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Stolpernd taumelten wir aus der Masse, die sich am Bahnhofseingang gestaut hatte. Im Tunnel wurden die ersten Verletzten, von der kühlen Wand gestützt, durch andere Bewohner aus Sektor 4 versorgt. Immer wieder zerrten einige der ansässigen Arbeiter erschlaffte Körper aus dem Pulk.

Marcie und ich stützten uns mit wackeligen Beinen an der Wand ab und rangen einige Sekunden nach Luft. Mein Brustkorb schmerzte und ich spürte bereits, wie sich ein Bluterguss an meinem Kinn zu bilden begann. Feuchte Strähnen meiner langen dunklen Haare klebten mir im Gesicht; sie hatten sich wieder einmal aus meinem Zopfband gelöst.

»Alles gut bei dir, Marcie?«, erkundigte ich mich zwischen keuchenden Atemzügen.

»Ja«, stieß sie hervor.

Ächzend sah ich mich in dem bescheidenen Durchgang um. Angst und Schmerz waren allgegenwärtig. Wir brauchten definitiv Hilfe, damit nicht noch mehr Menschen verletzt würden.

»Wir müssen hier … verdammt nochmal … raus!«, klang es atemlos von Marcie zu mir herüber, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Wasser – filter – anlage.«

Sie schrie das Wort gegen den Lärm an und es dauerte einen Moment, bis ich verstand.

Meine schlaue Schwester, dachte ich.

In Sektor 5 hatte in der Zeit, als die Wasseranlagen noch funktionstüchtig gewesen waren, ein reger Wasseraustausch zwischen der Oberfläche und den Tunneln im Untergrund stattgefunden. Die Wartungstunnel, in denen Marcie früher tätig gewesen war, führten direkt bis zum Hauptbahnhof. Dies war tatsächlich eine Möglichkeit, zur Hauptstation des Centro zu gelangen. Wir konnten nur hoffen, dass das Tunnelsystem nicht verfallen war und wir dazu gezwungen sein würden, auf der Hälfte des Weges umzukehren.

Jemand stieß Marcie heftig an, sodass sie hart gegen mich prallte. Wir beide stöhnten unter dem Zusammenstoß.

»Los, komm!«, zischte ich und griff nach Marcies Hand.

Der Tunnel vor uns lag noch ruhig da, während hinter uns immer mehr Menschen aus dem Bahnhof in das Gangsystem drängten und orientierungslos umhertaumelten. Es war Zeit, diesen Ort zu verlassen.

Hilferufe echoten durch die Gänge, als ich Marcie hinter mir her zog. Vereinzelt wichen wir entgegenkommenden Menschen aus, die aus Richtung der Wohneinheiten kamen und offenbar erst spät dem Aufruf der Centro-Führung Folge geleistet hatten. Ihre Augen ruhten fragend auf uns, während wir durch die Gänge hetzten. Einige riefen uns sogar hinterher, doch ich verstand weder, was sie sagten, noch war ich bereit, darauf zu antworten. An sich war der Weg bis zu der Gabelung nicht weit, doch in diesem Augenblick kam er mir wie ein wahrer Spießrutenlauf vor. Als uns niemand mehr entgegenkam, verfiel ich in ein leichtes Traben, dem sich Marcie nur keuchend anschloss. Ich versuchte den Lärm des Tumults zu ignorieren, den die weiten Tunnel vom Bahnhof zu uns herübertrugen. Schweiß rann über meine Stirn und brannte in meinen Augen. Es war nicht mehr weit; die gelben Warnschilder leuchteten mir im Dunkeln bereits entgegen. Schwer atmend erreichten wir den Zugang zu Sektor 5 und ich stockte kurz, bevor wir durch die gelbe Absperrung glitten.

Das Flackern der beschädigten Leuchtstoffröhren tauchte den halbdunklen Gang in ein unheimliches Licht. Es roch nach Moder und alter, abgestandener Luft. Es wunderte mich, dass dieser Bereich überhaupt noch mit Strom versorgt wurde. Mein Körper spannte sich unwillkürlich an, als Marcie und ich durch das Halbdunkel liefen. Die Türen der leeren Wohneinheiten standen teilweise offen und zeigten eine spärliche Einrichtung, die mit einer dicken Staubschicht überzogen war. Die Schreie aus Sektor 4 verloren sich in den endlosen Gängen von Sektor 5. Lediglich das Knistern der beschädigten Beleuchtung erfüllte hier noch den Raum. Mein Atem ging flach, während meine Schritte vorsichtig über den mit Schutt übersäten Boden des Tunnels tasteten. Koffer, Kleidung und die Überreste von Möbeln mischten sich mit Staub und Dreck. Bei jedem unserer Schritte knirschte der Boden unter uns.

