***
Die Sonne blendete, Lydia musste mehrmals dagegen anblinzeln. Nur langsam erkannte sie ihre Umgebung und verstand, wo sie sich befand. Mit steifen Muskeln beugte sie sich über den Bachlauf und trank einige Schlucke, um das raue Gefühl in ihrem Hals zu vertreiben. Wie lange hatte sie geschlafen? Nur mühsam kam sie auf die Beine, streckte sich. Ihr Rücken schmerzte von der verkümmerten Haltung, in der sie gelegen hatte, und dem harten Boden. Ihr Blick wanderte über die Landschaft. Immer noch war alles ruhig. Sie blickte hinüber zu der Felswand. War sie gestern schon so nah gewesen? Lydia schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Trotz der unruhigen Nacht spürte sie, wie ihre Lebensgeister langsam wieder erwachten. Ihr Körper schien diese Zwangspause dringend gebraucht zu haben. Auch das Gefühl, beobachtet zu werden, stellte sich nicht ein. Vielleicht …? Lydia wagte zu hoffen, diesem Albtraum zu entkommen. Auf einmal schien ihr Plan, aus diesen Höhlen hinauszukommen, gar nicht mehr so abwegig wie gestern Abend noch. Sie würde fliehen, den Jäger zurücklassen und dann würde sie sich damit befassen, was die Erinnerungen zu bedeuten hatten. Lydia beschleunigte den Schritt. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Unwillkürlich verfiel sie in einen leichten Trab. Ja, sie würde …
»Lyyyydiaaaaa!«
Sie stieß ein Keuchen aus, geriet beinahe ins Stolpern. Ihr Name hallte durch den Dschungel, wurde von den Höhlenwänden zurückgeworfen und ergab ein bizarres Echo. Hektisch blickte sie sich um.
»Lyyyydiaaaaa!« Die Stimme war überall, als würde der Dschungel sie persönlich ansprechen. Lydia schüttelte den Kopf. Nein.
»Wer ist da?!«
»Lyyyydiaaaaa!«
Ein erstickter Laut entkam ihren Lippen. Was geschah bloß mit ihr? Der Dschungel blieb ruhig. Das alles konnte nicht sein. Sie fixierte die Felswand, es waren nur noch wenige Meter. Lydia rannte los.
»Lyyyydiaaaaa!«
Sie kannte diese Stimme. Irgendwo tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie ihr sogar ziemlich vertraut war. Ihr Ziel war nicht mehr weit entfernt …
Gleich da.
Die Vegetation wurde immer karger, Lydia kam jetzt problemlos voran. Noch zwanzig Meter … zehn Meter … fünf …
Sie bremste in letzter Sekunde, sodass sie kurz vor der Felswand stehen blieb. Keuchend fuhr sie herum, das kühle Gestein im Rücken blickte sie in Richtung Dschungel.
»Lydia.« Dieses Mal war die Stimme ganz nah. Und dann sah sie ihn. Das breite Kreuz, sein einnehmendes Lächeln und genau dieselbe Kleidung wie aus ihrer Erinnerung. Aber das konnte nicht sein. Umso näher er kam, desto klarer erkannte sie ihn. Doch etwas war seltsam. Es wirkte beinahe, als würde er schweben, keiner der Äste oder Sträucher schien ihn zu streifen. Lydia schluckte trocken, blickte sich gehetzt um.
»Bleib stehen!«, fuhr sie den jungen Mann an, der ihr so vertraut war. »Du bist tot! Du kannst nicht hier sein!«
»Ich will dir helfen.« Seine Stimme klang rein und ein unnatürliches Echo lag auf ihr. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf.
»Verschwinde!«, stieß sie hervor.
»Du darfst keine Angst haben.« Jo musterte sie liebevoll, genau wie er es in ihrer Erinnerung getan hatte. Obwohl es inzwischen wieder glühend heiß war, schien er nicht einmal zu schwitzen.
»Du bist gar nicht wirklich da!«
»Stimmt«, sagte Jo zu Lydias Überraschung. »Ich bin in deinem Kopf. Ich will dir helfen.«
Lydia stieß ein humorloses Lachen aus. Ja, jetzt war es so weit, jetzt war sie endgültig verrückt geworden.
Der Gesichtsausdruck von Jo wandelte sich, Mitleid sprach aus ihm. »Du hast so viel Leid hinter dir«, sagte er leise. Lydia spürte, wie ihr Kopfschmerz abermals aufwallte. »Ich will dir helfen, dich zu erinnern.« Das letzte Wort hallte als Echo durch den Dschungel. Lydia keuchte, als die Schmerzen das Maß des Erträglichen überstiegen. Ihre Knie begannen zu zittern.
»Wehr dich nicht«, murmelte er. »Du musst dich deiner Vergangenheit stellen. Ich liebe dich.«
Stöhnend sackte Lydia in sich zusammen.
Dieses Mal war etwas anders. Zahlreiche Bilder rauschten an Lydia vorbei. Bilder von dem Mädchen aus ihrer ersten Erinnerung. Von Kämpfen und Siegen in einer Arena. Die Felsenstadt. Klarheit erfüllte ihr Innerstes. Das Mädchen hieß Kay. Gefühle strömten auf sie ein, überwältigten sie. Dann Jordan, der sadistische Wissenschaftler aus der Felsenstadt. Die Bilder kamen ungeordnet und wirr, doch auf einmal wollte alles einen Sinn ergeben. Sie war gefangen genommen worden. Jordan hatte etwas mit ihr getan, und auch wenn sie nicht verstand, was, wusste sie, dass es etwas Grausames war. Auf einmal stoppte der Strom an Bildern und sie tauchte in eine Szene ein. War mittendrin im Geschehen.
