24. DER SCHAUKAMPF
Destari und ich bahnten uns den Weg zurück zur Königsloge. Zu meiner bisherigen Gefühlsverwirrung kam nun auch wieder die Trauer über die Trennung von London hinzu. Destari führte mich mit der Hand auf meinem Oberarm bis in Sichtweite der Wachen am Eingang. Dort ging ich voran und erklomm die Stufen. Als ich auf meinen Platz neben Miranna zurückkehrte, versuchte ich, mich so normal wie möglich zu benehmen. Ich hob die Pelzdecke auf, die ich auf meinem Sessel liegen gelassen hatte, und breitete sie über meinen Schoß.
Meine Schwester drehte sich zu mir um und riss die Augen auf. »Ist mit dir alles in Ordnung, Alera? Du bist so blass wie ein Gespenst!«
»Es geht mir aber gut«, versicherte ich ihr. Sie beugte sich herüber und stopfte die Decke um meine Beine fest, aus Sorge, ich sei krank. Als ich nichts weiter sagte, nahm sie ihre Unterhaltung mit Temerson wieder auf. Ich holte ein paarmal tief Luft, um meine Nerven zu beruhigen.
Ich versuchte, mir die gesammelten Ausreden und Argumente ins Gedächtnis zu rufen, die ich für alle Unwägbarkeiten, die Narian betrafen, gefunden hatte, doch nichts davon hielt einer strengeren Prüfung stand. Londons Auskünfte hatten das Puzzle vervollständigt, aus dem Narians Geschichte sich zusammensetzte, allerdings nicht so, wie es mir gefallen hätte.
Als ich merkte, dass ich schon viel zu lange auf einen Riss im Holzfußboden gestarrt hatte, hob ich den Kopf und bemerkte, dass Cannan mich beobachtete. Ich zwang mich zu einem künstlichen Lächeln und blickte aufs Turnierfeld hinaus. Just in diesem Moment fiel ein in Rot und Weiß gekleideter junger Mann von der Bühne, nachdem er einen besonders harten Schlag seines Gegners hatte einstecken müssen. Das Königspaar von Gourhan stöhnte resigniert auf. Die Menschenmenge am Hang brach in Jubelrufe und Applaus aus, da sie offenbar den Sieger, der die Farben Emotanas trug, favorisiert hatte.
»Wer hat denn gewonnen?«, fragte Miranna, die ihr Gespräch mit Temerson unterbrach, um das Treiben zu beobachten. »Oh, für ihn war ich auch!«
Ich war mir sicher, dass Miranna keinen der Teilnehmer auch nur im Entferntesten kannte, und diesen hier hatte sie sich mit Sicherheit nur deshalb ausgesucht, weil er etwas hübscher war als sein Gegner. Aber was auch immer ihre Gründe sein mochten, jetzt klatschte sie jedenfalls begeistert. Da das Königshaus von Emotana jedoch nicht zugegen war, bemerkte sie rasch, dass sie alleine jubelte, und ihre Begeisterung ebbte wieder ab.
Lanek verkündete für alle hörbar den Namen des Siegers, der sich sogleich tief verbeugte. Nachdem die Zuschauer sich wieder beruhigt hatten, humpelte er von der Bühne. Er musste sich bei diesem oder bei einem vorhergehenden Gefecht verletzt haben. Sein glückloser Gegner wurde sogar vom Platz getragen. Vermutlich in das Zelt der Ärzte, das etwas abseits stand.
Da erschollen bereits wieder die Trompeten und lenkten die Aufmerksamkeit erneut auf Lanek, der die Bühne erklommen hatte, um trotz seiner schmächtigen Gestalt gut sichtbar zu sein. Steldor und Narian bestiegen die Plattform von zwei Seiten, denn nun war der Zeitpunkt ihres Schaukampfes gekommen. Beide Männer trugen dunkle Hosen, weiße Hemden und hohe Lederstiefel. Außerdem hatte jeder einen ledernen Brustpanzer angelegt, der zumindest einen gewissen Schutz bot. Eine schwerere Rüstung hätte sie in ihren Bewegungen eingeschränkt. Und nachdem es sich um keinen echten Kampf handelte, war das Verletzungsrisiko ohnehin geringer. Beide hielten ein Langschwert in der Rechten. Steldor sein eigenes mit dem drahtumwickelten Ledergriff und dem Rubin am Knauf. Narians Waffe war am Griff ebenfalls mit Leder überzogen und mit Draht umwickelt, ansonsten aber schlicht, und es besaß eine schmalere, weniger klobige Klinge. An den Gürteln der beiden hingen Dolche.
