9. EIN GUTER FANG

»Alera!«

Ein schriller Freudenschrei riss mich aus dem Schlaf, sodass ich hochfuhr und mühevoll die Augen öfnete. Die Vorhänge vor meinen Fenstern waren noch zugezogen, daher war es in meinem Schlafzimmer so dunkel, als wäre die Sonne noch nicht aufgegangen. Doch der lärmende Eindringling schaffte sofort Abhilfe. Geblendet kniff ich die Augen zusammen.

»Miranna? Was …?« Mein Körper wollte weiterschlafen und mein Verstand weigerte sich, schon einen vollständigen Satz zu produzieren.

»Weißt du schon das Neueste? Du wirst es nicht glauben!«

So freudig wie Miranna klang, konnte es sich nur um eine gute Nachricht handeln.

»Um diese Uhrzeit bin ich bereit, alles zu glauben«, sagte ich mit vom Schlaf noch rauer Stimme. »Was gibt’s denn?«

»Du wirst es bestimmt nicht glauben!«, wiederholte meine Schwester, dabei hüpfte sie vor Freude auf und ab, sodass die rotblonden Locken um ihr Gesicht tanzten.

»Das erwähntest du bereits«, brummte ich und setzte mich auf, um sie strenger mustern zu können.

»Rat doch mal. Das errätst du nie! Dabei ist es so aufregend!«

»Kannst du es mir bitte einfach sagen, Mira?«

Miranna verzog den Mund zu einem kleinen Schmollen. Sie schien enttäuscht, dass ich nicht zu Ratespielen aufgelegt war, schaffte es aber trotzdem nicht, ihr Geheimnis für sich zu behalten.

»Hör zu«, sprudelte es aus ihr heraus, während sie sich bäuchlings auf mein Bett warf und das Kinn in die Hände stützte. »Die Dienerschaft tuschelt schon darüber. Unsere Soldaten haben einen weiteren Cokyrier innerhalb der Grenzen Hytanicas gefangen! Cannan bringt ihn heute hierher!«

Es war Miranna gelungen, mein Interesse zu wecken.

»Weißt du das ganz sicher?«

»Nachdem ich die Gerüchte gehört hatte, habe ich Halias gefragt, ob da etwas dran ist.« Sie räusperte sich und sprach dann mit tiefer Stimme, die erstaunlich genau wie die von Halias klang: »In der Stadt hat man einen von denen gefasst, aber von mir hast du das nicht.«

»Hoffentlich lauscht er nicht gerade«, neckte ich sie, denn wahrscheinlich standen unsere vier Leibwächter, während wir plauderten, verlegen in meinem Salon herum.

Miranna tat meinen Kommentar mit einem Grinsen ab. »Hast du Lust, ein wenig zu spionieren?«

»Ich und spionieren? – Niemals!«

Wir mussten beide lachen, und dann erklärte Miranna mir, dass sie vorhatte, den ganzen Tag im Haupthof zuzubringen, damit sie »zufällig« zugegen wäre, wenn man den Gefangenen in den Palast brachte. Meine Neugier war zu groß, als dass ich mir diese Gelegenheit hätte entgehen lassen. Allerdings war uns beiden auch klar, dass zumindest Halias unseren Plan genau durchschauen würde.

»Er wird nichts dagegen haben«, versicherte Miranna mir, setzte sich auf und ließ ihre Beine vom Bett herunterbaumeln. »Es wird ja wohl mitten auf dem Hof kein Schwertkampf ausbrechen. Also weiß Halias, dass wir nicht in Gefahr sind. Aber wahrscheinlich wird er erwarten, dass wir uns irgendwo versteckt halten, damit er keinen Ärger bekommt. Sollte Cannan uns entdecken, könnte das Halias den Kopf kosten!«

»Destari auch«, stimmte ich ihr zu, denn ich wusste, Cannan würde dem älteren und erfahreneren Gardisten die Schuld geben.

