7. KEINE ERKLÄRUNG

Ich saß wie versteinert in einem Sessel in meinem Salon und war zu verzweifelt, um mich auch nur zu rühren. Seit ich den Thronsaal verlassen hatte, hatte ich versucht zu essen, zu lesen und zu sticken. Doch je mehr Zeit verging, ohne dass ich etwas von London erfuhr, desto schlechter konnte ich mich konzentrieren. Ich versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als daran, was wohl gerade im Thronsaal vor sich ging, doch es gelang mir nicht. Inzwischen waren fast sechs Stunden verstrichen, und das Warten wurde immer unerträglicher. Ich wollte unbedingt wissen, was mit London passieren würde, und gleichzeitig wollte ich es auf keinen Fall. Denn wenn er bestraft würde, wäre es meine Schuld.

Tadark hatte ein paarmal Luft geholt, als wolle er etwas sagen, sich dann aber jedes Mal wieder besonnen. Er wollte mich sicher fragen, was ich meinem Vater Vertrauliches mitgeteilt hatte, woran man zwar London, nicht jedoch ihn teilhaben ließ. Denn auch wenn er London in der Bibliothek angegriffen hatte, so wusste ich doch, dass ihm niemals in den Sinn käme, in meinem ersten Leibwächter, seinem Partner, einen Verräter zu sehen.

Man würde London nicht des Verrats bezichtigen, versicherte ich mir selbst. Er würde alles erklären können und noch vor Einbruch der Nacht in den Dienst zurückkehren. Ein ums andere Mal wiederholte ich diesen Satz – London ist kein Verräter –, bis er hohl klang und ich mich schämte, festzustellen, dass ein Teil von mir ihn nicht mehr glaubte.

Ich überhörte das Klopfen an der Tür, aber Tadark ging hin und öffnete. Ein Angehöriger der Elitegarde trat ein.

»Destari!«, rief ich und sprang auf, als er auf mich zukam. »Was tust du denn hier?«

Destari verbeugte sich und nahm dann eine etwas lässigere Haltung ein. Er war außergewöhnlich groß und kräftig, sodass Cannan neben ihm klein und Tadark beinahe wie ein Kind wirkte. Er hatte rabenschwarzes Haar, schwarze Augen, sein Kinn war kantig und die buschigen Augenbrauen ließen ihn geradezu bedrohlich wirken. Aber da ich ihn schon mein ganzes Leben lang kannte, fürchtete ich mich natürlich nicht vor ihm. Wie Tadark und alle anderen Soldaten der Elitegarde außer London trug er eine ordentliche Uniform, bestehend aus königsblauem Rock, weißem Hemd und schwarzer Hose.

»Ich wurde zu deinem zweiten Leibwächter ernannt«, sagte er mit seiner dröhnenden Stimme, und der kleine Rest des Mittagessens in meinem Magen überschlug sich.

»Wo ist London?«

Destari starrte auf den Boden, während er um eine Antwort rang, denn er und London waren schon seit ihrem Besuch der Militärakademie befreundet und gleichzeitig zur Elitegarde gekommen.

»London wurde vom Dienst suspendiert.«

»Was?«, flüsterte ich schockiert. »Warum?«

»Ihr wisst, warum«, sagte Destari und warf einen verstohlenen Blick in Tadarks Richtung, der mich wohl warnen sollte, meine Wort wohl zu überlegen.

Offensichtlich hielt man Tadark nicht für vertrauenswürdig genug, alles, was die Elitegarde betraf, zu erfahren, oder zumindest schien das Destaris Standpunkt zu sein. Nach allem, was ich über Tadark wusste, konnte ich das dem älteren Wachmann nicht einmal verübeln.

»Was ich gesagt habe, beweist doch gar nichts!«, erwiderte ich heftig, obwohl mir die Folgen meines Handelns längst bewusst waren.

»Es beweist genug.«

»Was bedeutet das?« Meine Gedanken rasten und ich suchte nach Möglichkeiten, das, was ich getan hatte, ungeschehen zu machen.