Ich musterte Narian prüfend, konnte aber an seiner Haltung kein Unbehagen ablesen. Inbrünstig wünschte ich, er wäre sich der Gefährlichkeit seines Herausforderers deutlicher bewusst. Zwar bezweifelte ich, dass Steldor den Jungen unter diesen Umständen absichtlich verletzen würde, dennoch konnte ich die in meinem Kopf widerhallenden Warnungen nicht überhören. Narian war deutlich kleiner als Steldor, und außerdem traute ich den Absichten meines Verehrers nicht.
»Und nun folgt, als Höhepunkt des diesjährigen Turniers, der vielfach angekündigte Schaukampf zwischen Lord Steldor, Sohn des Hauptmanns Cannan, und Lord Narian, Sohn von Baron Koranis«, brüllte Lanek.
Koranis versteifte sich bei Narians Vorstellung, sagte jedoch nichts. Störte ihn die Verwendung des Namens Narian anstelle von Kyenn? Oder beabsichtigte er ohnehin nicht mehr, ihn als seinen Sohn zu deklarieren?
»Lord Steldor wird sich hytanischer Waffen bedienen«, fuhr Lanek fort, »Lord Narian wird die Waffen Cokyris benutzen.«
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge, als das Königreich erwähnt wurde, in dem Narian aufgewachsen war. Bald jedoch ertönte wieder das gewohnte Geschrei von den Wiesen und Rängen. Nachdem er seine Pflicht erfüllt hatte, stieg Lanek die Stufen hinab und überließ die Bühne den beiden Wettkämpfern.
Steldor und Narian nickten sich zu und gingen dann mit gezogenen Schwertern aufeinander zu. Als sie sich in der Mitte trafen, kreuzten sie die Klingen und begannen mit einem zunächst simplen Schlagabtausch. Dessen Tempo steigerte sich jedoch zunehmend, und er entwickelte einen geradezu rasanten Rhythmus.
Meine Anspannung ließ indessen ein wenig nach: Es ging kraftvoll zur Sache, aber es war dennoch ein Routinekampf. Ich war damit vollauf zufrieden, allerdings wurden die übrigen Zuschauer langsam unruhig, da sie eindeutig mehr erwartet hatten. Nach einiger Zeit reagierte Steldor auf die Unzufriedenheit der Menge, indem er mit einem spöttischen Grinsen einen Schritt von Narian zurücktrat und sein Schwert beiseiteschleuderte. Narian ging ebenfalls einen Schritt nach hinten, machte aber keine Anstalten, die Waffe zu wechseln.
Steldor zog seine Dolche mit Doppelklinge aus den Scheiden an seinem Gürtel, warf sie in die Luft und bekam sie sicher an den Griffen zu packen. Er senkte die Fäuste und näherte sich so seinem Gegner. Ohne innezuhalten oder den Blick abzuwenden, hob er seine Waffen, kreuzte sie vor sich und stieß damit in Richtung von Narians Brust. Dieser reagierte schneller, als ich das für möglich gehalten hätte, ließ sein Schwert fallen und packte Steldor bei den Handgelenken, sodass die Klingen drohend über seinen Schultern in der Luft hingen. Steldor beugte sich zu ihm vor und murmelte etwas, dann stieß er ihn nach hinten. Narian stürzte, und ich verspürte unerträgliche Angst in mir aufsteigen.
Steldor machte zwei Schritte rückwärts und wartete mit den Händen an seinen Seiten. Dabei verlagerte er ständig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich blickte mich kurz in der Königsloge um, weil ich sehen wollte, wie die anderen reagierten, aber alle starrten nur wie gebannt auf die Kampfbühne.
Entschlossen stand Narian wieder auf und bohrte seine Augen in Steldors. Er zog seine eigenen Dolche mit Doppelklinge, die so genau in seine Hände passten, dass nur die Klingen über seine Knöchel hinausragten. Dann stürmte er vorwärts, blieb wieder stehen und verpasste Steldor mit dem linken Bein einen so heftigen Tritt vor die Brust, dass dieser ein paar Schritte nach hinten stolperte. Er nickte Narian zu, als wäre er mit dessen Reaktion zufrieden.
