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Von der Haupthalle aus führten die Untergrundbahnen in die separaten Bezirke unter der Erde. Ich hob noch ein letztes Mal die Hand zum Gruß, schenkte Gerrit ein schiefes Lächeln und eilte zur Bahn, die mich zu Sektor 4 bringen sollte.
Die Sektoren 3 und 4 bestanden aus zahlreichen Wohneinheiten und drei großen Baderäumen. Die chemische Flüssigkeit, die hier aus den Duschköpfen strömte, roch nach Chlor, und die Zeiten, in denen man sie nutzen durfte, waren auf wenige Minuten begrenzt. Wann immer es ging, vermied ich es, die Baderäume zu betreten, da sie durch die strenge Bewachung der Grenzwächter keine Privatsphäre und letztendlich auch nicht das gewünschte Gefühl der Sauberkeit brachten.
Was die Sektoren 1 und 2 enthielten, wusste ich nur vage aus den Unterrichtseinheiten. Als Mitglied von Sektor 4 war es mir untersagt, diese zu betreten.
Unterrichtet wurden wir in Sektor 3, wo insgesamt fünf Hallen für die verschiedenen Aufgabengebiete innerhalb des Centro zur Verfügung standen. Wir wurden mit dem neunten Lebensjahr eingeschult und mit dreizehn Jahren bereits wieder aus der Schulpflicht entlassen. Innerhalb eines Jahres lernten wir, so gut es eben ging, Lesen und Schreiben, wobei die meisten Kinder es am Ende eher schlecht als recht beherrschten.
Anschließend begann die Berufsausbildung in den dafür vorgesehenen Hallen. Jeder Bereich hatte seine eigene Ausbildungsleitung und die Kinder des Centro mussten jeden Abschnitt mehrmals durchlaufen. Wir lernten alles über die Aufzucht genmanipulierter Pflanzenkeime, Erste Hilfe, Wasser-Synth, die Funktion der Filterfolie, die Steuerung der Sektorenbahnen, Reparaturen an und innerhalb der Versorgungssysteme sowie über das Nahrungsmittel-Rationierungssystem.
Welchen Beruf wir ausüben sollten, wurde erst im Anschluss an diese Ausbildung anhand eines Testes entschieden, der einen theoretischen und einen praktischen Teil enthielt. Ein speziell geschultes Auswahlteam wertete die Ergebnisse aus und wies jedem einen Arbeitsbereich zu. Dieser Tag war für die meisten Familien etwas ganz Besonderes. Viele Eltern hofften, dass ihre Sprösslinge dieselbe Tätigkeit wie sie ausüben würden. Es kam nicht selten vor, dass Eltern mit ihrem Nachwuchs zusammenarbeiteten.
Als Waise hatte ich diesen wichtigen Schritt in meinem Leben allein bestreiten müssen. Dabei hätte ich Trost gebraucht, als die streng dreinblickende Frau mir mitteilte, dass ich ab jetzt als Erntehelferin arbeiten würde. Gewünscht hätte ich mir eher Küchenassistentin oder Helferin in der Steuerungszentrale der Centro-Station. Die Entscheidung, mich als Erntehelferin einzusetzen, verstand ich nicht. Erstens wurden Mädchen fast nie für diesen Beruf ausgewählt und zweitens war ich weder besonders kräftig noch groß, was viele Erntehelfer auszeichnete.
Marcie hatte man nach ihrem Test als Wartungshelferin für Innenkonstruktionen eingeteilt. Eigentlich war ich sehr erleichtert, als sie mir ihr Ergebnis verkündete. Es war zumindest kein Beruf, welcher besonders große Risiken barg, mit der Sonne in Kontakt zu kommen. Und das genügte mir für den Anfang, auch wenn Marcie die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. Sie wünschte sich damals auf der Krankenstation eingesetzt zu werden. Hätte ich gewusst, dass einer der Versorgungsgänge einstürzen würde, wäre ich mit dieser Option auch glücklicher gewesen.
Ich trat an die Schranke und führte den Arm mit dem eingesetzten Mikrochip über die Verschlussvorrichtung. Ein schrilles Signal ertönte und grüne Buchstaben zuckten über den kleinen Bildschirm.
»Autorisiert. Kay Moreno. Bitte warten.«
Ich positionierte mich unmittelbar vor dem Eingang.»Sektor 4« prangte über dem Tunnel, aus dem jetzt das vertraute Rauschen der sich nähernden Sektorenbahn klang. Ich seufzte. Plötzlich hatte ich es nicht mehr eilig, nach Hause zu kommen. Mit einem Knarren öffnete sich der Tunneleingang und gab die Sicht frei auf eine sechsgliedrige Schnellbahn. Sie reichte mir im Stehen etwa bis zur Brust. Ich wich ein Stück zurück, als die gläserne Abdeckung hochklappte. Der ungemütliche Innenraum bot Platz für zwei Personen je Bahnabteil. Ich rutschte auf den hellblauen Schalensitz und streckte die Beine aus. »Willkommen, Kay Moreno« erschien auf dem kleinen Bildschirm neben mir und Musik setzte ein. Ich versuchte den Schmutz und die undefinierbaren Gerüche zu ignorieren, während der Hartkunststoff des Sitzes sich schmerzhaft in mein Steißbein drückte. Zischend rauschte der Zug aus dem Bahnhof. Dunkelheit umgab mich, während die Bahn mit über achtzig Kilometern pro Stunde durch den Berg raste. Die Schienen quietschten schrill unter der Last. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf den gegenüberliegenden Sitzplatz des engen Gefährts. Meine Fingernägel gruben sich in den behelfsmäßigen Gurt. Wie immer verabscheute ich die Fahrt. Ich schloss die Augen, sodass sich nur noch das Arbeiten des metallenen Radsatzes in mein Bewusstsein grub. Abermals erklang das durchdringende Kreischen der Bremsen.