Ich war fast eifersüchtig auf Mirannas Glück, einen solchen Leibwächter zu haben. Halias war annähernd so groß wie London. Er besaß strahlend blaue Augen, ein offenes freundliches Gesicht und weiches aschblondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, wenn er es nicht im Nacken zusammengebunden hatte. Er war zwar unbeirrbar, was den Schutz meiner Schwester anging, doch ansonsten wirkte neben ihm selbst ein so entspannter Mensch wie London ein wenig verkrampft. Halias hatte Miranna schon immer viel Freiraum gelassen, denn seiner Auffassung nach hatte er sie zwar zu beschützen, aber nicht zu erziehen. Seine lockere Einstellung machte ihn sehr umgänglich, und als Leibwächter war er überaus beliebt. Wie Destari und London hatte auch er im Krieg gegen Cokyri gekämpft, war als Palastwache eingesetzt worden und hatte sogar eine Verschwörung aufgedeckt, die die Ermordung des Königs zum Ziel gehabt hatte.

Ungeduldig sprang Miranna auf und riss mir die Decken weg.

»Los, komm«, rief sie und zog an meiner Hand. »Ich habe keine Ahnung, wann Cannan den Gefangenen bringen wird. Im schlimmsten Fall haben wir ihn sogar schon verpasst!«

Ich beschloss, nicht nach meiner Kammerzofe zu rufen, sondern kleidete mich mithilfe meiner Schwester an. Ohne Frühstück stürmten wir aus meinen Gemächern auf den Gang hinaus. Destari, Tadark, Halias und Mirannas zweiter Leibwächter, ein zurückhaltender Elitegardist namens Orsiett, der etwas älter als Tadark sein musste, folgten uns.

Während wir in Richtung Haupthof liefen, verspürte ich einen Anflug von schlechtem Gewissen wegen unserer Begeisterung. Eigentlich hätte uns die Tatsache, einen unserer Erzfeinde in unserer Heimat zu wissen, nicht so fröhlich stimmen sollen. Wir benahmen uns wie Kinder, die sich nicht im Geringsten darum kümmern, welche Bedeutung dieser Vorfall haben konnte. Doch wenn ich mich an die wenigen, aber aufregenden Fakten erinnerte, die ich in den letzten Wochen über die Cokyrier gelernt hatte, und an den Wirbel, den die Ergreifung und Flucht unserer anderen Gefangenen ausgelöst hatte, dann konnte ich meine Neugier kaum bezähmen. Der einzige Bewohner Cokyris, den ich je gesehen hatte, war die Hohepriesterin Nantilam gewesen, und dieser andere Gefangene würde einen ganz anderen Status haben. Laut Miranna handelte es sich um einen Mann. London hatte mir ja erzählt, dass Männer in der cokyrischen Gesellschaft weniger zählten als Frauen. Ich wollte wissen, wie er sich benahm, wie er sprach, wie er aussah und welche Kleider er trug. Ob es sich wohl um einen Soldaten, einen Diener oder gar einen Herrn handelte?

Als wir auf den Hof hinaustraten, streichelte ein warmer Wind meine Wangen und erinnerte mich daran, dass der Sommer begonnen hatte. Es war Ende Juni, und obwohl der vorige Tag kühl und geradezu frisch gewesen war, fühlte sich dieser Morgen bereits schwül an. Es versprach ein glühend heißer Tag zu werden.

Die hytanischen Sommer waren berüchtigt für ihre drückenden Tage, an denen es abends oft leicht regnete. Das Wetter war frappierend vorhersehbar, was den Bauern in den Dörfern rund um die Stadt nur recht war und dafür sorgte, dass die sanften Hügel bis hin zur Westgrenze unseres Territoriums in sattem Grün leuchteten.

Wir blieben stundenlang draußen, bis mir vor Hitze schon ganz schlecht und ich bereit war, die ganze Sache abzublasen. Miranna wollte davon allerdings nichts hören.

»Sobald du gehst, wird Cannan mit dem Gefangenen durchs Tor marschieren.«

Sie meinte das Tor, das in den Hof führte und für gewöhnlich geschlossen war. Nur ein paar Stunden täglich konnte dort jedermann eintreten, der nicht vom Schlossgelände oder dem Territorium des ganzen Königreichs verbannt war und den Rat des Königs einholen wollte.

Auf einmal meldete Halias sich zu Wort. »Jetzt kommen sie. Wenn ihr nicht gesehen werden wollt, tätet ihr gut daran, euch zu verstecken – allerdings nicht hinter diesem dafür gänzlich ungeeigneten Kirschbaum.«

Er deutete auf ein kleines Bäumchen, auf das Miranna gerade zulief.

