22. ZWEI HERZEN IN EINER BRUST

»Jetzt verrat mir schon, ob Temerson sich irgendwann getraut hat, dich zum Tanz aufzufordern?«

Es war die erste Gelegenheit seit Semaris Geburtstagsfest vor fünf Tagen, bei der meine Schwester und ich allein zusammensaßen. Wir befanden uns in meinem Salon, ich auf dem Sofa, sie in einem Sessel daneben.

»Nein.« Miranna kicherte. »Aber Perdic, sein achtjähriger Bruder hat sich getraut.«

Ich musste mit ihr lachen, als ich mir Temersons Gesicht vorstellte: Sein kleiner Bruder bat eine Prinzessin zum Tanz, während er in ihrer Gegenwart kaum einen vollständigen Satz herausbrachte.

Miranna und ich verbrachten den Nachmittag zusammen und bestickten die Taschentücher, die wir vor dem Turnier verschenken würden. Wir hatten bereits Mitte Oktober, und der Himmel war grau und verhangen. Die Wärme der brennenden Scheite im Kamin war uns mehr als willkommen.

Es war Tradition, dass jede Prinzessin im heiratsfähigen Alter sich einen Begleiter für das Turnier und das Abendessen am Vorabend wählte, indem sie dem von ihr favorisierten jungen Mann ein selbstbesticktes Taschentuch sandte. Miranna und ich konnten sticken, was immer uns gefiel, doch ich hatte seit dem ersten Mal mit fünfzehn Jahren immer nur meinen Namen in eine Ecke gesetzt. Mirannas Verzierung war kunstvoller und origineller, aber sie stickte auch sehr viel lieber als ich.

»Ich habe ein paarmal mit Perdic getanzt«, fuhr Miranna fort, und bei der Erinnerung an das Fest bekam sie glänzende Augen. »Er ist ein wirklich süßer Junge, und viel mutiger als sein Bruder. Zayle, der den Großteil des Abends mit Perdic verbrachte, wollte auch mit mir tanzen, was Semari zum Lachen brachte. Und schließlich habe ich Temerson gefragt!«

»Und natürlich hat er errötend eingewilligt«, neckte ich sie.

Unsere Unterhaltung endete abrupt, als die Tür zu meinem Salon aufschwang und mein Vater hereinpolterte.

»Ah, meine beiden Töchter, wie ich sehe! Ausgezeichnet! Ich hoffe, ich störe nicht?«, fragte er.

»Überhaupt nicht«, erwiderte ich und musste ebenfalls lächeln. »Setzt Euch zu uns, Vater.«

Der König bemerkte, woran wir gerade arbeiteten, grinste daraufhin von einem Ohr zum anderen und setzte sich neben mich auf das Sofa.

»Jaja, die Taschentücher. Und wer wird der Glückliche sein, der deines bekommt, Miranna? Vielleicht derselbe Junge wie im letzten Jahr? Wenn ich mich recht entsinne, war er ziemlich charmant.«

Er zwinkerte ihr zu, und Mirannas Wangen röteten sich.

»Nein«, sagte sie. Es war klar, dass unser Vater sich schon Gedanken über mögliche Ehekandidaten für sie machte, auch wenn sie sicher nicht vor ihrem achtzehnten Lebensjahr heiraten würde. »Ich möchte meines Lord Temerson schicken.«

»Ist das nicht der Junge, den ich als deinen Begleiter bei dem Picknick ausgesucht hatte?« Er lachte zufrieden in sich hinein, als sie nickte. »Ausgezeichnet. Er kommt aus einer erstklassigen Familie. Ich habe scheinbar wirklich ein Händchen für so etwas!«

Damit wandte er sich an mich und tätschelte liebevoll meine Hand.

»Dich wird interessieren, dass Steldor an einem Schaukampf beim Turnier teilnimmt. Cannan hat ein Scheingefecht zwischen seinem Sohn und Lord Kyenn angesetzt, um den Leuten ein wenig cokyrische Kampftechnik zu zeigen.«

»Warum Steldor?«, platzte ich in Sorge um Narian heraus.