»Ihr Gehirn ist nur noch Mus«, sagte Jordan und blickte zu Lydia herab. Sie lag am Boden, ihr Körper zuckte.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte sein Assistent.
»Dann schalten wir jetzt ab.«
Ein Tastendruck, und alles wurde dunkel. Ihr Körper hörte auf zu zucken, erstarrte. Sie spürte eine Hand, die an ihrem Hals entlangtastete. »Sie ist tot.«
»Entsorgt sie im Dschungel. Ich kann sie nicht mehr gebrauchen.«
Verschwommen nahm Lydia wahr, wie sich jemand über sie beugte. Dann wurde sie grob an den Armen gepackt, und als sie spürte, wie ihr Körper vom Boden abhob, versank sie in tiefem, undurchdringlichen Schwarz.
Lydia öffnete die Augen. Jo stand neben ihr, lächelte noch immer. Er hatte den Kopf leicht schief gelegt.
»Bin ich tot?«, wisperte Lydia.
»Nein.«
Sie keuchte. »Aber die haben gesagt …«
»Du bist eine Kämpferin, Lydia. Das warst du immer. Doch dein Geist ist beschädigt und braucht Zeit zu regenerieren.«
»Das bedeutet … ich bin verrückt?«
Jo lächelte, antwortete nicht.
»Und was soll ich jetzt machen …?«
»Weiterleben«, sagte Jo nur.
Lydia schnaubte. »Aber wie soll ich …?« Lydia blickte sich um.
»Geh in diese Richtung und vertraue auf deine Instinkte. Lass nicht zu, dass dein innerer Dämon gewinnt …« Die Jo-Erscheinung deutete nach links und Lydia folgte ihrem Fingerzeig.
»Innerer Dämon … aber?« Als sie wieder zurückblickte, war er verschwunden und Lydia stand allein auf der Freifläche, die sich an der Felswand entlangzog. Sie schüttelte den Kopf, massierte sich die schmerzenden Schläfen. Das alles war verrückt. Sie war verrückt.
Dennoch ging sie den Weg, den der eingebildete Jo ihr gedeutet hatte. Sie vertraute ihm, wie sie es damals schon getan hatte, selbst wenn er nur ihrem Kopf entsprang. Zum ersten Mal, seitdem sie im Dschungel erwacht war, schien das alles einen Sinn zu ergeben. Jordan hatte etwas mit ihrem Gehirn gemacht, etwas zerstört, das vorher einwandfrei funktioniert hatte. Aber sie lebte und musste weitermachen, bevor ihr Gehirn vollkommen den Geist aufgab.
Mein innerer Dämon, dachte sie. Was auch immer das bedeutet.
Sie lief und lief, zu ihrer Rechten der Fels, zu ihrer Linken der Dschungel. Mehrere Stunden vergingen, der Schein der Sonne wurde bereits schwächer, als sie schließlich auf eine Höhle stieß. Vollkommene Dunkelheit verbarg sich zwischen dem Fels. Lydia atmete tief durch. Verunsichert blickte sie in den finsteren Tunnel. Der Gedanke, blind durch die Dunkelheit zu laufen, bereitete ihr ein ungutes Gefühl. Sie widerstand dem Bedürfnis, umzukehren, und trat in den Gang. Ließ den lichtdurchfluteten Dschungel hinter sich und tastete sich an der Wand entlang auf die Finsternis zu. Schritt für Schritt. Sie wusste nicht, wohin der Weg führte, verließ sich blind auf ihren Instinkt, der ihr die Richtung wies. Da war etwas, da war jemand, den sie erreichen musste. Weiter. Fels und absolute Dunkelheit. Lydia taumelte gegen eine der Tunnelwände. Der raue Fels riss die Haut an ihren Händen auf. Abermals wallte der bereits viel zu vertraute Schmerz hinter ihrer Stirn auf.
»Nein, nicht jetzt …«, keuchte sie und stützte sich schwer atmend an einer der Felswände ab. Mit der anderen Hand massierte sie sich die Stirn. Dieses Mal war das Drängen aggressiver, beinahe bedrohlich. Ihr innerer Dämon. Ja, Lydia war sich sicher: Ein dunkles Geheimnis war der Grund dafür, dass sie kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Ein fremdartiges Knurren entwich ihren Lippen. Sie wehrte sich gegen die mächtige Erinnerung. Irgendetwas sagte ihr, dass das, was ans Licht kommen würde, nur schwer zu ertragen wäre. Es sie vernichten würde.
Irgendwo hinter ihr in den Gängen erklang ein wuterfüllter Schrei. Er hatte nichts Menschliches. Ein kalter Schauer fuhr Lydia über den Rücken, ließ sie erzittern. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Das war bloß Einbildung. Da war nichts. Der Jäger entsprang, genauso wie Jo, ihren kranken Hirnwindungen. Ja, sie war krank, eindeutig.
Wie um diesen Gedankengang zu widerlegen, erklang der markerschütternde Laut erneut. Er hallte durch die Tunnel und wurde unerbittlich von den Felswänden zurückgeworfen. Lydia war wie erstarrt. Unablässig richtete sie ihren Blick hinter sich. Obwohl sie bislang nur wenige Abzweigungen in das Gangsystem eingedrungen war, fraß der tiefschwarze Stein bereits den letzten Rest Helligkeit.
