29. EINE SPUR VON DEN COKYRIERN
Zwei Tage später erwachte ich morgens von einem lauten Klopfen an meiner Schlafzimmertür.
»Prinzessin Alera, sie haben ihn!« Tadark klang aufgeregt und war hörbar erfreut, Überbringer der guten Nachricht zu sein.
»Wer hat wen?«, rief ich zurück.
»London und Destari – sie haben letzte Nacht die Cokyrier gefasst! Und sie haben Lord Narian!«
»Ist er unversehrt?«, fragte ich und war auf einen Schlag hellwach. »Sind London und Destari unverletzt?«
»London und Destari sind müde, aber unversehrt«, antwortete Tadark wohlgemut, als ob er persönlich an der erfolgreichen Aktion beteiligt gewesen wäre. »Lord Narian wurde in seine Gemächer gebracht. Man hat den königlichen Leibarzt gerufen, aber ich denke, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Von irgendwelchen Verletzungen habe ich nichts gehört.«
»Ich danke dir«, antwortete ich ihm aufgeregt. »Ich komme gleich heraus und will Narian umgehend besuchen.« Ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass ihm kein Leid geschehen war.
Sahdienne kam in mein Schlafzimmer und half mir beim Ankleiden. Ich ließ das Frühstück ausfallen und machte mich stattdessen auf den Weg in das Gästezimmer im dritten Stock, wo Narian untergebracht war. Tadark folgte mir auf dem Fuße. Als ich die Tür erreicht hatte, die auf dem Flur gegenüber von dem Zimmer lag, in dem man ihn als Gefangenen festgehalten hatte, klopfte ich kräftig an die Tür. London öffnete mir. Auch Destari war im Zimmer, aber keiner von beiden schien sich über mein Erscheinen zu wundern. Ich durchquerte sogleich den Raum und trat an Narians Bett. Er lag in Hemd und Hose auf dem Doppelbett, zugedeckt mit einer Wolldecke. Davor standen seine Stiefel. Seine Lederjacke und der Umhang waren über das Fußende geworfen. Er sah etwas magerer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, schien aber friedlich zu schlummern. Ich wollte schon die Hand ausstrecken und sein Gesicht berühren, doch sogleich wurde mir klar, dass eine solche Geste zu viel über mein Verhältnis zu ihm verraten hätte.
»Sie haben ihm irgendetwas gegeben, aber der Doktor meint, er würde einfach noch eine Weile schlafen«, erklärte London und trat neben mich. »Er ist für Cokyri zu wertvoll, als dass sie ihm echten Schaden zufügen würden.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Mir täte jeder Cokyrier leid, der dafür verantwortlich gemacht würde, dass Narian etwas Ernstliches zustößt.«
»Erzähl mir von seiner Rettung«, drängte ich. Jetzt, wo ich wusste, dass er in Sicherheit war, wollte ich alle Details wissen.
»Es lief wie erwartet. Wir überwältigten die Cokyrier, nachdem sie die Mauer überwunden hatten, und haben jetzt drei Gefangene in unserem Kerker.« London runzelte die Stirn und fuhr fort: »Einer konnte jedoch entkommen, was bedeutet, dass die Hohepriesterin und der Overlord inzwischen wahrscheinlich schon wissen, dass der Entführungsversuch gescheitert ist.« Er sah Destari an, der am Fuß des Bettes stand. »Ich fürchte ihre Reaktion darauf.«
Während die beiden sich noch unterhielten, ging die Tür auf und Cannan kam herein. Er steuerte sofort auf seine Männer zu.
»Wie geht es ihm?«, fragte er und sah auf Narian hinab. London wiederholte, was er mir bereits gesagt hatte. Cannan winkte die beiden Elitegardisten ein Stück beiseite und fragte: »Was glaubt ihr, wie die nächsten Machenschaften des Feindes aussehen werden?«
»Er wird rasch und heftig Vergeltung üben«, sagte London in bitterem Ton. »Wir sollten alle, die außerhalb der Stadt leben, auffordern, sich sofort in den Schutz der Stadtmauern zu begeben.«
Einen Moment lang stand der Hauptmann nachdenklich da, dann verließ er ohne ein weiteres Wort das Zimmer. London und Destari folgten ihm. »Sag uns Bescheid, sobald Narian erwacht«, wiesen sie Tadark, der sich im Hintergrund gehalten hatte, noch an.
