si­ti­vis­mus und Man-soll-die-Leu­te-nicht-für-schlech­ter-hal­ten-als-sie-sind.

Ein Bei­spiel da­für sei, stell­ver­tre­tend für vie­le an­de­re, hier er­wähnt. Ich saß in mei­nem Ar­beits­zim­mer und brü­te­te über Lis­ten mit La­dungs­zif­fern. Die Plas­maflot­te hat­te so­eben die letz­te Lie­fe­rung ab­ge­setzt, und ich woll­te mich ver­ge­wis­sern, daß die Ist-La­dung des mar­sia­ni­schen Su­per­schlacht­schiffs mit der Soll-La­dung über­ein­stimm­te. Ich be­tä­tig­te mit Hin­ge­bung mei­nen Tisch­rech­ner, als sich Phi­lip Bot­cher, mein Ad­ju­tant, über In­ter­kom mel­de­te. Auf dem Bild­schirm wirk­te sein blei­ches, erns­tes Ge­sicht, als wol­le er um Ent­schul­di­gung bit­ten.

»Sir, Don Es­te­ban de Fe­rei­ra er­sucht drin­gend um ei­ne Un­ter­re­dung.«

Ich war über­rascht. Don Es­te­ban war der Lei­ter der Ar­tis­ten­grup­pe, die »die Blau­en Zwer­ge von Ba­wa­la V« spiel­te.

»Ist das wich­tig?« er­kun­dig­te ich mich, denn ich hat­te al­le Hän­de voll zu tun und glaub­te, mei­ne Zeit bes­ser ver­wer­ten zu kön­nen.

»Er sagt, er be­daue­re au­ßer­or­dent­lich, daß er Sie über­haupt stö­ren müs­se«, ant­wor­te­te Bot­cher ge­wis­sen­haft, »aber ers­tens sei es äu­ßerst not­wen­dig, und zwei­tens wer­de es nur we­ni­ge Mi­nu­ten dau­ern.«

Ich zö­ger­te nicht lan­ge.

»Al­so gut, las­sen Sie ihn rein!« sag­te ich zu Bot­cher.

Ich lehn­te mich in mei­nen Ses­sel zu­rück und war­te­te, bis die Tür sich öff­ne­te. Mein Be­su­cher je­doch blieb vor­läu­fig un­sicht­bar. Erst als ich mich nach vorn beug­te, um über die Vor­der­kan­te des Schreib­tischs zu bli­cken, nahm ich ihn wahr. Da stand er, kaum einen Schritt dies­seits der Tür­öff­nung, den Kopf de­mü­tig ge­beugt, als be­fän­de er sich wirk­lich vor Tu­madschin Khan, dem Herrn der Heer­scha­ren, in sei­ner gan­zen Grö­ße: Don Es­te­ban de Fe­rei­ra, der Li­li­pu­ta­ner, gan­ze ein­hun­dert­un­dacht Zen­ti­me­ter hoch.

»Was führt Sie zu mir, Don Es­te­ban?« frag­te ich freund­lich. »Bit­te, tre­ten Sie nä­her!«

Er hob den Kopf und trat von der Sei­te her auf den Schreib­tisch zu. Ich kann­te sei­ne Ei­gen­art und er­hob mich eben­falls. Er rea­gier­te durch­aus un­ge­müt­lich, wenn ein nor­mal­ge­wach­se­ner Mensch ihn durch sei­ne Ver­hal­tens­wei­se auf sei­ne Klein­heit auf­merk­sam mach­te. Er wur­de ab­so­lut fuchs­teu­fels­wild, wenn sich je­mand auf den Bo­den knie­te, um be­que­mer mit ihm spre­chen zu kön­nen. Auch er­trug er es nicht, wenn er bei ei­ner Un­ter­hal­tung ste­hen muß­te, wäh­rend der an­de­re saß, an­de­rer­seits er­schi­en es ihm wür­de­los, sei­ner­seits auf einen für nor­ma­les mensch­li­ches Aus­maß her­ge­stell­ten Ses­sel hin­auf­zu­klet­tern. Die ein­zi­ge Art, sei­ner Wür­de ge­recht zu wer­den, war, daß man selbst eben­falls auf­stand. Der Grö­ßen­un­ter­schied von na­he­zu ei­nem Me­ter, der dann erst voll zur Gel­tung kam, schi­en Don Es­te­ban nichts aus­zu­ma­chen.