Die Zuschauer waren von den Vorgängen auf der Bühne gefesselt, wo die Kontrahenten nun begonnen hatten, einander zu umkreisen. Dabei stolzierte Steldor anmaßend und drohend zugleich umher, während Narian sich eher duckte und in seinen Bewegungen an eine Raubkatze erinnerte. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe, auch wenn man merkte, dass diese neue Kampftechnik abgesprochen war, um die Menge möglichst gut zu unterhalten.
Steldor warf seine Dolche in die Luft, fing sie wieder auf und machte einen raschen Schritt auf Narian zu, um ihm mit dem Knauf seines Messers auf die Schläfe zu schlagen. Narian fiel hin, wich dem Schlag aber noch teilweise aus, wirbelte dann blitzschnell nach rechts und traf Steldor mit seiner Klinge über dem Knie. Mit blutendem Bein wich Steldor zurück, während Narian wieder auf die Füße kam. Allerdings tropfte von seiner Schläfe Blut.
Die Zuschauer waren gänzlich verstummt und schienen sich nicht mehr sicher zu sein, ob sie hier wirklich Zeugen eines Schaukampfes waren.
»Ich wage zu behaupten, dass die beiden sich ein wenig zu sehr hineinsteigern«, sagte mein Vater und lachte unbekümmert.
Ich vermochte seine Fröhlichkeit nicht nachzuvollziehen. Steldors Schlag war ohne jede Zurückhaltung erfolgt, und auch Narian wollte ganz offensichtlich Blut fließen lassen. Ich warf einen Blick auf Cannan, der stehend auf die Bühne starrte. Er biss die Zähne zusammen und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Faramay sah mit ängstlicher Miene ebenfalls Cannan an. Auch sie schien zu merken, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf. Dabei saß ich auf der Vorderkante meines Sessels, hielt die Armlehnen umklammert und betete stumm um Narians Unversehrtheit. Steldor war seit seinem achtzehnten Lebensjahr aus den Wettkämpfen aller Turniere als Sieger hervorgegangen und berühmt als bester Krieger im ganzen Recorah-Tal. Deshalb kreisten meine Gedanken auch nicht darum, wer aus diesem Gefecht als Sieger hervorgehen würde, sondern nur darum, wie deutlich Narian unterliegen würde.
Des Katz-und-Maus-Spiels offenbar müde stürzten sich die beiden Kontrahenten plötzlich aufeinander. Als sie mit Wucht zusammenprallten, stach Steldor mit seiner rechten Klinge auf Narian ein, der den Angriff jedoch abwehrte. Das Gleiche gelang ihm mit Steldors nächster Attacke mit der Linken. Nachdem er die beiden Dolche weggeschlagen hatte, riss Narian seinen rechten Arm nach oben und schnitt so den Brustpanzer seines Gegners auf. Steldor zog seine Arme schützend vor die Brust. Das nutzte Narian sofort aus, indem er seinen linken Arm vor Steldors Körper brachte, ihn mit der Sägezahnklinge an der Schulter traf und herumwirbelte. In der Bewegung stieß Steldor seine Rechte vor und schlitzte Narian die Schulter auf.
Faramay schnappte hörbar nach Luft, als die beiden voneinander zurücksprangen und Blut von beider Klingen tropfte. Inzwischen waren ihre weißen Hemden von dunklen Blutflecken verunziert.
Ich ließ den Blick über die Besucher der Loge schweifen und sah Koranis und Alantonya an, die nebeneinandersaßen. Alantonya wirkte starr vor Entsetzen, Koranis fasziniert. Mein Vater musterte die Bühne mit gerunzelter Stirn und drehte nervös an seinem Ring. Endlich schien auch er irritiert von dem Schauspiel. In den Gesichtern der königlichen Gäste entdeckte ich ebenso viel Verwirrung wie Sorge. Miranna, die neben mir saß, hatte die Hände auf ihre Wangen gepresst, bereit, sich jeden Moment die Augen zuzuhalten. Temerson hatte beruhigend eine Hand auf ihren Rücken gelegt. Meine Mutter, Faramay und Temersons Eltern schienen schockiert. Nur Cannans Haltung blieb vollkommen unverändert.
