1. DIE ERSTE WAHL
»Ich fürchte, ich muss mich übergeben.«
Ich lief vor dem kalten Kamin auf und ab, der fast eine ganze Wand meines Salons einnahm, und verschränkte die Arme. Meine jüngere Schwester, Prinzessin Miranna, hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen, nachdem sie mich umarmt und mir versichert hatte, ich würde einen wundervollen Abend verbringen. Hübsch und rosig mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren und den erdbeerblonden Locken, die ihr bis auf den Rücken hinabfluteten, war sie in den Mann, den ich an jenem Abend zum Essen treffen sollte, viel verliebter als ich. Zweifellos hatten Gerüchte von einer Romanze sie dazu bewogen, meine Kammerfrau fortzuschicken, sodass sie selbst mir zur Hand gehen konnte. Das grau schimmernde Kleid und das kostbare silberne Medaillon waren Mirannas Idee gewesen. Mein Haar, das mir sonst bis über die Schultern fiel, hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt und nur ein paar feine Strähnen herausgezupft, die meine ebenmäßigen Züge etwas weicher erscheinen ließen. Jetzt wartete nur noch London, mein Leibwächter und Angehöriger der königlichen Elitegarde, mit mir in dem prachtvoll eingerichteten Zimmer.
»Du wirst dich nicht übergeben, Alera. Versuch doch, dich zu entspannen«, riet London mir und hob belustigt eine Augenbraue. Er trat an das Sofa, nahm eines meiner Bücher vom Beistelltisch und blätterte abwesend darin.
»Wie soll ich überhaupt einen Bissen zu mir nehmen?«, fragte ich mit einer Stimme, die in meinen eigenen Ohren schrill klang. »Ich glaube nicht, dass ich das durchstehe.«
»Alles wird gut. Er ist doch nur ein weiterer Verehrer, und wie alle anderen muss er dich beeindrucken, nicht umgekehrt. Aber ganz nebenbei, soweit ich das beurteilen kann, hast du ohnehin kein Interesse an ihm, also begreife ich gar nicht, warum du so außer dir bist.«
»Du verstehst das nicht«, erwiderte ich aufbrausend. »Wenn der heutige Abend unerfreulich verläuft, wird Vater schrecklich enttäuscht sein.«
»Nun, falls du nicht vorhast, Steldor zu heiraten, wird dein Vater ohnehin über kurz oder lang enttäuscht sein.«
Ich unterbrach mein Auf-und-ab-Laufen und schaute London ins Gesicht. Er hatte das Buch zurück auf den Tisch gelegt und lehnte mit vor seiner kräftigen Brust verschränkten Armen an der mit einer Tapisserie bespannten Wand neben der Tür. Widerspenstige silberne Locken fielen ihm in die Stirn und bildeten einen scharfen Kontrast zu seinen tiefliegenden indigofarbenen Augen, die in Erwartung einer Antwort auf mich gerichtet waren.
»Ich kann ihn nun mal nicht ausstehen! Wie soll ich da einen ganzen Abend mit ihm verbringen?«
»Es ist doch nur ein einziger Abend. Den wirst du schon überstehen.« London zögerte, dann fügte er noch hinzu: »Ich hoffe natürlich, dass du das romantische Zusammentreffen nach dem Essen fortsetzen wirst – das Wetter ist schließlich ideal für einen Mondscheinspaziergang durch den Garten.«
»Das wird er doch wohl nicht von mir erwarten, London?« Obwohl ich wusste, dass London mich nur neckte, konnte ich einer so schrecklichen Aussicht nichts Lustiges abgewinnen. Sofort versuchte er, die neue Sorge, die ich mir wegen seiner Bemerkung machte, zu zerstreuen.
»Falls er dergleichen im Sinn hat, sagst du ihm einfach, du würdest dich nicht wohlfühlen und sofort in deine Gemächer zurückkehren wollen. Dagegen kann er nichts einwenden.«
Ich sank auf einen der reich verzierten Lehnsessel nah am Kamin, vergrub den Kopf in meinen Händen und stöhnte. Mein Vater, König Adrik, hatte dieses Abendessen für mich und Lord Steldor arrangiert, da er den jungen Mann als meinen zukünftigen Gemahl favorisierte. Er vertraute Steldor und hielt ihn unter allen Männern seines Reiches für den besten Nachfolger. Als Thronerbin hatte ich meine Heirat nur darauf auszurichten, denn nicht ich, sondern mein Ehemann würde Hytanica regieren.
