12. DAS PICKNICK

Was ich mir als schlichtes Picknick vorgestellt hatte, entpuppte sich rasch als ein Ereignis, das fast so viel Planung erforderte wie ein großer Ball. Das erste Problem war die geeignete Begleitung für Miranna. Mein Vater kannte zwar die meisten jungen Männer der hytanischen Oberschicht gut, aber es fiel ihm schwer, darunter einen auszuwählen, dem er zutraute, sich verantwortungsvoll um seine jüngste Tochter zu kümmern.

Die nächste Frage, die den König beschäftigte, war unser Transportmittel und das Ziel unseres Ausflugs. Ich hatte angenommen, wir würden uns spontan für ein hübsches Plätzchen entscheiden, doch er bestand darauf, zu jedem Zeitpunkt genau zu wissen, wo wir uns gerade aufhielten. Langsam wurde mir klar, dass dieser Wunsch nach Kontrolle weniger mit väterlicher Fürsorge und mehr mit seiner Furcht vor möglichen Gefährdungen durch Cokyrier zu tun hatte.

Und was war mit unseren Leibwächtern? Sollten beide uns begleiten? Mein Vater entschied, dass nur einer nötig wäre, nachdem wir uns ja in Steldors Obhut befänden. Ich vermutete allerdings, dass Cannan unser Ausflugsziel ohnehin überwachen lassen würde. Tadark, der uns altersmäßig näher war, bot sich im Übrigen derart eifrig an, dass er trotz seines niedrigeren Ranges Halias vorgezogen wurde. Mit dieser Entscheidung waren weder ich noch Halias besonders glücklich, aber da der König es zufrieden war, konnte keiner von uns etwas dagegen unternehmen.

Auf Geheiß meines Vaters sprach meine Mutter mit den Köchen, die eine Liste mit Vorschlägen anzufertigen hatten, aus denen wir unser Mittagessen unter freiem Himmel auswählen sollten. Die Karte, die man mir brachte, war seitenlang, und ich entschied mich für die ersten paar Speisen, die mir ins Auge fielen, da ich keine Lust hatte, alles durchzugehen.

Als endlich der Tag unseres Picknicks nahte, war ich es schon so leid, davon zu hören, dass ich mir nur noch wünschte, es wäre bereits vorbei. Mirannas Begeisterung dagegen war ungebrochen, und ich führte sie in erster Linie auf ihre Schwäche für Steldor zurück.

Es war die dritte Juliwoche und der Tag versprach heiß zu werden. Miranna und ich hatten beschlossen, lange, weite Röcke und kurzärmelige weiße Blusen zu tragen. Ich hatte mein Haar zu einem langen Zopf geflochten, der mir auf den Rücken fiel, während Miranna ihres tief im Nacken zu einem schlichten Zopf zusammengefasst hatte, wie auch Halias das manchmal mit seinem machte.

Wir verließen den Palast am Vormittag in einer leichten Kutsche aus dem königlichen Marstall, die von zwei prächtigen schwarzen Pferden gezogen wurde. Die Kutsche besaß einen hohen hölzernen Bock über den Vorderrädern, auf dem üblicherweise der Kutscher saß, sowie eine gepolsterte Sitzbank mit Blick nach vorn über den Hinterrädern. Die Kutsche lag ziemlich tief, was das Einsteigen erleichterte.

Da Steldor höchstpersönlich kutschierte, hatte man vermutet, ich wolle neben ihm sitzen, und mir daher ein Kissen auf die ansonsten einfache Bank gelegt. Mein Begleiter war leger, aber dennoch elegant gekleidet, in ein weißes, doppelreihig geknöpftes Hemd mit Knöpfen und Borten aus Gold sowie eine schwarze Reithose. Seine eleganten schwarzen Stiefel waren den hohen Schaft hinauf jeweils mit einem halben Dutzend silberner Schnallen verziert. Das Hemd bildete den perfekten Kontrast zu seinen dunklen Haaren und Augen und war zweifellos mit der Absicht gewählt worden, den Pulsschlag jeder Frau in Sichtweite zu beschleunigen. Ich ertappte mich sogar selbst dabei, wie ich ihn anstarrte, als er unsere Picknickutensilien auf dem nach hinten gerichteten Notsitz befestigte.

Mirannas Begleiter war ein gedrungener junger Bursche namens Temerson, der in Größe und Augenfarbe gut zu mir gepasst hätte, aber zimtbraunes Haar besaß. Er trug die übliche Uniform der Militärakademie: braune Tunika und Schärpe, und sah neben Steldor schrecklich armselig aus. Dabei hätte man ihn, wenn er nicht dem direkten Vergleich ausgesetzt gewesen wäre, durchaus als süß bezeichnen können.

Miranna und Temerson nahmen auf der hinteren Sitzbank Platz, während Tadark auf seinem eigenen Pferd neben uns herritt. Die Hufe der Pferde schlugen fröhlich aufs Pflaster, während wir die Stadt auf der Hauptstraße durchquerten. Im Westen lag das Marktviertel, im Osten das Viertel der Geldwechsler und -verleiher, der Tavernen und Gasthäuser, der Ärzte und Barbiere, die dort eifrig ihren Geschäften nachgingen. Weiter entfernt von der breiten Hauptstraße waren Kirchtürme, der Kornspeicher und zahllose Wohnhäuser zu sehen. Vor uns erhob sich die zehn Meter hohe Mauer, die die gesamte Stadt umgab. Wachtürme befanden sich links und rechts des Tores sowie in regelmäßigen Abständen auf der gesamten Länge. In der Stadt lebten etwa fünfzehntausend Menschen. Dazu kamen noch geschätzte insgesamt fünfundzwanzigtausend aus den Gehöften und Dörfern in der hytanischen Provinz.

Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, wurde aus der Hauptstraße eine unbefestigte Landstraße, die sich durch die Landschaft schlängelte und zur einzigen Brücke über den Fluss Recorah führte. Bald bogen wir nach Osten auf eine schmalere, weniger befahrene Straße ab, denn wir steuerten ein stilles Fleckchen an einer Biegung des Flusses an. Dort spendeten Bäume angenehmen Schatten, und das breit und schnell dahinfließende Wasser sorgte für eine kühle Brise. Selbst in flottem Trab würden wir gute zwei Stunden brauchen, um unser Ziel zu erreichen.

Der Ausflug hatte gemächlich begonnen, aber es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, dass die nervtötende Planung des Picknicks meine Schmerzgrenze für Steldors Eitelkeiten noch weiter gesenkt hatte. Mirannas Anwesenheit half zwar ein wenig, aber Steldor flirtete mit mir, nicht mit meiner Schwester. Ich tat mein Bestes, um ihn stumm davon abzubringen, indem ich mich betont auf die vorüberziehende Landschaft konzentrierte.

Die sanften Hügel Hytanicas waren um diese Jahreszeit üppig grün, die bald erntereifen Flachsfelder mit hübschen hellblauen Blumen durchsetzt. Während die Pferde dahintrabten, sahen wir zahlreiche Bauersleute bei ihrer harten Arbeit auf den Feldern. Gelegentlich winkte mein Begleiter ihnen huldvoll zu.

Ungerührt von meiner Weigerung, auf ihn einzugehen, bewies Steldor einmal mehr, dass er durchaus in der Lage war, eine Unterhaltung ganz alleine zu bestreiten. Nach einem ermüdenden Monolog, der inhaltlich dem glich, den er bei unserem gemeinsamen Abendessen gehalten hatte, beugte er sich zu mir herüber.

»Wie heißt der Freund Eurer Schwester noch mal?«

Temerson hatte sich uns allen schüchtern vorgestellt, aber Steldor war zu beschäftigt mit sich selbst gewesen, um darauf zu achten.

»Lord Temerson«, klärte ich ihn auf und merkte, wie meine Geduld rasch zur Neige ging. »Ich vermute, Ihr kennt seinen Vater, Leutnant Garreck. Er ist ehemaliger Bataillonskommandant und unterrichtet seit fünfzehn Jahren an der Militärakademie. Seine Mutter, Lady Tanda, ist eine Freundin meiner und vermutlich auch Eurer Mutter.«

»Ah«, erwiderte er und warf einen Blick nach hinten auf den Mann, mit dem meine Schwester bislang vergeblich versucht hatte, ins Gespräch zu kommen. »So, Temerson, dann bist du also an der Militärakademie?«

Angesichts von Temersons Alter und Kleidung war diese Frage vollkommen überflüssig, aber ich schätzte, dass die Armee das einzige gemeinsame Thema der beiden war.

Ich musterte Mirannas Begleiter, während seine Antwort auf sich warten ließ, und bemerkte den Ausdruck eines in die Enge getriebenen Tieres in seinem Gesicht. Er öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus, stattdessen nickte er nur zweimal. Mir wurde klar, dass Steldor auf jemand mit zurückhaltendem Wesen extrem einschüchternd wirken konnte. Diese Wirkung verdoppelte sich bei einem jungen Kadetten, der in seinem Rang weit unter ihm stand, wahrscheinlich noch. Möglicherweise war Temerson auch einmal Opfer von Steldors und Galens Quälereien gewesen.

»Ein stiller Typ«, bemerkte Steldor an mich gewandt, als sei Temerson gar nicht anwesend. »Erinnert mich an jemand anderen seines Alters.«

»Und wer sollte das bitte sein?« Meine guten Manieren gewannen doch die Oberhand über meinen Entschluss, ihn durch Nichtbeachtung zum Schweigen zu bringen.

»Dieser cokyrische Junge.«

»Ihr meint, dieser hytanische Junge«, korrigierte ich ihn, da ich annahm, er kenne die wahre Identität des jungen Mannes.

Steldor tat meinen Einwand brüsk ab. »Er wurde nach cokyrischem Brauch erzogen. Er denkt und handelt wie sie. Mehr muss ich darüber gar nicht wissen.«

»Ja, aber er ist gebürtiger Hytanier«, argumentierte ich und konnte kaum glauben, wie schnell Steldor ein Urteil über Narian gefällt hatte. »Mehr muss ich darüber nicht wissen.«

»Darum geht es doch sowieso nicht. Ich wollte nur sagen, dass er, seit wir ihn in den Palast geschafft haben, kaum ein Wort gesprochen hat und dass ich das ziemlich seltsam finde.«

»Vielleicht ist er einfach noch überwältigt von allem, was ihm widerfahren ist. Er wurde von den Menschen gefangen genommen, die zu fürchten man ihn gelehrt hat. Und jetzt ist er wiedervereint mit seiner Familie, die er nie gekannt hat. Ich denke, an seiner Stelle würde ich auch erst einmal nicht viel sagen.«

»Vielleicht schweigt er aber auch nur, weil er nichts im Kopf hat.«

»Dass man anderen nicht bei der erstbesten Gelegenheit seine komplette Biografie aufnötigt, muss kein Zeichen für mangelnde Intelligenz sein, Steldor.« Ich spürte, wie mein Widerspruchsgeist ihm langsam auf die Nerven zu gehen begann, aber ich genoss seinen Unmut zu sehr, um davon ablassen zu können.