Als Steldor sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, taxierte er Narian einen Augenblick und stürmte dann auf ihn los, um überraschend einen Sprung zur Seite zu machen, Narian zwischen die Schulterblätter zu schlagen und schließlich sein rechtes Knie nach oben zu reißen, das ungebremst auf Narians Kinn traf.
Steldor verpasste Narian noch einen letzten Stoß, bevor er zurücktrat. Narian kniete am Boden und hielt seine Messer umklammert. Sein Kopf hing herab, und seine dichten Locken verbargen sein schmerzverzerrtes Gesicht. Blasiert machte Steldor einen weiteren Schritt zurück und blickte finster auf seinen Gegner hinunter.
»Bleib unten, Narian«, hörte ich Cannan murmeln. »Steh nicht mehr auf.«
Der benommen und orientierungslos wirkende Narian holte ein paarmal tief Luft, sprang dann jedoch unvermittelt auf und trat Steldor die Füße weg, sodass er seine Beine schulterbreit spreizen musste. Dann holte Narian aus und schnitt Steldor, der sich jetzt auf Augenhöhe mit ihm befand, beide Schulterriemen ab. Krachend fiel der bereits beschädigte Brustpanzer zu Boden.
Donnernde Schritte auf den Stufen der Loge verrieten mir, dass Cannan entschieden hatte, diesem Kampf ein Ende zu bereiten.
Steldor verlagerte sein Gewicht auf den linken Fuß und wirbelte dann herum, um mit dem rechten Narian einen heftigen Tritt gegen die Brust zu versetzen. Der Jüngere ging erneut zu Boden. Allerdings fing Narian den Sturz gut ab, kam mit Schwung wieder nach vorn und landete in kauernder Haltung. Steldor starrte ihn an und erwartete, den Dolch in der Rechten erhoben, den in der Linken gesenkt, die nächste Aktion seines Gegners. Seine Blasiertheit war verschwunden, und er schien sich jetzt ganz auf den Kampf zu konzentrieren.
Ich konnte beobachten, wie Cannan sich durch die Menge schob und zwischen den aufgeregten Zuschauern nur langsam vorankam. Narian registrierte die Bewegung im Publikum und warf seine Messer beiseite. Zunächst nahm ich an, er wolle seine Niederlage eingestehen, bevor der Hauptmann sich einschalten konnte, doch stattdessen rannte Narian auf seinen Kontrahenten zu. Er riss Steldor die Arme vom Körper weg und drückte sich erstaunlich behände vom Boden ab, benutzte Steldors Oberschenkel wie eine Stufe und trat mit der rechten Ferse kräftig gegen Steldors Kinn. Steldors Kopf peitschte nach hinten, und er stürzte hart. Die Bühne erzitterte hörbar und seine Dolche flogen durch die Luft, während Narian einen Salto vollführte und auf den Füßen landete.
Faramay hatte vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen. Unter den anderen Gästen in der Loge brach Gemurmel über die unerwartete Wendung aus. Mir erschien die Luft fast zu zäh zum Atmen, und ich betete darum, dass Cannan rasch einschritt.
Einen Moment lang rührte Steldor sich nicht, als schien er darüber zu staunen, sich flach auf dem Rücken liegend wiederzufinden. Doch dann spannten sich seine Muskeln an, als ein gewaltiger, unkontrollierbarer Zorn in ihm aufflammte. Er hob die Arme, knallte die geballten Fäuste auf den Holzboden und erhob sich drohend.
Während er auf Narian zuging, holte Steldor mit seiner Rechten zu einem tödlichen Aufwärtshaken aus. Narian packte jedoch seine Hand und lenkte den Schlag nach oben ab. Dann schlang er sein rechtes Bein um Steldors und riss seinem Kontrahenten die Füße weg, indem er den Schwung des Hakens für sich nutzte. Steldor ging zum zweiten Mal krachend zu Boden. Mit seiner linken Hand presste Narian Steldors rechten Arm zu Boden, während er ihm ein Knie in die Brust bohrte. Als Cannan sich gerade durch die letzte Reihe Zuschauer schob und die Bühne hinaufeilte, holte Narian zu einem Schlag auf Steldors Luftröhre aus, der ihn vermutlich getötet hätte, wenn er nicht im letzten Moment innegehalten hätte.