»London erlaubte keine Zweifel an deiner Glaubwürdigkeit und gab zu, die cokyrische Frau zu kennen. Er gestand auch, in der Nacht ihrer Flucht deine Gemächer verlassen zu haben, mehr aber auch nicht. Er hat weder bestätigt noch geleugnet, ihr geholfen zu haben.«

»Ich muss zu meinem Vater«, verkündete ich und ging auf die Tür zu. Doch mein Ersatzleibwächter ließ mich nicht passieren.

»Destari, geh sofort aus dem Weg!«, befahl ich mit so viel Autorität, wie ich aufbringen konnte. Meine Stimme klang hoch und laut.

»Bei allem nötigen Respekt, Prinzessin Alera, es ist schon spät, und es wäre besser, wenn Ihr den König erst morgen sprechen würdet.«

»Bei allem nötigen Respekt, Destari«, fauchte ich ihn mit in die Hüften gestemmten Händen an, »geh mir aus dem Weg.«

Tadark, der sich bis jetzt erstaunlicherweise komplett zurückgehalten hatte, vermochte sich nicht länger zu beherrschen.

»Ich muss Destari recht geben, Prinzessin«, hob er an, aber ich schnitt ihm das Wort ab.

»Du hast dazu gar nichts zu sagen, Tadark! Ich habe es sowieso satt, mir deine Ansichten anzuhören!«

Mit traurigen braunen Augen, die an einen geschlagenen Hundewelpen erinnerten, trat er den Rückzug an, und ich lenkte meinen Zorn wieder auf den mich turmhoch überragenden Destari.

»Falls du nicht Befehl hast, mich hier festzuhalten – ein Befehl, dem ich mich ohnehin widersetzen würde –, dann überschreitest du hier eindeutig die dir gesetzten Grenzen. Also geh zur Seite!«

Ich zeigte dorthin, wo ich ihn haben wollte. Resigniert trat Destari beiseite, und ich stürmte auf den Gang hinaus. Beide Leibwächter folgten mir. Als ich die Prunktreppe hinunterlief, quälte mich bereits die Hoffnungslosigkeit meines Unterfangens und meine Wut verwandelte sich in Verzweiflung.

Schließlich betrat ich den Thronsaal und ließ Destari und Tadark im Vorzimmer zurück. Dort saß mein Vater, allein, ohne Wachen. Das schwindende Nachmittagslicht, das durch die hohen Fenster im Norden des Saales fiel, erzeugte in den Winkeln lauernde Schatten und sorgte für eine unheimliche Atmosphäre.

»Was ist passiert, Vater?«

»Alera«, sagte er müde. »Ich wusste, dass du kommen würdest, sobald ich dir Destari geschickt hätte.«

Mein Vater strich sich übers Kinn, als ich mich vor ihm aufbaute, und die Lachfältchen im Gesicht des neunundvierzigjährigen Mannes ließen ihn auf einmal gealtert und hager aussehen.

»Cannan und ich haben die Konsequenz aus dem gezogen, was du uns berichtet hast. Das mussten wir – uns blieb gar nichts anderes übrig.«

»Was wird mit ihm geschehen?« Ich schluckte und fühlte mich hundeelend.

»Er verbringt unter Arrest eine letzte Nacht in seinem Quartier. Morgen früh wird er vom Palastgelände verbannt.«

»Aber Vater, London ist doch kein Verräter. Er muss eine Erklärung dafür haben!«

»Falls er sie hat, dann ist er nicht bereit, sie uns zu geben. Ich kann ihm nicht gestatten, weiter als Wache und schon gar nicht als Elitegardist zum Schutz der königlichen Familie zu dienen, wenn seine Loyalität in Zweifel steht.«

»Seine Loyalität gehört Hytanica!«, rief ich aus, denn ich ertrug den Gedanken nicht, dass es anders sein könnte. »Er ist kein Verräter.«

»Jemand muss es aber sein!«, erwiderte mein Vater ebenso heftig und unterstrich seine Worte mit einer herrischen Gebärde. »Wäre es dir leichter, ein anderes Mitglied der Elitegarde anzuklagen, wo du doch die meisten von ihnen schon dein ganzes Leben lang kennst? Einer von ihnen hat den Verrat begangen. Warum soll es nicht London gewesen sein?« Als er meine gequälte Miene bemerkte, schlug er einen etwas sanfteren Ton an. »Ich weiß, dass du ihm nahestehst, aber ich kann das Risiko eines weiteren Verrats nicht eingehen.«