»Warum verteidigst Ihr ihn? Schließlich wisst Ihr auch nicht mehr über ihn als ich.«

»Und warum verhöhnt Ihr ihn?«

»Ich denke, wir kommen hier zu keiner Einigung.«

»Sehr richtig, weil ich Ihrem Standpunkt nicht zustimmen werde.«

Der Rest der Fahrt verlief mehr oder weniger schweigend. Steldor und ich unterhielten uns nicht weiter, und Miranna unternahm zwar einige Versuche, Temerson aus der Reserve zu locken, aber ihr Bemühen war nicht von Erfolg gekrönt.

Neben einer großen Eiche nahe am Fluss brachte Steldor die Pferde zum Stehen und überließ es Tadark, sie auszuspannen und anzubinden. Temerson half Miranna aus dem Wagen, und ich erlaubte Steldor widerwillig, mich vom Kutschbock zu heben. Als er mich absetzte, ließ er die Hände auf meiner Taille liegen. Dabei bohrte er seine Augen in meine, und ich wurde blass bei der Vorstellung, dass er versuchen könnte, mich zu küssen. Doch er grinste nur verwegen und ließ mich los. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm nur darum gegangen war, mich zu verunsichern.

Tadark und Temerson begannen, die Utensilien für das Picknick vom Wagen zu laden, während Steldor, der eindeutig davon ausging, nicht mit anfassen zu brauchen, das Kommando übernahm. Er gab Anweisung, wo sie alles platzieren sollten, und schien das Picknick als eine Art militärische Übung zu begreifen. Als er Tadark befahl, die Decke an einem bestimmten Platz auszubreiten, konnte ich mich nicht länger beherrschen.

»Ich hätte die Decke lieber hier drüben«, rief ich den Männern freundlich zu und deutete auf einen Grasfleck näher am Wasser, wo einige große Weiden standen, deren tiefhängende Äste im leichten Wind über den Boden strichen.

»Nein«, sagte Steldor in unerträglichem Befehlston. »Die Decke sollte hier liegen.«

Tadark hielt mit der halb aufgefalteten Decke inne, um unser Gekabbel abzuwarten.

»Hier sitzt man weicher«, argumentierte ich und lief zu dem von mir gewählten Platz. Ich war entschlossen, notfalls den ganzen Nachmittag mit Streit über diese bedeutungslose Angelegenheit zuzubringen.

»Hier haben wir aber mehr Schatten.«

»Aber ich stehe nun schon hier, und wenn wir die Decke dort drüben ausbreiten, muss ich hinübergehen.« Ich schenkte Steldor ein zuckersüßes falsches Lächeln.

»Tadark hat die Decke doch schon so gut wie ausgelegt«, unternahm er einen neuen Versuch.

»Es wird nur wenig Mühe kosten, sie zusammenzulegen und zu mir herüberzubringen. Falls das Tadark überanstrengen sollte, werdet Ihr es bestimmt ohne große Mühe zustande bringen.«

Steldor musterte mich einen Moment lang und war sich sehr wohl des Machtkampfs bewusst, den wir gerade ausfochten. Aber ihm war offenbar auch klar, dass er es sich leisten konnte, dieses Geplänkel zu verlieren, und so lenkte er ein.

»Wie Ihr wünscht. Wir werden die Decke dorthin legen, wo es Euch beliebt, Prinzessin.«

»Ich danke Euch«, sagte ich und versuchte, meine Genugtuung zu verbergen.

Tadark schnaufte missbilligend, als sei diese Aktion das Unvernünftigste, was ihm je widerfahren sei, aber er brachte die Decke dennoch zu mir. Temerson, der die ganze Zeit über mit dem schweren Essenskorb daneben gestanden hatte, setzte seine Last ebenfalls ab und sagte kein Wort.

Dann kehrten die Männer zum Wagen zurück, Tadark und Temerson, um die Getränke zu holen, Steldor wieder als Aufseher ihrer Tätigkeit. Miranna und ich ließen uns auf der Decke nieder, wobei meine Schwester mir seufzend zuraunte: »Kannst du nicht wenigstens ein bisschen nett zu Steldor sein?«

»Ich bin einfach nicht in der Stimmung, sein aufgeblasenes Getue über mich ergehen zu lassen«, erwiderte ich als Rechtfertigung.

»Gib ihm eine Chance, Alera«, bat Miranna mich. »Hat er heute wirklich schon so Schreckliches angestellt? Und sag mir nicht, er sei geltungssüchtig. Er ist Steldor. Das gehört bei ihm einfach dazu.«

»Nein, er hat in der Tat wohl noch nichts wirklich Schreckliches angestellt«, sagte ich ein wenig gereizter als eigentlich beabsichtigt. »Aber wenn es dir eine Freude macht, werde ich versuchen, die gute Absicht hinter seinem Verhalten zu sehen.«

»Das solltest du.«

Steldor kehrte als Erster zurück und stolzierte vor Temerson und Tadark her, die Weinflaschen und Becher trugen.

»Ich schlage vor, dass wir einen Spaziergang am Ufer entlang unternehmen, bevor wir essen«, sagte er und schlug wieder diesen autoritären Ton an.

»Ich finde, wir sollten zuerst essen«, widersprach ich und tat damit genau das Gegenteil dessen, was ich meiner Schwester soeben versprochen hatte.

»Wenn wir zuerst spazieren gehen, bekommen wir mehr Appetit.«

»Ich bin bereits hungrig und könnte beim Spazierengehen in Ohnmacht fallen.«

Steldor schien genau zu durchschauen, was ich tat, und sein amüsiertes Gesicht stachelte mich nur noch mehr an. Weil sie meine Sturheit offenbar nicht ertragen konnte, übernahm Miranna das Kommando und stand auf, um ihn zu begleiten. Dabei warf sie mir einen eisigen Blick zu, der mich ermahnte, nachzugeben, und ich seufzte resigniert.