Meine Schwester änderte die Richtung und gemeinsam kauerten wir uns hinter die Fliederhecke. Von dort aus spähten wir durch das Blattwerk auf den gepflasterten Weg, der vom Tor zu den Stufen des Palastes führte. Die weißen Steine waren so makellos sauber, dass ihr Anblick im grellen Sonnenlicht den Augen wehtat. Unsere Leibwächter schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, aber ich vermutete, dass sie das in ihrer Ausbildung schließlich gelernt hatten.

Rufe und Hufgeklapper lenkten unsere Augen zum Tor. Ungeduldig warteten wir darauf, dass es sich öffnen würde. Nach ein paar Minuten schwangen die Flügel nach innen auf und Cannan schritt mit überaus grimmiger Miene hindurch. Er drehte sich um und wartete, bis seine Leute von den Pferden gestiegen waren, denn innerhalb des Schlosshofs waren keine Tiere gestattet. Schließlich hätte ein einziges scheuendes Pferd seine Schönheit ernstlich gefährden können. Die Reittiere würden zu den königlichen Stallungen gebracht, wo man sie fütterte und striegelte, während die Besitzer ihren Pflichten nachgingen.

Meine Augen wanderten über den Hof, bis mein Blick an einem Soldaten hängen blieb. Er zerrte grob einen Mann von einem Pferd, dessen Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren. Dann traten dieser und ein weiterer Soldat vor Cannan hin, während sie den gefesselten Mann an den Armen zwischen sich festhielten.

»Das ist er!«, flüsterte Miranna mir zu. Aufgeregt umklammerte sie mein Handgelenk.

Von unserem Versteck aus konnte ich das Gesicht des Gefangenen nicht sehen, aber er trug das weiße Hemd und die ärmellose braune Tunika eines typischen hytanischen Dorfbewohners, und wenn ich nicht gewusst hätte, dass er Cokyrier sein musste, hätte ich es ihm nicht angesehen. Er hatte nichts an sich, was ihn von all den anderen Männern vom Land unterschied, die man in den Straßen und Läden unseres Reiches sah.

Ich schlich hinter Miranna und bewegte mich geduckt an der Hecke entlang, um den Mann zwischen den beiden großen Wachleuten besser sehen zu können. Als das Tor geschlossen wurde und Cannan sich anschickte, seine Leute weiterzuführen, erhaschte ich einen deutlicheren Blick auf das Gesicht des Gefangenen und musste nach Luft schnappen, denn es handelte sich nicht um einen Mann, sondern um einen Jungen. Er hielt den Kopf sehr gerade, wohl um zu zeigen, dass er keine Angst hatte, doch seine Augen, die hektisch zwischen den Wachen an seiner Seite und Cannan, der vor ihm ging, hin und her glitten, verrieten sein Unbehagen. Er besaß dichtes Haar in verschiedenen Goldtönen, das die Sonne offenbar unregelmäßig ausgebleicht hatte. Es war ungefähr kinnlang, und der etwas kürzere Pony fiel ihm dauernd in die Stirn.

Miranna war offenbar ebenso erstaunt wie ich und kauerte sich dicht neben mich.

»Der kann ja nicht älter sein als ich!«, rief sie.

Meine Augen wanderten über die Soldaten, und alle Gedanken an den jungen Cokyrier waren schlagartig vergessen, als ich den leichten, aber zugleich sicheren Schritt, die muskulöse Gestalt, die beiden Messer mit den Doppelklingen an der Hüfte und das widerspenstige silberne Haar sah, das ihm in die Stirn fiel, wobei die eine oder andere Locke vor den geheimnisvollen, indigofarbenen Augen hing. Es war London, der da an der Spitze des halben Dutzends Soldaten marschierte, als wäre er einer von ihnen.

»Was macht er denn hier?«, fragte ich laut, aber mehr an mich selbst als an meine Schwester gerichtet.

»Wer?«, wollte Miranna wissen, denn sie war offensichtlich zu gefesselt vom Anblick des jungen Cokyriers, um irgendetwas anderes zu bemerken.

