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Dienstag, 15. März 1994
Streit mit Lauren
Megan 7, Ken 14, Jake 11
Megan kam von der Schule nachhause, ging in Gedanken Jakes Stundenplan durch. Sie wusste ihn auswendig. Wenn seine Klasse nicht früher entlassen wurde, hatte sie noch genügend Zeit um nachhause zu kommen.
Sie ging immer auf schnellstem Wege zum Trailerpark zurück, außer wenn Jake vor ihr aus hatte, dann schlich sie sich vorsichtig aus der Schule und ging über Schleichwege durch den Wald zum Wohnwagen. Hier fühlte sie sich sicher, hier würde Jake sie nie finden. Sie musste zwar eine halbe Stunde länger laufen, aber das nahm sie gerne in Kauf.
Im Winter ging sie so schnell wie möglich in die Stadtbücherei, dorthin, da war sie sich sicher, würden er und seine Kumpels sich nicht so schnell verlaufen. Sie las ein Buch nach dem anderen oder machte ihre Hausaufgaben und ließ sich von Ken abholen, wenn er Schulschluss hatte.
Im Sommer nahm sie grundsätzlich den Umweg, stets darauf bedacht von niemandem beschattet zu werden. Im Sommer wusste man nie so genau wann welche Klasse entlassen wurde. Selbst wenn es nicht warm genug war um Hitzefrei zu bekommen, so gab es doch den ein oder anderen Lehrer, der ein Auge zudrückte. Sie nahm lieber vorsorglich den Umweg, nach allem was passiert war.
Im Trailerpark angekommen, wartete sie dann meistens vor dem Wohnwagen darauf, dass Lauren zum Spielen hinaus kommen durfte. Lauren, mit ihren vielen kleinen geflochtenen Zöpfchen und der kaffeefarbenen Haut, war die einzige Freundin, die ihr noch geblieben war. Alle anderen hatten sich von Jake und seiner Bande abschrecken lassen oder es war ihnen langweilig geworden, weil Megan sofort nach der Schule nach hause ging und sich die meisten Nachmittage hinter dem Wohnwagen versteckte, aus Angst Jake könnte in der Nähe sein und sie entdecken.
Seit dem Vorfall mit der Schaukel im letzten Jahr versteckte sie sich vor ihnen.
Megan fuhr über ihren Ellenbogen, der sich trotz einiger Wochen im Gips und vieler Arztbesuche im letzten Jahr immer noch zerschmettert anfühlte. Als wäre der Knochen in mehrere Stückchen zersplittert und wollten nun nicht mehr zusammenwachsen. Manchmal spannte es noch, schmerzte fast ein wenig. Aber sie lebte noch. Das war alles worauf es ankam. Alles andere war zweitrangig.
Manchmal wünschte sie sich, ihre Mutter würde eines Tages von der Arbeit heimkommen und beschließen, dass sie sich einfach in den Wohnwagen setzten und in eine andere Stadt fuhren, wo sie ganz von vorne und ohne Jake in der Nähe anfangen konnten. Dazu waren Wohnwagen schließlich da. Sie konnte sie nicht erinnern, dass sie je damit gefahren wären. Alles was sie hier vermissen würde war Ken. Er würde ihr wahnsinnig fehlen, aber der Gedanke daran, mit anderen gleichaltrigen spielen zu können, ohne ständig mit der Angst zu leben, dass Jake in der Nähe sein könnte, ohne überhaupt ständig mit der Angst zu leben, dass er ihr auflauerte, war verführend…
„Hey Meg!“ rief Lauren von ihrem Wohnwagen aus und winkte wild. Sie wohnte sieben Wohnwagen den Weg hinauf von Megan entfernt. „Meine Mama fragt, ob du schon Mittag gegessen hast!“
Megan schüttelte langsam den Kopf. Meistens wartete sie einfach, bis ihre Mutter abends nach hause kam und eine Kleinigkeit kochte, im Wohnwagen hatten sie Kekse, Zwieback und Salzstangen und ein paar Dinge im Kühlschrank, alles Dinge, die Megan nur dann aß, wenn sie wirklich großen Hunger bekam, aber meist wartete sie einfach bis es Abendessen gab.
„Dann komm!“ rief Lauren aufgeregt.
Megan sprang auf, rannte hinüber zu Lauren Dovas Zuhause. Sie freute sich immer, wenn sie eingeladen wurde. Sie liebte Mrs. Dovas Essen. Megans Mutter kochte auch gut, aber bei den Dovas gab es eine andere Art von Essen. Couscous, süßen Reis mit Zimt oder afrikanische Eintöpfe. Und Laurens Mutter erlaubte den beiden Mädchen ihren Teller mit ins Freie zu nehmen und draußen auf dem Boden zu essen, solange sie nur danach das Geschirr zurück brachten.