»Willkommen in Sektor 4, Kay Moreno. Bitte lösen Sie jetzt den Sicherheitsgurt und begeben sich auf schnellstem Weg zu Ihrem Quartier. Eine angenehme Nachtruhe.«
Ich stieß ein freudloses Lachen aus, als die Botschaft auf dem Bildschirm aufleuchtete. Mit bebenden Fingern löste ich den Gurt. Meine Angst kam nicht von ungefähr. Das Centro war nicht gerade bekannt für die regelmäßigen Wartungen seiner Verkehrsmittel. Nicht selten kam es zu Störungen und stundenlang andauernden Ausfällen; eine Ausrede, die ich mir heute für Marcie bereithielt.
Der Bahnhof lag ausgestorben da. Ich warf einen Blick auf meine Uhr: 10:30 Uhr. Bereits um 8:00 Uhr wurden die letzten Schichten beendet. Der heißeste Zeitpunkt war gegen Mittag, wo nach aktuellen Messungen 71 bis 80 Grad Celsius erreicht wurden. Am kühlsten war es gegen Mitternacht, wo Temperaturen um die 38 Grad das Arbeiten möglich machten.
Schnell schritt ich durch die schwach beleuchteten Gänge, welche die Überlebenden bei der Umsiedlung in den Stein gehauen hatten. Die kühle Feuchte, die hier unten herrschte, war wie Balsam auf meiner gereizten Haut. Der schwarze Fels zu beiden Seiten teilte sich nach etwa fünf Minuten Gehweg. Der Gang von Sektor 4 führte nach links, während der von Sektor 5 nach rechts vom Hauptgang wegführte. Ich wandte mich nach links, nicht ohne einen letzten Blick in den dunklen Abschnitt zu meiner Rechten zu werfen. Gelbe Schilder, auf denen mit dicken Buchstaben »Betreten verboten« und »Einsturzgefahr« prangte, verdeckten den Eingang.
Es war unser ehemaliger Frischwassersektor. Die Frischwasserversorgungsanlagen waren wie so vieles der mangelnden Wartung zum Opfer gefallen. Als die Defekte zu viel Aufwand erforderten, um sie zu reparieren, hatte man diesen Trakt lahmgelegt und zum Sperrgebiet erklärt; ohne jedoch die Auswirkungen zu bedenken. Die Menschen aus Sektor 5 hatten mit den Apparaturen ihre Bestimmung verloren, was Frustration und Wut zur Folge hatte. Doch die Centro-Führung unternahm trotz der Proteste keinen weiteren Versuch, den Schaden zu beseitigen. Sie schob Rationalisierungsmaßnahmen und Materialmangel vor, was die Arbeiter zweifellos nicht zufriedenstellte. Infolgedessen fühlten sie sich nutzlos und Trägheit griff wie eine Krankheit um sich. Nur wenige schafften es, in einem anderen Berufsfeld Fuß zu fassen. Schon bald wurde Sektor 5 zu einem unübersichtlichen Nest für Kriminalität und Hehlerei. Aufgrund der Größe und der Vielzahl der Menschen, die hier noch lebten, sah sich die Führung gezwungen zu handeln. Sie arbeitete fieberhaft an einer Lösung, um der Situation in Sektor 5 wieder Herr zu werden. Schließlich rang sie sich dazu durch, den ohnehin überflüssigen Sektor zu entsorgen. Einige Angehörige berichteten nachher von der Heftigkeit, mit der das Centro während der Umsiedlung vorgegangen sei. Ob diese Aussagen der Wirklichkeit entsprachen, wurde allerdings nie bestätigt. Bei dieser Operation wurden die Wohneinheiten in Sektor 4 von geräumigen 4-Zimmer-Parzellen in Einraumwohnungen umgewandelt und Familien mit bis zu sechs Personen in die engen Quartiere gepfercht. Dass dies zu ausgiebigem Protest führte, wunderte niemanden. So kam es, dass Marcie und ich, wie viele andere, unser Dasein in einer 10-Quadratmeter-Behausung mit spärlicher Einrichtung fristeten. Doch selbst dabei beließ es die Centro-Führung nicht. Zusätzlich stellte sie zur Vorbeugung neuer Kriminalität Regeln auf, die seither unseren Alltag beherrschten.
Ich atmete durch, bevor sich die Tür zu Wohneinheit 435 zischend öffnete. Marcies dünne Arme legten sich fest um mich, als ich den Raum betrat.
»Wo bist du denn so lang gewesen? Ich hab mir verdammte Sorgen gemacht.« Ihre Stimme erzitterte; ich war mir nicht sicher, ob vor Angst oder Wut. Sie schob mich von sich und fixierte mich eingehend. Ihre türkisgrünen Augen funkelten mich aufgebracht an. »Wie konntest du überhaupt arbeiten heute, nach allem, was gestern …« Beunruhigung und Wut spiegelten sich in ihrem Gesichtsausdruck. Ich löste mich von ihr, um dem bohrenden Blick zu entgehen.