Als ich mit Tadark und Narian allein war, bat ich meinen Leibwächter, mir einen Sessel ans Bett zu rücken. Und dann saß ich zum zweiten Mal innerhalb einer Woche am Bett eines Mannes, den ich liebte, und wartete darauf, dass er erwachte.
Irgendwann plagte mich der Hunger und ich schickte Tadark, mir Brot und Suppe zu holen. Auch wenn Narian sich nicht gerührt hatte, so ging sein Atem doch kräftig und gleichmäßig, und ich traute mich endlich, ihm meine Zuneigung zu zeigen. Sein Gesicht war von mir weg zur Seite gedreht, und ich strich ihm ein paar blonde Strähnen aus der Stirn. Ich sehnte mich danach, in seine dunkelblauen Augen zu blicken. Während ich seine ernste Miene studierte, packte mich die Neugier auf das Zeichen des blutenden Mondes, von dem London gesprochen hatte. Ich rutschte aus meinem Sessel und sank auf die Knie, um besser sehen zu können. Dann schob ich die Haare von seinem Ohr und seinem Hals fort. Ich schnappte hörbar nach Luft, als ich das Geburtsmal entdeckte. Es war nicht besonders groß, sah jedoch unheimlich aus. Ein zunehmender Halbmond, zackig angeschnitten und am unteren Ende mit einer unregelmäßigen roten Linie versehen, die an Blut erinnerte. Das Ganze wirkte, als hätte jemand mit einer Sägezahnklinge den Vollmond zerschnitten und den Himmelskörper so zum Bluten gebracht. Ich schob die Haare wieder darüber, als wollte ich den Beweis dafür verhüllen, dass er derjenige war, dem das Schicksal beschieden hatte, die Legende zu erfüllen.
Alte Ängste stiegen in mir auf und ich erhob mich, um das Zimmer und dessen karge Möblierung in Augenschein zu nehmen. Das Bett stand an die Wand gerückt. Direkt neben dem mit Eisblumen bedeckten Fenster, das in den sonst so schönen, aber jetzt winterlich kahlen Garten hinausging. Vor dem Kamin, in dem ein paar Scheite loderten und rauchten, standen gepolsterte Sessel und ein kleiner mit Bücher bedeckter Tisch. Narians Schwertscheide samt Schwert waren um einen der Bettpfosten am Kopfende geschlungen. Seine Dolche lagen auf einer Bank neben dem Feuer.
Ich sah mir die Bücher auf dem Tisch an und staunte über die vielseitige Mischung. Da gab es einen Band über hytanische Geschichte, einen über die Verwendung von Heilkräutern in der Medizin sowie zwei über Waffenkunde. Außerdem entdeckte ich einen philosophischen Text, ein Buch über Falknerei und zu meiner großen Freude auch einen Gedichtband. Den nahm ich zur Hand und setzte mich wieder in meinen Sessel. Dann blätterte ich in dem Buch, bis Tadark mit einem Tablett voller Essen zurückkam. Ich aß mit großem Appetit, doch als ich das Besteck beiseitelegte und das Buch wieder zur Hand nehmen wollte, räusperte mein Leibwächter sich.
»Wir könnten Schach spielen«, schlug er vor. »Im Bücherregal habe ich ein Brett entdeckt.«
Da Narian nach wie vor fest schlief, stimmte ich zu, um mir die Zeit zu vertreiben. Tadark rückte den kleinen Tisch und einen weiteren Sessel in meine Nähe, dann stellte er die Figuren auf. Als wir eine Stunde später ganz ins Spiel vertieft waren, erschreckte Narians heisere Stimme mich.
»Wer gewinnt?«
»Narian!« Mit einem strahlenden Lächeln sah ich ihn an. »Wie fühlst du dich?«
Er legte eine Hand an seinen Kopf und schloss kurz die Augen.