Mein Vater verstand meine Worte auf eine Weise, die ich nicht beabsichtigt hatte.

»Du wirst nur kurze Zeit auf die Gesellschaft deines Kavaliers verzichten müssen. Außerdem wüsste ich keinen Grund, warum man dem besten Krieger Hytanicas eine solche Gelegenheit nehmen sollte! Noch dazu, wo er sich freiwillig anerboten hat, das Turnier solcherart zu bereichern.«

Ich sah ihn ausdruckslos an, und er warf Miranna einen Blick zu, als wollte er sie bitten, meine Befürchtungen zu zerstreuen. Ganz offensichtlich glaubte er, ich sei dagegen, weil ich es nicht ertrüge, von Steldor getrennt zu sein.

Als Miranna nur stumm mit den Schultern zuckte, ergriff mein Vater wieder das Wort. Meine Reaktion schien seine Stimmung allerdings etwas gedämpft zu haben.

»Also gut, es gibt aber auch noch etwas anderes zu besprechen. Ich habe bemerkt, dass es auf Semaris Geburtstag zwischen dir und Steldor recht gut ging. Er hat dir ja ein außerordentliches Geschenk offeriert, und ich war froh zu sehen, dass du es angenommen hast. Eure Mutter und ich fühlten uns auch bestätigt, als wir euch tanzen sahen.«

Die braunen Augen meines Vaters schienen mit zunehmender Begeisterung für das Thema zu glitzern.

»Ich denke, es ist an der Zeit, im Königreich bekannt zu geben, dass ihr, du und Steldor, heiraten werdet. Ich habe bereits mit dem Priester über die Verlobungszeremonie gesprochen und arrangiert, dass sie in den nächsten Tagen stattfindet, sodass wir die Verlobung beim Turnier verkünden können.«

Vor Schreck blieb mir der Mund offen stehen. Ich konnte nicht fassen, dass er glaubte, ich wäre mit Steldor in derart gutem Einvernehmen. Steldor wäre von dem Vorschlag sicher begeistert, mir dagegen war allein schon die Vorstellung unerträglich. Am liebsten wäre ich einfach aus dem Zimmer gerannt.

»Ich kann nicht«, stieß ich hervor und hoffte, weniger bestürzt zu klingen, als mir zumute war.

Mein Vater runzelte die Stirn. »Was meinst du damit, Alera?«

»Ich meine … dass ich nicht kann. Ich kann mich Steldor nicht versprechen. Ich … bin nicht überzeugt, dass er der Mann ist, den ich heiraten sollte.«

Im Raum herrschte eine angespannte Stille, die nur vom gelegentlichen Knistern des Feuers im Kamin unterbrochen wurde.

»Und warum nicht?«, fragte mein Vater verärgert.

Ich suchte nach einer Möglichkeit, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, denn ich wusste, dass er die bloße Tatsache, dass ich Steldor verabscheute, nicht gelten lassen würde. Mir war klar, dass ich Gefahr lief, meinen Vater zu erzürnen und seine gute Meinung von mir aufs Spiel zu setzen, doch mir fiel nichts anderes ein, als ihm etwas zu erzählen, das ich bislang nur meiner Schwester anvertraut hatte.

»Ich … ich fühle mich zu jemand anderem … hingezogen.«

»Du fühlst dich zu jemand anderem hingezogen?«, wiederholte er ungläubig und spielte nervös mit seinem Ring. »Und wer ist dieser Jemand?«

»Das möchte ich nicht sagen. Aber schon die Tatsache an sich lässt doch vermuten, dass Steldor nicht die ideale Partie für mich ist.«

Ich betete, dass er meinen letzten Satz nicht als Respektlosigkeit auffassen mochte. Jedenfalls nahm mein Vater das Geständnis nicht gut auf.

