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Donnerstag, 18. Februar 2010
Sehnsucht
Megan 23, Ken 30, Jake 27 (zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis)
„Ich gehe Jake besuchen.“ Verkündete Ken an diesem Morgen, als sie im Bad nebeneinander standen und sich die Zähne putzten.
Megan versuchte nicht zu erstaunt zu wirken.
Sie waren Brüder, natürlich wünschte sie sich für die beiden, dass sie gut miteinander auskamen, dass sie sich verstanden. Es wunderte sie nur, weil Ken seinen jüngeren Bruder in dem dreiviertel Jahr, dass er nun im Gefängnis saß, erst zweimal besucht hatte.
Er hatte immer Ausreden gefunden, ihn nicht zu besuchen. Megan wusste, dass die beiden sich nicht besonders gut verstanden, aber sie hatten seit Jahren denselben Freundeskreis, sahen sich dadurch fast täglich und immerhin tranken sie hin und wieder auch ein Bier miteinander. Sie hatte zumindest erwartet, dass Ken ihn so oft wie möglich im Gefängnis besuchen würde, als das Urteil gesprochen wurde.
Die beiden Male, die er Jake besucht hatte, war sie zuhause gesessen, hatte es kaum erwarten können bis Ken endlich nachhause gekommen war und ihr erzählte wie es ihm ging, aber sie hatte es bei beiden Malen nicht erfahren. Nach dem ersten Besuch war er missgelaunt zurück gekehrt, hatte kein Wort darüber verloren, nach dem zweiten Besuch hatte er ebenfalls geschwiegen, diesmal nicht ganz so aufgebracht, und sie hatte sich nicht getraut nachzufragen.
„Du wolltest mich doch zum Tanzen fahren, wir haben heute Generalprobe.“ Erinnerte Megan ihn an ihre Abmachung.
Die Proben für das Tanzstück fanden eine halbe Autostunde entfernt in einem Theater statt. Übermorgen hatten sie den Auftritt. Es war eine Art Ballettstück mit vielen neumodischen Einflüssen und hin und wieder vermischt mit Jazz- und Modern Dance.
Megan tanzte nicht gerne nach Choreographien, ihr war es lieber mit ihrem Tanz ihre aktuellen Gefühle auszudrücken, Traurigkeit, Schmerz, Freude, Gelassenheit. Sie tanzte am liebsten für sich alleine, ohne Zuschauer, ohne Meinungen. Zur Tanzgruppe war sie eher durch Zufall gestoßen. Noch während ihrer Schulzeit war sie hin und wieder eingesprungen, wenn ein Tänzer krank wurde und nach und nach war sie zum festen Mitglied geworden und war es noch heute.
„Dann komm mit und ich fahre dich anschließend zur Probe.“ Sagte Ken.
Megans Magen zog sich allein beim Gedanken an Jake zusammen. Scheinbar strahlte das auch ihr Blick aus, denn Ken sagte beruhigend, sie könne ja solange im Auto warten, während er sich mit Jake unterhielt.
„Okay.“ Antwortete sie. „Ich bin gleich fertig.“
Sie versuchte sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, als sie ihr Trainingsoutfit zusammen suchte und die Ballettschuhe einpackte.
Die Haare hatte sie zu einem lockeren Dutt hochgebunden, für die Bühne war sie stärker geschminkt als sonst. Mit beeindruckend schwarzen Augen und goldenem Glitter auf den Wangen.
Draußen schlug ihr eisige Kälte entgegen. Der Winter war ausgesprochen kalt, sie konnte es nicht erwarten endlich wieder ein paar Sonnenstrahlen zu genießen.
Einerseits wünschte sie sich, Jake könne sie in diesem Outfit sehen, doch sie wusste schon in dem Moment, in dem sie ins Auto stieg, dass sie sich nicht trauen würde mit in den Besucherraum zu gehen.