Geröll knirschte unter etwas Schwerem. Oder jemandem? Der Schall innerhalb der steinernen Flure spielte Lydias Ohren einen Streich. Entfernungen wurden relativ. War das Monster schon in ihrer Nähe oder trieb es sich noch immer im Bereich des Eingangs herum? Einem inneren Instinkt folgend nahm Lydia eine Kampfposition ein. Irgendwo vor ihr schabte etwas über Fels. Ein leises Knurren erklang. Viel zu nah, viel zu realistisch, um lediglich eine Halluzination zu sein. Lydia schluckte trocken. Noch immer dröhnte dieser Unheil verheißende Kopfschmerz durch ihren Schädel, drängte sie, sich in die Vision fallen zu lassen. Lydia keuchte leise, als sie sich dagegen wehrte.
Schaben.
Kratzen.
Schlurfen.
Lydia trat einen steifen Schritt rückwärts. Sollte sie laufen? Oder sich dem Feind stellen? Vermutlich wäre Flucht in absoluter Dunkelheit ohnehin sinnlos. Mit viel Glück machte die eingeschränkte Sicht dem Viech genauso zu schaffen wie ihr selbst. Ein Vorteil im Kampf? Lydia versuchte flach zu atmen. Eigentlich müsste er sie längst erreicht haben.
Wieder ein kratzender Laut. Nicht näher als vorhin. Oder vielleicht doch? Sie verharrte in der Kampfhaltung, federte leicht auf und ab. Irgendwie gab ihr diese Position Sicherheit. Sie war kampfbereit. Auf einmal erschien ihr der Gedanke, wegzulaufen, unerträglich. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das früher auch nicht getan hätte.
Lydias Beine zitterten. Angespannt lauschte sie in die Dunkelheit.
Wo bist du?
Es blieb ruhig.
Minutenlang verharrte sie in ihrer Haltung, lauschte. Doch da war nichts als Stille und absolute Finsternis.
Lydia fuhr heftig zusammen. Etwas Kaltes streifte ihr Bein. Vor Schreck stolperte sie seitwärts und prallte gegen rauen Fels. Lydia versuchte sich zu sammeln, die Panik zu unterdrücken, die sich in ihrem Inneren breitmachte. Unwillkürlich tastete sie nach der Stelle, an der sie die Berührung gespürt hatte. Ihre Fingerspitzen fühlten sich feucht an.
Im Tunnel war es still. Einzig ihr rauer Atem wurde von den Felswänden zurückgeworfen. Doch dann hörte sie es: leise, regelmäßige Atemzüge. Vielleicht eine Armlänge entfernt? Lydia nahm allen Mut zusammen.
»Wer ist da?« Ihre Stimme klang kühl, selbstbewusst.
Erst geschah nichts. Lydia begann kurzzeitig daran zu zweifeln, dass das, was da in der Dunkelheit lauerte, sie verstand, geschweige denn in der Lage war zu antworten. Sie stieß ein lautstarkes Schnauben aus. Wut paarte sich mit der Angst, die sie noch immer krampfhaft zu beherrschen versuchte.
»Du musst dich erinnern, Lydia.«
Es war nicht mehr als ein Wispern, kaum zu bestimmen, ob weiblich oder männlich. Doch welche Rolle spielte das?
»Erinnere dich an das Wasser, die Kälte und an die Wahrheit. Erinnere dich an das, was du getan hast.«
Lydias Nacken begann unangenehm zu kribbeln. Die Kopfschmerzen drängten hartnäckig gegen ihre Stirn. Lydia blinzelte mehrmals, als könnte das den Druck hinter ihren Augen mindern.
»Lass den Schmerz zu, er leitet dich.«
Stöhnend wehrte sie sich gegen die aufkeimende Vision. Jede Zelle ihres Körpers spürte, dass das, was sie erfahren würde, alles Bisherige verändern würde.
»Erinnere dich …«
Es fühlte sich an, als würde sie fallen. Ein Sturz in bodenlose Tiefe, ein Sog, der sie unerbittlich mit sich zerrte. Bilder rauschten an ihr vorbei. Gesichter, die sie kannte und die doch namenlos blieben. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass es dieses Mal anders sein würde. Dieses Mal wäre sie nicht bloß Zuschauer, sondern würde alles noch einmal durchleben müssen. Sich dem dunklen Dämon in ihrem Inneren stellen.
Als das Karussell aus Eindrücken schließlich stillstand, befand sie sich in einem kreisförmigen Raum, an dessen Boden Wasser stand. Es reichte ihr beinahe bis zu den Knien und war eiskalt. Sie hielt eine Taschenlampe in der Hand und lenkte den Strahl auf die umliegenden Wände. Sie waren eindeutig von Menschenhand geschaffen, gemauert aus großen steinernen Quadern. Statt einer Decke war das obere Ende offen, wie ein riesiger Brunnen. Der Raum war so hoch, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste. Das Licht einer weiteren Lichtquelle blendete sie, leuchtete von oben zu ihr herab.
»Mach schon! Starr nicht wie eine Idiotin durch die Gegend!« Auch wenn sie am Rande der Öffnung nur Schemen erkannte, war es eindeutig Jordans Stimme. Merkwürdig fremdgesteuert setzte sich ihr Körper in Bewegung. Sie watete durch den Raum, das Wasser spritzte bis auf Höhe ihrer Hüften.
»Da links findest du die Öffnung. Sie ist wahrscheinlich durch eine Platte verschlossen. Du musst an dem Metallrad drehen, um sie zu öffnen.« Die Stimme ihres Peinigers hallte schnarrend durch das Gewölbe. Suchend glitt der Schein ihrer Lampe über die feuchte Steinwand und verharrte an einer runden Metallscheibe.