»Das ist doch lächerlich, Alera. Wenn du mir nicht sagen willst, wer der junge Mann ist, dann muss ich annehmen, dass es sich um jemand handelt, den ich nicht gutheißen würde. Und in diesem Fall bekämst du ohnehin keine Erlaubnis, ihn zu heiraten. Wenn dieser Mann nicht die nötigen Eigenschaften besitzt, um mein Nachfolger zu werden, dann ist es völlig unerheblich, ob du dich zu ihm hingezogen fühlst. Du musst schließlich einen König heiraten.«

»Ich flehe Euch an, Vater, gebt mir noch ein wenig mehr Zeit.«

Er musterte mich einen Moment lang kritisch, dann lehnte er sich mit einem tiefen Seufzer zurück.

»Gewährt. Aber ich erwarte, dass du diese Zeit auf kluge Weise nutzt. Jetzt sind es noch sechs Monate bis zu deinem Geburtstag, der zugleich dein Hochzeitstag sein wird, also brauchen wir eine Entscheidung hinsichtlich deines Ehemannes.« Dann tadelte er mich streng. »Es ist Steldor gegenüber unfair und hinterlistig, ein so kostbares Geschenk wie diese Kette anzunehmen, wenn man zwei Herzen in der eigenen Brust schlagen fühlt.«

Mein Vater erhob sich, um zu gehen, doch dann sah er mich noch ein letztes Mal an. Dabei ließ seine ungewöhnlich strenge Miene ihn älter wirken. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie stark ergraut sein dunkelbraunes Haar inzwischen bereits war. Ich verstand jetzt, warum er so auf meinen Geburtstag fixiert war. Achtzehn war das traditionelle Heiratsalter einer Thronerbin und zugleich der frühestmögliche Zeitpunkt der Krönung eines Nachfolgers. Mein Vater war offenbar fest entschlossen, dieser Tradition zu folgen.

»Alera, trotz dieser anderen Person wirst du Steldor die Ehre erweisen, während des Turniers und beim Festmahl am Vorabend als dein Begleiter aufzutreten.«

Die Schritte meines Vaters klangen deutlich gedämpfter, als er das Zimmer verließ. Nachdem ihr Geräusch auf dem Flur verklungen war, schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf, aber seltsamerweise trieb mich am meisten der Schaukampf um, den mein Vater erwähnt hatte. Warum hatte Steldor sich dafür gemeldet? Seine Meinung von Narian war für mich kein Geheimnis und konnte auch dem Hauptmann nicht verborgen geblieben sein. Cannan musste ihm trauen, doch ich konnte nicht glauben, dass Steldor ganz ohne Hintergedanken in diesen Schaukampf ging.

Ich sah Miranna an, die nervös mit ihren rotblonden Locken spielte, und wusste, dass sie ähnliche Überlegungen anstellte.

»Jetzt kämpfen die Männer tatsächlich um dich«, sagte sie.

Ausrufer und Herolde, die man vor ein paar Wochen ausgeschickt hatte, um den einwöchigen Markt und das Turnier anzukündigen, kehrten in den darauffolgenden Tagen zurück. Händler aus den umliegenden Königreichen trafen mit ihren Waren ein. Jeder, der etwas feilbieten wollte, musste sich beim Marktsaufseher melden, eine Gebühr bezahlen und bekam dann einen Platz für einen Verkaufsstand zugewiesen. Die Gasthäuser begannen sich zu füllen, und in den Tavernen blühten die Geschäfte, während die Spannung auf ihren Höhepunkt zusteuerte.

Am Morgen des ersten Markttages war das Wetter frisch und kühl. Miranna und ich kämpften uns durch die versammelte Menge hin zur Festwiese, wo sonst der Wochenmarkt abgehalten wurde. Von hier bis zum Militärgelände und im Norden bis an den Palast hin standen überall Zelte. Ein lächelnder Halias und ein grimmiger Destari begleiteten uns. Diesmal allerdings in Uniform und stets dicht neben uns, da in der wogenden Menge Schutz gegen Rempeleien und Diebe geboten war.