Langsam ließ Narian seine Hand sinken und erhob sich. Sein Blick begegnete dem des Hauptmannes, doch seine Miene war so ausdruckslos, dass ich erschauerte. Er sah sich um und schien erst langsam zu realisieren, dass es sich um einen Schaukampf gehandelt hatte. Kühl musterte er seinen bezwungenen Gegner, der sich mühsam auf die Ellbogen stützte, bevor er ihm eine Hand hinstreckte, um ihm hochzuhelfen. Steldor starrte ihn wütend an, bevor er die Hilfe brummend annahm. Als er sich hochgekämpft hatte, drang der erste Beifall an meine Ohren, der stetig wuchs, bis die ganze Menge laut jubelte.
Steldor und Narian deuteten Verbeugungen an, bevor sie die Bühne in entgegengesetzte Richtungen verließen. Dabei waren sie nach Kräften bemüht, sich ihre Blessuren nicht anmerken zu lassen. Der humpelnde Steldor warf seinem Vater im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick zu. Cannan schaute fragend zur Königsloge, als ob er um eine Entscheidung ringe, dann folgte er ihm. Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, sah der Hauptmann blass und erschüttert aus.
Ich vernahm ein Stöhnen, schaute nach rechts und bemerkte Faramay, die aufgestanden war und sich mit gespenstisch bleichem Gesicht an den Rand der Brüstung klammerte. Als meine Mutter sich ihr gerade helfend zuwenden wollte, brach sie ohnmächtig zusammen. Tanda und Alantonya eilten zu ihr und fächelten ihr Luft zu, während meine Mutter einen Wachmann ausschickte, etwas Wasser zu bringen.
Angesichts der unerwarteten Ablenkung verließ ich ohne ein Wort zu irgendjemand eilig die Loge. In meinem Kopf drehte sich alles. Was hatte ich da gerade mit eigenen Augen gesehen? Steldor, der beste Krieger des Recorah-Tales, bezwungen von einem Sechzehnjährigen?
Narians ungewöhnliche Waffen hatten mich erschreckt, aber das war noch gar nichts gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die mich jetzt umtrieben. Ich war enttäuscht und wütend auf mich selbst, dass ich derart naiv gewesen war – hatte ich Narian doch weitgehend vertraut und mich mehr als einmal seiner Gnade ausgeliefert. Wenn ich jetzt an die Gefahr dachte, in die ich mich unwissentlich begeben hatte, war ich fast schockiert genug, um mich gleich neben Faramay hinsinken zu lassen.
Ich stürmte den Hang hinab und durch die lärmende Menge, während mein Umhang sich hinter mir bauschte. Alles, was sich mir in den Weg stellte, ließ meinen Unmut weiter wachsen.
»Prinzessin Alera!«, hörte ich Destari hinter mir rufen.
Ich verlangsamte meine Schritte nicht, aber er schaffte es trotzdem, mich zu überholen.
»Wohin lauft Ihr?«, fragte er grimmig, stellte sich mir in den Weg und legte eine Hand auf meine Schulter.
»Ich muss mit ihm reden«, sagte ich und versuchte vergeblich, mich an meinem Leibwächter vorbeizuschieben.
»Mit Lord Narian?«, fragte er ungläubig.
»Ja!«
Weil es ihm offenbar sinnlos erschien, mit mir darüber zu streiten, nahm er mich am Arm und bahnte uns einen Weg durch die Zuschauer, die seiner imposanten Gestalt um einiges bereitwilliger Platz machten als mir. So legten wir die kurze Strecke dorthin zurück, wo die Teilnehmer sich auf die Wettkämpfe vorbereiteten.
Dabei kamen wir an den Zelten vorbei, in denen Heilkundige verwundete Wettkämpfer versorgten, konnten aber weder Narian noch Steldor unter ihnen entdecken. Destari erkundigte sich bei einem der Ärzte nach Narians Verbleib, und der wies uns den Weg zu einem der Zelte, wo seine Verletzungen versorgt wurden. Destari duckte sich und trat ein, um meine Ankunft zu melden.
Als ich hineinging, fand ich Narian auf einer Holzbank sitzend, das blonde Haar schweißnass und das lockere weiße Hemd von der Schulter gezogen, damit der behandelnde Arzt seine Wunde reinigen, nähen und verbinden konnte. Er erhob sich langsam, als er uns entdeckte, schob die Hand des Arztes beiseite und zog den Hemdsärmel wieder zurecht.