»Ich weiß, dass es einen guten Grund für sein Verhalten geben muss«, beharrte ich. »Er hat ihn nur noch nicht genannt.«

»Wenn er sein Verhalten weder seinem König noch seinem Hauptmann zu erklären bereit ist«, bemerkte mein Vater in eisigem Ton, »wem denn dann?«

Resigniert sank ich auf die Stufen zum Podest. Auch wenn die Antwort klar war, wollte ich sie nicht aussprechen. Wenn London seinem König keine Rechenschaft ablegte, würde er es auch bei niemand sonst tun.

»Ich möchte ihn noch einmal sehen, Vater«, sagte ich schließlich und verspürte an der Stelle, wo sich bis jetzt mein Herz befunden hatte, nur einen dumpfen Schmerz. »Ich muss mich doch von ihm verabschieden.«

Ich wusste, dass das die letzte Gelegenheit wäre, London zu sehen. Mir war es verboten, den Palast zu verlassen, und London würde das Gelände nicht mehr betreten dürfen. Ich wusste ja nicht, wie lange diese Vorschriften gelten würden, aber selbst wenn sie aufgehoben wären, war es fraglich, ob er sich bereit erklären würde, mich jemals wieder zu treffen und zu sprechen. Ich hatte mit einer einzigen Audienz bei meinem Vater sein Leben zerstört, da konnte ich es ihm nicht einmal verübeln, falls er mir das nie verzeihen würde.

»Na schön«, stimmte mein Vater zu und sah mich etwas mitfühlender an. »Ich werde ihn morgen früh, bevor er des Schlosses verwiesen wird, in deinen Salon bringen lassen.«

»Danke«, murmelte ich und erhob mich, um zu knicksen. Danach verließ ich den Thronsaal und begab mich in meine Gemächer. Dort wollte ich versuchen, meine Gefühle und Gedanken zu ordnen, bevor ich London ins Gesicht sehen musste.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf und setzte mich auf die Kante meines Sofas, um London zu erwarten. Mir war klar, dass man ihn bei Sonnenaufgang herbringen würde, und ich wollte keinesfalls riskieren, ihn zu verpassen. Destari und Tadark leisteten mir stumm Gesellschaft. Tadark stand neben dem Kamin, Destari hatte sich mit finsterer, grüblerischer Miene neben der Tür zum Gang postiert.

Es gab so vieles, was ich London sagen wollte, aber mir würde nicht viel Zeit bleiben, außerdem war ich unsicher, wie ich mit ihm reden sollte. Ich wusste nicht, in welcher Stimmung und ob er überhaupt bereit wäre, mich anzuhören. Doch ich musste es zumindest versuchen.

Es klopfte, und ich sprang auf, als Destari bereits vortrat. Er riss die Tür auf, und da stand London, in Begleitung eines Mannes der Palastwache, fast so groß wie Destari und doppelt so schwer. Offenbar glaubte Cannan, jemand von diesem Kaliber sei nötig, um London in Schach zu halten. Hätte er Widerstand geleistet, wäre das wohl notwendig gewesen, doch in dieser Situation war es völlig unnötig.

»London!«, rief ich, als würde es mich überraschen, wer da vor meiner Tür stand. »Ich hatte schon Angst, du würdest nicht kommen!«

»Wenn ich es hätte entscheiden können, Prinzessin, wäre ich auch nicht gekommen.« Er klang sehr verbittert, während er ins Zimmer trat.

Sein Verhalten erschreckte mich, auch wenn ich natürlich kein Recht darauf hatte, eine freundliche Begrüßung zu erwarten. Ich schaute mich im Salon um und bemerkte, dass Tadark gekränkt dreinsah – seine rundlichen Wangen hatten fast die Farbe meiner burgunderroten Möbel angenommen, seine Fäuste waren zornig geballt. Auch wenn er sich im Moment darüber aufzuregen schien, wie London mit mir sprach, so wusste ich doch, dass sein Unmut eigentlich daher rührte, dass er wochenlang die Zielscheibe von Londons Spott gewesen war.

