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»Das war mehr als knapp«, sagte Gerrit streng. Ich war an der Innenwand der geräumigen Empfangshalle zusammengesunken und eine der kühlen Metallstreben des Kuppelgerüsts drückte sich gegen meinen schmerzenden Rücken. Wortlos betrachtete er mich; den Mund zu einer Linie verzogen, mit finsterem Ausdruck in den Augen. Von hier unten sah seine hochgewachsene Statur noch viel imposanter aus als ohnehin schon. Mit seinen zwanzig Jahren war er bereits weit gekommen in seiner beruflichen Laufbahn. Die dunkelblaue Uniform, die ihn als Grenzwächter auszeichnete, war mit feinen goldenen Nähten abgesteckt und die drei goldenen Sterne auf seiner linken Brust wiesen auf seinen Stand als führenden Angestellten hin. Seine dunklen Haare lockten sich unordentlich unter der blauen Schirmkappe.
Noch bevor ich protestieren konnte, presste er mir die Flasche mit Wasser-Synth an die Lippen. Unnachgiebig zwang er mich zu schlucken. Auf der Stelle klebte der bittere Geschmack des Wasser-Synth dickflüssig an meinem Gaumen. Ich kämpfte mit einem Würgereiz und schluckte schwerfällig. Niemals würde ich mich an dieses synthetische Zeug gewöhnen können, so viel stand fest. Doch dann erfüllte mich Erleichterung und verdrängte augenblicklich den Ekel.
Wasser-Synth war der Grund, warum wir alle noch nicht verdurstet waren. Es war eine Erfindung der Wissenschaftler aus Sektor 2. Diese Substanz sorgte durch ihre außergewöhnlich hohe Anzahl an Wassermolekülen dafür, dass bereits kleine Mengen davon den menschlichen Wasserbedarf deckten.
Ich sah Sorge in Gerrits Miene und bekam prompt ein schlechtes Gewissen. Nachdenklich verstaute er das Terminal wieder in der dafür vorgesehenen Tasche. Meine gespeicherten Daten waren inzwischen sicherlich so weit geschönt worden, dass mich keinerlei Konsequenzen erwarten würden. Ich wollte nicht, dass er dies tat, doch er ließ sich ohnehin nicht davon abbringen. Als er mich wieder anblickte, hob sich seine linke Augenbraue. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete geduldig auf meine Erklärung.
»Schau mich nicht so an«, krächzte ich. Seine zweite Augenbraue hob sich. »Es ging nicht anders, okay?« Ich versuchte seinem zweifelnden Blick standzuhalten, senkte jedoch schließlich die Augen.
»Ich werde Marcie nicht helfen können, wenn du es geschafft hast, dich umzubringen.« Wut und Enttäuschung schwangen in seiner Stimme mit. Er wandte sein Gesicht von mir ab. Trotzdem sah ich den Schmerz, der darin lag. Ich wusste genau, wie sehr wir Gerrit am Herzen lagen. Ginge es nach ihm, würde er noch viel mehr für uns tun als ohnehin schon. Doch weder mein Stolz noch seine Möglichkeiten ließen dies zu. Auch wenn es ihm egal zu sein schien; mir missfiel es, wie enorm er im Ansehen der Grenzwächter gesunken war, seitdem er sich mit mir und meiner Schwester abgab. Er spielte nervös an dem Verschluss seiner Grenzwächteruniform und sah durch die Filterfolie nach draußen. Die Wüste erstrahlte von drinnen aus betrachtet in einem zarten Hellblau.
»Ich weiß, Gerrit«, antwortete ich ihm. »Aber ich tue das alles nur für sie.«
Schweigend warf er mir sein Erste-Hilfe-Paket zu. Wie auf ein stummes Signal hin begann mein Gesicht abermals zu pochen. Ich begriff, dass ich mit den Brandwunden ein schreckliches Bild abgeben musste. Eilig suchte ich in der roten Tasche nach der Brandsalbe und verteilte sie auf den pochenden Stellen. Sofort verschaffte sie die gewünschte Linderung. Seufzend schloss ich die Augen und ließ den Kopf gegen die metallene Konstruktion hinter mir sinken.
»Ich habe gehört, dass es erneut Probleme mit der Sonnenfilteranlage im Gewächshaus gab?«, erkundigte sich Gerrit.
»Ja, deswegen bin ich ja so spät dran. Die restliche Bande hat sich still und heimlich verdrückt«, murmelte ich. Eine plötzliche Müdigkeit überkam mich und sorgte dafür, dass sich meine Glieder unerträglich schwer anfühlten.