Gestern. Da war es wieder. Eines dieser dunklen Löcher, das ich nicht zu füllen vermochte. In letzter Zeit raubten die Blackouts mir immer häufiger ein Stück meines Gedächtnisses. Ich erinnerte mich daran, die Wohneinheit verlassen zu haben, und dann … Leere. Das Nächste, was ich wusste, war, dass ich mit rasenden Kopfschmerzen und schweißgebadet in unsere Parzelle gestolpert war. Marcie hatte mich aufgefangen, mich mit sorgenvollen Blicken durchleuchtet und mir ihren gesamten Anteil Wasser-Synth eingeflößt. Nur sehr langsam hatte der Kopfschmerz nachgelassen. Es hatte lange gedauert, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Marcie gegenüber hatte ich verschwiegen, dass erneut ein gesamter Tag ausradiert worden war. Seitdem das so oft vorkam, strapazierte sie mit ihren Fragen meine ohnehin schon gereizten Nerven. Langsam begann auch ich an meinem Verstand zu zweifeln. Ich war mir im Klaren darüber, dass sie sich nur um mich sorgte. Trotzdem wurde es zunehmend zum Reizthema. Egal wie häufig ich mich untersuchen ließ, die Ärzte kamen doch immer zu dem gleichen Urteil: kerngesund.
Der Elektrochip in meinem Handgelenk gab keinen Aufschluss darüber, wo ich mich in der Zeit, die mir fehlte, aufgehalten hatte. Er sagte stets das, was er sollte: »Wohneinheit 435, Centro-Station, Ernteanlage, Centro-Station, Wohneinheit 435«.
Letztendlich hatte ich es gestern, wie viele Male davor, auf die Sonnenkrankheit geschoben. Das war nicht außergewöhnlich und kam bei Erntearbeitern relativ häufig vor. Die starke Sonneneinstrahlung verursachte, wenn man sich ihr zu lange aussetzte, eben diese Erkrankung. Man bekam Fieber, musste sich übergeben und litt unter Kopfschmerzen.
»Es geht mir gut, Marcie. Die Sektorenbahn ist mal wieder ausgefallen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Im Augenwinkel bemerkte ich, wie sie die Arme verschränkte und mich mit Blicken durchbohrte. So viele Lügen, die zwischen uns standen. Ich drehte mich zu ihr um und unwillkürlich huschten meine Augen von ihren Schultern abwärts. Zahlreiche Narben zeichneten die fast durchscheinende weißliche Haut. Ihre roten Haare waren zu einem strengen Knoten zurückgebunden, was ihr ausgemergeltes Gesicht noch dünner wirken ließ. Und trotz allem umgab sie immer etwas Elfenhaftes; mit ihren zarten Gesichtszügen, die an eine Puppe erinnerten, und ihrer zierlichen Statur. Ich überragte sie um mindestens einen Kopf. Es war, als hätten unsere Eltern ihr Erbe strikt getrennt auf ihre beiden Töchter verteilt. Wer uns nicht kannte, glaubte meist nicht, dass wir verwandt, geschweige denn Schwestern waren.
»Die Sektorenbahn also …«, Marcie klang skeptisch.
»Ja klar, ich bin froh, dass ich es heute überhaupt zu Sektor 4 geschafft habe. Du weißt doch, wie unzuverlässig die Dinger sind«, antwortete ich betont locker. Ich stand am Waschbecken unserer Einzimmerwohneinheit und konzentrierte mich stur auf das Waschen meiner von der Arbeit verschmutzten Hände. Der Chlorgeruch der Flüssigkeit, die aus dem Hahn schoss, brannte unangenehm in meiner Nase.
»Nein, woher denn auch? Ich dufte sie ja ewig nicht benutzen!«, zischte sie.
Ich musste meine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um ein Seufzen zu unterdrücken. Ich wusste nur zu gut, was jetzt kam. In den vergangenen Wochen waren diese Diskussionen zum Alltag geworden. Je länger sie zu keinem Ergebnis kamen, desto ungehaltener wurde Marcie.
»Marcie, bitte, ich bin müde und …«
»Oh natürlich, klar, du bist kaputt! Und doch willst du keine Hilfe von mir! Denkst du auch mal an mich?« Sie holte tief Luft und setzte zum nächsten Angriff an. Ihr Gesicht verfärbte sich langsam, aber sicher purpurrot. »Wie verdammt oft bist du hier die letzte Zeit halb ohnmächtig reingestolptert! Sonnenkrankheit, pah! Dass ich nicht lache! Ich habe die Nase gestrichen voll, hier nur rumzusitzen!« Ihre sonst so zarte, mädchenhafte Stimme klang so bitter, dass sich das schlechte Gewissen in mir weiter ausbreitete.
»Marcie, wir haben schon so oft …«
»Ich will doch nur auch was beitragen. Ich kann arbeiten! Celeste hat gesagt, dass sie mich ins Küchenteam bringen könnte und – « Sie verstummte, als sie meinem Blick begegnete.
»Das kommt nicht in Frage. Du weißt, warum.«
»Aber, Kay, das war nur ein Unfall! So was wird nicht mehr passieren. Ich werde wahnsinnig hier drin!«
»Ein Unfall.« Der Schwermut gab meiner Stimme einen melancholischen Klang.
»Ja, ein Unglück! Niemand konnte ahnen, dass der Versorgungsgang einstürzen würde.«
An diesen Tag erinnerte ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Ich hatte unser Quartier nach einer anstrengenden Schicht gerade betreten, als man mich auf die Krankenstation bat. Der mitleidige Blick des Grenzwächters würde mir ein Leben lang in Erinnerung bleiben; genau wie das Beben meiner Finger und der Schmerz in meinem Brustkorb, als ich ihm folgte.
Dann die Krankenstation und Marcie, deren Körper fest in sterile weiße Verbände gewickelt war. Ich wusste, was der Arzt gesagt hatte:»Sie ist eine Kämpferin. Wir haben alles für sie getan«, und doch drangen die Worte erst viele Tage später in mein Bewusstsein. In dem Augenblick, wo ich Marcie sah, war da nichts als Schmerz und Tränen. Drei Tage lag sie bewusstlos an die lebenserhaltenden Geräte angeschlossen. Ich wich nicht eine Sekunde von ihrer Seite, was wohl einzig dem verständnisvollen Arzt zu verdanken gewesen war. Das Ausmaß der Verbrennungen ging weit über das hinaus, was Marcies junger Körper verkraften könnte. Irgendwann in dieser Zeit hatte mich ein hochrangiger Grenzwächter besucht und mir erklärt, dass der Unfall durch Materialschwäche der Tunnelstabilisatoren zustande gekommen war. An das, was danach geschah, kann ich mich nur verschwommen erinnern. Er sprach mir gegenüber sein Beileid aus und in diesem Moment explodierte mein Innerstes und machte aus mir ein hysterisch weinendes Mädchen, welches sich nur durch das Beruhigungsmittel des Arztes wieder beschwichtigen ließ.