Der Korridor schien kein Ende zu nehmen und ich erinnerte mich dunkel daran, dass Sektor 5 das doppelte Ausmaß von Sektor 1 hatte. Jedoch war damals in den spärlichen Wohneinheiten mindestens die dreifache Menge an Menschen untergebracht gewesen als im Führungssektor.

Ich war noch ein Kind gewesen, als der Sektor geräumt worden war. Daher konnte ich mich nicht bewusst daran erinnern, wie die Leitung die Aufstände der Bewohner niedergeschlagen hatte. Ich wusste nur, dass der Schaden, den die Menschen in Sektor 5 angerichtet hatten, uns sämtliche Wasserreserven gekostet hatte. Allein die Führung hatte durch das Wasser-Synth unser Überleben gesichert. Unsere Eltern sind den damaligen Geschehnissen zum Opfer gefallen. Eine unbeschreibliche Wut überwältigte mich jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie unnütz Menschen ihr Leben gelassen hatten; wie entsetzlich sinnlos der Tod unserer Eltern gewesen war.

»Hier!« Marcies Stimme war nicht mehr als ein Wispern. Wir erreichten den Wartungsbereich des Flurs, der etwa in der Mitte des tief in den Berg reichenden Korridors von Sektor 5 gelegen war. Der Wartungstunnel grenzte direkt an den Wohnsektor und war lediglich durch ein schlichtes gerahmtes Drahtgeflecht verschlossen. Wie ein vergittertes Fenster durchbrach es vom Boden bis etwa zur Höhe meines Bauchnabels die silbernen Metallplatten der Wandverkleidung. Um den Arbeitern den Einstieg zu erleichtern, war dieser Bereich des Flurs etwas breiter gestaltet als der Rest. Gegenüber der Öffnung befand sich keine Wohneinheit. Um bei anfallenden Arbeiten Ruhestörungen zu vermeiden, hatte man diese Region frei gelassen.

Neben dem Einstieg befand sich ein metallener Spind, dessen Tür grob herausgerissen war; er hatte wohl damals den gelben Ersatzhelm und eine Notfallwerkzeugtasche beinhaltet. Jetzt beherbergte das schäbige Schränkchen mit der nur noch schräg in den Angeln hängenden Tür nichts als Staub. Mit geschickten Handgriffen löste Marcie das Gitter und zog es von der Öffnung ab. Eine Verschlussvorrichtung gab es nicht mehr. Die Öffnung war ungefähr so groß, dass gerade genug Platz war, um gebückt im Gang voranzukommen. Die Enge bereitete mir schon vom bloßen Hinschauen Unbehagen. Ich hoffte, dass die Abschnitte bald breiter oder zumindest höher wurden.

»Warte!«, zischte Marcie, als ich mich zum ersten Schritt durchgerungen hatte. Sie wischte eilig über einen staubigen Glaskasten, der unmittelbar neben dem Eingang auf Brusthöhe angebracht war. Dahinter verbarg sich ein etwa DIN-A2-großes Poster. In einer hastigen Handschrift waren wirre Linien und Bezeichnungen über das gesamte Bild verteilt.

»Ein Plan der Wartungsgänge«, erklärte sie und machte sich emsig an dem verrosteten Schloss zu schaffen. Ohne Umschweife glitt meine Hand zu meiner am Gürtel baumelnden Taschenlampe. Mit einer gezielten Bewegung brachte ich die Glasscheibe zum Bersten. Marcie zuckte zusammen und ich sah, wie ihr Blick sofort nervös über den Gang huschte.

»Wir haben für so was keine Zeit«, sagte ich mit einem Schulterzucken, als ihre Augen strafend auf mir ruhten. Schnell griff ich nach der Karte und verstaute sie in meinem Werkzeuggürtel.

