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Mit jedem Schritt spürte sie, wie die Trägheit an ihren Muskeln zerrte. Immer wieder überfiel Lydia Schwindel, der sie zwang stehen zu bleiben. Ihr Atem ging keuchend. Sie stolperte über hervorstehende Wurzeln und Rankgewächse, streifte ein dorniges Gebüsch, das sich in ihrer Leinenhose verfing. Abermals lauschte sie … Nichts. Nur das leise Summen des Dschungels. Bereits seit einigen Minuten hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Zwischen dem Grün der Pflanzen lauerte etwas, wollte mit ihr spielen. Das beklemmende Bewusstsein, das sie das Ziel eines Jägers war, trieb sie voran, obwohl ihr Körper sich nach einer Pause sehnte. Sie taumelte weiter, setzte sich immer wieder neue Ziele in der Ferne:
Nur noch bis zu diesem Baum.
Nur noch bis zu dem Felsen.
Nur noch …
Schwer atmend hielt sie inne. Da war es wieder, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Hektisch blickte sie sich um. Sie sah nur Büsche, Bäume und ausladende Pflanzen, auf denen farbenfrohe Blüten thronten. Ein trügerischer Frieden, der das verbarg, was sie verfolgte. Irgendwo nicht weit entfernt raschelte das Geäst. War er das? Der Jäger? Oder ein anderer Dschungelbewohner? Lydia beschloss, nicht darauf zu warten, dass er sich zu erkennen gab. So schnell es ihre Beine zuließen, bewegte sie sich weiter. Weg von ihm. Doch war eine Flucht überhaupt möglich? Was, wenn er nur mit ihr spielte? Sie ihm nicht entkommen konnte? Lydia streifte die düsteren Gedanken ab. Sie war eine Kriegerin. Noch so eine Tatsache, die ihr trotz der fehlenden Erinnerung klar war. Nein, wenn sie nicht so schwach wäre, würde sie sich dem Feind stellen, der im Unterholz auf sie lauerte. Sie würde kämpfen und …
Schmerz. Alles vernichtender Schmerz, der hinter ihrer Stirn explodierte. Haltlos stürzte sie, landete auf den Knien, krümmte sich zusammen.
»Sie ist verflucht stark.«
Der Mann trug einen Kittel. Eine große Hakennase dominierte sein Gesicht. Darunter ruhte ein schmallippiges Lächeln. Hinterlist stand in seinen Augen. Lydia war auf einer Liege festgeschnallt.
»Ich brauche sie. Unbedingt. Es muss dieses Mal funktionieren.«
Er griff nach einer Spritze, und Lydia stemmte sich gegen die Sicherungen an ihren Armen und Beinen. Dieser Mensch war abgrundtief böse, dessen war sie sich sicher. Die Nadel drang in ihre Haut ein und Flüssigkeit gelangte unaufhaltsam in ihre Blutbahn. Er legte die Spritze beiseite, lächelte sein unheimliches Lächeln und trat von der Liege zurück.
Lydia befand sich in einem … Labor? Ja, so nannte man es. Das wusste sie irgendwo tief in ihrem Inneren. Aber etwas war falsch. Die Decke sah aus wie die einer Höhle; uneben, felsig. Leuchtstoffröhren waren daran befestigt und tauchten die sonst so sterile Umgebung in ein unheimliches Licht. Lydia hob den Kopf. Der Mann war an einen Computer getreten, tippte auf einer Tastatur herum.
»Sie sind im Blutkreislauf. Bis jetzt läuft alles wie geplant.«
Sprach er mit sich selbst? Was war in ihrem Blutkreislauf?
»Was machst du mit mir?!« Sie schrie es förmlich heraus.
Der Mann blickte sie aus kühlen Augen an. »Ich mache etwas Besseres aus dir.«
Trockenes, ergebnisloses Würgen ließ ihren Körper krampfen. In ihrem Magen war nichts, was er hergeben konnte.