Als Marcie am vierten Tag die Augen aufschlug, war es, als würde mein Herz endlich wieder schlagen. In diesem Moment wusste ich, dass sie es schaffen würde; dass wir es schaffen würden. Sie erholte sich schneller, als die Ärzte anfänglich vermutet hatten, und wenn ich sie heute anblickte, war außer der Spuren auf ihrer Haut nichts von diesen Tagen zurückgeblieben. Die Ärzte des Centro hatten ganze Arbeit geleistet. Man sah ihr nicht an, wie nah sie an der Schwelle des Todes gestanden hatte. Doch die Gefühle und Ängste aus dieser Zeit waren für mich noch so präsent, als wäre es erst gestern geschehen. Natürlich verstand sie mich nicht. Äußere Schmerzen waren mit den inneren, die ich erlitten hatte, nicht zu vergleichen. Äußere Schmerzen vergingen, Wunden in der Seele eines Menschen blieben ein Leben lang.
»Ich kann es einfach nicht nochmal riskieren, Marcie. Ich würde das nicht mehr verkraften …«
Marcie stöhnte frustriert. »Kay, ich weiß es. Das mit der Ernte. Celeste hat es mir erzählt. Du brauchst mich.« Ihre Hand legte sich vorsichtig um meinen Arm. Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, ihn ihr zu entziehen und mich abzuwenden. Stumm verfluchte ich die Kälte, die immer häufiger anstelle der geschwisterlichen Liebe zwischen uns trat. Es schmerzte, dass wir uns voneinander entfernten. Bevor ich zu einer Antwort ansetzte, versuchte ich die Wut auf dieses Klatschweib Celeste und auf die gesamte Situation zu lenken. Bei Celeste handelte es sich um eine unserer Nachbarinnen, zwei Wohneinheiten den Gang herunter. Sie war Mitte zwanzig und arbeitete in der Küchencrew, welche für die Einteilung der Nahrungseinheiten zuständig war. Sie redete gern und viel. Was nur einer der Gründe war, warum ich sie nicht leiden konnte.
»Du wirst nicht …«
Ein gellender Alarm hallte durch unsere Wohneinheit und ließ Marcie und mich zusammenfahren. Wir starrten auf die knisternden Lautsprecherboxen, die oberhalb der Eingangsschleuse zu unserer Wohneinheit angebracht waren.
»An alle Bewohner des Centro. Bitte finden Sie sich unverzüglich in der Haupthalle ein! Bitte verhalten Sie sich ruhig und nutzen Sie geordnet die bereitstehenden Sektorenbahnen.«
Die Ansage wiederholte sich, doch es dauerte einen Moment, bis das Gesagte zu mir vordrang. Versammlungen um die Mittagszeit hatten nichts Gutes zu bedeuten. Ich musste an die letzte denken und meine Haut begann sofort unangenehm zu kribbeln.
Es war inzwischen einige Monate her. Achtundzwanzig Ausschlüsse waren insgesamt verhandelt und beschlossen worden, welche man zum allgemeinen Entsetzen direkt vor den Versammelten vollzogen hatte. Dieses Verfahren gab es noch nicht lange. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft als härteste Bestrafung war erst vor wenigen Jahren zu den Regeln hinzugefügt worden. Es war die Folge von diversen Regelverstößen in den Ernteanlagen. Laut Aussage der Führung waren dies notwendige Disziplinarmaßnahmen. Auf diese Weise sollte jedem Bürger bewusst gemacht werden, wie wichtig es war, sich an die Gesetze des Centro zu halten.
Die Regeln begleiteten uns tagtäglich und prangten überall auf orange leuchtenden Schildern. Ich musste nur die Augen schließen und schon ratterten sie durch meinen Kopf, als hätte sie jemand darin eingebrannt:
1. Arbeitende Tätigkeiten sind Pflicht und werden von der Centro-Führung entsprechend der jeweiligen Leistungen und Fähigkeiten nach Abschluss der Lehrzeit zugeteilt.
2. Jeder arbeitende Bürger erhält täglich eine für seine Bedürfnisse zusammengestellte Nahrungsmittelration. Tauschgeschäfte sowie das Lagern oder Weiterreichen der zugeteilten Lebensmittel sind strengstens untersagt.
3. Die tägliche Ration Wasser-Synth ist pro Person beschränkt. Tauschgeschäfte, das Lagern sowie das Weiterreichen und bewusste Verschwenden sind strengstens untersagt.
4. Das Verlassen der zugeteilten Wohnquartiere ist nur während der Arbeitszeiten erlaubt, ansonsten sind die Ruhezeiten einzuhalten.
5. Die Ausgangssperre richtet sich nach der aktuellen Jahreszeit und ist zwingend einzuhalten. Informationen erhalten sie an den entsprechenden Portalen.
6. Intime zwischenmenschliche Beziehungen benötigen die Genehmigung der Centro-Führung und sind sektorenübergreifend nur unter bestimmten Bedingungen zulässig.