Der Strahl meiner Taschenlampe glitt über die silbernen Wände und verlor sich vor uns in absoluter Dunkelheit. Die Luft hier war dünn und es roch leicht muffig. Der Gang war von allen Seiten mit Metall ausgekleidet, sodass jeder unserer Schritte durch den Hohlkörper hallte. Schon nach wenigen Metern begann mein Rücken schmerzhaft gegen die verkrümmte Haltung zu protestieren. Also versuchte ich, auf den Knien vorwärtszukriechen und so eine einigermaßen akzeptable Haltung einzunehmen.

»Verdammter … Mist … aber … auch!«, hörte ich Marcies Fluchen hinter mir. Durch die Bedrängnis des Schachtes konnte ich mich kaum umdrehen, um einen Blick auf sie zu erhaschen.

»Alles okay?« Das brüchige Echo meiner Stimme ließ mich zusammenzucken, als es von den langen Metallwänden wieder zurückgeworfen wurde.

»Geht … schon!«, flüsterte sie, doch ich hörte deutlich die Beklemmung. Auch Marcie versuchte allem Anschein nach, gegen das Gefühl der Enge anzukämpfen. Gern hätte ich ihre Hand gegriffen und sie wenigstens kurz ermutigend gedrückt.

»Los weiter, wir haben es sicher bald geschafft«, versuchte ich sie aufzumuntern. Zugegeben, in Wahrheit hatte ich nicht die Spur einer Ahnung, wann das hier ein Ende haben würde. Die Karte, die wir eingesteckt hatten, gab zwar grob Aufschluss darüber, in welche Richtung wir uns bewegten, aber die Entfernungen ließen sich nicht ausmachen. Zumindest war ich mir sicher, dass wir uns auf direktem Weg zu den Sammelbecken der Wasserfilteranlage befanden. Von dort aus würde unser Weg weniger beschwerlich werden; vorausgesetzt, dass keiner der Gänge über die Zeit verfallen oder komplett eingestürzt war. Aber daran mochte ich jetzt noch nicht denken.

Nach gut einer Stunde hielt ich kurz inne. Ich versuchte vergeblich, mich geringfügig zu strecken, um die schmerzenden Muskeln zu entlasten. Der Gang war an dieser Stelle etwas breiter geworden, sodass wir nun wenigstens ein bisschen Bewegungsfreiheit hatten. Keuchend lehnte ich mich an eine der Wände und lauschte ins Dunkel.

Erst war da nur die krabbelnde Vorwärtsbewegung von Marcie, als sie zu mir aufschloss. Doch dann vernahm ich ein zweites Geräusch; anfangs sehr leise, schließlich immer deutlicher. Es schallte aus der Richtung, aus der wir kamen, zu uns herüber. Im Lichtschein der Lampe wurden Marcies Augen groß:

Stimmen.

Zu weit entfernt, um das, was sie sagten, zu verstehen, aber doch unverkennbar die Sprachmelodie mehrerer Männer. Dazu der Takt hastiger Schritte durch den Tunnel.

Eilig löschte ich das Licht meiner Taschenlampe und sofort saßen wir im Stockdunkeln. Ich spürte Marcies unmittelbare Nähe, da ihr Atem mir warm in den Nacken blies. Ich verrenkte mich, um den Blick in das Schwarz zu richten, aus dem wir gekommen waren. Der Gang verlief schnurgeradeaus, sodass ich den matten Lichtschein rasch sah, der bis weit in den Tunnel reichte. Meine Gedanken rasten. Es war unwahrscheinlich, dass jemand in Sektor 5 nach uns suchte. Und noch unvorstellbarer war, dass diese Person uns obendrein in das Schachtsystem gefolgt war. Welche Motivation auch immer dahinter stecken mochte, sie verursachte ein verdammt schlechtes Gefühl in meiner Magengegend.

»Vielleicht jemand aus Sektor 4, der auch über das Schachtsystem zur Haupthalle gelangen will?«, wisperte es dicht an meinem linken Ohr.

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn Marcie dies im Dunkeln sicher nicht hatte sehen können. Das ungute Empfinden breitete sich unaufhaltsam bis in meine Brust aus und zerrte an meinem Fluchtinstinkt. Ahnung, Instinkt oder Intuition; wie auch immer man es nennen wollte, ich konnte nicht umhin, mich darauf zu verlassen. Rasch löste ich einen Gurt meiner Werkzeugtasche, sodass sie einseitig in meiner Hand lag. Das andere Ende schob ich in Marcies kalte Finger.