»Mein Kopf schmerzt, und ich bin durstig, aber abgesehen davon geht es mir gut.«
»Ich hole etwas zu essen und zu trinken«, sagte Tadark zu mir und war schon aufgestanden. »Und ich werde Cannan und den anderen Bescheid sagen, dass er jetzt wach ist.«
Nachdem Tadark gegangen war, runzelte Narian verwirrt die Stirn. »Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte er.
»Cannan wird dir alles erklären«, antwortete ich und war in Hochstimmung.
»Wie lange war ich fort?«
»Fünf Tage.«
Er nickte und stöhnte dann auf, weil ihm die leichte Bewegung offenbar Schmerzen verursachte.
»Ruh dich einfach noch aus«, riet ich ihm, und er blieb mit geschlossenen Augen still liegen.
Während ich ihn beobachtete, war ich plötzlich verunsichert, denn ich sehnte mich danach, ihn zu umarmen. Doch das wäre unangebracht gewesen, schließlich waren wir allein im Raum, noch dazu lag er im Bett. Es bekümmerte mich regelrecht, dass ich mir wünschte, Tadark käme zurück.
Narian rührte sich nicht, und ich vermutete schon, er wäre wieder eingeschlafen, da ging die Tür auf und Cannan kam herein. Ihm folgten London, Destari und Tadark mit Brot, Eintopf und Dunkelbier. Narian schlug die Augen auf, versuchte, sich aufzusetzen und erstarrte, als er der Männer gewahr wurde. Ohne Umschweife sprach er London an.
»Ich habe doch gesehen, wie ein vergifteter Pfeil dich traf! Wie kann es sein, dass du noch am Leben bist?«
»Du klingst richtig enttäuscht«, erwiderte London ironisch, während er mit den anderen an Narians Bett trat.
Ohne lange zu überlegen, beantwortete ich die Frage, weil ich das angespannte Verhältnis der beiden Männer kannte und vermeiden wollte, dass es gleich zu einem Streit kam.
»Wir glauben, dass Londons Jacke das meiste Gift aufgesaugt hat und nicht genug davon in seinen Körper gelangte, um ihn zu töten. Dennoch war er einige Stunden lang außer Gefecht gesetzt und hat uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.« Ich holte tief Luft und merkte, dass ich zu viel redete, schaffte es aber trotzdem nicht, meinen Mund zu halten. »London und Destari sind für deine Rettung verantwortlich. Sie …«
»Das sind militärische Angelegenheiten«, sagte Cannan in strengem Ton zu mir und dämmte damit meinen Redefluss ein.
Er wandte sich an Narian. »Woran könnt Ihr Euch erinnern?«
Narian schob langsam seine Füße vom Bett und hielt sich wieder den Kopf. Er nahm das Tablett von Tadark entgegen und gönnte sich einen langen Zug von dem Bier, bevor er zu sprechen begann.
»Wie Ihr ja wisst, hat man mich bei den Feierlichkeiten am Heiligen Abend entführt. Ich verlor das Bewusstsein, kurz nachdem ich gesehen hatte, dass London attackiert wurde. Von da an hatte ich kein Zeitgefühl mehr. Meine Peiniger mischten mir etwas in meine Getränke, das mich außer Gefecht setzte. Ich versuchte zwar, so wenig wie möglich davon zu mir zu nehmen, aber sie verabreichten mir das Mittel auch auf andere Weise. Was ich trotzdem mitbekam, war, dass wir mehrfach den Aufenthaltsort wechselten, meist nachts.«
Er aß ein paar Löffel von dem Eintopf und nahm noch einen tiefen Zug Bier, dann erzählte er weiter.
»Meine Entführer waren zu viert, zwei Männer und zwei Frauen. Ich schnappte immer wieder Fetzen ihrer Gespräche auf und verstand, dass sie Schwierigkeiten damit hatten, aus der Stadt zu gelangen. Ich erfuhr auch, dass sie seit dem Turnier meinen Aufenthaltsort kannten, doch hatte die Hohepriesterin mir Gelegenheit geben wollen, freiwillig zurückzukehren.«
Er runzelte die Stirn, als er versuchte, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, dann seufzte er enttäuscht.