»London«, antwortete ich und zeigte in seine Richtung.

Mirannas Blick folgte der unsichtbaren Linie, die von meinem ausgestreckten Finger zu meinem ehemaligen Leibwächter führte, und Erstaunen breitete sich auch auf ihrem Gesicht aus.

»Was um alles in der Welt tut er hier?« Sie klang ebenso verwirrt.

Da wir keine Antwort erhielten, wandten wir unsere Aufmerksamkeit wieder den näher kommenden Soldaten zu. Als ich den Gefangenen erneut musterte, fielen mir zum ersten Mal seine Augen auf. Sie waren stahlblau und verliehen seinem Blick Schärfe und Intensität. Im Kontrast zu seinem strahlend jugendlichen, sonnengebräunten Gesicht blickten seine Augen kalt und feindselig. Sie ließen vermuten, dass er schon einiges von der Welt gesehen hatte und jetzt mit dem Schlimmsten rechnete.

Ich duckte mich, als der Trupp an uns vorüberzog, und beobachtete, wie auch London auf den Palast zusteuerte, ohne mich zu bemerken. Das löste eine unerwartete Flut von Gefühlen aus, die mich zu überwältigen drohte – Bedauern, Schuld, Trauer, Scham und Liebe zu dem Mann, der da so dicht an mir vorüberging. Der Impuls, einfach auf ihn zuzulaufen, war wieder da, und ich musste den Blick abwenden, während Miranna ihnen nachsah, bis der letzte Soldat hinter den dicken hölzernen Palasttoren verschwunden war.

»Neugierig, was es mit London auf sich hat?« Destaris tiefe, dröhnende Stimme ließ uns zusammenzucken, und wir fuhren herum, um festzustellen, dass die beiden stellvertretenden Hauptmänner hinter uns kauerten.

Als ich in einem Baum seltsame schrammende Geräusche hörte, drehte ich den Kopf und sah Tadark aus einer Eiche fallen und unsanft auf seinem Hinterteil landen. Er stöhnte laut auf und wurde von Orsiett ermahnt, der auf ihn zuging.

»Wolltest du dich da oben mit ein paar Eichhörnchen anfreunden?«, neckte Halias ihn und seine blauen Augen blitzten schelmisch.

»Nein«, erwiderte Tadark schmollend. »Ich wollte nur besser sehen, was da vor sich ging.«

»Ah, ich verstehe!« Halias lachte laut. »Du bist kein Leib-, sondern ein Landschaftswächter!«

»Halias, wir haben das die ganze Zeit über nicht begriffen«, griff Destari den Scherz sogleich auf. »Wir sollen gar nicht die königliche Familie beschützen, sondern das königliche Blattwerk!«

Tadarks Wangen glühten und er murmelte verbittert: »Lasst mich bloß in Ruhe, ihr habt euch auf meine Kosten schon genug amüsiert.«

Ich beobachtete belustigt die drei Wachmänner und staunte, dass der sonst eher ernste Destari den Leutnant ungefähr so neckte, wie das auch London getan hätte. Außerdem kam mir in den Sinn, dass Tadark Leute zu Scherzen animierte, wie eine Blüte Bienen anlockt.

Destari wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu, und ich unterdrückte ein Kichern, bevor ich meine Frage wiederholte.

»Was macht London hier? Ist er nicht vom Schlossgelände verbannt?« Ich musste mich zu diesen Worten regelrecht zwingen, fast als ob sie nicht wahr würden, wenn ich mich weigerte, sie auszusprechen.

Destari machte den Mund auf und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Tadarks Stöhnen ihn ablenkte. Zentimeterweise schob der sich über den Boden auf uns vier zu, die wir im Gras saßen.

»Willst du den Raupen auf dieser Wiese eine Freude machen?«, spottete Halias.

Tadark stieß einen Laut aus, der wie »Hampf« klang, und rutschte weiter.

»Ich glaube, ich habe mir was gebrochen«, murmelte er.

Als er einen anderen Baum erreicht hatte, setzte er sich auf, lehnte sich an den Stamm und zupfte gelangweilt ein paar Grashalme ab. Orsiett setzte sich zu Tadark, weil er offenbar zu schüchtern war, sich mit den älteren Leibwächtern zu uns zu gesellen.