»Worauf wartest du? Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!«
Betäubt trat Lydia an die Platte. Immer wenn sie probierte auf ihre Bewegungen Einfluss zu nehmen, setzte ein unangenehmer Schmerz hinter ihrer Stirn ein. Sie schob sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und umfasste mit beiden Händen den metallenen Ring. Keuchend versuchte sie das Rad linksherum zu drehen. Der knarrende Protest des altersschwachen Verschlusssystems hallte lautstark durch die Dunkelheit. Sie zog die Platte auf, Scharniere quietschten. Lydia nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete in das Innere. Ein schmaler, runder Tunnel offenbarte sich, der leicht nach oben hin anstieg. Er war gerade einmal breit genug, um auf den Knien mit eingezogenem Kopf hindurchzukrabbeln.
Sie wusste, was als Nächstes zu tun war, auch ohne dass Jordan direkt mit ihr sprach: »Kletter den Tunnel hinauf.« Ihr Gehirn hatte seine Befehle gespeichert und rief sie im genau richtigen Moment ab. Sie zögerte nicht, gab dem Drängen in ihrem Kopf nach und zog sich in die Öffnung. Sie handelte vollständig entgegen ihrer eigenen Instinkte. Alles in ihr schrie danach, es nicht zu tun, und dabei wusste sie nicht einmal genau, warum.
Der Boden der Röhre war leicht feucht und ein kühler Luftzug schlug ihr entgegen. Stück für Stück begann Lydia vorwärtszukriechen. Schon bald lief ihr der Schweiß über den Rücken und ihr Atem ging stoßweise. Als sie schon dachte, der Tunnel würde gar kein Ende mehr nehmen, erreichte sie schließlich eine zweite Metallplatte. Sie war genauso beschaffen wie die Erste, und so fand Lydia auch hier ein Rädchen zum Öffnen. Sie erlaubte es sich für einen kurzen Moment, die Taschenlampe aus dem Mund zu nehmen, um zu Atem zu kommen. In ihrer Magengegend hatte sich ein schmerzhafter Knoten gebildet.
»Über die Röhre kommst du in die Wartungskorridore für das Belüftungssystem. Hier gehst du rechts.«
Mit einem letzten tiefen Atemzug griff sie nach dem Rad und drückte gegen den Widerstand, bis schließlich die Platte nach außen hin aufsprang. Lydia richtete den Lichtstrahl auf das, was dahinter lag. Dort erblickte sie einen circa zwei Meter breiten Gang, der komplett mit Metall ausgekleidet war. Massive Rohre und zahlreiche Kabelkanäle verliefen an der gegenüberliegenden Wand entlang. Der Boden befand sich etwa einen halben Meter unter ihr. Lydia schob zuerst ihre Füße aus der Röhre und ließ sich dann vollends aus der Öffnung gleiten. Das einzige Licht spendete ihre Lampe. Mechanisch wandte sie sich nach rechts und ging los. Ihr Rücken schmerzte noch immer von der gedrungenen Haltung.
Wieder war da diese innere Stimme, die sie davor warnte weiterzugehen. Dieser Ort hier war übel, verdammt übel. Obwohl sie nicht wusste, wo sie sich befand, war sich Lydia dennoch sicher, dass hinter der Wand, an der sie entlangging, schlimme Dinge geschahen.
»Du wirst irgendwann auf eine massive Metalltür stoßen, über der das Schild ›Notausgang‹ befestigt ist. An der Tür befindet sich ein Tastenfeld, in das du einen Code eingeben musst. Präge dir die Zahlen ganz genau ein, hörst du?« 1 - 8 - 5 - 4 - 3. Zahlen tanzten vor Lydias Augen. Natürlich hatte Jordan ihr verschwiegen, wohin der Weg sie führte oder welchen Zweck diese Mission hatte. Sie sollte etwas holen, etwas Wichtiges. Lydia wusste nur, wie es aussah, er hatte ihr die kleinen Fläschchen gezeigt.
Ein stechender Schmerz zuckte durch ihre Stirn. In letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer, sich zu konzentrieren oder Zusammenhänge zu erkennen. Tatsächlich versperrte eine massive Metalltür den weiteren Weg. Angestrengt versuchte sie die Buchstaben auf den daneben angebrachten Schildern in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie das erste Schild entziffert: »Sektor 2 – Notausgang«
Notausgang; das entscheidende Signalwort hallte durch ihren Schädel. Sie war richtig und hätte dennoch nicht falscher sein können. Sie gehörte hier nicht her.
Unter dem zweiten Schild fand sie das bereits angekündigte Tastenfeld. Lydia machte sich nicht die Mühe, auch die übrigen Schilder zu entziffern. Das Lesen fiel ihr noch immer schwer. Ob Jordan gewusst hatte, dass sie inzwischen lesen konnte, oder war er einfach davon ausgegangen? Fremdgesteuert hob sich ihr rechter Arm und ihr Zeigefinger betätigte die erste Taste: eins. Ein mechanisches Surren erklang, und die Tastatur erwachte blinkend zum Leben. Lydia zögerte nicht, sondern gab hastig die restliche Zahlenfolge ein. Mit einem lauten Knacken sprang die Tür auf, Luft entwich zischend. Durch den Spalt drang Licht.
»Hinter der Tür liegt ein Korridor, auf dem du eventuell anderen Menschen begegnest. Es darf dich keiner sehen, verstanden?«
Lydias Hals fühlte sich trocken an. Sie trat näher an den Spalt, lauschte. Dehnte kurz ihre Muskeln. Wenn sie gezwungen war, ungewollte Zeugen auszuschalten, dann würde sie schnell handeln müssen.