Wir wanderten zwischen den Zelten umher, und fröhlicher Lärm drang an unsere Ohren. Ein vielstimmiger Chor aus Lachen, Schreien und Feilschen. Manchmal stach ein ungewöhnlicher Akzent oder eine fremde Sprache heraus, oder die melodischen Töne eines Sängers oder Musikanten. Ich legte den Kopf schräg und meinte, einen cokyrischen Akzent vernommen zu haben. War Narian vielleicht in der Nähe? Es schien mir möglich, da er seit dem Tag von Semaris Fest in der Stadt wohnte, aber ich konnte ihn nirgends erblicken.

Der Markt bot den Augen eine ebenso überwältigende Pracht wie den Ohren. Die Vielfalt der angebotenen Waren war erstaunlich: Stoffe aus feinster Wolle, hauchzarter Baumwolle, Seide und Leinen in unzähligen Farben, von Gold- und Silberfäden durchzogen. Hanf für Netze und Seile, Bogensehnen, Pelze und Tierhäute, dazu geprägtes Leder. Gewürzhändler wogen den begierigen Kunden eifrig kleine Mengen seltener Gewürze wie Zimt, Pfeffer, Kardamom, Gelbwurz und Senfsaat ab. Das gleiche Bild bot sich uns bei den kostbaren Ölen und Duftessenzen. Wir folgten dem Menschenstrom und bewunderten Schmuck, Schwerter und Dolche, prächtige Tapisserien, Kerzen und Truhen, geschnitzte Elfenbein- und Ebenholzfiguren, kostbare Bücher, exotische Kleidungsstücke, edle Teppiche und manches mehr.

Unvermeidlich kam es auf den Wegen zwischen den Zelten gelegentlich zu Streitereien und der einen oder anderen Prügelei, doch diese Auseinandersetzungen wurden rasch von Stadtwachen geschlichtet, die in großer Zahl auf dem Gelände patrouillierten. Für einen erfolgreichen Markt war es wichtig, dass die Menschen ohne Furcht vor Dieben oder anderem Schaden kaufen und verkaufen konnten.

Unsere Lieblingsattraktion waren die Gaukler, gleich gefolgt von den verlockenden Gaumenfreuden. Wir lachten über die Späße der Narren und Jongleure, staunten über Schwert- und Feuerschlucker und Magier. Die Düfte von Eintöpfen, Fleischpasteten und anderen frisch zubereiteten Speisen ließen uns das Wasser im Mund zusammenlaufen, während Aromen besonderer Süßigkeiten, ungewöhnlicher Käsesorten und Kostbarkeiten wie Schokolade uns zu Kopf stiegen.

Am Abend kehrten wir todmüde, aber unendlich reich an Sinneseindrücken in den Palast zurück. Dennoch waren wir entschlossen, unsere Erkundung am nächsten Tag fortzusetzen, und die folgenden Tage verliefen ähnlich dem ersten. Denn es bedurfte einer Menge Zeit, um die Festlichkeiten richtig auszukosten. Morgens wachten wir tatendurstig auf, abends fielen wir völlig erschöpft ins Bett.

Im Verlauf der Woche trafen immer mehr Gäste ein. Die Gasthäuser waren überfüllt, und einige Stadtbewohner verdienten sich ein Zubrot, indem sie Zimmer vermieteten. Außerdem gestattete der König den Angereisten, Zelte auf den freien Flächen um den Palast und vor der Stadtmauer aufzuschlagen. Die meisten Neuankömmlinge wollten am Turnier teilnehmen, das für den letzten Tag des Erntefestes anberaumt war. Junge Männer kamen von nah und fern, angespornt von den großzügigen Geldbeträgen und anderen Preisen, die der König für die Gewinner ausgesetzt hatte. Bei den Wettkämpfen galt es, Geschick und Mut unter Beweis zu stellen.