»Ich ha­be ge­hört, Sir, daß Sie auf Ih­rem ge­fähr­li­chen Un­ter­neh­men wahr­schein­lich mit an­de­ren Ster­nen­völ­kern zu­sam­men­tref­fen wer­den«, sag­te er mit sei­ner hel­len, kla­ren Stim­me.

»Da ha­ben Sie rich­tig ge­hört, Don Es­te­ban«, ver­si­cher­te ich.

»Nun, in die­sem Fal­le, Sir«, be­merk­te er klug, »ist es von Wich­tig­keit, daß Sie auf die­se Frem­den den­sel­ben Ein­druck ma­chen wie auf die Hyp­nos, als sie auf dem Mars er­schie­nen, nicht wahr?«

»Das kommt dar­auf an, Don Es­te­ban, ob die, de­nen wir be­geg­nen, eben­falls ei­ne über­le­ge­ne Tech­no­lo­gie be­sit­zen und ei­ne Ge­fahr für die Er­de dar­stel­len.«

»Die­se Mög­lich­keit kann man aber doch nicht aus­schlie­ßen, oder …?« blin­zel­te er mich an.

»Nein, lei­der nicht, Don Es­te­ban.«

Die Ant­wort schi­en ihn glück­lich zu ma­chen. Er hüpf­te tat­säch­lich in die Hö­he und kräh­te vor Ver­gnü­gen:

»Aus­ge­zeich­net, Sir, ganz aus­ge­zeich­net! Dann kön­nen Sie näm­lich auf uns nicht ver­zich­ten, auf uns, die Blau­en Zwer­ge von Ba­wa­la-fünf, die Spaß­ma­cher Ih­res Hof­staa­tes. Ich bin näm­lich ge­kom­men, um Sie zu bit­ten, daß Sie uns auf die Rei­se mit­neh­men!«

Es mag lä­cher­lich klin­gen – aber in die­sem Au­gen­blick war ich ge­rührt. Das An­ge­bot kam so über­ra­schend, daß ich erst ein­mal schlu­cken muß­te. Dann frag­te ich Don Es­te­ban ernst:

»Sind Sie sich dar­über im kla­ren, daß un­se­re Aus­sich­ten, die­ses Un­ter­neh­men le­bend zu über­ste­hen, be­kla­gens­wert ge­ring sind?«

»Auch das hat man mir ge­sagt, Sir«, ant­wor­te­te er laut und deut­lich, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten da­zu. »Aber wenn Sie be­reit sind, das Ri­si­ko auf sich zu neh­men, warum soll­ten wir dann wie Ha­sen­fü­ße zu­rück­ste­hen?«

Ich konn­te nicht an­ders … ich bück­te mich und reich­te ihm die Hand. Er er­griff sie schwei­gend, we­nigs­tens die letz­ten drei Fin­ger, denn mehr konn­te er mit sei­ner klei­nen Hand nicht fas­sen.

»Ich dan­ke Ih­nen, Don Es­te­ban«, sag­te ich und un­ter­drück­te mit Mü­he ein selt­sa­mes Wür­gen im Hals. »Ihr An­ge­bot ehrt mich und wird selbst­ver­ständ­lich an­ge­nom­men.«

Da wur­de auch er plötz­lich ernst. Er sah zu mir auf und ver­kün­de­te mit strah­len­den Au­gen:

»Ich bin es, der zu dan­ken hat, Sir. Sie ma­chen mich stolz!«

Dann ließ er mei­ne drei Fin­ger los, wand­te sich um und schritt wie­der hin­aus, stolz wie ein Spa­nier und wür­de­voll wie … ein Mensch.