»Hinter der Tür, auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, befindet sich eine weitere. Gehe hindurch und suche nach dem Lüftungsgitter. Es müsste sich leicht lösen lassen. Dahinter liegt ein Gang, über den du weiterkommst.«
Lautlos schob sie sich auf einen weißgefliesten Gang. Er führte rechts und links von ihr entlang und war lediglich durchbrochen von ebenfalls weißen Türen. Ohne weiter abzuwarten, überquerte sie mit wenigen Schritten den Korridor, griff nach der Türklinke und drückte sie herunter. Ein wenig unbeholfen stolperte sie in den Raum.
»Was zum Teufel …?!« Der Mann hinter dem Schreibtisch sprang auf. Er trug einen weißen Kittel, seine Haare waren bereits ergraut. Hastig ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Der Mann starrte sie noch immer aus weit aufgerissenen Augen an, schien zu erwarten, dass sie sich erklärte.
»Keine Zeugen«, hallte der Befehl durch ihren Kopf. Mit festem Schritt ging sie auf den Mann zu. Und dann ging alles ganz schnell. Im selben Moment, wie der Mann nach dem Telefon griff, packte Lydia seinen Arm, verdrehte ihn und benutzte ihn als Hebel. Er schrie erstaunt auf. Mit einer präzisen Bewegung trat sie ihm in die Kniekehlen, sodass er haltlos vornüber auf die Tischplatte knallte. Keuchend lag er mit dem Gesicht auf dem Schreibtisch, Blut verteilte sich und bildete einen auffälligen Kontrast zu dem Weiß des Möbelstücks.
»Wenn du schreist, bringe ich dich um«, knurrte Lydia.
Der Mann stieß einen unbestimmten Laut aus; eine Mischung aus ersticktem Grunzen und leisem Jammern.
»Ich suche einen Luftschacht«, fügte sie zischend hinzu. An den Wänden standen durchgehend raumhohe Aktenschränke. Als der Mann nicht antwortete, zerrte sie grob an seinem Arm. Er schrie erstickt auf.
»Wird’s bald?!« Lydia verstärkte den Druck, was dem Mann ein raues Keuchen entlockte.
»Da hinten!«, brachte er nur mühsam hervor und deutete in Richtung einer der nächstgelegenen Schränke. Das Blut, das noch immer aus seiner Nase strömte, war auf seinem Gesicht verschmiert. »Hinter den Akt..enschränken … Ab..er der ist stillgelegt.«
»Interessiert mich nicht«, fauchte Lydia und ließ seinen Arm los. Mit einer einzigen Bewegung umfasste sie seinen Kopf und riss ihn plötzlich herum, sodass sein Genick mit einem lautstarken Knacken nachgab. Wie eine Marionette, bei der man die Schnüre gekappt hatte, fiel er vornüber auf den Schreibtisch und rutschte haltlos daran herunter. Tot.
Hastig eilte sie zu dem Aktenschrank, auf den der Mann gedeutet hatte. Lydia schob ihre Finger vorsichtig in den Spalt zwischen den Schränken und zog probeweise an dem Möbelstück. Es rührte sich nicht. Lydia fluchte leise. Gereizt zerrte sie an einer der Schubladen. Sie war schwer, ließ sich aber öffnen. Akten drängten sich darin eng aneinander, man bekam kaum einen Finger zwischen die beigefarbenen Pappordner. Ein frustrierter Laut entfuhr ihren Lippen, als sie begann die Akten aus dem Schrank zu zerren. Achtlos landeten sie auf dem Boden, stoben auseinander und entleerten ihren Inhalt auf dem ungleichmäßigen Stapel, der sich bildete. Lydias Blick streifte die zahlreichen Zettel und Fotos, die der Schrank offenbarte, nur flüchtig. Gelegentlich blieb ihr Blick an einem weit aufgerissenen Paar Augen hängen, an Menschen, die auf Liegen festgeschnallt waren. Ihr Magen krampfte. Wer auch immer diese Wissenschaftler waren, sie hatten nichts Gutes im Sinn. Sie versuchte ihren Geist vor dem zu verschließen, was das Material, das aus den Ordnern quoll, in ihr auslöste. War das gerade ein kleiner Junge gewesen, der nackt in die Kamera gestarrt hatte? Sieh nicht hin. Weiter. Sie hatte ihren Auftrag, konnte jetzt nicht …
Es kostete sie kaum Kraftanstrengung, das leere Möbelstück zwischen den anderen hervorzuzerren und vornüberkippen zu lassen. Es landete krachend auf dem Stapel Akten und verbarg die furchtbaren Fotos unter sich. Staub hatte sich auf dem weißen, feinmaschigen Gitter gesammelt. Lydia atmete erleichtert aus. Eilig begann sie auch den zweiten Schrank leerzuräumen, mied dieses Mal den Blick auf die Akten und deren Inhalt. Deswegen war sie nicht hier. Der zweite Aktenschrank landete neben dem ersten, Staub wirbelte auf. Einen Augenblick verharrte sie und lauschte. Ob sie zu laut gewesen war? Sie schüttelte den Kopf, wie um sich selbst zu versichern, dass sie lediglich paranoid wurde. Das Gitter ließ sich tatsächlich leicht lösen, Lydia warf es zu dem restlichen Unrat. Die Öffnung war viereckig. Lydia griff nach ihrer Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl durch den Schacht wandern. Glänzendes Metall warf reflektierend die Helligkeit zurück. Lydia beugte sich leicht in den Tunnel hinein. Nach nur zwei Metern geradem Verlauf befand sich ein etwa 1,5 Meter hoher Absatz, hinter dem es weiterzugehen schien. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie den weiteren Verlauf nicht erkennen.