7. Die Centro-Führung kommt nicht für den Verlust von Familienmitgliedern sowie etwaigen Wertgegenständen auf.
8. Die Grenzwächter haben volle Verfügungsgewalt.
9. Der Besitz von Waffen oder waffenähnlichen Gegenständen ist nur nach Genehmigung der Centro-Führung zulässig.
10. Nachgewiesene öffentlich geäußerte Zweifel, Verleumdungen, angezettelte Proteste oder Aufstände gegen das Regime der Führung werden mit dem Ausschluss bestraft.
11. Nachgewiesene Beschädigung der zur Verfügung gestellten Einrichtung führt nach Verhandlung zum Ausschluss.
12. Das Fernbleiben von angekündigten Versammlungen wird mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft bestraft.
13 Gewalttätige Handlungen gegenüber anderen Bewohnern werden bei ausreichender Beweislast mit sofortigem Ausschluss bestraft.
Die Führung wollte mit diesen Regeln alle denkbaren Gefahren ausschließen. Verhungern, Verdursten, Inzucht, Mord oder Beschädigung der Einrichtung sollten dadurch verhindert werden. Die Regeln dienten angeblich unserem Schutz und der Arterhaltung. Ich musste ein bitteres Lachen unterdrücken, als ich über den Kern dieser Aussage nachdachte. Bei vorherrschender Unterernährung der Bevölkerung und dem allgemeinen Wassermangel waren die Argumente des Centro mehr als fragwürdig. Obwohl Marcie und ich gewisse Sonderprivilegien genossen, wie die Erlaubnis, meine hart verdienten Nahrungsmittelrationen aufzuteilen, reichte die eine Ration kaum für einen Menschen. Doch was sollten wir dagegen tun, wo doch der Willen der Bewohner vor Angst betäubt war? Auch das Regime wusste, dass mit Aufständen nicht zu rechnen war, solange die Angst in den Köpfen der Menschen die Überhand hatte. Die Strafen waren nicht nur streng, sondern endeten in den meisten Fällen tödlich. Meine Kehle schnürte sich zu, wenn ich nur daran dachte. Unaufhaltsam drängte die Erinnerung in mein Bewusstsein. Die Bilder der letzten Versammlung tauchten vor meinem inneren Auge auf. Das Grauen überlief mich heiß und kalt.
Die Grenzwächter mit steinerner Miene; eine undurchdringbare Mauer aus Kälte.
Das Flehen der Verdammten.
Ihre Haut rot, dann blasiges Schwarz.
Der Geruch von verkohltem Fleisch.
Leere Blicke der fassungslosen Zuschauermenge.
Die darauffolgende betroffene Stille.
Stumme Tränen des Entsetzens.
Schreie, die kein Gehör fanden.
Jede Nacht in meinen Träumen sah ich es. Wir alle hatten schweigend die Hinrichtung beobachtet. Der ein oder andere Verwandte war weinend und fast von Sinnen von den Grenzwächtern weggeschleppt worden. Ich schüttelte den Gedanken ab.
»Komm!« Ich griff nach Marcies Hand und wir schlossen uns der Menschenmenge an, die sich an unserem Quartier vorbei in Richtung Sektorenbahnhof schob. Am Bahnhof herrschte bereits reges Gedränge. Einige hatten es eilig, in die bereitstehenden Sektorenbahnen zu kommen, während andere noch etwas müde daneben standen und das Chaos träge über sich ergehen ließen. Ich unterdrückte ein Gähnen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich heimlich in meinem Bett zu verkriechen. Ein flüchtiger Blick auf mein Handgelenk erinnerte mich daran, warum dieser Gedankengang sinnlos war. Der implantierte Chip würde sofort verraten, wo ich mich aufhielt. Ich seufzte. Meine Glieder fühlten sich schwer an nach der langen Arbeitsnacht.
Nur einige Blicke streiften mich, auf die ich allerdings gut und gern hätte verzichten können. Ich erkannte die Visage bereits von Weitem und konnte mir zum Gruß nur mit Mühe ein zaghaftes Lächeln abringen. Einer meiner Kollegen aus den Ernteanlagen, ein schmieriger Kerl namens Larry, ging betont nah an mir vorbei. Das übliche anzügliche Schmunzeln zierte sein Gesicht, während sein Blick über meinen Körper glitt. Ich hatte mehr als ein unmoralisches Angebot von ihm erhalten, was ich jedoch resolut abgelehnt hatte. Obwohl es gegen die Regeln verstieß, war die leibliche Nähe zwischen Mann und Frau, insbesondere bei Tätigkeiten außerhalb des Centro, ein heiß verhandeltes Thema. Ernsthafte Beziehungen wurden durch das Centro festgelegt und so verliefen die illegalen Affären sprunghaft und kurzweilig. Ich hatte mich von derartigen Regelverstößen immer distanziert. Was neben der Angst, verurteilt zu werden, auch den Hintergrund hatte, dass keiner der Männer jemals ernsthaftes Interesse bei mir geweckt hatte. Was aber nicht bedeutete, dass gerade Typen wie Larry es nicht unaufhörlich versuchten. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit raunte er mir Dinge ins Ohr wie: »Du bist so wunderhübsch«, oder: »Keiner der Männer hier kann die Augen von dir lassen.« Ich hatte gelernt, dass es in diesen Momenten hilfreich war, ihn einfach stehen zu lassen und den blöden Sprüchen der anderen keine Beachtung zu schenken. Die Erfahrungen hatten mich reifen lassen und ich hatte gelernt, mit Männern wie Larry umzugehen:
Anfangs, als meine Züge noch kindlicher gewesen waren, hatten sie mich nicht für voll genommen. Später dann, als meine Oberweite wuchs und meine Hüften ausladender wurden, wandelten sich die abfälligen Blicke zu anzüglichen. Es kam immer häufiger vor, dass Hände mich wie zufällig berührten und die Männer bei den Arbeiten meine direkte Nähe suchten. Es war mir unangenehm, und jedes Mal nach der Arbeit fühlte ich mich noch schmutziger, als ich ohnehin schon war. Es war, als würden die Fingerabdrücke der von Schlieren übersäten Hände wie Klebstoff an meiner Haut haften. Den Grenzwächter, der für unseren Abschnitt zuständig war, interessierten meine Beschwerden herzlich wenig. Meist schickte er mich kommentarlos zurück.