»Wenn ich es mir recht überlege, klingt ein Spaziergang doch verlockend«, brachte ich in gezwungenem Tonfall heraus.

Ich stand auf und griff rasch nach Mirannas Hand. Mit ihr an meiner Seite war ich zumindest nicht gezwungen, neben Steldor zu gehen.

Die beiden Offiziere folgten uns unverzüglich. Tadarks Auftrag und Steldors Stolz ließen es nicht zu, dass wir weit vorausliefen. Temerson folgte uns vier und schien von unserer Gesellschaft zu eingeschüchtert, als dass er mit uns Schritt gehalten hätte.

Das Gelände fiel sanft zum Recorah hin ab und wurde am Ufer völlig eben, sodass wir dicht am reißenden Wasser entlangspazieren konnten. Der Fluss änderte hier seine Richtung und floss nicht mehr nach Westen, sondern bog nach Westen in Richtung der sich in der Ferne erhebenden Hügel ab. Sein breites Bett wurde schmaler, was das Wasser schneller fließen ließ und am gegenüberliegenden Ufer weiße Gischt erzeugte. Die einzige Brücke, über die man in unser Königreich gelangte, befand sich einige Kilometer westlich von uns und wurde von hytanischen Soldaten schwer bewacht. Auch wenn die gefühlte Bedrohung durch die Cokyrier nach der Gefangennahme der Hohepriesterin erst einmal wieder abgeebbt war, hatten mein Vater und Cannan in ihrer Wachsamkeit nicht nachgelassen. Weiterhin kontrollierten Patrouillen die hytanische Grenze, und die Brücke war rund um die Uhr mit Wachen besetzt.

Miranna und ich folgten der Biegung des Flusses und unterhielten uns leise. Steldor versuchte, sich neben mich zu schieben, doch da ich ganz dicht am Wasser ging und Miranna an meiner anderen Seite festhielt, hatte er keine Möglichkeit, näher an mich heranzukommen. Er versuchte es kein zweites Mal, wohl um sich nicht lächerlich zu machen. Stattdessen gesellte er sich zu Tadark, mit dem er ein Gespräch anfing, das gerade so laut war, dass wir es gut mithörten.

»Dann bist du nun also Aleras neuer Leibwächter?«, fragte er mit einem listigen Unterton, der mir nicht behagte.

»Ja, das bin ich«, antwortete Tadark stolz.

»Dann wollen wir hoffen, dass du deine Sache besser machst als dein Vorgänger.«

»Ich bin ohne Zweifel besser als er!«, verkündete Tadark aufgeregt. »London war kein guter Leibwächter. Er konnte Alera keine Minute lang im Auge behalten. Ich weiß gar nicht, wie so jemand es in die Elitegarde geschafft hat. Er war eindeutig nicht für eine so verantwortungsvolle Aufgabe geschaffen.«

»Das stimmt«, sagte Steldor mit gespielter Betroffenheit. »Anders als mein Vater habe ich ohnehin nie große Stücke auf ihn gehalten. Der Hauptmann geriet völlig außer sich, als herauskam, dass London der Verräter war. Ich persönlich begreife ja nicht, warum das niemand hat kommen sehen. Denn schließlich war er schon immer ein wenig renitent.«

»Ich habe es kommen sehen!«, rief Tadark und klang wie ein aufgeregter Fünfjähriger. »Schon vom ersten Augenblick an war mir klar, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Ich habe ihm auch nie wirklich getraut, denn er war mit seinen Gedanken oft woanders. Ganz so, als habe die Prinzessin für ihn nicht die oberste Priorität besessen.«

Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, öffnete ich den Mund, um London zu verteidigen, doch Mirannas besänftigende Stimme kam mir zuvor.

»Ignorier sie einfach«, riet sie mir. »Sie wissen doch gar nicht, wovon sie da reden. Außerdem macht Steldor das mit Absicht. Er will dich provozieren. Gönn ihm doch nicht den Triumph, das geschafft zu haben.«

Mit einiger Mühe fand ich meine Contenance wieder und mir wurde klar, dass meine Schwester recht hatte. Steldor und Tadark unterhielten sich weiter, aber ich gab mir alle Mühe, wegzuhören, denn ihre Worte schmerzten mich und steigerten nur meinen Widerwillen gegen den Hauptmannssohn.

Schließlich drehten wir um und kehrten zu unserem Picknickplatz zurück, wo die Körbe schon auf der Decke warteten. Tadark zog sich zur Kutsche zurück, während Temerson endlich zu uns anderen aufschloss. Also setzten wir uns und packten den Proviant aus. Unser Mahl aus dunklem Brot, verschiedenen Käsesorten, kalter Suppe, Obst und Wein sah köstlich aus, doch Steldors Anwesenheit kostete mich wieder einmal den Appetit. Trotzdem war ich dankbar für das Essen, weil es mich für eine Weile von der Verpflichtung, mich zu unterhalten, befreite.

Als wir fertig waren, wandte Miranna sich mit einem entzückenden Lächeln an Temerson.

»Würdet Ihr mich an den Fluss begleiten? Ich möchte mir im Wasser gerne die Hände waschen.«

Temerson nickte und machte große Augen über diesen Auftrag. Er stand auf, und die beiden ließen mich mit meinem Verehrer allein.

Ich rechnete mit einem sehr langen, angespannten Schweigen, aber Steldor schien anderes im Sinn zu haben. Er rückte an meine Seite, legte einen Arm um meine Taille und zog mich in seine Arme. Ich versuchte, mich ihm zu widersetzen, aber er war zu stark und entschlossen. Außerdem vernebelte sein betäubender Duft meinen Verstand.