Der Wachmann, der London hergebracht hatte, schien sich nicht darum zu scheren, wie dieser sich mir, einer Prinzessin von Hytanica, gegenüber benahm. Sein Gemüt schien so gut gepolstert zu sein wie sein Körper. Destari, der sich neben seinen Freund gestellt hatte, sah unbehaglich drein, auch wenn ihn Tadarks Verhalten weder zu wundern noch zu verärgern schien. Niemand sagte ein Wort, und ich brauchte einen Moment, um den Schmerz, den Londons Ruppigkeit und Distanziertheit mir zugefügt hatten, zu verwinden.

»Würdet ihr uns jetzt allein lassen?«, sagte ich zu den drei Wachmännern. Meiner Ansicht nach hatte London das Recht, zu sagen, was ihm beliebte, und ich hatte Sorge, dass sich einer der anderen um meinetwillen einmischen würde.

Tadark meldete sich natürlich als Erster mit seiner Meinung zu Wort.

»Ich werde Euch nicht mit diesem Kriminellen allein lassen!«

Er richtete sich zu seiner nicht gerade eindrucksvollen Größe auf, drückte in dem kläglichen Versuch, bedrohlich zu wirken, seine Brust heraus. Allerdings sank er wieder in sich zusammen, sobald Londons tödlicher Blick ihn traf.

»Ach, sei still, Tadark«, knurrte Destari und legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes London, um ihn zurückzuhalten.

Tadark murmelte etwas Unverständliches, und Destari deutete mit dem Kopf zur Tür.

»Geh in die Halle.«

Tadark zauderte, doch dann verließ er den Raum an den älteren Wachen vorbei. Offenbar wagte er es nicht, dem stellvertretenden Hauptmann zu widersprechen.

»Nehmt euch so viel Zeit, wie ihr braucht«, sagte Destari und deutete eine Verbeugung in meine Richtung an. »Ich werde Tadark schon in Schach halten.«

Ich nickte und Destari nahm die Hand von Londons Schulter, bevor er sich kurz an den anderen Wachmann wandte und ihm zu verstehen gab, dass er sich ebenfalls zurückziehen sollte. Ich wandte mich wieder London zu, der nichts sagte, sondern nur die Arme verschränkte und sich wie gewohnt an die Wand lehnte. Diesmal wirkte diese Haltung jedoch sehr abweisend.

»Du musst zornig auf mich sein«, wagte ich einen Anfang und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Richtung dieses Gespräch nehmen würde.

»Und warum sollte ich zornig auf Euch sein, Prinzessin?«, erwiderte er kalt.

»Du musst nicht so formell mit mir reden«, warf ich zögernd ein. Dass er mich als »Prinzessin« titulierte, gab ihm wohl das Gefühl von Distanz, ließ meine Verzweiflung aber nur weiter wachsen.

»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Eure Hoheit. Ich rede genauso mit Euch wie all Eure Untergebenen. Denn das bin ich ja jetzt, wie Ihr wisst.«

»London, lass das«, beharrte ich, während die Schuldgefühle in meiner Brust brannten.

»Sehr wohl, Mylady«, sagte er mit spöttischer Höflichkeit und zog sich noch weiter von mir zurück.

»Bitte, London.«

»Ich weiß nicht genau, was Ihr von mir wünscht, Prinzessin.«

»Hör auf damit, London«, explodierte ich schließlich und stampfte mit dem Fuß auf. Wider Willen traten mir Tränen in die Augen. »Ich habe getan, was ich für das Beste hielt, und du bist wütend auf mich! Schrei mich an! Sag mir, dass ich eine Dummheit begangen und mich in Dinge eingemischt habe, die mich nichts angehen! Aber steh nicht so herum und ignorier das, was geschehen ist!«

Nach diesem Ausbruch herrschte unerträgliches Schweigen, das sich – so fürchtete ich – ins Unendliche auszudehnen drohte. Dann streckte London sich und trat mit vor Zorn zusammengepressten Kiefern von der Wand weg. Ich wich erschrocken zurück. Seine indigoblauen Augen musterten mich scharf und die Kälte, die er ausstrahlte, raubte mir fast den Atem. Endlich sprach er und seine Stimme klang scharf wie ein Messer.