Destari lachte kopfschüttelnd, denn wie wir alle hatte er bemerkt, dass Tadark dem Grünzeug tatsächlich mehr Aufmerksamkeit schenkte als seinem eigentlichen Auftrag.

»Ihr wolltet etwas über London wissen, nicht wahr?«, sagte Destari schließlich.

Ich nickte ernst.

»Er ist hier, weil er derjenige war, der den Cokyrier in der Stadt entdeckt hat. Daraufhin suchte er den Hauptmann zu Hause auf und bat im Austausch für die Überstellung des Gefangenen um eine Audienz beim König.«

Ich nickte zustimmend, denn für mich klang das schlüssig. Miranna dagegen war erstaunt und hakte nach.

»Aber wie ist es ihm gelungen, den Jungen aufzuspüren, wenn niemand anderer das geschafft hat? Nachdem die Suche von Cannans Soldaten im ganzen Reich nichts ergeben hat.«

Halias und Destari tauschten einen Blick, also wollten sie absprechen, wie viel sie uns erzählen sollten. Schließlich ergriff Destari das Wort.

»Im Krieg hat London viele Cokyrier gesehen. Ich vermute, er hat einen schärferen Blick für ihre Eigenheiten entwickelt als der gewöhnliche Fußsoldat.«

Miranna nickte und schien mit dieser Erklärung zufrieden. Allerdings war den Leibwächtern nicht bekannt, dass ich dank meiner Mutter den wahren Grund dafür kannte, warum London mehr über die Cokyrier wusste als jeder andere. Misstrauen und dunkle Vorahnungen wehten an diesem Nachmittag durch den Palast, aber ich kümmerte mich nicht darum. Nervös wartete ich vor den Türen zum Thronsaal, aus dem unverständliche Stimmen nur schwach an mein Ohr drangen.

Miranna und ich hatten noch gemeinsam zu Mittag gegessen, dann hatte sie sich auf den Weg gemacht, um Verschiedenes zu erledigen. Nachdem wir uns getrennt hatten, war ich ins Vorzimmer getreten, wo ich jetzt ruhelos auf und ab lief, zu ängstlich, um mich zu setzen, und zu aufgebracht, um still zu stehen. Destari lehnte in Londons typischer Haltung an der Wand neben dem Haupteingang, während Tadark mitten im Raum stand und nervös sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Bei jeder Bewegung zuckte er vor Schmerz zusammen und ich musste voller Mitleid an seinen Sturz aus dem Baum und die unsanfte Landung denken.

Obwohl die beiden schwiegen, hätte ich mir gewünscht, allein zu sein. Selbst das leise Geräusch, das Tadark in dem ansonsten stillen Zimmer verursachte, lenkte mich ab. Ich hätte so dringend nachdenken müssen, aber irgendwie schien ich die Fähigkeit dazu verloren zu haben.

Die Zeit, die mir dafür blieb, war zu Ende, als sich knarrend die Tür zum Thronsaal von innen öffnete. London trat heraus und bemerkte mich sofort. Falls meine Gegenwart irgendetwas in ihm auslöste, so war es schwer zu deuten.

»Prinzessin«, grüßte er mich förmlich und hielt kurz inne, um sich respektvoll zu verbeugen.

»Bitte lass uns nicht da weitermachen, wo wir aufgehört haben«, flehte ich ihn an und wollte das Muster unseres letzten Streits unbedingt vermeiden.

Es folgte eine unangenehme Pause, in der ich nur das Atmen der anderen im Vorzimmer hörte. Dass eine aufgebrachte Erwiderung ausblieb, ließ mich jedoch dankbar vermuten, dass London die Kränkung inzwischen ein wenig leichter nahm.

»Du hast mit meinem Vater gesprochen?«, wagte ich schließlich einen Vorstoß.

London nickte nur.

»Wie ich höre, hast du einen guten Fang gemacht«, fuhr ich ängstlich fort. »War er damit zufrieden?«

»Das war er.«

»Und?«

»Euer Vater ist kein versöhnlicher Mann.«

Ich schlug die Augen nieder. Es war eine unsinnige Hoffnung gewesen, dass London aufgrund dieser einen Tat seine Position zurückerhalten hätte, aber entgegen meiner Vernunft hatte ich sie dennoch gehegt. Es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, die Kluft zwischen uns beiden zu überbrücken, doch die Sturheit und das Misstrauen meines Vaters hatten uns um diese Chance gebracht. Jetzt blieb mir nur noch eines zu sagen.