Was war mit ihr geschehen? Dieses Labor … Panisch suchte sie ihre Arme nach Einstichstellen ab, doch sie fand nichts. Wie lange war die Erinnerung her? Zu lange, als dass sie noch Spuren auf ihrem Körper fand? Vielleicht waren das aber auch keine Erinnerungen, sondern ihr fieberndes Hirn spielte ihr einen Streich. Ja, sie war sich sicher, dass sie Fieber hatte; sie fror, obwohl ihr Körper schweißnass war. Bestimmt litt sie bereits an Halluzinationen. Wieder würgte Lydia trocken. Rieb sich durch das Gesicht und spürte abermals diesen unbändigen Durst.
Irgendwo in der Nähe brach ein Ast. Lydia fuhr herum, beinahe hätte sie ihn vergessen. Natürlich war er noch immer da. Sie suchte die nahe Umgebung ab; nichts. Warum schlug er nicht einfach zu? Lydia zwang ihren Körper weiterzugehen. Auf der Stelle zu bleiben, wäre der sichere Tod, und wenn sie sich einmal dazu verleiten ließe, sich niederzulassen, würde sie sicherlich nicht mehr aufstehen.
Etwas bewegte sich im Dickicht, ganz nah. Zu nah. Sie stolperte weiter, blickte immer wieder hinter sich. Doch da war nichts. Natürlich nicht. Der Jäger war ein Meister der Tarnung. Sie würde ihn erst dann sehen, wenn es bereits zu spät war. Und bis dahin sonnte er sich in der Angst seines Opfers. Ja, er würde sie so lange jagen, bis sie zusammenbrach, nur um sich dann genüsslich über seine geschwächte Beute herzumachen. Lydias lauter Atem übertönte alles. Das Bild in ihren Augenwinkeln verschwamm undurchsichtig zu einem Tunnelblick.
Weiter.
Schneller.
Sie stieß gegen einen Baum und riss sich an der rauen Rinde die Haut auf. Blut trat aus der Wunde, lief über ihre dunkle Haut. Hastig wischte sie sich die Hände an der Kleidung ab. Schwankte weiter. Ein Fauchen ließ sie zurückfahren. Weiß-braune Stacheln überzogen seinen Rücken und die Lefzen enthüllten eine Reihe scharfer Zähne. Das Tier reichte ihr gerade einmal bis zum Knie, aber es war massiv und präsentierte recht deutlich seine Waffen. Lydia trat einen verunsicherten Schritt zurück, was das Viech abermals fauchen ließ. Die Schnauze und das Gesicht waren von braunem, kurzen Fell überzogen und die schwarzen Augen traten ein wenig hervor. Die Stacheln richteten sich bedrohlich auf, sie waren in etwa so lang wie Lydias Unterarme. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Wäre sie bei voller Stärke, würde sie es mit diesem Gegner sicherlich aufnehmen, doch jetzt zog sie es vor, der Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wieder fauchte das Tier, machte einen kleinen Satz in ihre Richtung. Lydia stieß rücklings gegen einen Baum.
»Ruhig«, flüsterte sie und kam sich sofort albern vor. Wie sollten ihre Worte, dieses … Ding davon abhalten, auf sie loszugehen? Dann war es wieder da; dieses Rascheln des Geästs, das Brechen von Zweigen ganz in ihrer Nähe. Auch das fauchende Tier hob witternd den Kopf, schien einen Augenblick abgelenkt. Lydia nutzte den Moment und stürzte davon. Sie kam nur schleppend voran, aber jeder Schritt, der Abstand zwischen sie und das stachelige Viech brachte, war gut. Und dann hörte sie es: ein Fauchen. Es klang wütend, schmerzerfüllt. Eindeutige Kampflaute folgten. Es ging schnell, und das letzte Kreischen, das durch den Dschungel hallte, gehörte sicherlich nicht ihm. Der Jäger hatte Beute gemacht. Eine Vorspeise zu dem Opfer, das er bereits länger durch den Dschungel verfolgte. Ein Snack. Die Hauptmahlzeit war sie selbst.