»Das ist alles, was ich weiß. Jetzt würde ich gern erfahren, wie ich hierhergekommen bin.«
»Wir haben ihnen eine Falle gestellt. Und als die Cokyrier versuchten, Euch über die Mauer zu schaffen, da haben London, Destari und die Männer unter ihrem Kommando Euch gerettet«, berichtete Cannan ihm. »Jetzt haben wir drei von ihnen in Gewahrsam. Einer konnte fliehen und ist inzwischen zweifellos wieder in Cokyri.«
Narian ließ ein eingetauchtes Stück Brot in der Luft hängen.
»Die Menschen aus den umliegenden Dörfern sind in Gefahr«, warnte er. »Nachdem der Versuch, mich auf friedliche Weise in ihre Gewalt zu bringen, gescheitert ist, wird Cokyri unverzüglich angreifen.«
»Das vermutet London auch«, erwiderte Cannan. »Aber glaubt Ihr nicht, dass sie zuvor versuchen werden, die Gefangenen frei zu bekommen? Ein Angriff könnte doch zu ihrer unverzüglichen Hinrichtung führen.«
»Sie haben in ihrer Mission versagt und damit ohnehin ihr Leben verwirkt«, konstatierte Narian grimmig.
Cannan dachte kurz darüber nach, bevor er fortfuhr. »Zum Schutz vor einem Angriff habe ich veranlasst, dass alle, die bereit sind, sich schon in die Stadt begeben sollen. Man sorgt für Behelfsunterkünfte in Kirchen und Versammlungssälen und baut auch bereits an Notbehausungen, um dem großen Andrang gerecht zu werden.«
»Man muss vor Einbruch der Dunkelheit alle Menschen hinter die Stadtmauern schaffen, egal ob sie bereit sind oder nicht«, erklärte London.
Cannan funkelte ihn böse an. Er war offenbar verärgert, weil London ihn korrigiert hatte. Aber Cannan antwortete nicht, da seine Befehle als unumstößlich galten, egal, was London davon hielt. Ich war mir sicher, dass die beiden in dieser Hinsicht schon mehr als einmal aneinandergeraten waren.
»Ich vermute, Ihr habt den Gefangenen ihre Kleider abgenommen, aber habt Ihr auch all ihren persönlichen Besitz konfisziert? Stiefel, Gürtel, Schmuck?« Narians Fragen beendeten die stumme Auseinandersetzung zwischen London und seinem Hauptmann, denn sie erforderten Cannans Aufmerksamkeit.
»Das habe ich angeordnet, aber ich werde mich von der vollständigen Ausführung noch persönlich überzeugen. Ich habe auch als Vorsichtsmaßnahme rund um die Uhr eine Wache vor Eurer Tür postiert und werde Euch einen Leibwächter zur Seite stellen, sobald Ihr in der Lage seid, Euch im Palast zu bewegen.«
Narian nickte, sagte aber nichts mehr.
»Jetzt solltet Ihr essen und Euch ausruhen. Der König wird Euch im Laufe des Tages noch einen Besuch abstatten.« Mit Blick auf mich meinte Cannan noch: »Destari übernimmt wieder den Dienst als Euer Leibwächter. Ihr solltet Euch jetzt zurückziehen und Narian Gelegenheit geben, sich zu erholen.«
Er winkte Tadark und dem immer noch sichtlich erzürnten London, ihm zu folgen, und die drei Männer verließen den Raum.
Da Cannan mir keine andere Wahl gelassen hatte, murmelte ich nur einen Abschiedsgruß für Narian und kehrte mit Destari in meine Gemächer zurück. Dort durchquerte ich mein Schlafzimmer, öffnete die Balkontüren und trat in die klirrend kalte Winterluft hinaus. Ich beobachtete das geschäftige Treiben außerhalb der Mauern des Innenhofs, mit dem man versuchte, die gesamte hytanische Bevölkerung hinter den Stadtmauern in Sicherheit zu bringen. Vor den Toren wimmelten die Straßen von Dorfbewohnern, die sich in einem stetigen Strom auf die Stadt zubewegten. Schaudernd kehrte ich in mein Zimmer zurück und schloss die Türen hinter mir.