Bis zum Gefängnis hatten sie eine vierzigminütige Fahrt vor sich, in der sie vorgab ihre Musik für das Tanzstück durchzugehen, um sich nicht mit Ken unterhalten zu müssen. Sie war zu aufgeregt, zu durcheinander.
Sie starrte aus dem Fenster, sah sich die Landschaft an, fragte sich, was Jake von seinem Gitterfenster aus sehen konnte und wie sehr er sich sehnte wieder nach draußen zu kommen.
Er war immer gerne in der Natur gewesen, auf den Feldern der Ranch hatte er sich zuhause gefühlt, ständig war er angeln oder im Wald gewesen. Es musste die Hölle für ihn sein, ein Jahr weggesperrt zu sein.
Sie wusste, dass es ihn schlimmer hätte treffen können. Sie war am Tag der Verhandlung mit im Gerichtssaal, sie hatte genau beobachtet, wie die Richterin auf Jake reagierte. Sie war bereits Ende vierzig gewesen, aber seine Wirkung hatte Jake auch bei ihr nicht verfehlt. Sie wusste, dass ihm bei einem Vergehen dieser Art weitaus mehr als Schmerzensgeld und ein Jahr Knast gedroht hätten.
Dennoch machte es sie wütend, dass manche Menschen die Macht besaßen andere Menschen in den Knast zu sperren, ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Natürlich war sie froh, dass andere Gewaltverbrecher hinter Gittern saßen und eigentlich wusste sie ja, dass auch Jake zu weit gegangen war. Dennoch...
Als Ken auf den riesigen Parkplatz bog, klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
Er stieg aus, sagte, er würde sich beeilen und ging mit gesenktem Kopf in Richtung des riesigen Geländes, das von hohen Mauern und Stacheldraht eingezäunt war.
„Lass dir Zeit! Er ist schließlich dein Bruder!“ rief Megan ihm hinterher und schloss die Autotür sofort wieder, weil es draußen verdammt kalt war.
Sie legte die Füße auf das Handschuhfach, kuschelte sich in ihre dicke Jacke, versuchte ruhiger zu werden, sich zu entspannen.
Ob Jake sie von seiner Zelle aus sehen konnte? Ein paar der Fenster konnte sie von hier aus sehen.
Sie waren nur durch eine Mauer voneinander entfernt. Noch drei Monate bis sie ihn wiedersehen würde und wer wusste schon, was er dann vorhatte, ob er überhaupt in ihrer Nähe wohnen und arbeiten würde. Vielleicht hatte er ganz andere Pläne…
Dieses Gefühl, ihm so nah zu sein und ihn dennoch nicht sehen zu können, war unbeschreiblich frustrierend. Sie wusste, dass es an ihr lag. Sie hätte nur mit Ken hineingehen müssen. Sie konnte Ken immer noch nachlaufen, wenn sie sich beeilte würde er noch nicht im Gebäude sein…
Doch sie wusste, dass Jake sie nicht sehen wollte.
Ken kam bereits nach zwanzig Minuten wieder auf den Parkplatz gelaufen.
„Gruß.“ Sagte er, als er einstieg.
„Wirklich?“ Megan sah überrascht aus.
„Nein.“ Sagte Ken. Er brach in Lachen aus. Und obwohl jeder wusste, dass Jake Megan nicht abkonnte und die anderen Jungs sich deshalb oft schlapp gelacht hatten, schmerzte es Megan in diesem Augenblick dennoch, dass Ken sich darüber lustig machte.
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Dienstag, 1. Juni 2010
Die morgendliche Runde zu zweit
Megan 23, Ken 30, Jake 27
Zwei Tage später ging Megan morgens joggen –wie fast jeden Morgen, meist wenn sie nicht arbeiten musste oder, wie heute, erst später für die Ranch abgeholt werden würde.