»Habt doch keine Angst vor mir, Alera«, murmelte er. »Ich mag ein wenig Temperament bei Frauen.« Seine Lippen strichen über meine Wange, und er fügte hinzu: »Wenigstens haben wir es diesmal nicht mit einem Leibwächter zu tun, der sich einmischt.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«, erwiderte ich schnippisch und lehnte mich von ihm weg. Seine Anspielung auf London ernüchterte mich.

»Bei unserem letzten trauten Beisammensein hat London uns frech gestört und behauptet, im Palast gäbe es irgendeinen Notfall.«

Jetzt strich er ein paar Strähnen, die sich aus meiner Frisur gelöst hatten, über meine Schulter nach hinten und streichelte dabei mit seinen Fingern über meinen Hals.

»Eure unerwünschten Annäherungsversuche, vor denen er mich seinerzeit bewahrt hat, würde ich durchaus als Notfall bezeichnen«, sagte ich aufgebracht und schob ihn von mir weg.

Steldor erstarrte. Ich vermutete, bislang hatte noch keine Frau auch nur angedeutet, seine Avancen könnten unerwünscht sein, und jetzt hatte ich ihm auf den Kopf zugesagt, dass ich kein Bedürfnis nach Nähe zu ihm verspürte. Ich konnte fast sehen, wie der Zorn in ihm hochstieg. Er sprang auf und stieß mich dabei von sich, sodass ich unsanft auf die Seite fiel.

»Da bin ich nun, allein mit Euch und so zärtlich und gewinnend, wie man nur sein kann, und Ihr wollt nichts davon wissen!« Seine Stimme hatte all ihren Schmelz eingebüßt und klang jetzt tiefer und rauer. »Es gibt sehr viele junge Frauen in Hytanica, die alles, was sie besitzen, ohne zu zögern dafür hergeben würden, die Aufmerksamkeit zu genießen, die ich Euch einfach so anbiete, Alera.«

Nach einem raschen Tritt gegen den Picknickkorb stürmte er in Richtung Flussufer davon, wo Miranna und Temerson nebeneinander auf einem Felsvorsprung saßen. Es war Miranna offenbar doch noch gelungen, den schüchternen jungen Mann zum Reden zu bringen. Allerdings verstummte Temerson sofort, als der Feldkommandant sich ihnen näherte.

Steldor setzte sich ganz dicht neben meine Schwester, zog seinen Dolch aus der Scheide und stellte einen Fuß auf einen großen Stein. Ich war zu weit entfernt, um verstehen zu können, was er sagte, aber seine Körpersprache, während er das Messer von einer Hand in die andere warf, und die Art, wie Miranna errötete, verriet mir genug. Mit jedem Kichern, das er ihr entlockte, wuchs meine Abneigung gegen den Sohn des Hauptmanns. Ich war mir sicher, dass Steldor mit Miranna flirtete, um mich eifersüchtig zu machen. Zwar waren meine Gefühle in diesem Moment ein Chaos, aber Eifersucht spielte dabei gewiss keine Rolle.

Steldor fuhr ein paar Minuten mit seiner Selbstdarstellung fort, bis Miranna zu mir herübersah und begriff, was der eigentliche Hintergrund seines Verhaltens war. Da stand sie abrupt auf und zeigte über seine Schulter.

»Seht nur, ein Apfelbaum!«, rief sie.

Steldor schien kurzzeitig schockiert, weil meine Schwester in der Lage war, einen simplen Apfelbaum zu registrieren, während sie doch unter seinem Bann stand. Dann zuckte er mit den Schultern und drehte sich in die Richtung, in die sie zeigte. Vermutlich war er zu dem Schluss gekommen, dass sie noch zu jung war, um angemessen auf die Interessensbekundung von einem derart attraktiven Mann wie ihm reagieren zu können.

»Alera!«, rief Miranna. »Komm mit mir Äpfel pflücken!«

Meine Schwester kam auf mich zu, gefolgt von Temerson und Steldor, der seinen Dolch wieder weggesteckt hatte. Steldor blieb mit blasierter Miene neben mir stehen, offenbar überzeugt, dass sein Versuch, mich eifersüchtig zu machen, geglückt war.

»Ja, Alera, kommt mit uns Äpfel pflücken.«

Ich bedeutete Miranna und Temerson vorauszugehen und wandte mich an den Lieblingskandidaten meines Vaters.

»Vielleicht solltet Ihr und Tadark die Pferde zum Aufbruch bereitmachen«, schlug ich vor, um die Zeit, die ich in seiner Gesellschaft zuzubringen hatte, so kurz wie möglich zu halten.

»Oh, möchtet Ihr schon so bald aufbrechen?«, fragte er verbittert. »Der König erwartet uns nicht vor dem späten Nachmittag zurück. Und wir sollten ihn wirklich nicht enttäuschen.« Er kam näher und versenkte seinen Blick in meinen.

»Trotzdem muss sich jemand um die Pferde kümmern«, beharrte ich und wich ein Stück zurück. »Ihr und Tadark solltet sie zum Trinken an den Fluss führen.«

Einen Augenblick lang fürchtete ich, er würde mich einfach packen, und mein Puls begann zu rasen, als mir klar wurde, wie leicht es für ihn wäre, mir seinen Willen aufzuzwingen. Doch er ging an mir vorbei, und nur das Glitzern in seinen Augen verriet mir, dass es ihm erneut gelungen war, den gewünschten Effekt zu erzielen.

»Wie Ihr wünscht«, sagte er lässig über die Schulter. »Dann werden Tadark und ich eben die Pferde tränken.«

Er ging auf meinen verdutzten Leibwächter zu und gab ihm einen Schubs in Richtung Kutsche.