Am späten Nachmittag suchte mein Vater mich auf.
»Ich bin auf dem Weg zu Narian und dachte, du würdest mich vielleicht begleiten wollen«, sagte er und begrüßte mich mit einem Wangenkuss.
»Ja, das würde ich gern«, erwiderte ich, vielleicht eine Spur zu freudig, denn sogleich fiel ein Schatten über sein Gesicht.
»Ich habe bemerkt, dass es da … Anzeichen von Zuneigung … zwischen euch beiden gibt«, sagte er und schien auf meine Reaktion zu warten.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er dieses Thema anschnitt, und vermutlich war ihm meine Miene Bestätigung genug.
»Ich nehme an, dass diese Zuneigung rein freundschaftlicher Natur ist. Er wäre viel zu jung … zu unerfahren … um ernsthaft als Bräutigam für Euch infrage zu kommen.«
Seine Worte waren mit Bedacht gewählt, aber ich bemerkte die unausgesprochen damit zum Ausdruck gebrachten Vorbehalte gegen Narian sehr wohl. Ich nickte, weil ich mir nicht die geringsten Hoffnungen machte, meinen Vater umstimmen zu können.
»Nun denn«, sagte er und bot mir seinen Arm an. Ich wusste, dass er die Angelegenheit damit als erledigt betrachtete. »Gehen wir?«
Er entließ Destari, damit er sich anderen Aufgaben zuwenden konnte, und wir begaben uns in den dritten Stock.
Mein Vater und ich verbrachten eine halbe Stunde bei Narian, wobei ich allerdings kaum ein Wort sagte, weil ich fürchtete, meine wahren Gefühle für den jungen Mann nicht verbergen zu können. Der König war dagegen bester Stimmung, und das, obwohl uns der cokyrische Angriff drohte. Aber vermutlich betrachtete er Londons Genesung und Narians Rückkehr als Triumphe.
Als mein Vater sich anschickte aufzubrechen, lud er mich ein, den Tee mit ihm zu nehmen. Das sollte anscheinend der dezente Hinweis darauf sein, dass er es unschicklich fände, wenn ich ohne Anstandsdame noch länger in Narians Zimmer bliebe. Gemeinsam stiegen wir die Wendeltreppe hinab und begaben uns auf die Vorderseite des Palastes. Unser Spaziergang über die Flure des ersten Stockwerks fand ein abruptes Ende, als wir eine Tür knallen und laute, wütende Stimmen hörten. Die Geräusche kamen aus der Eingangshalle, wo London und Cannan standen und sich wütend anstarrten. Offenbar waren sie soeben aus dem Dienstraum des Hauptmannes gekommen.
»Wenn Ihr heute Abend nicht alle in die Stadt schafft, werdet Ihr morgen früh nur noch Leichen einsammeln können.« London wirkte höchst angespannt und hatte die geballten Fäuste in die Hüften gestemmt.
Meinen Vater schien die Szene vor unseren Augen zu alarmieren, und er entzog mir seinen Arm. Mit einer Hand bedeutete er mir zurückzubleiben, dann eilte er zu den beiden Streithähnen in die Halle hinunter.
»Meine Patrouillen haben mir keine Spur von den Cokyriern gemeldet«, sagte Cannan und funkelte London an. Er machte noch einen Schritt auf seinen renitenten Elitegardisten zu, sodass kaum noch ein Fußbreit zwischen den beiden blieb. »Und du wirst meine Autorität nicht auf diese Weise infrage stellen.«
»Auf welche Weise soll ich sie denn dann infrage stellen?«, antwortete London streitlustig.
»Du wirst mir den gebotenen Respekt erweisen und mich als ›Sir‹ oder ›Hauptmann‹ ansprechen, wenn du dich nicht im Stubenarrest wiederfinden willst.«
Ganz offensichtlich war Cannan mit seiner Geduld am Ende, was Londons offensichtliche Missachtung von Befehlshierarchien und die Neigung, seinem Vorgesetzten Befehle zu erteilen, anging.