»Und du, London? Bist du ein versöhnlicher Mann?«

»Manche Leute behaupten das von mir.« Er sagte das fast fröhlich, als ob er damit vorhätte, mir ein besseres Gefühl zu geben. Doch dann wurde sein Ton fast unmerklich düsterer. »Aber manche Dinge lassen sich nicht so leicht verzeihen.«

Ich schaffte es, seinem Blick standzuhalten, auch wenn sich mein Kopf vor Scham ganz schwer anfühlte und ich sein vertrautes Gesicht nach irgendeinem Anzeichen absuchte.

»London … es tut mir leid.« Ich führte das nicht weiter aus, weil ich hoffte, meine einfachen Worte würden genügen.

»Ich weiß«, sagte er matt, und ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus.

Sein Blick ging zu Destari, der nicht mehr an der Wand lehnte und sich wahrscheinlich schon in dem Moment aufgerichtet hatte, als mein ehemaliger Leibwächter den Raum betreten hatte.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte London und trat zu seinem Freund, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, bevor er die Große Halle ansteuerte.

Die Ungewissheit, wann ich London das nächste Mal wiedersehen würde, überwältigte mich, und ich wartete darauf, mit Destari sprechen zu können. Er kannte London besser als jeder andere, und ich wünschte mir geradezu verzweifelt, dass er mich beruhigen würde.

»Wird er mir je vergeben?«, jammerte ich, als Destari mich ansah.

»Das kann ich dir nicht sagen«, meinte er mit düsterem, undurchdringlichem Blick. »London verschenkt sein Vertrauen nicht leichtfertig, und er vergibt nicht leicht, wenn sein Vertrauen enttäuscht wurde.«

Ich sann einen Moment über Destaris Worte nach und kam zu der Überzeugung, dass er irgendetwas vor mir verbarg.

»Du sprichst, als wüsstest du von einem anderen Vertrauensbruch. Hilf mir doch, ihn zu verstehen, damit ich erkennen kann, wie ich seine Vergebung erreiche.«

Destari sah Tadark misstrauisch an und schien in seiner Gegenwart nicht über London sprechen zu wollen.

»Tadark«, sagte ich in scharfem Ton. »Geh schon in die Eingangshalle vor. Wir werden dir umgehend folgen.«

Tadark humpelte kommentarlos aus dem Raum und warf dem stellvertretenden Hauptmann nur einen gekränkten Blick zu.

Destari taxierte mich und schien zu überlegen, ob er mir trauen sollte.

»Ich weiß bereits, dass London im Krieg ein Gefangener der Cokyrier war«, beeilte ich mich, ihm zu sagen. »Wenn es etwas ist, das damit in Zusammenhang steht, brauchst du es nicht vor mir zu verbergen.«

Destaris buschige Brauen hoben sich leicht. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass ich über Londons Vergangenheit im Bilde wäre. Nach einigen weiteren Augenblicken des Zögerns kapitulierte er schließlich.

»Das, wovon ich Euch berichten werde, hat mit diesem Abschnitt seines Lebens zu tun.«

»Red schon, Destari«, drängte ich.

»Bevor London von den Cokyriern gefangen genommen wurde, hatte er sich mit einer jungen Adeligen verlobt.«

Destari stockte angesichts meiner erstaunten Miene. Ich wusste zwar, dass London nie verheiratet gewesen war, aber ich hatte als Grund dafür immer seine Hingabe ans Militär und in der Folge zu wenig Zeit für ein Privatleben vermutet. Destaris Offenbarung bestätigte erneut, wie dürftig mein Wissen über diesen Mann war. Ich empfand schmerzliches Bedauern darüber, dass ich immer viel zu egozentrisch gewesen war, um auch nur danach zu fragen. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und wartete auf weitere Ausführungen meines Leibwächters. Fürsorglich machte dieser einen Schritt auf mich zu, fasste mich sanft am Arm und führte mich zu einem Sessel. Nachdem ich mich gesetzt hatte, fuhr er mit seltsam belegter Stimme fort.