Zitternd lief ich Miranna und Temerson nach. Ich wusste, wie unvernünftig es eigentlich war, dass ich mich Steldor so vehement widersetzte. Schließlich erwartete man in Hytanica von Frauen, dass sie sich ohne Widerrede den Männern um sie herum fügten oder eben bereit waren, die Konsequenzen zu tragen. Und auch wenn Steldor noch nicht mein Ehemann war, so hatte er doch meinen Vater für sich eingenommen, und ich bezweifelte nicht, dass der König ihm im Umgang mit mir weitgehend freie Hand lassen würde.

Nachdem ich einen kleinen Hügel erklommen hatte, stellte ich erfreut fest, dass es dort tatsächlich ein paar Apfelbäume gab. Meine Schwester stand unter einem davon und starrte ins Geäst hinauf. Ich fragte mich gerade, wo Temerson wohl war, da hörte ich ein lautes Knacken und einen erstaunten Aufschrei hoch oben im Baum. Miranna riss vor Schreck den Mund auf, aber da fiel der junge Mann auch schon herab, und zwar direkt auf sie hinunter. Beide stürzten zu Boden, doch Temerson rappelte sich sofort wieder auf.

»Seid Ihr ver-verletzt?«, stammelte er, während ich zu ihnen rannte. Vor Verlegenheit war sein Gesicht puterrot.

»Nein, nein, mir fehlt nichts«, versicherte meine Schwester ihm, doch dabei stöhnte sie und machte keinerlei Anstalten aufzustehen.

»Äh, ka-kann ich Euch irgendetwas bringen?«

»Ein Schluck Wasser täte mir sicher gut«, erwiderte Miranna, die wohl nicht unbedingt Durst hatte, aber Temerson das Gefühl geben wollte, sich zumindest in irgendeiner Form nützlich machen zu können.

»Bist du dir sicher, dass du dich nicht verletzt hast?«, fragte ich zögernd, nachdem der junge Mann fort war. Ich fürchtete, sie würde ihre Verletzung nur herunterspielen, damit sich niemand Sorgen machte.

»Ja, mir fehlt wirklich nichts«, beharrte sie. »Ich habe nur einen kleinen Schlag abbekommen.«

»Was wollte Temerson denn in dem Baum?«

»Er hat versucht, diesen großen Apfel für mich zu pflücken – den reifen, roten an dem obersten Ast –, dann ist er heruntergefallen. Hilf mir doch bitte auf, ich möchte niemand zur Last fallen.«

Ich ergriff ihre Hand und hatte sie schon halb auf die Füße gezogen, als sie vor Schmerz aufschrie und wieder zurücksank.

»Was ist los?«, fragte ich ängstlich. »Wo hast du dich verletzt?«

»Ich – ich weiß nicht«, sagte sie und konnte nur mühsam sprechen. »Ich kriege keine Luft.«

»Ich rufe Hilfe.« Dann drehte ich mich in Richtung Kutsche und schrie: »TADARK!«

Der Elitegardist war praktisch sofort an meiner Seite. Wie auch Steldor, der meinen Hilferuf ebenfalls gehört hatte.

»Was ist passiert?«, fragte Steldor besorgt, als ob ich ihn und nicht meinen Leibwächter gerufen hätte.

Ich sah Tadark an, während ich erklärte: »Miranna ist verletzt – wir müssen sie so schnell wie möglich zurück in den Palast bringen.«

»So etwas habe ich schon einmal erlebt«, sagte Tadark und sah Steldor an.

»Willst du mich so dringend loswerden, Alera?« Steldors Stimme hatte einen harschen Unterton, und es war klar, dass er an Mirannas gespielten Anfall in der Bibliothek dachte, der unter den Wachen zweifellos die Runde gemacht hatte.

Ich reagierte aufgebracht. »Auch wenn Euch das jetzt unvorbereitet trifft, Steldor, aber es dreht sich nicht immer alles nur um Euch! Meine Schwester ist verletzt, und ich verlange, dass Ihr uns unverzüglich in den Palast zurückbringt.«

Mirannas zunächst stockender Atem ging inzwischen wieder regelmäßiger, was Steldor offensichtlich so auslegte, dass ihr die Schauspielerei zu viel geworden war.

»Seht selbst«, er deutete auf die Stelle, wo sie mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. »Ihr Zustand hat sich bereits gebessert. Das Spielchen ist aus, Alera. Bei mir verfangen Eure kleinen Finessen nicht. Wir werden also nicht vor der vereinbarten Zeit zum Schloss zurückkehren.«

»Schön! Dann nehme ich jetzt die Kutsche und bringe sie selbst dorthin! Aber ich würde Euch, Steldor, raten, Euch schon jetzt Gedanken über ein paar Ausreden zu machen, denn Ihr werdet sehr gute Gründe brauchen, um das meinem Vater zu erklären!«

Ich beugte mich zu Miranna hinunter und kehrte den beiden Männern den Rücken zu. »Versuch noch einmal, aufzustehen, dann helfe ich dir zur Kutsche.«

Ich brachte sie dazu, sich aufzusetzen, obwohl sie nur mit Mühe atmen konnte. Als sie versuchte aufzustehen, kam ein spitzer Schrei über ihre Lippen und sie brach vor Schmerz ohnmächtig zusammen. Es gelang mir gerade noch, den Arm unter ihren Rücken zu schieben und so zu verhindern, dass sie auf den Boden aufschlug.

Nachdem ich ihr Haupt vorsichtig abgelegt hatte, funkelte ich die beiden Männer böse an. Mein Zorn auf sie wuchs weiter, aber gleichzeitig wollte ich auch, dass sie endlich etwas taten. Immerhin kniete Steldor sich neben meine Schwester und legte eine Hand an ihre aschfahle Wange.