»Du folgst dem Schacht bis zu dem Labor. Von dort aus ist nur ein Labor zu erreichen.«
Lydia blickte resigniert in den engen Gang. Doch der Befehl ließ sie nicht lange zögern, sondern dröhnte immer und immer wieder durch ihren Kopf. Sie rutschte in das Innere und zog sich an dem Absatz nach oben. Die Taschenlampe hatte sie wieder zwischen ihre Zähne geklemmt. Frustriert stellte sie fest, dass der Schacht tatsächlich noch ein wenig schmaler war als die erste Röhre. Wenn sie sich nicht zusammenkauerte, stießen ihre Schulterblätter gegen die Metalldecke. Ihr Arbeitsmaterial, das sie bis dahin erfolgreich ignoriert hatte, drängte sich mit einem unangenehmen Knirschen in ihr Bewusstsein. Es war an ihrem Gürtel befestigt, an dem normalerweise auch ihre Taschenlampe hing. Als es abermals über das Metall schabte, war Lydia schließlich gezwungen, den Gürtel von ihren Hüften zu lösen und ihn sich um den Hals zu legen. Es kostete sie alle Anstrengung, die Tatsache zu ignorieren, dass nur ein kleiner Riegel die Handgranaten vor einer tödlichen Explosion bewahrte. Sie verabscheute Jordan dafür, dass er sie dazu zwang, sie zu benutzen. Lydia war eine Kriegerin, die es gewohnt war, mit den Händen zu kämpfen, ihren Körper als Waffe zu benutzen. Wenn sie auf diesem Weg jemanden verletzte, trug sie kein schlechtes Gewissen mit sich. So hatte sie es schließlich gelernt; Kämpfen bedeutete Überleben. Doch jegliche Art von Feuerwaffen war ihr zuwider. Wenn sie eine in der Hand hielt, fühlte sie sich, als würde sie bei einem Spiel betrügen, um sich in einem unfair erworbenen Sieg zu sonnen.
In dem Schacht war die Luft dick und stickig. Schon bald klebte Lydias Kampfmontur feucht an ihrem Körper. Ihr Atem ging keuchend. Nach einiger Zeit stiegen ihr seltsame Gerüche in die Nase; chemisch und befremdlich. Lydia versuchte, nicht zu tief durchzuatmen, doch es ließ sich kaum verhindern, dass die schärfer werdenden Dämpfe in ihre Lunge gelangten. Das Gewicht der Granaten zerrte an ihrer Nackenmuskulatur.
»Dring in das Labor ein, stehle die Proben und dann …« Lydia biss fest auf die Taschenlampe. »… sprengst du das Labor in die Luft. Keine Zeugen.« Der letzte Befehl war so stark, dass er sich in ihrem Inneren beinahe schon als sehnlicher Wunsch manifestierte.
Dann sah sie Licht. Sie kroch direkt auf das Lüftungsgitter zu. Lydia konnte von hier aus auf den Raum hinabblicken. Sie schätzte den Abstand zum Boden auf etwa zweieinhalb Meter; nicht leicht zu überbrücken, aber möglich. Lydia konnte von ihrem Standpunkt aus alles gut sehen. Die Wände, der Boden und auch die Decke waren weißgefliest und es roch nach Desinfektionsmittel. Überall Weiß, und im Kontrast dazu das glänzende Metall der spärlichen Einrichtung; einige Schränke, ein Waschbecken, und eine Arbeitsplatte, die an der gesamten gegenüberliegenden Wand entlangführte. Lydia musste ein lautstarkes Keuchen unterdrücken, als sie die beiden Kinder entdeckte. Festgeschnallt auf Stühlen aus Metall, die in eine halbaufrechte Position gebracht waren. Ein Junge, vielleicht acht oder neun Jahre alt, und ein etwas älteres Mädchen, Lydia schätzte sie auf vierzehn. Doch was sie bis ins Mark traf, war eine ganz andere Tatsache; die Haut des Jungen war ebenso dunkel wie ihre eigene. Sofort verspürte sie eine Art Verbundenheit. Der Junge starrte mit schreckensgeweiteten Augen durch das Labor, während das Mädchen weggetreten in den Gurten hing, die sie auf ihrem Stuhl fixierten.
»Bitte«, wimmerte der Junge weinerlich. »Tut mir nicht wieder weh.«
Ein kalter Schauer jagte über Lydias Rücken. Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf das Gitter. Sie wusste, wie wenig Dunkelhäutige in der Umgebung des Centro lebten. Sie erinnerte sich sogar daran, dass Jo einmal zu ihr gesagt hatte, sie alle seien miteinander verwandt. Der kleine Junge könnte genauso gut ihr Neffe oder einer ihrer Brüder sein. Allein der Gedanke ließ ihr Herz unregelmäßig gegen ihre Rippenbögen rumpeln.
»Halt die Klappe!«, fauchte die Laborantin, die danebenstand und etwas auf einem Klemmbrett notierte. »Und warum genau können wir sie dieses Mal nicht sedieren?« Die Frau klang genervt und strich sich einige blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrer wirren Frisur gelöst hatten. Ein dunkelhaariger Mann trat in Lydias Blickfeld. Er trug ebenfalls einen Kittel, Lydia konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er ihr den Rücken zuwandte.
»Weil Dr. Slotan brauchbare Ergebnisse haben möchte.« Er klang ernst und sachlich.
Die Frau stieß schnaubend Luft aus, als der Junge zu weinen anfing. Lydias Herz krampfte. »Brauchbar, ja? Wenn du mich fragst, dreht sie langsam durch!«
»Justine«, stieß der Mann tadelnd aus.