»Das ist ja interessant – mein Leben ist ruiniert, und dennoch benimmst du dich, als ob du darunter am meisten zu leiden hättest. Vielleicht bist du dir doch nicht so sicher, ob das, was du getan hast, notwendig war.«

»Ich habe getan, was ich für das Beste hielt«, wiederholte ich zitternd, denn London hatte exakt die Frage angesprochen, die in mir arbeitete, seit ich bei meinem Vater gewesen war – hatte ich das Richtige getan? In jenem Moment war mir meine Entscheidung richtig erschienen, doch jetzt, im Nachhinein, schien nichts mehr eindeutig. »Wenn mein Verdacht falsch war, dann hättest du das meinem Vater und Cannan erklären sollen.«

»Sei keine Närrin, Alera«, giftete London mich an. »Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich dich gegen meinen Befehl allein gelassen habe. Egal, welche Erklärung ich geliefert hätte.«

»Du hättest ihnen die Wahrheit sagen können«, wagte ich einzuwenden.

»Ich habe ihnen gesagt, was ich konnte.«

»Was bedeutet das? Du bist des Verrats bezichtigt, London! Die Wahrheit kann doch wohl nicht schlimmer sein als das.«

»Vielleicht doch.«

Einen Moment lang war ich verwirrt. Ich wurde aus seinen Äußerungen nicht klug.

»Was hätte ich deiner Meinung nach denn tun sollen? Ich bin zu meinem Vater gegangen, weil ich mir keinen anderen Rat mehr wusste. Wenn du eine andere Lösung gesehen hättest, die nicht zu diesem Ende geführt hätte, dann nenne sie mir bitte.«

»Du hättest damit zu mir kommen sollen«, sagte London, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Das habe ich doch getan! Du hast mir nichts gesagt. Im Gegenteil, du hast mich zweimal angelogen! Was sollte ich denn davon halten?«

»Hätte ich gewusst, was du vorhattest, dann hätte ich … deine Bedenken zerstreuen können.« London seufzte schwer und strich sich die silbernen Locken aus der Stirn. »Du hättest mir die Gelegenheit dazu geben müssen.«

»Dann möchtest du es mir vielleicht jetzt erklären«, legte ich unerbittlich nach.

»Jetzt macht es ja keinen Unterschied mehr, was ich sage.« London klang fast traurig, aber ich durfte mir seinen Schmerz gar nicht erst ausmalen, sondern musste ihn zum Reden bringen.

»Dann beantworte mir nur eine Frage. Hast du ihr zur Flucht verholfen?«

»Das ist nicht …«, setzte London an, doch ich unterbrach ihn.

»Hast du ihr zur Flucht verholfen?«

»Du weißt nicht …«

»Das ist eine einfache Frage, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist. Bist du ein Verräter? Hast du ihr geholfen zu fliehen?« Ich starrte ihn an und flehte stumm um eine ehrliche Antwort.

»Ich bin kein Verräter«, erklärte er leise. Einen Moment lang schien die Luft vor Spannung zu vibrieren, dann fuhr er schweren Herzens fort: »Wenn du jemand wirklich vertraust, dann vertraust du seinem Reden und Handeln auch ohne Erklärung. Dieses Vertrauen hast du in mich anscheinend nicht gesetzt.«

Einen Augenblick lang fühlte ich mich, als müsste ich ertrinken. Das Einzige, was mir noch mehr zu schaffen machte als Londons Wut, war seine Enttäuschung. Ich sah ihn flehend an, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

»Wenn du sonst nichts mehr von mir willst, dann werde ich jetzt gehen.«

Ich entließ ihn schweren Herzens und folgte ihm hinaus auf den Flur. Als er und der Wachmann, der ihn vom Palastgelände zu schaffen hatte, davongingen, packte mich echte Trauer. Schuld, Bedauern und Verleugnung waren mit einem Schlag verschwunden. Ich wusste nicht, wann ich London je wiedersehen würde, und es kam mir vor, als wollte mein Herz versuchen, ihm zu folgen. Mit jedem seiner Schritte schlug es heftiger in meiner Brust, als wollte es herausspringen. Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen und hätte die Ereignisse der letzten Tage ungeschehen gemacht, aber es bot sich mir keine Möglichkeit, wieder in Ordnung zu bringen, was ich angerichtet hatte.