Selbst ich musste zugeben, dass Steldor die erste Wahl war. Der Sohn von Cannan, dem Hauptmann der Elitegarde, war dreieinhalb Jahre älter als ich und ein Jahr zuvor, mit gerade einmal neunzehn, Kommandant geworden. Er war charmant, klug, stark, ausgesprochen gut aussehend, nur war er mir leider von dem Moment an, als wir uns das erste Mal gesehen hatten, unsympathisch.
Lautes Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken, während London auf den Flur trat, um mit dem Diener zu sprechen, den man geschickt hatte, mich zu holen.
»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte er, als er zurück ins Zimmer kam. »Steldor ist eingetroffen und erwartet dich in der Großen Halle.«
London hielt mir die Tür auf und begleitete mich durch die Flure im zweiten Stock des Schlosses zum privaten Treppenaufgang meiner Familie im hinteren Teil des Palastes. Außer meinen Gemächern, denen meiner Schwester und meiner Eltern umfasste die Residenz noch eine Bibliothek, ein Esszimmer für die Familie, eine Küche und ein Studierzimmer, das auch als Salon diente. Der königliche Ballsaal und der Speisesaal des Königs wurden als einzige Räumlichkeiten im zweiten Stock für offizielle Anlässe genutzt.
Wir stiegen die Wendeltreppe hinunter, und London bot mir seinen Arm an, um mich durch den von Laternen erleuchteten Gang zum Haupteingang des Palastes zu begleiten. Dabei schenkte ich den kostbaren Tapisserien, die die Wände schmückten, kaum einen Blick, denn meine Aufmerksamkeit galt Steldor, der mich am Ende des Ganges erwartete. Er stützte sich lässig mit der Linken an die Wand, während er mit der Rechten beständig und geschickt einen Dolch in die Luft warf und wieder auffing. Er hatte offensichtlich die für die Augen der Betrachter ansprechendste Haltung eingenommen.
»Viel Vergnügen«, sagte London und blieb auf halber Strecke stehen, da Steldor mich bereits entdeckt hatte.
»Du bleibst doch in der Nähe?«, fragte ich mit leicht zitternder Stimme.
»Sicher, denn ich möchte wetten, dass du heute mehr Schutz benötigst als bei den meisten anderen Anlässen. Außerdem wäre ich ja sonst ein ziemlich miserabler Chaperon. Aber natürlich werde ich versuchen, euch zwei Turteltäubchen nicht zu stören.«
»Nur zu, amüsier dich ruhig weiter auf meine Kosten«, klagte ich und hielt den Blick fest auf Steldor gerichtet, der inwischen den Dolch in die Scheide zurückgesteckt hatte, die sich in einem seiner kniehohen schwarzen Stiefel befand. Er kam mir entgegen.
»Ganz im Vertrauen«, flüsterte London mir zu, »ich bleibe nur zurück, damit ich ihn nicht an deiner statt umbringe.«
Der plötzliche Stimmungsumschwung meines Leibwächters verwunderte mich, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, darauf einzugehen, da mein attraktiver Tischherr nahte. Steldor war zwar legerer gekleidet als üblich, in ein weißes Hemd mit dunkelgrauer Weste, die an den Schultern rot abgesetzt war, doch bei seiner Statur wirkte jegliche Kleidung elegant. Er war groß, breitschultrig und muskulös. Sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar fiel exakt bis zu seinen ausgeprägten Wangenknochen. Die von pechschwarzen Wimpern gesäumten Augen strahlten in einem dunklen Braun und ließen die meisten jungen Mädchen schwindelig werden. Sein unwiderstehliches Lächeln brachte gerade, blendend weiße Zähne zum Vorschein. Ich erschauderte, als mir klar wurde, dass wir heute nicht nur hinsichtlich unseres Typs, sondern auch was unser Gewand anging, das perfekte Paar abgaben.