Der Tag, an dem einer der Männer zu weit gegangen war, würde mir immer im Gedächtnis bleiben. Wir hatten uns an einer der Sammelstellen für die synthetisch veränderte Wachstumserde aufgehalten. Die Säcke wogen mehrere Kilo, sodass man sie jeweils zu zweit auf den Hubwagen heben musste. Ich glaube, der Mann hieß Grady. Ich hatte seine Blicke schon Tage vorher bemerkt. Sie waren nicht einfach nur anzüglich, wie die der anderen, sondern krochen vor Gier strotzend über meine Haut, als blickten sie direkt unter die dünne Leinenkleidung. Grady wartete, bis sich niemand in der Nähe aufhielt, und griff dann blitzschnell zu. Seine kräftigen Arme umfassten meinen Körper, zerrten mich an sich und seine feuchten Lippen drückten sich auf meinen Mund. Ich keuchte und versuchte zu schreien, doch Grady ließ mir keine Möglichkeit dazu. Er war stärker als ich, und so hatte ich kaum eine Chance. Doch mit der Panik kam auch die Wut. Ich verfiel weniger in Hysterie, als vielmehr in eine Art Wutrausch. Ich wehrte mich nach Leibeskräften, und als sich seine wulstigen Lippen das nächste Mal auf meine drückten – biss ich zu.
Nicht zaghaft, sondern mit aller Kraft, die meine Kiefer aufzubringen vermochten. Ich schmeckte den metallischen Geschmack seines Blutes und spürte, wie das weiche Fleisch seiner Haut riss. Grady schrie, stolperte von mir weg und presste die Hände auf den Mund. Zwischen seinen Fingern quoll das Blut nur so hervor. Angewidert spie ich das Stück Lippe aus, das ich ihm herausgebissen hatte. Eine Strafe der Centro-Führung blieb aus, doch Grady wechselte kurz nach diesem Vorfall den Abschnitt. Die Narbe entstellte noch heute sein Gesicht.
Seit diesem Tag wagten es die Männer kaum, mich zu berühren, und doch blieb ich vorsichtig. Ein selbstbewusstes Auftreten und Ignoranz schienen ihre Versuche zumindest so weit einzudämmen, dass keiner es mehr wagte, handgreiflich zu werden.
Doch nicht nur die Männer waren eine Belastung für mich: Meine Arbeitszeit reichte täglich von acht Uhr abends bis in die frühen Morgenstunden. Je nachdem, wie viel zu tun war, verlängerte sie sich. Anfänglich waren die Muskelschmerzen und die fehlende Kondition meine größten Probleme gewesen. Heute, nach wenigen Jahren in den Ernteanlagen, kämpfte ich bereits mit den Spätfolgen: Chronische Rückenschmerzen und großflächige Schwielen an den Händen waren nur die offensichtlichsten Spätsymptome der harten körperlichen Arbeit.
Neben der Pflanzenpflege waren wir auch für die Wartung der Sonnenfilteranlagen zuständig. Ich liebte es, mich um das Gemüse zu kümmern, und war jedes Mal furchtbar stolz, wenn ein Ernteabschnitt, für den ich verantwortlich war, erfolgreich Früchte trug.
Wir arbeiteten je zu sechst an einem Ernteabschnitt. Pro Zuchthaus gab es etwa sieben davon und ich war die einzige Frau in meiner Gruppe. Inzwischen hatten die Männer sich daran gewöhnt, dass ich trotz meiner geringen Größe und eingeschränkten Kraft zupacken konnte. Alle Arbeiter in meinem Abschnitt kamen wie ich aus Sektor 4.
Zweimal am Tag kam ein Versorgungsteam zu uns und schaffte uns die notwendige Ration Wasser-Synth und gerade genügend Essen heran. Falls sich jemand verletzte, war es fast unmöglich, rechtzeitig Hilfe von außerhalb zu bekommen; und das trotz des verhältnismäßig kurzen Wegs.
Mit dem Shuttle, das uns abends zu der Einrichtung brachte und am Morgen zurück, brauchte man ungefähr zehn Minuten. Es fuhr nur zweimal täglich, und wenn man es verpasste, musste man entweder ohne jegliche Nahrungsmittel in der Ernteanlage ausharren oder mit den bereitgestellten Ersatztransportmitteln – einem von fünf klapprigen Fahrrädern – die Heimreise antreten. Zwar dämmten die Sonnenfilteranlagen den Hauptteil der Hitze ab, doch ohne Wasser-Synth war es beinahe unmöglich, den Tag zu überstehen. Auf dem holprigen Weg zum Centro hatte man dann genügend Zeit, sich eine überzeugende Ausrede einfallen zu lassen, warum man die festgelegten Zeiten nicht hatte einhalten können. Einschränkungen der Nahrungsmittelrationen war eine der Strafen, die einen für unentschuldigte Verspätungen traf.
Keiner von uns wusste, warum die Anlagen sich nicht in unmittelbarer Nähe zum Centro befanden. Doch niemand zweifelte öffentlich den Standort an. Meist versuchte ich, einen Teil der Nahrung in meinen Leinentaschen zu verstauen und für Marcie beiseitezuschaffen. Marcie jedoch weigerte sich meist, das Essen anzunehmen.