Sie lief die nasse Straße entlang in Richtung der Felder, von denen der Nebel aufstieg. Es hatte heftig geregnet in dieser Nacht, fast monsunartig. So langsam kündigten sich die Wirbelstürme an, die dieser Gegend jedes Jahr um diese Zeit drohten.
Es hatte angenehm abgekühlt, war aber bereits am frühen Morgen schon wieder schwülwarm. Die nasse Straße glänzte schwarz, roch nach Teer und würde in wenigen Minuten wieder getrocknet sein, spätestens wenn sie sich auf dem Heimweg befand.
Nachdem sie vorgestern vier Stunden durch die Gegend gelaufen war, hatte sie sich nicht lange wach halten können, war vor Erschöpfung auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen und hatte die Jungs alleine grillen lassen. Sie wäre gerne dabei gewesen, aber Jakes Verhalten hatte sie fast panisch werden lassen und so hatte sie sich beeilt ihm aus dem Weg zu gehen.
Erst mitten in der Nacht war sie aufgewacht, hatte sich in ihrem Bett befunden und hatte sich nicht drehen können, weil Ken sich an sie klammerte wie ein Verhungernder. Das tat er immer dann, wenn er Angst hatte zu weit gegangen zu sein und sie zu verlieren.
Sie hatte nicht einmal mitbekommen, wie er sie hoch getragen hatte, so erschöpft war sie gewesen.
Zum Glück hatte er die letzten Tage lange Schichten arbeiten müssen und so war sie einem Gespräch mit ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen. Morgens, wenn er gegangen war, hatte sie noch geschlafen und abends, wenn er nachhause kam, hatte sie sich etwas früher als sonst ins Bett verdrückt.
Auch als sie heute Morgen erwacht war, war er bereits zur Arbeit gegangen, sie hatte im Halbschlaf gesehen, wie er seine Uniform anzog, sich seine Waffe anschnallte und das Zimmer verließ. Sie war erleichtert darüber, dass er ständig weg war und sie sich keiner Diskussion oder Aussprache stellen musste. Sollte er sich ruhig eine Weile Gedanken machen.
Ihr war selbst klar, dass sie sich auch deshalb davor sträubte, weil ihr eigenes Vergehen viel schwerer wog und dass sie deshalb so trotzig reagierte, wenn er die letzten Tage ihre Nähe gesucht hatte.
Sie konzentrierte sich auf die schwarze Straße und die weißen Begrenzungsstreifen, die sie der grellen Sonne wegen blendeten und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen und eine Lösung zu finden.
Als sie die nächste Straßenecke erreichte, kam plötzlich Jake aus einem Seitenweg herausgelaufen. Er war ebenfalls in Sportkleidung.
Sie zuckte zusammen, lief vor Schreck einen kleinen Bogen. Sofort begann ihre Pulsuhr zu piepsen und es lag nicht daran, dass sie schneller geworden war, sondern daran, dass ihr Herz grundsätzlich schneller schlug, wenn Jake in der Nähe war. Megan versuchte sich innerlich zu beruhigen, langsamer zu atmen, verfluchte insgeheim ihre Pulsuhr, die sie verriet.
Jake grinste vor sich hin, wusste genau was Sache war. Er schien es regelrecht zu genießen, wie sie mit dem Piepen ihrer Uhr kämpfte.
Einen Waldweg weiter war sie immer noch dabei das Programm zu finden, indem sie ihre Pulsuhr lautlos stellen konnte, fand es aber nicht und wollte deshalb auch nicht anhalten. Sie ließ ihre Uhr eine Weile piepsen, versuchte ruhiger zu werden, indem sie ihre Atmung kontrollierte.
Erst als sie die Brücke im Wald überquerten, die über den breiten Kanal führte, stellte sich das Piepsen von selbst ein.
Jake lief mit etwas Abstand neben ihr her, in genau demselben Tempo.