»Meine Dame«, grüßte Steldor mich mit Verbeugung und Handkuss. Nachdem er mich wohlwollend gemustert hatte, fügte er hinzu: »Erlaubt mir, Euch ins Speisezimmer zu geleiten.«
Mit einem missbilligenden Blick auf meinen Leibwächter zog Steldor mich an seine Seite. Londons Haltung drückte unmissverständlich aus, wie ernst er seine Pflichten nahm. Während Steldor mich durch den Gang führte, weckten die aus der Küche dringenden verführerischen Düfte meinen Appetit. Zumindest würde ich an diesem Abend ein köstliches Mahl serviert bekommen, tröstete ich mich.
Das Speisezimmer im ersten Stock war für intimere Gesellschaften gedacht. Es gab zwei identische Marmorkamine zu beiden Seiten und dazwischen einen rechteckigen Tisch, an dem etwa fünfundvierzig Gäste Platz fanden. Darüber hingen dreistöckige Kronleuchter mit Kerzen, zusätzlich säumten Öllaternen in regelmäßigen Abständen die Wände. Man hatte für uns einen kleinen runden Tisch mit weißer Leinendecke vor dem Erkerfenster mit Blick auf den Westhof des Palastes gedeckt. Zwei flackernde Kerzen sorgten für eine dezente Beleuchtung, denn die Strahlen der soeben untergehenden Sonne drangen nur noch schwach durch die Fensterscheiben. Ich setzte mich Steldor gegenüber, der mir sogleich ein Glas Wein anbot, das ich mit leichtem Zittern entgegennahm. Dabei verlangte mich nach Wein ungefähr ebenso wie nach dem Mann, der mir den Kelch reichte.
»Ich muss sagen«, stellte Steldor fest, »Ihr seid heute Abend außergewöhnlich schön, Alera.«
Dann schwieg er, wie um mir Gelegenheit zu einem ähnlichen Kompliment zu geben. Da dieses jedoch ausblieb, setzte er ein freches Grinsen auf.
»Ich bin es ja gewohnt, dass sich die Damen hübsch kleiden, wenn sie mich begleiten, doch nur wenige gehen so weit, ihre Kleidung sogar auf die meine abzustimmen.«
Ich erblasste bei dieser Unterstellung, doch er fuhr fort, bevor ich eine angemessen scharfe Entgegnung formulieren konnte.
»Ihr scheint ein wenig überwältigt … Das mag am Hunger liegen, wenngleich ich oft diese Wirkung auf Frauen habe. Das Essen wird Euch vielleicht stärken.« Er bedeutete einem Diener mit einem Wink, mit dem Servieren unseres Mahls zu beginnen. »Das lässt Euch dann vielleicht auch Eure Sprache wiederfinden.«
Ich starrte den Mann an, den mein Vater sich als meinen Bräutigam wünschte, und fühlte mich unfähig, mit seiner übertriebenen Vertraulichkeit umzugehen. Das Erscheinen der Diener mit Platten voller Gemüse, einer Auswahl an warmem Brot sowie eines gebratenen Huhns enthob mich der Pflicht, Steldor eine Antwort zu geben.
Steldor nickte knapp, um die Dienerschaft zu entlassen, dann zerteilte er den noch brutzelnden Kapaun und legte uns beiden davon vor. Ein paar Minuten lang aßen wir schweigend, wobei es mir schwerfiel, mit Genuss zuzugreifen, da seine Augen schamlos auf mich gerichtet blieben.