»Halt das fest. Ich werde hier nicht warten, um herauszufinden, wer das ist. Und jetzt keinen Mucks!«, flüsterte ich, um zu verhindern, dass sie widersprach. Marcie hasste es, wenn ich ihr über den Mund fuhr, und eine Welle voll Unmut schwappte durch das Dunkel zu mir herüber. Ich überging es und signalisierte anhand eines leichten Zugs an meinem Gurt, dass es weiterging. Sofort tat mir mein Kommandoton leid, aber das nagende Gefühl der Angst trieb mich zur Eile.

Ich versuchte mit meinen hastigen Bewegungen so wenig Laute wie möglich zu verursachen. Deutlich spürte ich, dass Marcie Mühe hatte, Schritt zu halten. Doch die weiterhin hörbaren Stimmen ließen mir keine Zeit, Rücksicht auf sie zu nehmen. Ich konnte nur schwer abschätzen, wie viel Abstand noch zwischen uns und den Fremden lag. Durch den Widerhall der Geräusche im Tunnel konnte ich den genauen Ursprung kaum ausmachen. Gehetzt und gejagt fühlte ich mich wie ein Tier, das immer tiefer in die Falle eines geschickten Jägers hineinstolperte.

»Ich … kann … nicht … mehr«, keuchte Marcie. An dem Gurt, der uns verband, gab es einen Ruck, und ich fuhr zurück. Ich tastete nach ihr und strich ihr über den Kopf. Ihre Haare klebten, genau wie meine, nass an ihrer Stirn und ich meinte, ihren Puls bis in meine Fingerspitzen zu spüren. Hinter uns vernahm ich jetzt deutlich die lauter werdenden Geräusche der Verfolger. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wippten im Takt ihrer Schritte. Marcies angestrengte Atemzüge echoten durch den metallenen Gang. Beruhigend legte ich ihr die Hand auf die Schulter, obwohl mein Herz mindestens genauso fest gegen meinen Brustkorb pochte. Die schweren Schritte der Verfolgergruppe deuteten auf Arbeitsstiefel hin. Ich kannte die Schuhe, die diese Laute verursachten. Konnten das tatsächlich Grenzwächter sein?

Als ich gerade nach der Hand von Marcie greifen wollte, um sie zum Weiterlaufen zu animieren, passierte es unvermittelt: Die Laute verstummten, sodass Marcie und ich in unserer Bewegung erstarrten. Marcies Atem wurde flacher. Ich fixierte den leuchtenden Punkt, der jetzt viel größer als vorhin im unterirdischen Gang stand. Sekunden verstrichen wie Minuten und keiner von uns wagte es, sich zu rühren. Als mit einem leisen Klick das Licht der Verfolger erlosch, zuckte ich zusammen. Jemand lauschte angespannt in die Finsternis. Hatte er uns gehört oder gar gesehen? Die Bewegungen, dieses Mal sehr darauf bedacht, nicht mehr Geräusche als nötig zu erzeugen, ließen Marcie und mich jegliche Vorsicht und Erschöpfung vergessen. Sofort rannten wir in gebückter Haltung weiter. Das metallene Hämmern unserer Schritte paarte sich mit denen der Jäger. Immer wieder stieß mein Kopf an die Decke des niedrigen Tunnels. Lange würden wir es nicht mehr aushalten, uns so vorwärtszubewegen. Meine Oberschenkel krampften bereits schmerzhaft von der gedrungenen Haltung, zu der uns der Tunnel zwang.

Das Ende kam unerwartet. Mein ohnehin lädiertes Gesicht schlug hart auf dem Betonboden unterhalb des Röhrenausgangs auf und Marcies Körper prallte mit Wucht in meinen Rücken. Ich ächzte vor Schmerz und schob Marcie sanft von mir. Langsam richtete ich mich auf und griff nach meiner Taschenlampe. Wir befanden uns in einem großen Raum, in dessen Zentrum fünf Sammelbecken der Filteranlage standen. Schutt und Schmutz bedeckten den Boden. Eine rote, solar gesteuerte Notbeleuchtung tauchte den Saal in ein unheimliches Licht und aus dem Generatorenraum unmittelbar neben uns erklang ein leises Zischen.