»Ihre Haut fühlt sich eiskalt an«, konstatierte er und runzelte sorgenvoll die Stirn.

»Was sollen wir nur machen?«, fragte Tadark und trat von einem Bein aufs andere, als wollte er fortlaufen, wüsste aber nicht, wohin.

»Hol alles, was du in ein paar Augenblicken zusammenraffen kannst, und lad es in die Kutsche«, befahl Steldor. Dann wandte er sich an mich. »Wie hat sie sich verletzt?«

»Sie ist gestürzt«, log ich und hoffte, Temerson so vor Steldors Wut zu bewahren. Zum Glück insistierte er nicht weiter.

»Lauft zur Kutsche«, ordnete er an. »Ich trage Miranna.«

Ich sah zu, wie er meine Schwester hochhob, dann folgten er und ich Tadark. Temerson stand neben der Picknickdecke und hielt einen Becher Wasser in der Hand, den er soeben geholt hatte. Entsetzt starrte er den Kommandanten an, der die bewusstlose Prinzessin trug.

»Nicht! Sie muss flach liegen«, ermahnte ich Steldor, als er versuchte, Miranna aufrecht in die Kutsche zu setzen. Ich beeilte mich, die Decke unter den verbliebenen Picknickutensilien hervorzuzerren, und brachte sie zu Steldor, der immer noch mit Miranna in seinen Armen neben der Kutsche stand. Aus der Decke faltete ich ein Kissen für sie.

»So werden wir aber nicht genug Platz für uns alle haben«, wandte Steldor ein.

»Ich kann auf dem Boden knien und auf sie aufpassen.«

Steldor runzelte die Stirn, dann legte er Miranna vorsichtig auf die Bank.

»Ihr sitzt vorne bei mir. Temerson kann auf Miranna achtgeben. Der Boden ist kein Ort für eine Dame, und ich fürchte zudem, Ihr könntet sonst aus dem Wagen fallen. Eine verletzte Prinzessin genügt vollauf.«

Er rief Temerson herbei und wies ihm seinen Platz an. Dann half er mir auf den Kutschbock.

»Lass alles da, was du nicht mit aufs Pferd nehmen kannst«, befahl er Tadark, während er sich neben mich setzte.

Dann ließ er die Zügel schnalzen und trieb die Pferde sofort zum Galopp an. Ich betete stumm, dass Miranna sich nicht ernstlich verletzt hatte.

Die mächtigen Stadtmauern hoben sich feindselig und kalt gegen den sich rasch verdunkelnden Himmel ab, als wir uns unserem Ziel näherten und die ersten Donnerschläge ertönten. Steldor ließ die Pferde in Trab fallen. Die schweren Eisentore, die den Zugang zur Stadt freigaben, waren um diese Zeit noch geöffnet und wir fuhren ungehindert unter den spitzen Stäben hindurch. Doch die Stadtwachen zu beiden Seiten musterten uns verwirrt, nachdem sie unser ungestümes Herannahen bereits beobachtet hatten.

In stetigem Trab passierten wir die Hauptstraße in Richtung Palast. Es war wieder Markttag, daher wimmelte es überall von Menschen. Steldor hielt vor den Toren des Innenhofs, wo er und Temerson vom Wagen sprangen. Nachdem der Hauptmannssohn mich vom Kutschbock gehoben hatte, erteilte er dem besorgten jungen Mann einen barschen Befehl: »Lauf voraus und sag den Palastwachen, sie sollen den Arzt herbeischaffen. Ich bringe Miranna in ihre Gemächer.«

Ich trat zu meiner Schwester und legte eine Hand auf ihre feuchte Stirn. Ihre blauen Augen sahen mich gequält an.

»In ein paar Minuten wirst du in deinem Bett sein«, murmelte ich.

Sie nickte schwach, reagierte aber nicht weiter. Steldor schob mich beiseite, lud sie auf seine Arme und trug sie den von Hecken gesäumten Weg durch den Innenhof bis zum Schloss. Inzwischen war auch Tadark eingetroffen, und er und ich folgten Steldor. Als wir näher kamen, hatten die Palastwachen die Tore schon weit für uns geöffnet.

»Hier entlang«, sagte ich und schob mich in der Eingangshalle an Steldor vorbei. Ich führte ihn über die Prunktreppe zu Mirannas Gemächern und öffnete die Tür zu ihrem Salon, den wir durchquerten, um schließlich in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Dort duckte Steldor sich unter den pastellfarbenen Bändern ihres Betthimmels und legte sie vorsichtig ab.

»Ich werde im Salon warten«, sagte er und musterte befangen die verspielte, mädchenhafte Einrichtung.

Der königliche Leibarzt traf bald darauf ein, begleitet von meiner Mutter. Errötet und verängstigt folgte ihnen Temerson, der jedoch bei Steldor und Tadark im Salon zurückblieb.

Nachdem Bhadran Miranna untersucht hatte, bat er mich, ihm zu beschreiben, wie sie sich die Verletzung zugezogen hatte.

»Sie ist beim Äpfelpflücken gestolpert und gestürzt«, sagte ich vorsichtig und versuchte, Blickkontakt zu meiner Schwester aufzunehmen. Ich hoffte, sie wäre aufmerksam genug, um zu verstehen, was ich im Sinn hatte.

Der Mann, der schon unser ganzes Leben lang all unsere Verletzungen und Erkrankungen behandelt hatte, musterte mich skeptisch, sagte jedoch nichts weiter. Ich verließ das Zimmer, da ich Miranna nun in besten Händen wusste.