»Du weißt doch, dass sich hier jeder selbst der Nächste ist.« Ich meinte Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. Als er weitersprach, wurde sein Tonfall sanfter: »Wir können es uns nicht erlauben, noch eine Ernte zu verlieren.«
Ich wusste genau, worauf er anspielte. Ich und Marcie könnten uns definitiv keine weitere Rationierung leisten. Doch leider wurden die Essensrationen von Sektor 4 von Tag zu Tag dürftiger. Am Anfang hatten wir es kaum bemerkt, dass die Mahlzeiten täglich kleiner wurden. Inzwischen entsprach die zugeteilte Menge nicht einmal mehr dem Tagesbedarf einer Person. Hinzu kam, dass wir uns eine Ration teilen mussten. Da Marcie keinen Beitrag zur Gesellschaft leistete, hatte sie nach Meinung des Centro auch kein Recht darauf, etwas von den hart erarbeiteten Mahlzeiten abzubekommen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal wirklich satt gefühlt hatte.
Gerrits Familie besaß genug Einfluss, um – egal wie schlecht die Ernten liefen – gut über die Runden zu kommen. Das System des Centro war nicht gerecht, aber es funktionierte. Die Alternativen waren wesentlich verhängnisvoller.
Ich wusste, dass ich es letztendlich Gerrit zu verdanken hatte, dass wir noch lebten. Wo er konnte, hatte er Nahrung durch die Kontrollen geschmuggelt und seinen Status ausgenutzt, um für uns Rationen beiseitezuschaffen. Ich war mir sicher, dass er das ein oder andere Mal auf unsere Kosten gehungert hatte. Uns beiden war klar, dass dies keine dauerhafte Lösung war. Sicher fiel es ihm von Mal zu Mal schwerer, zu verbergen, wohin das Essen verschwand. Mein Gewissen rebellierte dagegen, dass er weiterhin seinen Job für uns riskierte. Ich stand schon viel zu tief in seiner Schuld.
Seit unserer Schulzeit waren wir zwei miteinander befreundet. Vielmehr war Gerrit mein einziger Freund. Die übrigen Kinder hatten sich meist von mir ferngehalten, da ich als sogenanntes Findelkind bei der Führung besondere Aufmerksamkeit genossen hatte; nicht dass dieses Interesse zu meinem Vorteil gewesen wäre. Sie hatten mich strenger überwacht, als jedes Elternpaar es getan hätte. Das bedeutete: ständige Beaufsichtigung sowie rigorose Bestrafung bei Verstößen. Beim Gedanken daran strichen meine Fingerspitzen unwillkürlich über die Narben auf meinem linken Arm. Ich ertastete vorsichtig jede Unebenheit der schwulstigen Veränderung. Sie erstreckte sich über meinen gesamten Unterarm.
Gewalt war ein Verbrechen, welches streng geahndet wurde. Doch bei eben diesem Punkt wurde von der Führung mit zweierlei Maß gemessen: Während Gewalt unter der arbeitenden Bevölkerung schnell zum Ausschluss aus der Gesellschaft führte, war Gewalt, die von den oberen Sektoren ausgeübt wurde, durchaus an der Tagesordnung.
»Wenn die Filteranlagen noch eine Woche durchhalten, kann die erste große Ernte stattfinden. Dann haben wir den Hauptteil gerettet«, überlegte Gerrit laut. Er kannte sich besser als jeder andere Grenzwächter mit den Abläufen in den Anlagen aus. Ich war mir sicher, er würde irgendwann einmal ein optimales Führungsmitglied sein. »Wie sieht es mit den Systemen aus? Meinst du, sie überstehen es dieses Mal?«, fuhr er fort.
»Wir können es nur hoffen«, versuchte ich es mit gespielter Zuversicht.
Ich wusste genau, worauf er anspielte. Über den Verlust der Gewächshäuser 3 und 4 sprach immer noch das komplette Centro. Ein Sonnensturm hatte den Gebäuden übel zugesetzt und die gesamte Jahresernte zerstört; nicht zuletzt, weil es einen Defekt in den Sonnenklappen gegeben hatte. Eigentlich war das moderne Verschlusssystem dafür zuständig, dass unsere Ernte nicht von den Sonnenstrahlen beschädigt wurde. Leider alterte das computergestützte System durch die Sonneneinwirkung außerordentlich schnell. Im Fall der Häuser 3 und 4 hatte die Hitze dafür gesorgt, dass sich die metallenen Rahmen der Vorrichtung bis zum Bersten ausgedehnt und wieder zusammengezogen hatten. Tomaten, Gurken und Zwiebeln waren verbrannt und unbrauchbar geworden.
Die Frustration innerhalb des Teams war seitdem unerträglich. Die Folgen der Materialschwäche trafen jeden von uns: kaum Nahrung und strengste Überwachung. Erntehelfer gab es so viel wie Sand auf dem staubigen Boden außerhalb der Anlagen. Da störte es die Führung nicht, wenn der ein oder andere über die laufende Saison verhungerte oder seinen Verbrennungen erlag.
»Das ist gut. Eine Woche ist eine überschaubare Zeit«, grübelte er weiter.