»Ich hoffe, wir werden noch sehr viel Zeit miteinander verbringen«, sagte er schließlich in bewährtem honigsüßem Ton. Seine Stimme war samtweich, doch es gelang ihm nicht ganz, den gelangweilten Unterton darin zu verbergen. »Obwohl ich Euch natürlich warnen muss, weil meine militärischen Verpflichtungen mich sehr beanspruchen. Allerdings bin ich auf ein solches Leben bestens vorbereitet. Als ich die Kadettenschule besuchte, beharrten meine Ausbilder darauf, dass ich nicht nur der Beste meines Jahrgangs, sondern vielleicht sogar in der Geschichte der Akademie sei. Ich war zwar nicht der Größte meiner Klasse, doch der bei Weitem Talentierteste. Wie Ihr sicher bereits wisst, staunte jeder über meine Fortschritte, und so durfte ich die Ausbildung ein Jahr früher als üblich abschließen.«
Er schob seinen Teller ein Stück von sich, damit er seinen linken Unterarm lässig auf der Tischkante ablegen konnte.
»Nach fünfzehn Monaten als Fußsoldat begann ich mit der Offiziersausbildung und wurde der jüngste Kommandant in der Geschichte Hytanicas. Doch trotz der Anforderungen, die mein hoher Rang an mich stellt, finde ich noch Zeit, beim Training der Kadetten im Faustkampf mitzuwirken. Die Ausbilder an der Militärakademie halten nach wie vor große Stücke auf mich und begrüßen meine Mithilfe sehr.«
Während er sprach, wurde mir bewusst, dass ich seinen Gesten mehr Aufmerksamkeit schenkte als seinen Worten, denn diese kleinen Bewegungen waren so fließend, dass sie wie einstudiert wirkten. Als er seine Mahlzeit beendet hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück, ließ den Wein in seinem Kelch kreisen und gab erneut eine perfekte Figur ab.
»Dabei habe ich nicht einmal irgendetwas Besonderes getan, um solche Bewunderung zu ernten«, fuhr er munter fort, während sich eine gewisse Herablassung in seine Stimme schlich. »Ich wurde einfach mit beneidenswerten Talenten geboren. So war es nur natürlich, dass ich zum Besten avancierte. Das versteht Ihr doch sicher, Alera? Bei Euch ist es ja nicht anders.«
»Wieso sollte das bei mir nicht anders sein?«, sagte ich, von seiner Arroganz doch zu einer Entgegnung getrieben.
»Sie spricht!«, bemerkte er ironisch, um dann in sachlichem Ton auszuführen: »Nun ja, Ihr habt nicht darum gebeten, in die königliche Familie hineingeboren zu werden, nicht wahr? Ebenso wenig wie ich darum gebeten habe, der meistbewunderte Mann im Reich zu sein.«
»Mehr bewundert als mein Vater? Also, dann sollte ich mich wohl allein aufgrund der Tatsache, dass ich hier bei Euch weilen darf, geehrt fühlen.«
»Die meisten jungen Frauen fühlen sich dadurch geehrt, aber nachdem Ihr die Kronprinzessin seid, denke ich, genügt es, wenn Ihr es zu schätzen wisst.«
Das Rumoren in meinem Magen war nicht allein der Nervosität geschuldet. Steldor hatte etwas Neues bewirkt. Seine Gegenwart verursachte mir Übelkeit.
Da ich nichts entgegnete, ließ er seinen Blick ans andere Ende des Raumes schweifen, wo London in einem Sessel saß und seine in Stiefeln steckenden Füße auf die gedrechselte Lehne eines Armstuhls gelegt hatte.
»Zu dumm, dass Euer Leibwächter anwesend sein muss, nicht wahr?«
»Vielleicht von Eurer Warte aus«, erwiderte ich.
»Das meine ich nicht anstößig, Prinzessin«, sagte er mit einem selbstzufriedenen Lachen. »Ich denke nur, dass wir es uns, wenn wir allein wären, ein wenig … gemütlicher machen könnten.«
Er beugte sich vor, ergriff meine Hand und ließ seine Augen bedächtig über mich wandern wie über ein Geschenk, das er gleich auszupacken gedachte.
»Das wäre wohl ein wenig ungebührlich, nicht wahr?«, gab ich zurück und entzog ihm meine Hand, um nach meiner Serviette zu greifen.