Der Arzt verneigte sich im Hinausgehen vor mir, und ich gab Destari einen Wink, uns allein zu lassen.
»Solltet Ihr mich brauchen, bin ich gleich hier draußen«, murmelte er mit misstrauisch verengten Augen.
Jetzt war ich mit Narian allein, und wir starrten einander einige endlos wirkende Augenblicke lang an, bis ich meine Sprache wiederfand.
»Wer bist du?«, fragte ich und trat näher auf ihn zu.
Narian antwortete nicht, sondern beobachtete mich nur wie ein Raubvogel seine Beute. Meine Enttäuschung wuchs, und ich wurde deutlicher.
»Bist du der, von dem die Legende erzählt? Bist du hergekommen, um Hytanica zu zerstören?«
Auch wenn er es gewohnt war, seine Gefühle zu verbergen, so bemerkte ich doch, dass mein unerwartetes Wissen ihn irritierte. Immerhin gab er mir eine klare Antwort.
»Aus diesem Grund bin ich nicht hier, auch wenn die Legende mich hergeführt hat.«
Ich verdrehte die Augen. »Dann sag mir um Himmels willen, wozu du hier bist, wenn nicht um dein Schicksal zu erfüllen!«
Es klang aufrichtig, als er mir antwortete. Vielleicht brachte meine offene Feindseligkeit ihn dazu, mir eine Erklärung zu liefern.
»Ich kannte die Legende nicht und wusste nicht, dass in meinen Adern hytanisches Blut fließt. Bis ich vor sechs Monaten ein Gespräch mit anhörte, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Ich bin nur hergekommen, um etwas über meine Herkunft zu erfahren und vielleicht meine Familie wiederzufinden. Ich bin nicht gekommen, um irgendjemand Schaden zuzufügen.«
Mein rasendes Herz begann sich ein wenig zu beruhigen, während ich ihm zuhörte. Eine Woge des Mitleids für diesen jungen Mann, der zwar das Alter meiner Schwester hatte, aber ansonsten Jahre weiter war, überkam mich.
»Hast du vor, nach Cokyri zurückzukehren?«, fragte ich, während ich spürte, wie mein Zorn verflog und mich stattdessen eine böse Vorahnung überkam.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt da etwas, das mich hier hält. Etwas, das nichts mit meiner Wut auf die Menschen zu tun hat, die mich großgezogen und belogen haben.« Sein Blick hielt meinen fest. Die Sehnsucht darin war schmerzlich und unmissverständlich. Doch dann fügte er hinzu: »Sollte ich mich aber jemals in Cokyri wiederfinden, Alera, wird es schwer sein, mich dem Overlord zu widersetzen.«
»Dem Overlord?«, hauchte ich, kaum fähig zu sprechen.
Narian sah einen Moment lang an mir vorbei und schien in Gedanken weit fort zu sein.
»Der Overlord war und ist mein Lehrer. Er ist derjenige, der mich ausgebildet hat und dem ich diene.«
Mir wurde übel und ich hatte größte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Unweigerlich fiel mir Londons Schilderung des Overlord ein: »Er ist ein schrecklicher, bösartiger Kriegsherr, um den sich seit Jahrzehnten Mythen und Legenden ranken. Es heißt, er habe die Fähigkeit, schwarze Magie anzuwenden, böse Mächte mit seiner verdorbenen Seele anzurufen. Mit einem Wink seiner Hand soll er töten oder noch Schlimmeres vollbringen können.« Und ich musste an Londons Verfassung denken, nachdem es ihm gelungen war, den Klauen dieses Tyrannen zu entkommen. Narian hatte dem Overlord seit seinem sechsten Lebensjahr wohl fast täglich gegenübergestanden. Er hatte seine Methoden und Fähigkeiten übernommen und zweifellos auch seine Ansichten und Vorurteile.
»Ich habe mir dieses Schicksal nicht ausgesucht«, fuhr Narian fort und klang jetzt ein wenig weicher. Offenbar machte ihm der Ausdruck des Entsetzens in meinem Gesicht zu schaffen. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Alera.«
Das kurze Lachen, das ich meiner nächsten Äußerung vorausschickte, hatte etwas Hoffnungsloses.