Man konnte beinahe sehen, wie es in seinem Kopf zu arbeiten begann. Gerrit war anders als so viele der Menschen hier. Er wollte das System nicht boykottieren; nein, er hatte sich in den Kopf gesetzt, es besser zu machen. Ich bewunderte seinen Optimismus. Auch wenn er oft nicht sachlich genug war, tat ein Abstecher in seine Welt meinem sonst so nüchternen Blick auf die Dinge gut. Gerrit war ein Träumer. Ich hingegen war so häufig mit der kalten Realität konfrontiert worden, dass mir die Gabe, von einer glücklicheren Existenz zu träumen, längst abhandengekommen war.
Der Gedanke an Marcie zerrte mich zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Für den einen mehr, für den anderen weniger«, brummte ich beim Gedanken an die karge Essensration, die mich zu Hause erwartete. Wie zur Bestätigung begann prompt mein Magen lautstark zu knurren. Gerrits Augen weiteten sich und sein Blick ruhte einen Moment zu lange auf mir. Ich sah deutlich, dass seine Augen meinen Körper forschend überflogen. Zwar sah man mir dank meiner kurvigen Figur mit den ausladenden Hüften meinen Zustand nicht sofort an, doch auch er hatte die Diagnose »Untergewicht« sicherlich auf seinem Überwachungsterminal bemerkt.
Sorge spiegelte sich in seiner Miene. Beschämt verschränkte ich die Arme vor der Brust. Der darunterliegende Körper verbarg sich in der typischen Centro-Kleidung. Der Overall war rot eingefärbt, wurde durch einen vorne angebrachten Reißverschluss verschlossen und vom Gurt meiner Werkzeugtasche wie durch einen Gürtel zusammengehalten. Die Farbe zeichnete mich als Erntehelferin aus. Er war nicht besonders hübsch und diverse Nummern zu groß. Bei genauer Betrachtung traten meine Hüftknochen jedoch deutlich unter dem dünnen Stoff hervor. Trotzdem hatte ich von der harten Erntearbeit noch etwas Muskelmasse am Körper. Marcie hingegen bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ich war froh, dass Gerrit sie so nicht sehen konnte. Jedes Mal, wenn ich sie anblickte, erschrak ich.
Rasch wandte ich die Augen ab, damit Gerrit nicht den Schmerz darin sah. Als sich erneut Gerrits Wasserflasche in mein Blickfeld schob, schüttelte ich ablehnend den Kopf.
»Du solltest zu ihr gehen. Sie ist sicher verrückt vor Sorge.«
In vertrauter Geste legte er seinen Arm um meine Schulter und zog mich sanft, aber bestimmt mit sich. Ich folgte Gerrit durch die geräumige Eingangshalle, wo er stehen blieb, um sich zu verabschieden. Obwohl der übliche Arbeitstag längst beendet war, herrschte hier noch immer geschäftiges Treiben. Grenzwächter begegneten uns und grüßten Gerrit mit einem kurzen Antippen ihrer Kappe. Diverse Helfer zogen große Hubwagen durch die Halle zu den jeweiligen Bahnsteigen hin. Sie waren beladen mit großen Plastikbehältern, in denen sich die Versorgung der einzelnen Sektoren befand. In einer Ecke der Haupthalle war ein Wartungsteam gerade dabei, die Filterfolie zu prüfen, und rief sich lautstark einige Anweisungen zu.
Wir befanden uns unmittelbar vor dem Bahnhofszugang von Sektor 4. Räuspernd setzte ich dazu an, mich zu bedanken, verstummte jedoch, als ich Gerrits Blick sah. Ich war mir bewusst, dass er es nicht mehr hören konnte. Doch ich wollte einfach nicht akzeptieren, dass er es als selbstverständlich ansah, was er für uns tat. Schon wieder war der Schuldschein um drei Punkte länger geworden. Jeder andere Grenzwächter hätte mich sofort zur nächsten Krankenstation gebracht. Und über die Strafe, die mich für meine Verspätung ereilt hätte, mochte ich gar nicht nachdenken. Es barg Risiken für das hauseigene Klima, wenn der heiße Wüstenwind eingelassen wurde. So galt es, jegliches Betreten außerhalb der Ankunftszeiten zu vermeiden. Wer sich nicht daran hielt, wurde hart bestraft.
Hinzu kam, dass er mich mit seiner eigenen Ration Brandsalbe und Wasser-Synth versorgt hatte; ein weiterer Verstoß. Es gab genug andere, die dafür fraglos ihren rechten Arm gegeben hätten.
»Mach’s gut. Grüß die Kleine von mir«, sagte Gerrit lächelnd. »Und treib wenigstens auf dem Weg nach Hause keine Dummheiten. Sonst sorge ich persönlich dafür, dass du in den Arrest kommst.«
Gerrit schubste mich mit spielerisch strafender Geste in Richtung des Tunneleingangs.
Der Arrest – allein beim Gedanken daran jagten mir kalte Schauer über den Rücken.