»Und sicher habt Ihr noch nie etwas Ungebührliches getan, Prinzessin, nicht wahr?«, sagte er mit schleppender Stimme und schrecklich anzüglicher Miene. Als ich daraufhin dunkelrot anlief, stand er auf. »Da Ihr nicht übermäßig hungrig scheint, schlage ich vor, das Dessert auszulassen und lieber einen Spaziergang im Mondschein zu unternehmen.«
Ich sann auf eine Ausrede und versuchte, mich an Londons Rat zu erinnern, doch mein Verstand weigerte sich, mir zu gehorchen. Dazu kam noch ein trockener Mund, also blieb ich stumm.
»Das nehme ich als Zustimmung«, sagte er und schob seine Hand unter meinen Ellbogen, um mir aufzuhelfen. »In den Garten also, ja?«
Als er mich aus dem Speisezimmer führte, gelang es Steldor, ganz beiläufig seinen Arm um meine Taille zu legen. London ließ geräuschvoll seine Stiefel vom Tisch auf den Boden fallen und zog so unsere Aufmerksamkeit auf sich. Er erhob sich und suchte meinen Blick.
»Kein Grund, uns derart auf den Pelz zu rücken«, sagte Steldor mit einem herablassenden Wink zu ihm. »Bei mir ist sie in guten Händen.«
»Angesichts Eures Rufes ist das eine interessante Aussage«, erwiderte London kühl und schien nicht bereit, den Hauptmannssohn aus den Augen zu lassen.
Wir gingen den Korridor hinunter, den London und ich zuvor durchquert hatten, zurück zur Rückseite des Palastes und zu den schweren Doppeltoren, die sich zum Garten hin öffneten. Dieser reichte bis an die nördliche Grenze der von einer Mauer umgebenen Stadt. Unmittelbar hinter der zwölf Meter hohen Stadtmauer erstreckte sich Wald bis zu den Ausläufern des wilden Niñeyre-Gebirges.
Steldor grüßte die Palastwachen, die am Hintereingang standen, und hielt mir eine der Türen auf. Ich schwankte und zögerte, mit ihm den dunklen Garten zu betreten, weil ich ihm kein bisschen traute.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, wandte ich nach Worten suchend ein. Dabei ärgerte es mich, dass man meine stockende Sprechweise auch als mädchenhafte Erregung missverstehen konnte. Wo es mir doch in Wirklichkeit nur darum ging, diesen Abend so schnell als möglich hinter mich zu bringen.
»Aber natürlich ist es das – an einem so wundervollen Abend.«
»Ich friere ein wenig und habe mir kein Tuch mitgebracht«, wandte ich lahm ein. Dabei war die Temperatur durchaus noch angenehm. Da es jedoch erst Anfang Mai war, würde es im Verlauf der Nacht gewiss noch kälter werden.
»Dann bleibt einfach nah bei mir, Prinzessin. Ich bin mir sicher, dass es mir gelingen wird, Euch warm zu halten.«
Ich nickte, und er legte wieder seinen Arm um meine Taille, um mich weiterzuführen. Inzwischen verkündete eine der Palastwachen laut meine Ankunft, um die anderen, die über das Gelände patrouillierten, über meinen Aufenthalt im Garten zu informieren.
Am klaren Nachthimmel flammten die ersten Sterne auf, während wir einen der Steinwege entlangspazierten. Auch wenn auf den Mauern Fackeln brannten, drang deren flackerndes Licht doch nicht in die Tiefe des Parks vor, und so diente uns vor allem der Mond als Beleuchtung. Steldor führte mich zu einem der vier doppelstöckigen Springbrunnen aus weißem Marmor, und ich war mir sicher, dass er die Szenerie für ungeheuer romantisch hielt. Mir dagegen graute es eher.
Steldor blieb neben einer Bank nah am Brunnen stehen und zog mich neben sich. Als wir so saßen, nahm er meine Hände in seine, blickte mir tief in die Augen und schien mir stumm mitzuteilen, dass er schon längst Anspruch auf mich erhoben hatte, als mir sein Werben noch gar nicht bewusst gewesen war. Vor lauter Sorge, was er wohl als Nächstes tun würde, bekam ich Herzklopfen.