„Kommt ihr auch mit, wenn wir wegziehen?“ fragte Megan ihre Freundin, als sie auf den Steinstufen der Ruine saßen, unweit des Trailerparks, und ihre Teller auf den Knien balancierten. In dieser Ruine spielten sie oft verstecken, sie musste hunderte Jahre alt sein, war moosbewachsen und fast komplett verfallen. Megan stellte sich vor, wie es damals wohl gewesen war, vor so langer Zeit und als was diese Ruine wohl gedient haben mochte. Für ein Haus war sie zu groß. Vielleicht eine Kirche? Eine kleine Burg? Nur an einer Stelle war das Dach noch erhalten. Wie es wohl war in einem richtigen Haus zu leben? Mit echten Fenstern, einem richtigen Dach, einem richtigen Bett und einem großen Badezimmer?
„Ihr zieht weg? Wann? Warum?“ Lauren war geschockt.
„Nein, aber wenn…“
„Wir können hier nicht wegziehen. Mein Dad hat hier seine Arbeit und ich muss hier in die Schule.“
„Aber das ist bei uns doch auch so. Man kann auch in einer anderen Stadt zur Schule gehen und arbeiten!“
„Aber ich will hier nicht weg.“
„Ich werde es meiner Mutter vorschlagen. Du kannst es dir ja noch überlegen.“
„Du willst nur weg wegen Jake.“
Megan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ziehen wir in ein echtes Haus. Oder eine Wohnung.“
„Aber vielleicht gibt es in der Stadt wo ihr hinzieht auch einen Jake, aber dafür keinen Kenny.“
Megan dachte eine Weile über Laurens Worte nach. Sie leuchteten ihr ein, diese Möglichkeit hatte sie noch nicht in Betracht gezogen.
Sie verbrachten den Nachmittag in Megans Wohnwagen.
Mrs. Dovas hatte ihnen stricken beigebracht und knüpfen, nähen und sticken. Im Moment nähte Megan eine Decke für ihre Mutter aus Stofffetzen und alten Kissen zusammen, die sie ihr zum Geburtstag schenken wollte. Lauren strickte einen Schal. Wenn sie beide mit ihren Arbeiten fertig waren, würde der Sommer beginnen und sie würden weder einen Schal noch eine Decke gebrauchen können, aber momentan war es noch frisch und keine von beiden verschwendete einen Gedanken an den Sommer.
Megan wickelte sich selbst in die Decke, während sie nähte. Sie passte fast zweimal hinein, aber da sie für ihre Mutter gedacht war, musste sie ja auch schön groß werden.
Lauren aß Kekse, einen nach dem anderen. Ihre eigene Mutter erlaubte ihr selten Süßigkeiten, deshalb freute sich Lauren jedes Mal, wenn sie den Nachmittag bei Megan verbringen konnten. Und Megan wiederum gefiel es, weil sie ihrer stets besorgten Mutter abends die leere Keksschachtel zeigen und sie damit beruhigen konnte.
Megan beobachtete Lauren, sah zu wie sie sich auf das Stricken konzentrierte. Sie wirkte nachdenklich, normalerweise redeten sie viel, sangen zur Musik mit und lachten.
Gerade lief Stand by me von Ben E. King im Radio, Laurens Lieblingslied, bei dem sie sonst ihr Strickzeug zur Seite legte und singend durch den Wohnwagen tanzte, doch heute blieb sie still, schien nicht einmal zu bemerken, dass ihr Lied lief.
Megan tat es schon wieder leid, dass sie vorhin dieses Thema angesprochen hatte. Sie wusste wie sehr sich Lauren auf die gemeinsamen Nachmittage freute. Die meisten anderen Kinder hier – selbst die im Trailerpark – bekamen es untersagt mit schwarzen Kindern zu spielen. Selbst die, deren Eltern Familie Dovas kannten.
„Das sind gute Menschen.“ Hatte Megans Mutter vor einer Weile geantwortet, als Megan fragte, warum sie mit Lauren spielen durfte, aber die anderen Kinder nicht. „Sie gehen regelmäßig zum Gottesdienst, man hört nie ein lautes oder böses Wort und sie sind fleißiger als der ganze Trailerpark zusammen. Warum also sollte ich es dir verbieten?“
„Wann hat Kenny aus?“ war das Einzige, was Lauren an diesem Nachmittag fragte und Megan antwortete, indem sie zu den drei Stundenplänen nickte, die an der Wand hingen. „Um fünf.“
Das war alles. Den Rest des Nachmittags blieben sie ruhig.
Um fünf kamen erst Kenny und wenige Minuten später Megans Mutter nachhause.