Es war immer das gleiche Bild: Wir saßen in unserer Wohneinheit, zwischen uns der kleine Tisch, in der Mitte des Tischs die mitgebrachten Lebensmittel. Jeder von uns weigerte sich, das aufgehobene Essen anzurühren, bis schließlich das laute Knurren von einem unserer Mägen dafür sorgte, dass wir in einvernehmliches Lachen ausbrachen und die Nahrungsmittel zwischen uns aufteilten. Galgenhumor nannte man das wohl.
Unvermittelt stieß Marcie mich an und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Was zum …«, wisperte sie und streckte sich, um die Menge zu überblicken.
Unmittelbar vor der Bahnschranke baute sich eine Frau auf. Nach ihrem weißen Kittel zu urteilen, stammte sie aus Sektor 2. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Sektor 2 hauptsächlich aus Laboren bestand. Mit einer Art Scanner in der Hand positionierte sie sich vor der Menge. Als ich mich streckte, erkannte ich, dass sie nicht die Einzige war. Im Schatten der Menge verbargen sich sechs weitere dieser Gestalten. Ein Raunen ging durch die Meute. Der Lärm schwoll an. Nervöse Blicke wurden ausgetauscht. Menschen stießen sich gegenseitig an und gestikulierten in Richtung der Wissenschaftler, während sie sich angeregt unterhielten.
Vier Grenzwächter bauten sich zum Schutz der Wissenschaftler vor ihnen auf. Irritiert betrachtete ich die Männer. Sie waren in ihre Schutzkleidung gehüllt, die neben der üblichen Uniform aus einer schwarzen Schutzweste, verschiedenen Protektoren und einem Helm mit Visier bestand. Gerrit hatte sie mir damals stolz gezeigt und mich das harte Material anfassen lassen, aus dem diese Kleidung gefertigt war. Nicht einmal das Projektil einer altertümlichen Schusswaffe sollte durch den neuartigen Kunststoff dringen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich Gerrits Begeisterung nicht teilen können und auch heute bereitete mir diese Begebenheit mehr Sorgen, als dass sie mich beruhigte. Die Männer schienen nicht hier zu sein, um uns Schutz zu gewähren. Mit ausgebreiteten Armen drängten sie die Menge zurück hinter die Absperrung. Ich musterte die Kittelträger skeptisch und nahm vereinzelte Rufe aus der Menschenansammlung wahr:
»Was wollt ihr hier?«
»Lasst uns durch!«
Doch die Wissenschaftler rührten sich nicht. Stumm betrachteten sie das Gedränge. Die Menschen aus Sektor 4 wurden langsam panisch, und auch in mir begann sich ein mulmiges Gefühl breitzumachen.
»Liebe Bewohner von Sektor 4. Aufgrund gesundheitlicher Probleme innerhalb der Wohngemeinschaft Ihres Bereiches sind wir verpflichtet, einen kurzen Gesundheits-Check bei jedem von Ihnen durchzuführen. Bitte stellen Sie Ihre Chips zum Scannen zur Verfügung. Bei Zuwiderhandlung droht der sofortige Ausschluss.« Der Lautsprecher über unseren Köpfen schnarrte unangenehm, als eine monotone Frauenstimme die eher spärlichen Informationen preisgab. Marcies Hand verkrampfte sich in meiner und ich versuchte ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken.
Nur eine Untersuchung, mehr nicht, beruhigte ich mich selbst.
Die Ärzte begannen nun mit ihrer Arbeit und zwangen die Menge, sich in sieben Reihen zu sortieren. Nach und nach scannten sie die Handinnenflächen der Bewohner, wobei jedes Mal ein schrilles Pfeifen erklang.
Plötzlich erklang bei einer Frau in meinem Alter ein mehrmaliges Piepen. Ich glaubte zu wissen, dass ihr Name Leni war. Sie gehörte zur Küchencrew und war mit Celeste befreundet.
Sofort begann der dunkelhaarige Kittelträger eilig etwas in das Display einzutippen und winkte mit der anderen Hand einen Grenzwächter herbei. Die Augen von Leni wurden groß, als er sie am Arm packte und hinter sich herzerrte. Er stieß sie grob in einen der roten Sonderwagen, die sonst nur für die Grenzwächter bereitstanden. Nachdrücklich schloss er die Abdeckung, sodass Leni jetzt ängstlich durch das Glas ins Freie starrte. Unruhe ging durch die versammelten Bewohner von Sektor 4. Während ich fassungslos auf Leni starrte und zu begreifen versuchte, was hier geschah, wurde die Auswahl gnadenlos fortgesetzt. Es brachen häufiger Krankheiten im Sektor aus, aber nie nahmen sie jemanden von uns mit.
Nachdem ein ausgewählter Teil der Bewohner zu Leni in den Wagen geschoben worden war, wies man den Rest an, in die normale Sektorenbahn einzusteigen. Auf Fragen und Proteste reagierte weder die militärische Führung noch die Kittelträger. Marcie drückte sich an mich und ich legte schützend meinen Arm um ihre Schulter.
Mir fiel auf, dass sie nur junge Frauen herauspickten; weibliche Personen, die in meinen Augen ausgesprochen gesund wirkten. Irgendetwas stimmte hier nicht und das wurde nun auch den anderen Einwohnern bewusst. Schreie und Diskussionen hallten durch den engen Bahnhof, gepaart mit dem schrillen Pfeifen der Gerätschaften.
Als einer der Bewohner plötzlich handgreiflich wurde, taten andere es ihm gleich. Innerhalb kürzester Zeit herrschte lautstarkes Chaos: Verzweifelte Väter zerrten vergeblich an ihren Töchtern, als die Grenzwächter sie ihnen entrissen. Ich sah wütende Männer, die lautstark protestierten, als ihnen ihre Ehefrauen fortgenommen wurden, und Mütter, die weinend dabei zusahen, wie ausgerechnet bei ihrem Kind das Prüfterminal mehrmals piepte.