»Kay?«, wisperte Marcie. Ich lenkte meinen Blick auf sie und sah, dass sie auf die dunkle Tunnelöffnung circa einen Meter über uns wies. Das Schnaufen unserer Verfolger war jetzt deutlich zu hören. Eilig suchten meine Augen den Raum nach einem Versteck ab, bis sie an dem metallenen Generatorenhäuschen rechts von uns hängen blieben. Ein gelbes Warnschild mit einem schwarzen Blitz ließ mich vermuten, dass das Häuschen für die Stromversorgung der Anlage verantwortlich gewesen war. Der finstere Spalt zwischen Stromhäuschen und Außenwand erschien mir als Versteck geeignet.

Erleichtert griff ich nach Marcies Hand. Die Öffnung war eng, dennoch schafften es erst Marcie, dann ich, uns hineinzuschieben.

»Was, wenn sie uns helfen wollen?«, flüsterte Marcie. Wieder konnte ich einzig und allein meiner Intuition folgen. Ich schüttelte den Kopf und legte mir den Zeigefinger an die Lippen. Die Geräusche aus der Röhre schwollen an und mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen. Ich schob mich an die Kante des Spaltes und konnte so mühelos den Tunnelausgang im Blick behalten.

Wir mussten nicht lange warten, bis der Erste von ihnen durch den Tunneleingang nach draußen blickte. Meine Augen hatten sich inzwischen an die rote Notbeleuchtung gewöhnt, sodass ich das Blau der Grenzwächteruniform erkennen konnte. Der Mann war im Gegensatz zu uns auf den Füßen gelandet. Nach und nach sprang der komplette Trupp aus der Öffnung; eine Gruppe von sechs Männern, die sich etwa zwei Meter entfernt von uns sammelte. Skeptisch beäugte ich, wie einer der Grenzwächter die Hand ausstreckte und sich eine blasse Frauenhand hineinlegte. Mit einem geschickten Sprung landete die weißbekittelte Person vor dem Rohr.

Spitze, prägnante Gesichtszüge, die an eine Art Nagetier erinnerten, prägten ihr Gesicht. Ihre brünetten Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden und wurden von grauen Strähnen durchzogen. Die stechenden Augen drangen bis tief in meine Seele, während sie den Raum nach uns absuchten.

Ich kannte diese Frau.

Irgendwoher.

Doch so sehr ich mich anstrengte, mir wollte nicht einfallen, wo ich sie schon einmal gesehen haben könnte.

»Schwärmt aus! Sucht sie!« Die kalte Stimme der Fremden gellte wie ein Peitschenknall durch die verlassene Anlage.

Ich hielt den Atem an, als ich Gerrit ausmachte. Angespannt musterte ich ihn. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen: So viel Sorge lag darin. Gerrit war ein sonniges Gemüt und selbst den negativsten Situationen schien er noch Positives abzuringen. Doch der Ausdruck, den sein Gesicht jetzt angenommen hatte, war voller Resignation und Besorgnis; so kannte ich meinen Freund ganz und gar nicht. Ich schluckte schwer. Wir mussten in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.

Meine Gedanken rasten. Was sollten wir tun? Vielleicht hatte Marcie ja recht und sie wollten uns tatsächlich nur helfen. Das Einzige, was mich davon abhielt, aus unserem Versteck zu treten, war dieses tief verwurzelte Gefühl der Angst, das sich einfach nicht abschütteln ließ. Ich rang noch innerlich mit mir, als die Stimme der Unbekannten durch den Trakt hallte.

Bitte jetzt keinen Blackout, bitte jetzt keinen Blackout, beschwor ich mein Mantra herauf, welches in den letzten Wochen meine Tage beherrschte.

»Kay, wir wissen, dass du hier bist.« Die Art, wie die Frau meinen Namen aussprach, ließ mich erstarren. Sie zog den letzten Buchstaben ungewöhnlich lang. Fast wirkte es so, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie dies tat. »Es gibt keinen Ausweg, abgesehen von dem Rohr, durch das ich mich extra wegen dir zwängen musste.«

Die wachen Augen der Fremden, die meinen Namen kannte, wanderten durch den gesamten Raum, ohne einen bestimmten Punkt auszumachen. Offenbar hatte sie uns noch nicht entdeckt.

»Ich muss dir leider sagen, dass ihr zwei euch strafbar gemacht habt. Es war außerordentlich dumm, vor der Untersuchung zu flüchten. Ich hätte mehr von dir erwartet, Kay.« Ihre Stimme klang ruhig, aber bedrohlich.

