***

 

 

 

Mit einem mulmigen Gefühl erwachte ich aus einer Aneinanderreihung von Albträumen. Es fühlte sich an, als hätte mein Gehirn alle Horrorszenarien dessen, was heute geschehen könnte, in meine Träume projiziert. Für diesen Tag war ihre Rückkehr geplant; falls alles gut gegangen war.

Obwohl Doc alles versucht hatte, um mich von der Gefahr abzulenken, der sich Gerrit und Sim aussetzten, kreisten meine Gedanken immerfort um die beiden.

Wir hatten in den letzten Tagen die ersten Tests mit meinem Gehör unternommen. Doc war begeistert von meinen Fähigkeiten. Unter strenger Überwachung meines körperlichen Zustands waren wir an meine Grenzen gegangen und hatten daran gearbeitet, sie zu erweitern. Ich stellte fest, dass ich sogar Freude daran fand. Docs Begeisterung war unglaublich ansteckend. Es bereitete mir inzwischen keinerlei Probleme mehr, meinen Gehörsinn bis zum Fluss hin auszuweiten, obwohl es mich am Anfang noch einige Anstrengung gekostet hatte. Die Kriegerin zum Vorschein zu bringen, war wesentlich kniffliger. Zwar zerrte sie beinahe täglich an der Leine in meinem Kopf, aber meine Angst davor, was geschehen würde, wenn ich sie losmachte, war noch immer zu groß. Sie begann nun, mir immer wiederkehrende Bilder zu schicken, und begleitete mich sogar in meinen Träumen. Ihre blutrünstigen Fantasien erschreckten mich, doch sie ließen sich nur mühsam zurückdrängen. Meist trafen mich die düsteren Visionen unvorbereitet. Gestern war sie mitten in mein Training mit Doc geplatzt. Plötzlich hatte sich der Anblick seines blutüberströmten Körpers vor mein Bewusstsein geschoben: Doc, zusammengesackt auf dem Boden; eine klaffende Wunde auf seiner Brust, aus der unaufhörlich Blut strömte. Und dazu die Gewissheit, dass ich für diese Verletzung verantwortlich war. Ich behielt diese bedrückenden Trugbilder für mich, doch Doc durchschaute mich jedes Mal. Seine Augen ruhten dann bekümmert auf mir und er bestand darauf, dass ich Ruhe suchte. Es fiel mir schwer, meine Sorgen so uneingeschränkt mit Doc zu teilen. Ich hatte das Gefühl, ihn mit meinen Problemen unnötig zu belasten.

Zwar wurde Ella langsam misstrauisch wegen der Häufigkeit, mit der ich Doc aufsuchte, aber bis jetzt gelang es mir noch, es auf die Wunden an meinen Armen zu schieben. Mir war klar, dass ich es nicht ewig vor ihr würde verheimlichen können. Es schmerzte mich, unsere junge Freundschaft mit Lügen auf die Probe zu stellen. Doch wahrscheinlich war es das Beste für uns beide.

»Kay?! Sie sind wieder da!« Ich fuhr zusammen, als ausgerechnet Ella in mein Zelt stürzte.

»Die Schleuse sollte sich doch erst heute Nachmittag schließen?« Sofort war ich auf den Beinen.

Ein Ausdruck von Schmerz huschte über Ellas Gesicht. »Jemand ist verletzt … Doc und Sim haben ein besonderes Zeichen vereinbart, für den Fall …« Sie geriet ins Stocken.

Ich hörte nicht mehr, was sie dann sagte, sondern jagte aus dem Zelt. Finstere Vorahnungen erfüllten mich. Ohne mich umzublicken, hastete ich zu der Leiter. Schon von Weitem sah ich den Menschenauflauf. Ich beschleunigte meinen Schritt und rannte nun. Furcht ließ meinen Brustkorb eng werden. Rücksichtslos schob ich mich zwischen den Schaulustigen hindurch. Mein Herz setzte einen Schlag aus und stolperte in unruhigem Takt weiter, als ich sie erblickte.

Sim stützte Gerrit, der mit schmerzverzerrter Miene neben ihm herhumpelte. Blut tränkte den braunen Leinenstoff seines rechten Beins. Er war beängstigend blass.

Doc war bereits vor Ort und inspizierte mit prüfendem Blick die Wunde, aus der unablässig Blut quoll. Kurz fühlte ich mich in eine meiner dunklen Visionen versetzt. Ich schüttelte den Kopf, um sicherzugehen, dass dies keines der Trugbilder war.