Sie war verwundert über sein Erscheinen, doch sie nahm an, dass er genauso erschrocken war über ihr Aufeinandertreffen, dass er nur deshalb weiter neben ihr herlief um ihr zu zeigen, dass er ihr nicht aus dem Weg gehen musste, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Dass er der Überlegene war, wie immer…
Ein paar Mal war sie versucht etwas zu sagen um die Stille zu füllen, doch ihr fiel nichts Kluges ein, also hielt sie den Mund und dachte bei sich, dass er sowieso an der nächsten Weggabelung einen anderen Weg als sie einschlagen würde.
Erst als das nicht geschah, beschlich sie das Gefühl, dass er absichtlich ihren Weg gekreuzt hatte.
Hatte er etwa gewartet, bis sie vorbeikam? Und wie lange?
Er sagte kein Wort, sie hört seinen Atem, den er an ihr atmen angepasst hatte, drei mal ein, drei mal aus. Drei mal ein, drei mal aus.
Sie liefen fast eine Stunde nebeneinander her. Eine Stunde in der sie schwiegen und sich der Gegenwart des anderen nur zu bewusst waren.
Megan schaffte es nicht sich zu entspannen. Während sie die Feldwege entlangliefen und ein Stück durch den Wald rannten, beobachtete sie ihn immer wieder aus den Augenwinkeln. Er schien entspannt, zumindest entspannter als sie, was nicht gerade schwer war, da sie sich in seiner Nähe grundsätzlich wie ein nervöses Wrack vorkam.
Als sie an eine Weggabelung kamen, an der er nicht wusste welchen Weg sie einschlagen würde, zögerte er tatsächlich kurz und beobachtete wohin sie lief, bevor er ihr folgte.
Auf dem Rückweg zog sie das Tempo wie gewöhnlich ein wenig an, heute ein wenig mehr als sonst, weil sie das Gefühl hatte Jake zeigen zu müssen, dass sie mit ihm mithalten konnte und wie fit sie war.
Als sie am Ende wieder in die Straße einbogen, in der sie wohnten, sah Megan auf die Uhr. Ihr Puls war ins Unermessliche geschossen, ihre Uhr piepste wieder zur Warnung, immerhin war sie schneller denn je gewesen. An guten Tagen und wenn sie zügig lief brauchte sie für diese Strecke über eine Stunde, heute waren sie gerade einmal 55 Minuten unterwegs gewesen.
Kurz bevor sie das Haus erreichten, lief Jake in eine andere Richtung. Sie sah ihm nach, bewunderte seine Ausdauer. Nachdem sie so schnell und lange gelaufen waren, verlängerte er die Tour sogar noch.
Erst als er außer Hörweite war, begann sie zu keuchen. Den letzten Kilometer war sie viel zu schnell gelaufen, nur um ihm zu imponieren. Sie schloss die Haustüre auf und drückte sie hinter sich zu, bevor sie sich an die Wand lehnte und krümmte und nach Atem rang.
Sie hatten fast eine Stunde lang kein Wort gesprochen, obwohl sie nebeneinander her gelaufen waren. Sie fragte sich, was er damit bezweckte. Suchte er ihre Nähe? Oder war es wieder eines seiner „Ich habe dich voll im Griff“- Spielchen?
Als Jake beim Kiosk um die Ecke bog, warf er einen kurzen Blick zurück. Er wartete ab, bis sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, dann ging er keuchend in die Knie. Er rang nach Luft, ließ sich langsam nieder und rollte sich auf den Rücken.
Joey kam nach draußen gerannt, sah besorgt auf Jake herunter, der mitten auf dem Gehweg lag und wie ein Sterbender keuchte und hustete. „Alles okay, Jake?“
„Wasser!“ keuchte er. „Ich brauch Wasser!“
Joey erfasste die Situation, lachte auf, ging nach drinnen und kam mit einer Flasche eisgekühltem Wasser wieder.
Jake trank die Flasche fast komplett leer, schüttete sich den Rest ins Gesicht.
„Ich schwöre dir, ich höre auf zu rauchen.“ Japste er.