Woher kannte ich diese Frau? Ich zermarterte mir das Gehirn, aber der Funken wollte einfach nicht überspringen. Ich fühlte, wie Marcies kalte Hand vorsichtig nach meiner tastete, und drückte sie kurz. Wir wussten beide, was es im Centro bedeutete, gesetzwidrig zu handeln.

»Des Weiteren wird dir vorgeworfen, einen speziell durch die Regierung abgesperrten Bereich betreten zu haben. Nun, dessen sind wir ja alle Zeuge geworden. Auf diese Dinge steht, wie du sicherlich weißt, der Ausschluss aus der Gesellschaft.« Wie um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, schnalzte die Frau missbilligend mit der Zunge. Irgendwie wirkte sie äußerst unzufrieden mit der gegenwärtigen Situation; beinahe so, als wäre sie persönlich betroffen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Ich spürte, wie Marcie neben mir erstarrte. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr tröstend den Arm um die Schulter zu legen, aber selbst dafür reichte der Platz in der Spalte kaum. Stattdessen blinzelte ich ihr aufmunternd zu. Wir mussten nur durchhalten, dann würde alles wieder gut werden. Sie würden uns nicht entdecken. Das redete ich mir zumindest ein.

»Wir haben nun folgende Möglichkeiten.« Die Spitznasige räusperte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Erstens: Ich weise die Grenzwächter an, die Halle auf den Kopf zu stellen und euch zu finden. Das würde für dich und vor allem für deine Schwester unschöne Wartezeit bedeuten, die letztendlich in einem unangenehmen Heimtransport seinen Höhepunkt erreichen würde. Die Geduld der Wächter ist nicht sehr strapazierfähig, musst du wissen.«

Einige Sekunden herrschte Stille und ich presste die Lippen aufeinander, unterdessen sich Marcie an meiner Hand festkrallte. Die Ungewissheit, ob die Frau uns nur Angst machen wollte oder Wahrheit in ihren Worten steckte, schnürte mir die Kehle zu.

»Zweitens: Ihr unternehmt einen Fluchtversuch, während wir mit der Suche beginnen. Ist dies der Fall, kann ich dir garantieren, Kay, dass wir zwei eine sehr unangenehme Begegnung miteinander haben werden. Und wir werden euch finden, daran besteht keinerlei Zweifel.«

Sie ging einige Schritte durch den Raum und ich sah deutlich, wie sich ihr Mund zu einem süffisanten Lächeln verzog. Es kostete mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht vor Wut und Trotz über die verfahrene Situation gegen die metallene Wand unmittelbar vor mir zu treten. Noch immer wollte mir nicht einfallen, woher ich diese Frau kannte. Es fühlte sich an, als würde ich an einem der dunklen Löcher in meinem lückenhaften Gedächtnis zerren. Ein stechender Schmerz breitete sich hinter meiner Stirn aus.

»Drittens: Du erhältst jetzt von mir die einmalige Gelegenheit, dich zu stellen, und ich bin gewillt, euch ohne Schwierigkeiten zurückzubringen. Dort wird euch dann natürlich der Prozess gemacht. Aber es besteht so immerhin – eventuell – die Möglichkeit, dass deine Schwester verschont bleibt.«

Mich durchzuckte es wie ein Blitz, doch Marcie zog kurz, aber bestimmt an meinem Arm. Ihre grünen Augen blickten mich flehend an und ich rang mit mir. Die Wahl zwischen dem jeweiligen Übel fiel schwer. Und trotzdem hallte die Möglichkeit, zumindest Marcies Leben zu retten, laut durch meine Gedanken.

»Du siehst, deine Optionen sind begrenzt, und selbst die vorhandenen dürften dich nicht unbedingt glücklich stimmen. Du weißt es zweifellos nicht, aber es ist sonst ganz und gar nicht meine Art, verschiedene Möglichkeiten anzubieten. Es ist dir also nur zu empfehlen, auf mein Angebot einzugehen. Denk zumindest an das Glück deiner Schwester.«

So sehr ich mich bemühte, mir fiel weder ihr Name noch ein Argument ein, warum ich ihr vertrauen sollte. Mein Herz pochte gegen meinen Brustkorb, als mir klar wurde, dass ich eigentlich keine Wahl hatte. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit, bis sie uns hier finden würden. Meine Gedanken rasten und stolperten über unmögliche Lösungsansätze. Doch eins war bei all meinen Überlegungen klar: Marcie musste überleben.