»Was?!«
»Reiß dich zusammen!«
»Ach, papperlapapp!«
Das Weinen des Jungen steigerte sich zu stakkatoartigen Schluchzern.
»Sag mir, wie ich so arbeiten soll?!« Justine deutete anklagend auf den Jungen. Lydia ballte die Hände zu Fäusten.
»Einfach so wie immer!« Wie um Justine dies zu beweisen, griff der Mann nach einer Spritze, die auf einem Tablett lag, und trat neben das weinende Kind.
»Neiiiinn …«, brachte der Junge unter Tränen hervor. Wut kochte in Lydia hoch. Davon hatte Jordan nichts gesagt. Ohne jedes Feingefühl rammte der Mann die Spritze in den Arm des Kindes. Der Aufschrei des Jungen sorgte dafür, dass ein wuterfülltes Zittern durch ihren Körper ging.
Alles in ihr schrie danach, einfach das Gitter wegzutreten, doch die Befehle von Jordan hatten sie noch immer fest im Griff. Für ihren Auftrag musste sie den rechten Augenblick abwarten. Einer von ihnen musste den gläsernen Kühlschrank öffnen, hinter dem sich das befand, was Lydia holen sollte. Der Schrank war mit einem Tastenfeld versehen, ohne Code würde sie ihn nicht öffnen können.
»Siehst du?«, sagte der Mann und fixierte einen Bildschirm, der neben dem Behandlungsstuhl stand. Justine stieß ein bitteres Lachen aus. Der Junge war verstummt. Lautlose Tränen liefen über seine Wangen, während sein Körper heftig zitterte.
»Seine Aufregung verfälscht unsere Ergebnisse, Carl«, motzte die Frau, die jetzt ebenfalls an den Monitor getreten war. »Kümmer dich lieber darum, die Eizellen bei dem Mädchen einzusetzen, ich mache das hier schon.«
»Das sind nun mal realistische Bedingungen«, sagte er und ging zu dem Mädchen. »Sie ist immer noch nicht bei Bewusstsein. Vielleicht haben die letzten Tage im Labor ihr den Rest gegeben.« Nun blickte auch Justine zu dem erschlafften Körper herüber.
»Ihre Vitalwerte waren von Beginn an schlecht«, murmelte sie und zuckte mit den Schultern. »Wieso kriegen wir eigentlich immer den menschlichen Abfall, während die Kollegen Stone und Brake perfektes Material bekommen?«
Carl zuckte mit den Schultern und stemmte die Hände in die Hüften. Skeptisch betrachtete er das regungslose Mädchen.
»Wir müssen wohl oder übel das Beste draus machen!« Resigniert griff er nach einem Paar Handschuhe und streifte sie sich über. Er griff nach einer Akte, die hinter dem Mädchen auf der Arbeitsplatte lag, blätterte darin und stieß ein freudloses Lachen aus.
»Was?«
»Ich soll die Eizellen implantieren und ihr das Serum verabreichen.«
Die beiden tauschten einen Blick.
»Das wird sie hinrichten.«
»Wir werden sehen«, entgegnete der Mann mit der ernsten Stimme kühl. »Zumindest bleibt er uns noch erhalten.« Der Mann nickte in Richtung des Jungen. Genau in diesem Augenblick begann der Junge am ganzen Körper zu zucken.
»Was ist denn jetzt los?«, stieß die Frau hervor. Das Kind schnappte keuchend nach Luft.
»Das war das neue Serum, oder?«, fragte Carl.
»Ja.«
»Mist.«
»Hast du das Aufnahmegerät?«, fragte Justine.
»Ja.« Carl beförderte einen kleinen schwarzen Gegenstand aus seinem Laborkittel.
»Schalt es ein und lass uns retten, was zu retten ist.« Die Wissenschaftlerin trat neben das sich windende Kind, das gerade die Augen so weit verdrehte, dass nur noch das Weiße zu sehen war. »Versuchstag 6 durch Dr. Justine Glows und Dr. Carl McBanks. Das männliche Versuchsobjekt mit dunkler Pigmentierung zeigt starke Krämpfe der gesamten Körpermuskulatur.«
Sie schlug dem Jungen mehrmals hintereinander mit der flachen Hand ins Gesicht. »Hey du!« Doch der Junge krampfte weiter. Kleine Schaumbläschen quollen aus seinem Mund. »Das Versuchsobjekt ist nicht ansprechbar, Puls bedenklich.« Ihr ruhiger, beinahe gelangweilter Tonfall bildete einen krassen Kontrast zu dem Zustand, in dem sich der Junge befand. Fast als wäre das hektische Blinken der Monitore und der zuckende Kinderkörper Alltag für die beiden. Lydia spürte, wie Übelkeit ihre Kehle hinaufkroch und sich als saurer Geschmack auf ihren Gaumen legte.
»Gib ihm das Gegenmittel, es ist im Küh...« Die Frau verstummte abrupt und starrte auf den Bildschirm. Der Körper des Jungen erschlaffte, rutschte haltlos in die Gurte.
»Scheiße«, fluchte der Mann und eilte zu einem der Schränke, riss ihn auf und begann hektisch nach etwas zu suchen. Lydia konnte nur den Jungen anstarren, dessen große Augen nun leer an die Decke starrten. Er könnte dein Bruder sein, ging ihr immer wieder durch den Kopf.
»Ist doch egal, er hat es hinter sich«, sagte die Frau emotionslos.
Der Mann schnaubte und stürmte mit einem merkwürdigen, etwa handtellergroßen Gerät zur Liege des Jungen. Er drückte zwei Kabel in das Gerät. Hastig zerrte er an dem Krankenhauskittel, sodass die kleine Brust des Kindes frei lag, und drückte die beiden Elektroden, die an den Kabeln befestigt waren, auf den Brustkorb.