»Ihr bezaubert mich, Alera«, flüsterte er, beugte sich näher, und ich nahm seinen verführerischen Duft wahr. Er roch männlich und nach Moschus, aber mit der Wärme von Muskat und Zimt sowie mit einer wehmütigen Spur Veilchen versetzt. Während dieses Aroma mich umfing, spielte er mit einer Strähne meines Haars, ließ dann ganz sanft eine Hand auf meinen Nacken gleiten und presste seine Lippen zu einem festen und vollkommen unerwünschten Kuss auf die meinen.
Ich drehte mit aufgerissenen Augen meinen Kopf weg und war entsetzt über seine Vermessenheit. Einen Moment lang schien er fast wütend, doch dann ließ er seine Hand mit einem selbstgefälligen Grinsen sinken.
»Ich wusste ja nicht, dass das Euer erster Kuss sein würde«, beschwerte er sich, und meine Wangen begannen zu glühen. »Das macht mir natürlich nichts aus. Ihr seid einfach nur unerfahrener, als ich es erwartet hätte.«
Er streckte die Hand nach meiner Halskette aus und ließ seine Fingerspitzen sanft über mein Schlüsselbein wandern.
»Das bedeutet natürlich auch, dass Ihr noch viele andere erste Male vor Euch habt.«
Ich starrte ihn erzürnt an und suchte nach Worten. Gerade als es so aussah, als wollte er versuchen, mich erneut zu küssen, riss mich eine Stimme aus meiner Demütigung, meinem Unglauben und Ekel.
»Prinzessin!«, rief London und trat aus der Dunkelheit. »Ich fürchte, im Palast gibt es Alarm, sodass ich Euch in Eure Gemächer zurückgeleiten muss. Ihr solltet sogleich mit mir kommen.«
Ich sprang von der Bank auf und hätte meinen Leibwächter vor lauter Erleichterung fast umgerannt. Steldor kam stöhnend auf die Füße und machte Anstalten, mich zu begleiten, doch London hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Ihr müsst gehen. Das ist nicht Eure Angelegenheit.«
Steldor funkelte London an, als versuche er, ihn einzuschüchtern, doch dieser hielt seinem Blick stand. Mein Leibwächter war zwar ein wenig kleiner als mein Verehrer, aber ansonsten stellten sie zwei gleichwertige Gegner dar. Sie besaßen sogar die gleiche jugendliche Erscheinung, obgleich London fast doppelt so alt war wie Steldor. Das war übrigens nur eines der Rätsel um diesen Mann, in dessen schützendem Schatten ich seit sechzehn Jahren lebte.
Weil er wusste, dass London als stellvertretender Hauptmann der Elitegarde ein Mann von hohem Rang war, lenkte Steldor ein. Ich sah mich nicht mehr nach ihm um, als ich den Garten hastig an der Seite meines Leibwächters verließ, doch ich vermutete, dass mein verlassener Tischherr kurz nach uns den Palast betrat und über den Flur davonstürmte.
»Du hattest recht mit dem besonderen Schutz, den ich heute Abend brauchen würde«, gestand ich London zögernd, während ich die Wendeltreppe hinaufstieg, die meiner Familie vorbehalten war.
»Das kann man wohl sagen.«
London hatte offenbar seinen Humor in Bezug auf diesen Abend eingebüßt und schien innerlich vor Wut zu kochen. Ob er sich über sich selbst oder nur über Steldor ärgerte, vermochte ich nicht zu sagen.
»Und dein Vater erwartet, dass du diesen aufgeblasenen Wichtigtuer heiratest?«, murmelte er.
»So ist es.«
Ich war überrascht von Londons unverblümtem Urteil. Ich hatte zwar gewusst, dass er keine großen Stücke auf den Wunschschwiegersohn meines Vaters hielt und war auch dankbar, dass jemand meine Meinung teilte, bislang hatte er sich meine Klagen allerdings immer nur angehört und seine Sicht der Dinge für sich behalten.
Meine Gedanken kehrten zu Steldors Kuss zurück, und ich begann mir voller Ekel den Mund abzuwischen. London bemerkte es und hob eine Augenbraue. »So hast du dir deinen ersten Kuss gewiss nicht vorgestellt.«
»Warum glaubt eigentlich jeder, das sei mein erster Kuss gewesen?«, fragte ich voller Verärgerung darüber, dass mein Leben so transparent war.