»Dann widme ich mich doch lieber gleich meiner Lektüre, bis Ihr mich das nächste Mal braucht, um eine Krise zu bewältigen. Aber wenn es so weit ist, könnte es durchaus sein, dass ich nicht dazu bereit sein …«
London beendete den Satz nicht, da er meinen Vater herbeieilen sah. Er warf seinem Hauptmann einen letzten verächtlichen Blick zu, drehte sich um und stapfte durchs Haupttor in den Innenhof hinaus.
Mein Vater und Cannan sprachen kurz miteinander, waren aber zu weit weg, als dass ich ihre Unterhaltung verstanden hätte. Als der Hauptmann zu mir herübersah, trat ich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, ob ich überhaupt weiter warten sollte. Mir blieb jedoch wenig Zeit zum Überlegen, da mein Vater sogleich zu mir zurückkam.
»Vergib mir, Liebes, aber wir müssen unseren gemeinsamen Tee leider verschieben. Dringende Amtsgeschäfte, fürchte ich.«
»Mach dir keine Gedanken deswegen«, versicherte ich ihm und bemerkte, dass Cannan in der Eingangshalle stehen geblieben war und offensichtlich auf den König wartete.
»Möchtest du, dass ich dir eine Eskorte rufe?«
»Ich danke Euch, Vater, aber das wird nicht nötig sein. Ich kehre einfach in meine Gemächer zurück.«
Ich schenkte meinem Vater noch ein Lächeln und hakte mich, bis wir an die Prunktreppe kamen, bei ihm unter. Als ich ihn losließ und an Cannan vorüberging, machte dessen besorgte Miene mir ebenfalls das Herz schwer, denn ich musste an Londons düstere Prophezeiung denken.
Früh am nächsten Morgen trank ich gerade an einem Tisch vor dem Erkerfenster im Teesalon des ersten Stockwerks meinen Tee, um mir die Zeit zu vertreiben, während der draußen auf das dürre Laub niedergehende Nieselregen meine Möglichkeiten für den Tag reichlich einschränkte. Ich hatte geplant, am Nachmittag Narian zu besuchen, und Miranna eingeladen, mich zu begleiten. Zum einen, weil ich ihre Gesellschaft genoss, zum anderen als meine Anstandsdame. Für diese Aufgabe hätte zwar auch Destari genügt, aber ich hatte vor, ihn auf dem Flur zu lassen, weil ich wusste, dass Narian in seiner Gegenwart nicht frei sprechen würde.
Ich erinnerte mich an den Streit zwischen Cannan und London und überlegte gerade, ob ich Destari, der neben dem Kamin stand, auf den Vorfall ansprechen sollte, als London hereinstürmte.
»Heute Morgen ist noch kein Mensch in die Stadt gekommen, keine Patrouille hat Cannan Bericht erstattet, kein Landbewohner hat Schutz gesucht – keine einzige Seele.« Er klang gequält, während er mit seinem Freund sprach. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Nacht überlebt hat.«
Destari deutete mit dem Kopf in meine Richtung, um ihn stumm zu fragen, ob sie vor mir darüber reden sollten. Doch London nickte nur und schien zu besorgt, um sich darüber Gedanken zu machen.
»Weißt du, wie viele gestern in die Stadt gekommen sind?«, fragte Destari.
»Zweitausend vielleicht, aber man hat Hunderte ihrem Schicksal überlassen. Ich habe vor, hinauszureiten und mir selbst ein Bild von der Lage zu machen.« Ein grimmiger Unterton klang aus Londons Stimme.
»Ich reite mit dir«, sagte Destari ohne Zögern.
»Nein. Ich denke, es wird gefährlich, und es gibt keinen Grund, unser beider Leben aufs Spiel zu setzen.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, aber ich blieb stumm.
»Ich werde dich aufsuchen, sobald ich zurück bin.«
Als London ging, packte mich die Angst, und ich flüchtete mich in mein Schlafzimmer. Alle zehn bis fünfzehn Minuten wagte ich mich in die feuchte Kälte auf dem Balkon hinaus, um nach Bewegungen auf der anderen Seite der Stadtmauer Ausschau zu halten, aber die Landschaft war seltsam unbewegt. Aus den Häusern in der Ferne stieg nicht einmal Rauch auf.