Der Protest wurde zu einem einstimmigen, lauten Murmeln und das Raunen wurde zu wütenden Rufen. Die Aggression war greifbar und die Grenzwächter kamen kaum hinterher, die zahlreichen Regelverstöße zu notieren. Als der erste Zug, mit Mädchen und Frauen beladen, den Bahnhof verließ, kochte die Stimmung über. Unmittelbar neben uns begann ein tobender Mann auf die Panzerung eines Grenzwächters einzuschlagen, was zur Folge hatte, dass dieser ihn in die aufgebrachte Menge stieß. Als hätte er damit in ein Wespennest gestochen, stürzten sich jetzt mehrere männliche Bewohner auf den Grenzwächter. Marcie und ich wichen von dem Menschenpulk zurück, der sich um die Kämpfenden bildete. Eines war klar: Hiernach würde es Ausschlüsse nur so hageln.
»Kay!? Was jetzt?«, zischte Marcie und ich vernahm deutlich die Panik, die in ihrer Stimme mitschwang. Ich griff nach ihrem rechten Arm, noch bevor ihre Fingerspitzen die Lippen erreichten, um an den ohnehin schon kurzen Fingernägeln zu knabbern; eine Angewohnheit, in die sie stets aus Nervosität verfiel. Ich warf ihr einen mahnenden Blick zu, den sie jedoch nicht einmal zu bemerken schien.
Wieder rückte die Schlange vor uns auf und sorgte so dafür, dass wir uns unaufhörlich der Kittelträgerin näherten.
»Ich geh da nicht mit! Ich will nicht! Ich hab Angst«, flüsterte Marcie.
»Keine Sorge, dich nimmt keiner mit«, murmelte ich und zog sie enger an mich heran.
Zeitgleich kochte die Stimmung noch weiter hoch. Die Frustration und der Trotz der Bewohner waren nun beinahe körperlich spürbar. Ich streckte mich, um das Geschehen vor uns besser beobachten zu können.
Am Anfang unserer Schlange stand nun ein Mädchen, das vielleicht zwölf Jahre alt war. Ich vernahm deutlich, wie ihr Vater nach einer Erklärung verlangte, doch der Mediziner drehte ihm ignorant den Rücken zu. Als er nach dem Arm des Laboranten griff, eskalierte die Situation. Der Weißkittel fuhr herum und schrie dem Mann etwas entgegen, was ich kaum verstand. Dann winkte er einen der Grenzwächter zu sich. Der Schlag, der den Mann daraufhin traf, ließ alle Dämme brechen. In Scharen fielen die Menschen aus Sektor 4 nun über die Weißkittel her und rangen sie zu Boden. Marcie wurde heftig gegen mich gestoßen. Hilfe suchend blickte ich mich nach einem Ausweg um.
Inzwischen schlugen die Grenzwächter wahllos auf die Menschen ein, die versuchten, die Wissenschaftler von ihrem Werk abzuhalten. Immer mehr Bewohner strömten in den viel zu engen Bahnhof, um zu sehen, was dort geschah. Die Zerstörung war allgegenwärtig. Unmittelbar neben dem Ausgang sah ich, wie ein Mann wutentbrannt auf die Kommunikationsanlage der Grenzwächter einhieb. Etwas Ähnliches geschah am kleinen Schaltpult der Centro-Bahnen.
Sie wollen den Kontakt zur Steuerungszentrale des Centro unterbrechen, schoss es mir durch den Kopf. Das bedeutete: Keiner würde kommen, um das alles hier aufzuhalten.
Der gesamte aufgestaute Hass, das wochenlange Hungern und die ständige Kontrolle schienen sich mit einem Mal zu entladen. Es machte die Bewohner von Sektor 4 zu gewissenlosen Schlägern, die an diesen wenigen Personen ein Exempel statuieren wollten. Wie eine ansteckende Krankheit übertrug sich die tief verwurzelte Wut von einem auf den nächsten. Würde ich nicht selbst inmitten des Tumults stecken, wäre ich wohl begeistert gewesen von diesem längst überfälligen Gefühlsausbruch der Centro-Bewohner. So aber sah ich nur Marcie und mich, und die Gefahr eines Ausschlusses schnürte mir die Kehle zu.
Ein Schlag gegen meinen Brustkorb ließ mich aufkeuchen, ein weiterer plötzlicher Stoß brachte mich zum Stolpern. Keine Frage: Wir mussten hier raus.
Entschlossen zog ich Marcie mit mir in Richtung Ausgang, dem drängenden Menschenstrom entgegen. Mein Körper protestierte schmerzhaft angesichts des Drucks von allen Seiten. Der Lärm war inzwischen zu einem ohrenbetäubenden Getöse angeschwollen. Die Luft wurde heiß und feucht. Innerhalb weniger Minuten klebte der Arbeitsoverall an meinem Körper. Ich kämpfte die aufwallende Panik nieder und drängte mich an den Massen vorbei. Ein Ellenbogen traf mich unvermittelt auf Höhe meines Kinns. Keuchend trotzte ich dem Schmerz und dem Flimmern vor meinen Augen. Wir schoben uns eng aneinander gedrängt in jede noch so kleine Lücke, die sich uns bot. Ein kurzer Blick auf Marcie zeigte mir, dass uns die Zeit davonlief. Ihr Gesicht war tiefrot angelaufen und ihr Mund war weit geöffnet. Sie versuchte krampfhaft, die wenige brauchbare Luft einzusaugen. Überall versperrten mir Menschen die Sicht und es war fast unwirklich, als ich die rauen Felswände des Ganges dahinter erkannte.