»Vergiss nicht, dass du mir schließlich einiges erzählst«, antwortete er mit einem wissenden Grinsen.
Ich wandte kurz den Blick ab und versuchte, nicht zu erröten.
»Nun ja«, nahm ich das Gespräch wieder auf, »in jedem Fall bin ich froh, dass du eingeschritten bist. Wer weiß, was er noch im Schilde geführt hat.«
»Was war mit deiner Ausrede, du würdest dich krank fühlen, wenn du ihm schnell entkommen wolltest?«
»Als wir dort auf der Bank saßen, konnte ich nicht klar denken. Er hat diesen erstaunlichen …« Meine Gedanken schweiften ab, und es gelang mir nicht länger, mein Erröten zu verhindern.
»Erstaunlichen was?«
»Duft. Einen erstaunlichen Duft«, vollendete ich den Satz zögernd mit inzwischen flammend roten Wangen.
»Er riecht gut?«, fragte London ungläubig nach und brach in Gelächter aus. »Als ob er noch irgendwelche Hilfsmittel bräuchte, um Frauen auf sich aufmerksam zu machen. Zu allem Überfluss riecht er also auch noch besser als wir anderen!«
In meinen Gemächern angekommen, schloss ich die Tür meines Salons, nachdem ich einen Gutenachtgruß in Londons Richtung gemurmelt hatte. Ich wusste, dass er sich jetzt in den Ostflügel begab. In die Räume im ersten Stock, wo die meisten unverheirateten Wachleute wohnten. Als mein wichtigster Leibwächter war er vom Zeitpunkt meines Erwachens und bis ich mich wieder zu Bett begab im Dienst. Nachts patrouillierten Angehörige der Palastwache über die Flure.
Ich schleppte mich durch den Salon in mein Schlafzimmer und fürchtete, meine Beine würden mir den Dienst versagen. Sobald ich das Zimmer betreten hatte, das meine Zuflucht war, seit ich denken konnte, sank ich auf den Stuhl vor meiner Frisierkommode, zog die Nadeln aus meinen Haaren und schüttelte den Kopf, bis die dicken Locken mir wieder über die Schultern fielen. Ich schaute in den Spiegel und ließ meine Augen über das vertraute Mobiliar wandern, das sich darin spiegelte: ein großzügig bemessenes Himmelbett mit einem cremefarbenen Überwurf und etlichen herrlich weichen Daunenkissen, außerdem zwei rosafarbene, mit Samt bezogene Polstersessel vor dem offenen Kamin, ein Puppenhaus und ein paar andere Spielsachen aus meiner Kindheit, darunter ein Kreisel und ein Springseil, und an den Wänden mehrere überquellende Bücherregale.
Ich stand auf und durchquerte den Raum, um die zweiflügelige Holztür zu öffnen, die auf meinen Balkon hinausging. Dabei sanken meine Füße in den dicken Teppich ein, der auf dem Boden lag. Auch wenn ich erschauerte, als eine kalte Brise meine Haut streifte, trat ich hinaus, um auf Sahdienne zu warten. Die blonde junge Frau mit dem rundlichen Gesicht stand mir als Kammerzofe zur Verfügung. Bei Tageslicht konnte ich vom Balkon aus die Landschaft überblicken, die sich leicht hügelig bis zu dem See erstreckte, der die Westgrenze unseres Reiches bildete. Im Moment erlaubte es das Mondlicht allerdings nur, die undeutlichen Umrisse der Bauwerke der Stadt zu sehen.
Als ich meine Schlafzimmertür knarren hörte, ging ich wieder hinein und traf auf Sahdienne. Sie öffnete die Bänder an der Rückseite meines Kleides und zog die Vorhänge vor die Fenster rechts vom Balkon. Unterdessen schlüpfte ich in mein Nachthemd. Dann kroch ich unter die Decken, kuschelte mich in die Kissen und war bereits eingeschlafen, bevor Sahdienne das Zimmer fertig aufgeräumt hatte.