»Brauche ich das nicht, meinst du? Vielleicht möchtest du mir nichts tun, aber was ist, wenn die Cokyrier dich zurückhaben wollen?«
Sein Gesicht wurde wieder ausdruckslos. Die kurze heftige Gefühlsregung war vorbei, er hatte sich wieder ganz im Griff. Verzweifelt drehte ich mich um und wollte gehen, da fasste er mich am Arm. Bevor ich reagieren konnte, legte er den anderen Arm um meine Taille, zog mich an sich und versenkte seine strahlend blauen Augen in meine. Während mein Herz heftig schlug, legten sich seine Lippen auf meine. Erst sanft, dann drängender, und ich ergab mich seiner Umarmung. An ihn geschmiegt legte ich meine Hände auf seinen Rücken, und alle Vorsicht verließ mich. Nach einigen Augenblicken lösten sich unsere Lippen zögernd voneinander, und kurz lehnte er noch seine Stirn an meine. Dann trat er zurück und legte die Hände auf meine Hüften.
»Ich werde dir niemals wehtun«, versprach er.
Meine Vernunft meldete sich zurück, ich riss mich von ihm los und stürzte aus dem Zelt, erschrocken über die Leidenschaft, die zwischen uns aufgelodert war.
Destari musterte mich wegen meines hastigen Aufbruchs misstrauisch, sagte jedoch nichts, sondern führte mich nur zurück zur Königsloge, wo die Preisverleihung bereits im Gange war. Normalerweise wäre es meine Aufgabe gewesen, dem König bei dieser Zeremonie zu helfen, doch in meiner Abwesenheit war Miranna für mich eingesprungen. Ich näherte mich der Loge und fürchtete mich bereits vor dem Zorn meines Vaters wegen meiner Pflichtvergessenheit. Doch er warf mir nur einen verständnisvollen Blick zu und schien zu glauben, ich hätte Steldor aufgesucht. Ich stieg die Stufen hinauf und begab mich an Mirannas Seite, die mich nur neugierig ansah, aber zu beschäftigt war, um irgendetwas zu sagen. Lanek gab die Namen und Leistungen der Gewinner bekannt, der König verteilte Beutel mit Goldstücken, und Miranna und ich händigten kostbare Figuren aus. Die Sieger im Bogenschießen (darunter auch Galen, der den Ruf eines exzellenten Bogenschützen genoss), Messer- und Axtwurf erhielten Falken aus Ebenholz. Die Ersten des Pferderennens bekamen vergoldete Pferdefiguren. Den Gewinnern der Zweikämpfe wurden goldene Pokale überreicht.
Nach dem Ende des Turniers kehrte ich mit meiner Familie in den Palast zurück. Weil sie wohl spürte, wie durcheinander ich war, ersparte Miranna mir jegliche Frage, wofür ich ihr dankbar war. Ich ließ mich für das kleine Abendessen entschuldigen, das mein Vater für die Sieger zu geben pflegte. Als Begründung schützte ich Erschöpfung vor und zog mich in meine Gemächer zurück, denn ich sah mich außerstande, Feierstimmung vorzutäuschen.
Ich bereitete mich auf das Zubettgehen vor und sehnte mich nach Schlaf, doch mich quälten schreckliche Gedanken über Narian und die Legende vom blutenden Mond. Schließlich war Narian vom Overlord mit dem Vorsatz aufgezogen worden, meine Heimat und alles, was mir lieb und teuer war, zu zerstören. Narian behauptete zwar, Hytanica nichts Böses zu wollen, aber hatte er überhaupt eine Wahl? So wie es meine Bestimmung war, als Kronprinzessin Königin zu werden, war es wohl seine, die Legende vom blutenden Mond wahr zu machen.
Während ich im Geiste alle Fakten wieder und wieder durchging, legte ich zwei Finger an meine Lippen und erinnerte mich an seinen Kuss. Ich hatte mich in seinen Armen so unbeschreiblich glücklich gefühlt. Wie konnte jemand mit einem so grauenerregenden Schicksal nur so zärtliche Gefühle in mir wecken? Und wie konnte ich mich nach der Gesellschaft von jemand sehnen, der dazu verdammt war, mein Feind zu werden?
Weil ich auf diese beunruhigenden Fragen keine Antwort wusste, versuchte ich, mich in den Schlaf zu flüchten. Doch der stellte sich nur schwer ein und schenkte mir keine Ruhe.