»Einige Monate nach seiner Gefangennahme beschlossen die Eltern seiner Verlobten, dass sie einen anderen heiraten sollte, da man London für tot hielt. Sie war ihm schon eineinhalb Jahre zuvor versprochen worden, und ihre Eltern sorgten sich angesichts ihrer zweiundzwanzig Jahre um die weiteren Heiratsaussichten. Zunächst weigerte sie sich, denn sie hatte London sehr geliebt, aber letztlich fügte sie sich dem elterlichen Wunsch. Etwa zwei Monate vor Londons Flucht wurde sie mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet.

Ich vermute, Ihr wisst bereits, dass London bei seiner Rückkehr nach Hytanica todkrank war, also erfuhr er nicht sofort davon. Als es ihm gut genug ging, um sich mitzuteilen, begann er nach ihr zu fragen, und mir wurde die Pflicht zuteil, ihn über die Umstände in Kenntnis zu setzen.«

Destari rieb sich den Nacken, als wolle er die unangenehmen Erinnerungen loswerden.

»Er nahm die Neuigkeit schlecht auf, und ich fürchtete, er würde nicht stark genug sein, um diesen Schicksalsschlag zu überleben. Lange Zeit war er sehr in sich gekehrt, und um die Wahrheit zu sagen, er ist nie wieder ganz der Alte geworden, sondern blieb zurückhaltender als früher.«

Destari klang so matt, als hätte ihn allein schon das Erzählen erschöpft.

»Seit damals hat er sich nie mehr gestattet, enge Beziehungen einzugehen. Oder zumindest hat er versucht, starke Zuneigung zu jemand zu vermeiden, allerdings hat er die Bindung unterschätzt, die er als Leibwächter zeit Eures Lebens zu Euch entwickeln würde.« Destari schwieg und seufzte tief, bevor er fortfuhr. »London hat seiner Verlobten nie wirklich vergeben, dass sie an seiner Rückkehr gezweifelt hat. Und ich weiß nicht, ob er Euch jemals vergeben wird, dass Ihr an seiner Loyalität gezweifelt habt.«

Wie betäubt starrte ich Destari an und war zu überwältigt von Londons tragischem Schicksal, um zu antworten. Als ich meine Stimme endlich wiederfand, fragte ich leise: »Wer war sie?«

Destari runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es steht mir nicht zu, das zu erzählen. Vielleicht wird London es Euch eines Tages selbst sagen.«

Ich sah ihn stumm an und biss mir auf die Lippe, während ich die Frage erwog, die ich mir seit Londons Entlassung unablässig stellte. Letztlich beschloss ich, es zu riskieren, mir seinen Zorn zuzuziehen.

»Wir wissen beide, dass London die Hohepriesterin erkannt hat. Glaubst du, er hat sie freigelassen?«

Wie zu erwarten, funkelte Destari mich böse an.

»Ich weiß nicht, ob er sie freigelassen hat, und es interessiert mich auch nicht. London hat immer zum Wohle Hytanicas gehandelt, und wenn er sie freigelassen hat, dann hatte er gute Gründe dafür. Er war und ist keinesfalls ein Verräter, und ich würde ihm ohne Zögern bis in den Tod folgen.«

Ich wurde unter seinem stechenden Blick ganz klein und fühlte mich erbärmlich, weil ich nicht in der Lage gewesen war, etwas in gutem Glauben einfach hinzunehmen.

Destari und ich verließen das Vorzimmer in bedrückendem Schweigen und stießen in der Großen Halle wieder auf Tadark. An dessen gekränkter Miene konnte ich ablesen, wie sehr es ihn ärgerte, dass er von unserem Gespräch ausgeschlossen worden war. Trotzdem schloss er sich uns sofort wieder an. Ich kehrte zum Abendessen in meine Gemächer zurück und machte mich danach niedergeschlagen zum Schlafen fertig. Als ich in der Dunkelheit lag und fast schon eingeschlafen war, hörte ich leise Destaris und Tadarks Geplänkel. Das Einzige, was ich noch verstand, waren Destaris Worte, als er sagte: »Mein Sofa, dein Sessel.«