Sobald ich den Salon betreten hatte, richtete Temerson seinen erschrockenen Blick auf mich. Ich verspürte Mitleid, wenn ich die missliche Lage bedachte, in der er sich jetzt befand. Noch nie zuvor hatte er eine Prinzessin begleitet, wahrscheinlich fühlte er sich nun schuldig an einer irreparablen Verletzung und fürchtete den Zorn Steldors, wenn nicht der ganzen Königsfamilie. Ich bewunderte ihn allein schon für den Mut, sich nicht davongestohlen zu haben. Also lächelte ich ihn aufmunternd an, wandte mich dann jedoch an Steldor, der ebenso besorgt dreinsah, wenn mir auch nicht klar war, ob er mehr um Miranna oder um sich selbst fürchtete.

»Danke für Eure Hilfe«, sagte ich, und als in diesem Moment der Regen gegen das Fenster zu trommeln begann, fügte ich noch hinzu: »Es scheint, als ob unser Picknick in mehrerlei Hinsicht unter keinem guten Stern stand.«

Er betrachtete mich eingehend und versuchte zweifellos, aus meiner Miene zu lesen, ob ich meinem Vater berichten würde, dass er unsere Rückkehr verzögert hatte, indem er unsere Aufrichtigkeit infrage gestellt hatte, doch er sagte nichts dazu.

»Wie geht es ihr?«, fragte er stattdessen.

»Der Arzt hat die Art ihrer Verletzung noch nicht genau bestimmen können, aber sie ist bei Bewusstsein und sieht auch schon wieder etwas rosiger aus.«

»Erklärt mir noch einmal, wie es zu dem Unfall kam«, sagte er, denn er schien mit meiner ersten Erläuterung der Umstände unzufrieden.

»Sie ist gestolpert und gestürzt. Dabei muss sie auf irgendetwas gefallen sein, vielleicht auf einen Ast oder einen Stein.«

Steldor sah mich misstrauisch an, dann wirbelte er zu Temerson herum. »Du warst bei ihr. Ist es so passiert?« Der junge Mann wurde sehr bleich, und ich beeilte mich, die Frage abzuwenden.

»Die Verletzung ist eine Tatsache. Da spielt es keine große Rolle, wie sie entstanden ist.«

Just in diesem Moment stürmte Halias herein. Mit wehender Mähne statt mit dem üblichen Zopf.

»Was ist passiert?«, rief er. »Geht es Miranna gut?«

»Sie ist gestürzt und hat sich verletzt«, berichtete ich ihm. »Bhadran und meine Mutter sind bei ihr.«

»Das war das letzte Mal, dass sie ohne mich an ihrer Seite irgendwo hingegangen ist«, verkündete er und warf Tadark einen tadelnden Blick zu. »Wenn sie unter meinem Schutz steht, wird ihr nichts zustoßen.«

Tadark starrte ihn böse an, denn er verstand Halias’ indirekte Kritik an seinen Fähigkeiten als Leibwächter als Beleidigung. Doch bevor er darauf antworten konnte, öffnete sich die Schlafzimmertür und meine Mutter trat in unsere Mitte.

»Unser Doktor hat Miranna etwas gegen die Schmerzen verabreicht, und jetzt schläft sie«, informierte sie uns in ihrem üblichen sanftmütigen Ton. »Sie hat sich mehrere Rippen geprellt oder gebrochen, aber sie wird sich davon erholen.« Dankbar lächelte sie Steldor und Temerson an. »Ich danke Euch, dass Ihr sie so rasch und umsichtig in den Palast zurückgebracht habt.«

Auch wenn meine Mutter mit freundlicher Stimme sprach, war klar, dass die beiden damit entlassen waren. Respektvoll verbeugten sie sich und gingen.

»Einen Augenblick noch, Temerson«, rief ich ihnen nach. Als beide stehen blieben, sagte ich entschieden: »Ich möchte nur noch ein paar Worte mit Temerson sprechen, Ihr könnt gehen.«

Steldor blickte gekränkt drein, verschwand aber trotzdem.

Ich trat nahe an den nervösen Burschen heran und erklärte mit leiser Stimme: »Mirannas Verletzung war ein Unfall, und ich gebe Euch keine Schuld daran. Sie und ich werden dabei bleiben, dass sie gestürzt ist.«

Er verzog den Mund zu seinem ersten Lächeln an diesem Tag, verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Später am selben Nachmittag, nachdem ich mich in meinen Salon zurückgezogen hatte und Tadark seinen Dienst wieder aufgenommen hatte, verlangte ich, mit ihm zu sprechen.

»Ich denke, es könnte den König interessieren, dass du heute, gleich nach Mirannas Unfall, ein derart schlechtes Urteilsvermögen bewiesen hast«, ließ ich ihn mit blitzenden Augen wissen.

Tadark nahm eine noch aufrechtere Haltung ein, blieb aber stumm.

»Vielleicht bist du für eine derart verantwortungsvolle Aufgabe einfach nicht geschaffen«, fuhr ich fort und benutzte absichtlich die Worte, mit denen er London kritisiert hatte.

Seine gekränkte Miene verriet mir, dass ihm wohl klar war, dass sein Amt als Leibwächter auf dem Spiel stand.

»Schon gut«, sagte ich und genoss die Macht, die ich über ihn hatte. »Wenn du mir keine Schwierigkeiten machst, werde ich dir auch keine machen. Verstanden?«

Er starrte mich mit vor Empörung weit aufgerissenen Augen an. Die Tatsache, dass ich jetzt etwas gegen ihn in der Hand hatte, missfiel ihm sichtlich.

»Das ist alles. Du kannst dich zurückziehen.«

Damit drehte ich mich um und ging in mein Schlafzimmer. Rückblickend empfand ich den Tag mit einem Mal als durchaus gelungen.