Am Tag vor dem Turnier besuchten Miranna und ich den Markt nicht mehr, denn ich hatte im Palast die letzten Vorbereitungen für das Festmahl zu überwachen. Meine Mutter hatte mir erneut die Verantwortung für die Feierlichkeit übertragen, was ich als große Ehre empfand, da es bedeutete, dass ich in dieser Hinsicht ihrem hohen Anspruch genügte. Meine wichtigste Aufgabe war die Planung der Speisenfolge und des Unterhaltungsprogramms.

Das Essen für rund vierhundert Personen würde im königlichen Speisesaal im zweiten Stock stattfinden. Gäste waren die Männer, die die Teilnahmegebühr für das Turnier entrichtet hatten, sowie deren Damen. Im königlichen Speisesaal hätten an den zehn Eichentafeln, die sich durch den ganzen Raum erstreckten, sogar tausend Menschen Platz gefunden. Drei Dutzend Kronleuchter mit Kerzen und zahlreiche Öllampen, die an Ketten von den Wänden hingen, sorgten für die Beleuchtung. Am Ende des Saales stand eine Tafel im rechten Winkel zu den übrigen und war der königlichen Familie und ihrer Eskorte vorbehalten. Die Dekoration war eher bescheiden, da es sich bei diesem Festmahl des Königs um einen weniger formellen Anlass handelte. Die Stimmung war meist ausgelassen, der Wein floss in Strömen, man prahlte, was das Zeug hielt, und es gab reichlich Lustbarkeiten.

Am frühen Abend warteten Miranna und ich im Studierzimmer des zweiten Stocks, das manchmal auch als Salon diente, auf unsere Begleiter, während Destari und Halias auf dem Flur wachten. Ich trug ein burgunderfarbenes Samtkleid mit geschnürtem Mieder und einem weiten Tellerrock. Die kräftige Farbe passte hervorragend zu meinen offenen, schimmernden Locken. Mirannas dunkelblaues Kleid hatte die Farbe ihrer Augen, eine schmale Taille und einen leicht ausgestellten Rock.

Es dauerte nicht lange, da erschienen Steldor und Temerson. Der eine selbstsicher und strahlend in einem schwarzen Wams mit Goldstickerei, der andere ängstlich und unsicher in einem cremefarbenen Wams. Die Tradition verlangte, dass die mit dem Taschentuch beehrten Männer dieses auch sichtbar trugen. Steldor hatte meines um den Griff seines Schwertes geknotet. Temerson trug kein Schwert bei sich, und zunächst konnte ich das Taschentuch nirgends an ihm entdecken. Dann sah ich jedoch, dass er es sich ums linke Handgelenk gebunden hatte.

Steldor ging voran, was Temerson recht zu sein schien, und küsste wie immer meine Hand. Ohne sich mit Plaudern aufzuhalten, bot er mir seinen Arm an.

»Würdet Ihr mir die Ehre erweisen?«

Ich nickte und war mir nicht sicher, was ich von ihm erwarten sollte. Schließlich waren wir zwei Wochen zuvor nicht gerade freundlich voneinander geschieden. Als wir das Zimmer verließen und den Gang zum Speisesaal hinuntergingen, folgten Miranna und Temerson uns. Ich wunderte mich über Steldors untypisches Benehmen – weder hatte er mir oberflächliche Komplimente gemacht, noch hatte er versucht, mich in ein entbehrliches Gespräch zu verwickeln.

Meine Überlegungen fanden ein Ende, als die Tür zum Festsaal sich öffnete und der Lärm der ausgelassenen Gäste an mein Ohr drang. Wir durchquerten den Saal und steuerten auf die erhöhte Ehrentafel zu. Kurzzeitig wurde der Lärm schwächer, als die Menschen sich respektvoll verneigten. Man servierte bereits Wein und Bier, doch das Festmahl würde erst beginnen, wenn der König und die Königin anwesend waren. Ganz der perfekte Kavalier, schob Steldor mir den Stuhl zurecht, goss ein Glas des dunkelroten Weins für mich ein und reichte es mir.