»Was ist passiert?«, rief ich, die Stimme schrill vor Panik. Doch sie ignorierten mich. Egal in wessen Gesicht ich blickte, ich sah nur den Schrecken und die Furcht, die sie durchlebt haben mussten.

»Wir bringen ihn ins Zelt. Er muss sofort versorgt werden. Seit wann hat er diese Verletzung?« Docs Stimme hatte einen befehlenden Ton angenommen. Seine Stirn lag in tiefen Falten.

»Was ist mit Gerrit geschehen?!«, versuchte ich es erneut. Keine Reaktion. Niemand ging auf mich ein. Weder Sim noch Doc schenkten mir Beachtung.

»Seit gestern Abend«, antwortete Sim. Sein Atem ging schwer und die Muskeln an seinen Armen spannten sich unter der Last von Gerrits erschlafftem Körper. Doc nickte und half Sim, Gerrit in eine aufrechtere Position zu bringen. Der stieß einen Schmerzenslaut aus, als die Bewegung an seiner Wunde zerrte. Erneut trat eine beängstigende Menge Blut aus dem klaffenden Riss in Gerrits Haut. Sie hievten ihn, so schnell es eben ging, in Richtung Medizinzelt. Ich eilte neben ihnen her. Tränen sammelten sich in meinen Augen, gegen die ich entschlossen anblinzelte. Am Zelt angekommen wollte ich ihnen hineinfolgen, aber Docs Tonfall sorgte dafür, dass ich erstarrte.

»Kay, du bleibst draußen!«, heischte er, sein Gesichtsausdruck duldete keinerlei Widerspruch. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, seinen Befehl einfach zu ignorieren und ihnen nachzugehen. Doch da schlug auch schon die Plane vor meiner Nase zu. Ich atmete tief durch. Mir wurde bewusst, dass ich für Gerrit keine Hilfe wäre, wenn ich Doc bei der Arbeit störte.

Doch ich wollte hören, was im Zelt vor sich ging. Problemlos weitete ich meinen Gehörsinn auf das Krankenzelt aus. Die Stimmen wurden lauter; leider auch Gerrits schmerzerfülltes Keuchen. Etwas zerriss und ich vermutete, dass es sich dabei um Gerrits Leinenhose handelte.

»Wie ist das passiert?«, fragte Doc ernst.

»Wir waren nicht allein im Biotop«, antwortete Sim.

»Was heißt das?« Ich vernahm deutlich, dass Doc eines der abgekochten Leinentücher in Wasser tauchte. Gerrit japste lautstark nach Luft. Viel zu deutlich erlebte ich, wie Doc die Wunde auswusch.

»Jordans Gardisten waren auch da«, entgegnete Sim mit zornerfüllter Stimme.

»Wegen euch?«

»Nein, garantiert nicht. Sie waren so zahlreich, dass ich drauf wetten könnte, sie haben sich für einen Angriff aufs Centro formiert.«

»Dann ist es nun so weit?«

Ich hörte keine Antwort und konnte nur mutmaßen, ob Sim genickt oder den Kopf geschüttelt hatte.

»Wie seid ihr entkommen?«

»Sie haben Gerrit angegriffen, als er gerade auf Nahrungsmittelsuche war. Wir hatten Glück – sie waren nur zu zweit, sodass wir sie überwältigen konnten. Allerdings hat Gerrit vorher eines ihrer Jagdmesser zu spüren bekommen.«

»Die Wunde ist tief und entzündet. Der Ausfluss deutet auf ein Gift hin. Das würde auch erklären, warum er immer noch so stark blutet.«

Wieder stöhnte Gerrit und Wasser plätscherte. Ich konnte mir nur ausmalen, wie schmerzhaft es sein musste, wenn Doc mit den rauen Leinentüchern den Schnitt auswusch.

»Ich hoffe, dass sich noch nicht viel Toxin in seinem Blutkreislauf ausgebreitet hat, sondern nur an den Wundrändern haftet. Ich werde die Verletzung gründlich auswaschen und vernähen. Danach können wir nur noch abwarten … Ist sonst jemand von euch verletzt?«

»Nein«, antwortete Sim. Er klang entmutigt. »Wir müssen sofort eine Versammlung einberufen. Was da oben passiert, gefällt mir gar nicht. Wir müssen etwas tun«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Deine Mitstreiter brauchen erst einmal Gelegenheit, sich zu erholen und etwas zu essen. Wie ich feststellen durfte, habt ihr es trotzdem geschafft, einige Beutel zu füllen. Lass uns für morgen früh eine Versammlung anberaumen und dann sehen wir weiter.«

Ich spürte Sims Ungeduld bis nach draußen. Auch in mir tobte die Kriegerin und verlangte Vergeltung.