Nachdem Megan schnell die Decke in ihrem Kleiderschrank versteckt hatte, saßen sie den restlichen Abend zu viert im Wohnwagen, spielten Karten und tranken warmen Kakao.
Megans Mutter fragte, ob sie sich gestritten oder etwas ausgefressen hätten, weil sie so still waren und auch Kenny sah sie fragend an, aber sie schüttelten beide den Kopf.
„Vielleicht bleiben wir ja auch hier.“ Sagte Megan, als sie Lauren am Abend verabschiedete. Lauren fiel ihr um den Hals, drückte sie fest. Dann rannte sie zum Wohnwagen ihrer Eltern zurück.
Vielleicht gibt es dort auch einen Jake, aber keinen Kenny. Lauren’s Worte hallten in ihrem Kopf nach. Sie schwor sich, niemals aus dem Trailerpark wegzuziehen. Denn wie sollte sie ohne Kenny einen Jake überleben?
3
Freitag, 14.Mai 2010
Nackte Tatsachen
Megan 23, Ken 30, Jake 27
Am Abend, als Megan unter der Dusche stand um sich die Hitze des Tages vom Körper zu waschen und sich abzukühlen, war sie erschöpft wie selten zuvor.
Das Wasser prasselte kühl auf ihren erhitzten Körper, sie fühlte sich fast fiebrig, wenn sie nur an Jakes Blicke dachte.
Sie fragte sich seit Jahren, wie es wohl sein würde mit ihm zu schlafen oder ihn zu küssen und sie hatte es sich schon so oft vorgestellt, dass es sich schon fast realistisch anfühlte.
Hingegen, wenn sie ihm gegenüberstand oder sich einfach nur im selben Raum befand wie er, war sie wieder das kleine, verschüchterte Mädchen, das sich kaum traute ihn anzusehen.
Zu allererst ging sie hinüber ans Fenster und öffnete es als sie aus der Dusche stieg, sodass frische Luft hereinkommen und den Dampf vertreiben konnte.
Einen Moment blieb sie stehen, schloss die Augen, atmete die Nachtluft ein, die jetzt zu später Stunde endlich merklich abgekühlt war. Sie atmete tief ein und aus und genoss die kühle Brise auf ihrer nackten Haut. Erschöpft öffnete sie die Augen, sah hinaus in den dunklen Garten, der vom Esszimmer her ein wenig beleuchtet wurde, aber nur die ersten Meter, der Rest des Gartens war so dunkel, dass sie weder die Beete noch die hintere Grenze des Gartens sehen konnte, nicht einmal den Gartenzaun oder die angrenzenden Weizen- und Roggenfelder.
Selbst der Pool war nun dunkel, Ken schaltete die Beleuchtung nur dann ein, wenn die Jungs den Pool nachts nutzten, meist um sich nach dem Abendessen noch einmal abzukühlen oder wenn sie Besuch hatten, so wie heute Abend. Aber da seine Eltern nun gegangen waren, hatte er sie bereits wieder ausgeschaltet. Nur die breite Baumkrone der alten Eiche zeichnete sich ein wenig gegen den Nachthimmel ab und in der Ferne die schwarze Linie des Waldes, ungleichmäßige Schatten, in den fast genauso dunklen Nachthimmel ragend.
Irgendetwas war anders gewesen als sonst, sie konnte nicht aufhören über diesen Abend nachzugrübeln, vom Moment an, als Jake das Haus betreten hatte bis hin zum Abschied seiner Eltern.
Manchmal wirkte er wie ein kleiner Junge, der nur nach Liebe suchte, der sich danach sehnte nicht verurteilt zu werden und von seinen Eltern in den Arm genommen zu werden. Doch diese Momente dauerten kaum eine Sekunde und schon war er wieder der Starke, der Wilde, der Undurchschaubare.
Sie sah hinauf zum Mond, der heute aussah, als würde er auf dem Rücken liegen, träumte noch einen Moment vor sich hin und seufzte leise auf.
Dann drehte sie sich um, um nach ihrem Badetuch zu greifen – und erschrak.
Sein Anblick trieb ihr die Gänsehaut über den ganzen Körper.
Am anderen Ende des Bades saß er auf dem Rand der Badewanne und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Jake.
Sie hatte ihn weder hineinkommen hören, noch eine Bewegung im Bad wahrgenommen, als sie unter der Dusche stand.
„Was suchst du hier!“ fuhr sie ihn erschrocken an. Wie lang war sie nackt am Fenster gestanden?
Sie musste zu ihm hinüber laufen um an ihr Handtuch zu kommen, das über dem Badewannenrand direkt neben ihm hing. Erst zögerte sie, es zu tun, doch dann ermahnte sie sich cool zu bleiben und ging zu ihm hinüber.