Ein Trompetenstoß vom anderen Ende des Saales ließ mich wissen, dass meine Eltern, wie stets von Lanek angekündigt, sogleich hereinkämen. Ich musste leise lachen, als mir klar wurde, dass der Palastherold sich der Trompeten bediente, da selbst er bei diesem Geräuschpegel sonst überhört würde.

»Erhebt Euch für König Adrik und seine Königin, Lady Elissia«, brüllte Lanek.

Schweigen trat ein und alle standen auf, während das Königspaar in den Saal einzog. Mein jovialer Vater grüßte im Vorbeigehen zu allen Seiten, während meine Mutter würdevoll neben ihm herschritt. Ihnen folgte paarweise ein Dutzend Elitegardisten, die in einer Reihe hinter der Ehrentafel Posten bezogen, wo bereits Halias und Destari standen. Ihre königsblauen Uniformen bildeten einen schönen Kontrast zu dem warmen Farbton der Vertäfelung aus Kirschholz. Cannan, Kade und eine Reihe von Kades Palastwachen patrouillierten durch den Raum, allesamt wachsam und ständig auf der Hut. Mein Vater betrat das Podest mit der Ehrentafel und stellte sich hinter seinen Sessel, um das Festessen zu eröffnen.

»Lasst das Festmahl beginnen!«, verkündete er gut gelaunt und reckte einen mit Bier gefüllten Pokal in die Höhe.

Die Feiernden stießen Jubelschreie aus, und die Diener begannen plattenweise Speisen zu den Tischen zu tragen.

Das Essen dauerte Stunden und bestand aus mehreren Gängen. Mein Vater hatte keine Kosten gescheut, und so bogen sich die Tische bald unter Hammel- und Kalbskeulen, Hühnern, Wildbret, Schweine- und Rindfleisch. Dazu gab es vielerlei Brot und Gemüse. Zum Nachtisch wurden Zuckerwaffeln, Orangen, Äpfel, Birnen und Käse serviert. Wein und Bier wurden fassweise herbeigebracht.

Als das Mahl sich dem Ende zuneigte, begann das Unterhaltungsprogramm. Akrobaten turnten zwischen den Tischreihen auf und ab, während Jongleure und Spaßmacher zwischen unserer Tafel und den übrigen Tischen ihre Talente demonstrierten. Später folgten Sänger und Musikanten.

Die ganze Zeit über erwies Steldor sich als fürsorglicher Verehrer, der mein Weinglas füllte, mich mit Süßigkeiten versorgte, mich auf besonders gelungene Tricks und Kunststücke hinwies und mir einige Männer zeigte, die er für Favoriten bei den morgigen Wettkämpfen hielt. Er prahlte kein bisschen, was ich nicht für möglich gehalten hätte, sondern schien sich tatsächlich einfach zu amüsieren. Ich weiß nicht, ob es am Wein lag oder an seinem neuartigen Auftreten, aber auch ich genoss den Abend und womöglich sogar seine Gesellschaft.

Gerade als es schien, als hätte man ein Fass zu viel geöffnet, weil einige Gäste an Ort und Stelle beginnen wollten, sich miteinander zu messen, stand mein Vater auf. Wieder erschollen Trompetenstöße, um ihm die nötige Aufmerksamkeit zu sichern.

»Mein lieben Lords, geht nun und gönnt Euch etwas Ruhe, denn die Sonne wird Euch bald wecken und dann beginnt das Turnier«, verkündete er und gab damit das Ende der Feierlichkeit bekannt.

Er und meine Mutter verließen den Saal, gefolgt von Steldor und mir, Miranna und Temerson sowie den Elitegardisten. Hinter uns hörte ich die Menschen lärmend aufbrechen.

Sobald wir wieder im Studierzimmer waren, verneigte Temerson sich und ging. Ich drehte mich zu Steldor um und hoffte, er würde es ihm gleichtun.