Als ich etwa ein Dutzend Mal hinausgetreten war, erspähte ich endlich einen Reiter, der im Galopp näher kam. Ich stürmte aus meinen Gemächern und überraschte Destari.
»London ist zurück!«
Er packte mich am Arm, als ich gerade auf den Absatz der Prunktreppe laufen wollte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das Eure Angelegenheit ist«, sagte er barsch, woraufhin ich ihn gekränkt musterte.
»Ich habe wie jeder Hytanier ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert ist. Hier geht es nicht nur um das Leben von Soldaten.«
Dem konnte er nicht widersprechen und ließ resigniert von mir ab. Gemeinsam liefen wir den Flur entlang.
»Cannan!«, brüllte London, sobald er den Palast betreten hatte. Er zeigte auf eine der Wachen neben dem Tor und sagte kurz angebunden: »Hol mir Cannan her. Sofort!«
»Ich bin bereits hier.« Ich vernahm Cannans gefährlich ruhige Stimme und sah ihn durch das Wachzimmer aus seinem Dienstraum treten. Wie hypnotisiert von der Auseinandersetzung, die unter mir stattfand, blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen.
»Habt Ihr bemerkt, dass heute Morgen noch niemand in die Stadt gekommen ist?«, donnerte London und stapfte auf seinen Vorgesetzten zu. »Nun, ich kann Euch den Grund dafür nennen! Sie sind tot, allesamt tot! Soldaten, Bauersleute, Männer, Frauen und Kinder, ja, sogar das Vieh, allesamt letzte Nacht niedergemetzelt. Und am Flussufer wimmelt es von Feinden.« Cannans dunkle Augen hielten die indigofarbenen des Elitegardisten fest, während dieser noch mit schneidender Stimme hinzufügte: »Das würde ich durchaus als eine Spur von den Cokyriern bezeichnen.«
»Wir werden das jetzt nicht hier besprechen«, sagte Cannan und konnte seinen Zorn nur mühsam bändigen. »Komm mit mir, um dem König Bericht zu erstatten.«
»Ich werde mit ein paar Männern aufbrechen, um mir einen Überblick über die Verluste zu verschaffen und die Toten zu zählen, solange dafür noch Zeit bleibt. Inzwischen könnt Ihr den König darüber aufklären, wie gut Eure Strategie funktioniert hat.«
London kehrte dem Hauptmann den Rücken, doch Cannan streckte die Hand aus, packte ihn am Kragen seiner Lederjacke und riss ihn unsanft zurück.
»Du wirst mit mir kommen«, erklärte er wütend. Dann gab er den Wachen am Tor einen Wink, die einen Schritt nach vorn taten und sein Ansinnen unmissverständlich klarmachten.
London sagte nichts, sondern legte nur langsam die Hände auf seine Langmesser. In diesem Moment kam Destari die Treppe heruntergerannt, offenbar in der Absicht, die Auseinandersetzung zu beenden, bevor noch jemand verletzt würde.
»London, was unser Hauptmann verlangt, ist sinnvoll«, erklärte Destari und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. Dann wandte Destari sich an Cannan: »Sir, ich würde gern mit einem Trupp aufbrechen, um nach Überlebenden Ausschau zu halten und den Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen.«
Es verging ein langer, quälender Moment, in dem Cannan und London einander weiter wütend anstarrten.
»Gewährt«, sagte Cannan schließlich.
London richtete seinen Blick auf Destari, und seine Anspannung ließ ein wenig nach. Anscheinend fügte er sich seinem Freund Destari lieber als Cannan. Dann marschierte er am Hauptmann vorbei und in das Vorzimmer, das in den Thronsaal führte. Cannan winkte seine Wachen weg und folgte ihm.
Destari kehrte an meine Seite zurück und löste sanft meine Hand vom Treppengeländer. Erst da wurde mir bewusst, wie fest ich dieses umklammert hatte.
»Lasst mich Euch in Eure Gemächer zurückbringen«, schlug er vor und legte eine Hand auf meinen Arm, während er mich den Flur entlangführte. Ich widersprach nicht, sondern war von der Neuigkeit viel zu schockiert, um mich darum zu kümmern, wohin er mich brachte.