Ich würde also im Endeffekt vor Gericht aussagen, dass ich sie gezwungen hatte mitzukommen; dass sie sich geweigert hatte. Und ich würde zu allem, was auch immer sie mir vorwarfen, geduldig nicken. Vielleicht würde sich Celeste um Marcie kümmern; oder sogar Gerrit.

»Noch eine Minute, Kay.« Die Unbekannte klopfte bedächtig auf ihre Uhr. Ihre Lippen formten nun eine Linie und ich konnte erkennen, dass ihre rechte Augenbraue nervös zuckte.

»Pssst …«

Zuerst hörte ich es gar nicht.

»Pssssst …«

Da war es wieder. Ich blickte mich irritiert um und fing Marcies fragenden Blick auf.

»Hier!«

Es war nicht mehr als ein Wispern, aber es ließ uns beide zusammenfahren. Marcie war es, die schließlich hektisch auf ein Gitter am Boden deutete. Ich kniff die Augen zusammen. Im Dunkeln darunter war kaum etwas zu erkennen, und dennoch konnte ich eine Bewegung ausmachen.

»Kay, die Zeit arbeitet gegen dich!« Wut klang aus der eben noch so ruhigen Stimme der Wissenschaftlerin.

Ich beobachtete, wie sich das Gitterwerk unter uns mit einem leisen Quietschen löste und nach oben gedrückt wurde. Schnell rutschte ich ein Stück zur Seite, sodass das Gitter neben mir Platz fand. Mein Blick huschte nervös zu der unheimlichen Kittelträgerin, die, zu unserem Glück, nichts gehört zu haben schien.

»Los! Nehmt jeden Quadratzentimeter auseinander! Ich will, dass ihr mir die beiden bringt!« Ihre Stimme klang jetzt scharf und befehlend.

Unvermittelt zog etwas von unten an meinem Arm. Ich sah weiße Fingerspitzen, die aus einem schwarzen Handschuh ragten. Und plötzlich ging alles ganz schnell. Ich vernahm sich nähernde Schritte und Panik wallte in mir auf. Ein rascher Blick zu Marcie signalisierte mir, dass wir uns einig waren. Wortlos bedeutete ich ihr, zuerst in die Öffnung zu klettern. Endlich kam uns unser Untergewicht zugute, denn Marcie schaffte es gerade so, sich durch die kleine Öffnung zu zwängen. Nach einer gefühlten Ewigkeit war sie endlich vollständig in der Dunkelheit verschwunden. Mit dem rechten Fuß voran tastete ich in den Einstieg hinein. Nach haltlosem Umhertasten traf mein Fuß schließlich auf eine Sprossenleiter. Vorsichtig tat ich einen Schritt nach dem anderen und zwängte mich durch die schmale Spalte in die Tiefe. Der Rand der Öffnung drückte sich schmerzhaft gegen meinen Körper, doch es musste einfach gehen. Schmerzen spielten jetzt keine Rolle. Jemand zerrte an meinen Füßen und ich klammerte mich an die Hoffnung, dass es sich dabei um Marcie handelte. Auf Höhe meiner Hüfte klemmte mein Körper schmerzhaft in der in den Stein gehauenen Öffnung.

Wieder vernahm ich Schritte; ganz in der Nähe. Schweiß trat mir auf die Stirn, während ich versuchte, die aufkeimende Panik niederzukämpfen. Meine Knochen protestierten schmerzhaft und mit jeder ruckartigen Bewegung, die mich meinem Ziel näher brachte, wurde mein Fleisch weiter gequetscht. Quälend langsam rutschte mein Körper in das enge Loch. Die klaustrophobischen Gefühle, die mich überfielen, wurden nur noch von der Angst, entdeckt zu werden, übertrumpft. Meine Schulter schmerzte, als ich sie gewaltsam an dem unnachgiebigen Steinsims vorbeidrängte. Beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgelacht, als mein Körper in die Tiefe glitt. Gerade als ich meinen Kopf in die Dunkelheit des lichtlosen Tunnels ziehen wollte, sah ich es: Die aufgerissenen Augen meines langjährigen Freundes, Gerrit. Ich konnte seinen Ausdruck nicht recht deuten. Da war Angst. Oder auch Enttäuschung.