»Wir müssen ebenfalls zeitig aufstehen, daher wünsche ich Euch eine Gute Nacht«, sagte ich ziemlich schroff.

»Ich bin sicher, Ihr ertragt meine Gesellschaft noch einen Moment länger.« Seine sanfte Stimme und seine dunklen Augen verrieten ein gewisses Amusement, und zum ersten Mal seit Beginn des Abends wurde ich ein wenig ängstlich.

»Wir sollten nicht ohne einen Chaperon sein«, argumentierte ich und verschränkte nervös die Finger.

»Ich wünsche nur ein paar Minuten, und Euer Leibwächter steht doch draußen auf dem Flur.«

Ich warf rasch einen Hilfe suchenden Blick auf meine Schwester, doch die schenkte mir nur ein aufmunterndes Lächeln, warf ihre Locken zurück und verließ den Raum. Jetzt war ich allein mit Steldor, der mich einen Moment lang musterte, dann nach meinen immer noch unruhigen Händen griff und leise lachte, als ich bei seiner Berührung zusammenzuckte.

»Habt Ihr wirklich solche Angst davor, mit mir allein zu sein?«

Als ich darauf nicht antwortete, fuhr er fröhlich fort: »Mir scheint, Ihr habt über unser Gespräch auf Baron Koranis’ Gut ein wenig nachgedacht. Ich bin sicher, Ihr werdet mir darin zustimmen, dass wir es zusammen vergnüglicher haben, wenn Ihr mir nicht fortwährend die Stirn bietet.«

Ich starrte ihn stumm an, denn es machte mich sprachlos, dass er mich allein für alle Probleme zwischen uns verantwortlich machte. Während ich noch um eine Antwort rang, streckte er die Hand aus und strich über mein langes, glattes Haar.

»Darf ich Euch einen Gutenachtkuss geben?«, fragte er und hatte mich damit erneut überrumpelt. Ich wusste, dass mir meine Gefühlswirren ins Gesicht geschrieben standen.

»Nur einen einzigen Kuss, das verspreche ich«, neckte er. »Ich werde weiter nichts von Euch erwarten.«

Ich überlegte, dass er mein Widerstreben, mit ihm allein zu sein, vielleicht meiner fehlenden Erfahrung mit Männern zuschrieb. Das traf zwar teilweise zu, aber gleichzeitig schien ihm entgangen zu sein, dass ich ihn nicht mochte und ihm nicht traute. Ich beschloss, das Missverständnis nicht aufzuklären. Schließlich war er wenigstens höflich.

Also nickte ich, und er nahm mein Gesicht sanft in seine Hände, sodass sein verführerischer Duft mich umfing. Dann vereinte er zärtlich seine Lippen mit den meinen.

»Schlaft gut, Prinzessin«, sagte er, nahm seine Hände fort und trat einen Schritt zurück. »Ich werde morgen früh zurückkehren und Euch zum Turnierplatz geleiten.«

Er verneigte sich tief und ging. Ich blieb irritiert zurück, denn so viel Zärtlichkeit hätte ich ihm nicht zugetraut. Die Tatsache, dass ich sowohl den Kuss als auch seine Berührung genossen hatte, beunruhigte mich über die Maßen.

»Gute Nacht, Destari«, murmelte ich, während ich auf den Flur trat, wo mein Leibwächter auf mich wartete.

Auf dem Weg in meine Gemächer überfiel mich die befremdliche Erkenntnis, dass ich soeben auf angenehme Weise Zeit mit Steldor verbracht hatte. Widerstrebend gestand ich mir ein, dass man sich in seiner Gesellschaft tatsächlich wohlfühlen konnte. Nur leider hatte ich keine Idee, wie ich dafür sorgen sollte, dass der Steldor, den ich soeben erlebt hatte, auch der wäre, den ich heiraten würde, vorausgesetzt, ich käme dem Wunsch meines Vaters nach.