»Nein, das ist nicht egal. Weißt du, wie lange es dauert, bis wir neue Versuchsobjekte bekommen? Und dann noch einen Dunkelpigmentierten? Wenn wir den verlieren, ist da oben die Hölle los!«
Justine keuchte und trat eilig neben ihren Kollegen, der gerade hastig auf dem kleinen Gerät herumtippte.
»Okay, Versuch eins der Wiederbelebung«, sagte Carl und kurz darauf zuckte der Jungenkörper zusammen. »Vitalwerte?«
»Nichts.«
»Dann noch mal.«
Wieder zuckte der Kinderkörper.
»Jetzt?«
»Nichts.«
Der Mann stieß einen knurrenden Laut aus.
»Noch mal. Komm schon!«
Der Kopf des Kindes schlug hart zurück auf die Liege.
»Carl?«
»Nein. Wir probieren es noch einmal.«
»Carl, das ist …«
»Achtung.«
Wieder erklang das metallene Rumpsen, als der Körper zurück auf die Liege knallte. Was auch immer sie da taten, es sorgte dafür, dass er ein bis zwei Zentimeter abhob und von den Sicherungen zurückgerissen wurde.
»Carl, er ist – Moment.«
Eine Linie zuckte über den Bildschirm. Erst ungleichmäßig und langsam, doch dann schien sich der Herzschlag des Jungen zu stabilisieren. Die Augen des Kindes blieben geschlossen, doch die beiden Wissenschaftler schienen sich zu entspannen.
»Gott sei dank. Los, geh an den Kühlschrank und hol mir einen Infusionsbeutel. Ich will nicht noch mal riskieren, dass sein Kreislauf schlappmacht.«
Die Frau seufzte und trat an den Kühlschrank. Lydias Muskeln spannten sich. Die Erinnerung an den Befehl wurde stärker, drängte gegen ihre Schädeldecke. Justine gab den Code ein und die Kühlschranktür öffnete sich. Jetzt. Mit einer geschickten Bewegung stieß sie das Gitter aus seiner Verankerung und sprang in die Tiefe.
»Keiner bewegt sich!«, rief sie und hielt den Gürtel mit den Granaten in die Höhe. Justine stieß einen spitzen Schrei aus. »Ich sprenge euch in die Luft, wenn ihr auch nur laut Luft holt!«
Die Weißkittel starrten sie an. Keiner sagte etwas. Justine hatte in ergebener Haltung die Hände gehoben, während der Mann Lydia finster anstarrte.
»Legt euch flach hin! Mit dem Gesicht nach unten!«, donnerte Lydia. Nur zögerlich kamen die beiden in Bewegung. »Wird’s bald?!« Sie schüttelte bedrohlich den Gürtel und die Bewegungen wurden hastiger. Schließlich lagen beide am Boden. Mit schnellen Blicken sondierte Lydia den Raum. Mehrere Tischreigen, zahlreiche medizinische Geräte und in der hintersten Ecke ein Kühlschrank mit gläserner Tür. Sie stand noch immer offen. Lydia atmete erleichtert aus. Darin befanden sich die Reagenzgläser, die sie beschaffen sollte.
»Liegen bleiben!«, schrie sie noch einmal und lief zu dem Schrank. Kalte Luft entwich dampfend, als sie ihn vollständig öffnete. Eilig löste sie den Beutel an ihrem Gürtel und begann sechs der Fläschchen darin zu versenken. Mehr sollte sie nicht mitbringen, durfte sie nicht, da die wertvolle Fracht sonst beschädigt werden könnte. Hastig löste sie die drei Handgranaten und befestigte den Beutel mit den Fläschchen an ihrem Gürtel. Finster starrte sie auf ihre Waffen und dann zu den beiden grausamen Wissenschaftern, die noch immer neben den Liegen ihrer beiden Opfer am Boden lagen. Der dunkelhäutige Junge weckte Gefühle in ihrem Inneren, die lange und tief geschlummert hatten. Familie. Tränen traten ihr in die Augen. Der Junge hatte noch immer die Lider geschlossen, sein Kopf war zur Seite gesackt. Dabei sah er aus, als würde er friedlich schlummern.
»Keine Zeugen! Du musst alle im Labor beseitigen!«
Lydia keuchte. Der Befehl hämmerte unerbittlich gegen ihre Schädeldecke und nahm ihr die Wahl. Der Junge – musste – sterben. Genau wie alle anderen. Ihr Herz pochte fest gegen ihren Brustkorb. Plötzlich hatte sie nicht bloß das Gefühl, gegen ihren Willen, sondern auch gegen ihre Instinkte zu handeln. Dabei wäre es so einfach, den Jungen zu retten. Sie müsste ihn nur in den Flur tragen. Doch so sehr ihr Geist auch versuchte, ihre Füße in Richtung des Jungen zu setzen, es geschah nichts. Keinen Zentimeter bewegte sie sich.
Ein heftiger Schmerz zwischen ihren Schläfen ließ sie auf die Knie sinken. Nein, es ging nicht anders. Sie musste diesen Jungen töten. Eilig fuhr sie herum, die Qual ließ sofort nach. Sie kletterte, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf einen Schreibtisch, der unterhalb des Schachts stand, und zog sich in die Öffnung. Durch das Loch in der Wand blickte sie hinunter auf ihre Opfer. Der Befehl erlaubte ihr keinen anderen Gedanken und ließ ihr keinen Ausweg. In dem Moment, wo sie den Sicherungsstift löste und er fiel, öffnete der Junge die Lider.