Sie versuchte sich nicht zu beeilen, ihren Körper hinter dem Handtuch zu verstecken, da er sie ohnehin nackt gesehen hatte und sie nicht zu nervös wirken wollte.
Er dachte nicht daran den Blick abzuwenden. Natürlich nicht. Er starrte ihr direkt auf die Brüste, ganz unverhohlen und dreist.
Er klang amüsiert als er antwortete. „Mein Bruder meinte, wenn du aus der Dusche kommst, soll ich dich fragen, ob wir noch irgendwo Zigaretten haben.“
Megan schlang ihr Handtuch fest um den Körper.
„Er meinte damit ganz bestimmt nicht, dass du mir hier auflauern sollst, er meinte, wenn ich aus dem Bad komme.“ Sie sah ihm fest in die Augen.
Jake tat, als würde er darüber angestrengt nachdenken. „Nein, er sagte eindeutig Dusche.“ Er starrte mit festem Blick zurück. Das Grinsen in seinen wilden Augen war ein bösartiges, kein flirtendes. Er liebte es, ihr die Scham ins Gesicht zu treiben, sie zu erniedrigen. Es hatte keinen Zweck darüber mit ihm zu diskutieren.
Es war sinnlos, sie wusste es selbst.
„Nein, wir haben keine Zigaretten mehr.“ Sagte sie krächzend. Warum klang ihre Stimme immer dann so dünn und unsicher, wenn sie stark und selbstsicher wirken wollte?
Jake wusste, dass sie nicht rauchte und Ken wusste, dass sie nirgends Zigaretten hatte und auch nicht darauf achtete, wo er seine eigenen aufbewahrte.
„Der Laden die Straße runter hat mittlerweile 24 Stunden am Tag geöffnet.“ Fügte sie leise hinzu, bevor sie das Bad verließ.
Kaum schlug die Türe hinter ihr zu, lehnte sie sich an die Wand, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Die Wand gab ihr Stabilität, ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie keine Kontrolle darüber, gummiartig und zitternd. Sie schloss die Augen, wartete einen Moment, bis sie wieder klar denken konnte.
Er sprach tatsächlich mit ihr. Auch wenn er sich nur lustig machte und sie auslachte. Aber er sprach mit ihr! Sie konnte es nicht fassen.
Sie wusste bereits, dass eine schlaflose Nacht vor ihr lag, eine Nacht in der sie nur an ihn dachte, von ihm träumte, von seinen grauen, blitzenden Augen, seinem tiefen Blick, seinen starken Unterarmen, die sich anspannten, wenn er nach Streit suchte…
Sie hätte so gerne gewusst was er dachte.
Zum Beispiel, ob er insgeheim fand, dass sie einen schönen Körper hatte, ob diese Bilder von ihr ihm genauso wenig aus dem Kopf gingen, wie sie seine Oben-ohne-Auftritte der vergangenen Sommer nicht vergessen konnte. Aber vor allem interessierte sie eines: warum er sie nicht leiden konnte. Warum er sie so abgrundtief hasste.
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Samstag, 15.Mai 2010
Die morgendliche Runde
Megan 23, Ken 30, Jake 27
Am Morgen nach Jakes Heimkehr erwachte Megan früh. Sie hatte unruhig geschlafen, sich die halbe Nacht zusammen gerissen, damit sie sich nicht nach unten schlich und ihn beim Schlafen beobachtete.
Aber jetzt, um sieben Uhr morgens, brauchte sie keine Ausrede mehr dafür in ihrem eigenen Haus unterwegs zu sein.
Sie stand auf, machte sich frisch und zog ihre Sportkleidung an.
In ihren Hotpants und einem Top schlich sie sich leise die Treppe hinab. Sie musste ohnehin durchs Wohnzimmer um zur Haustüre zu gelangen, es wäre also höchstens ein Versehen, wenn sie einen Blick auf ihn warf.
Sie schlich an ihm vorbei, blieb einen Moment stehen und sah ihn an. Wie gerne würde sie sich zu ihm legen, sich an ihn schmiegen, ihm zuflüstern, wie gut sie ihn verstand und ihm gestehen, wie sehr sie ihn begehrte.
„Verpiss dich! Ich kann nicht schlafen, wenn ich angestarrt werde.“ Murmelte er plötzlich vor sich hin, ohne die Augen zu öffnen.
Sie erschrak so heftig, dass sie einen Schritt zurücktaumelte, doch zum Glück bemerkte er das nicht, da er die Augen geschlossen hielt.
Sie fing sich schnell.
„Tut mir leid, du siehst nur gerade so unglaublich friedlich aus, die haben sich im Knast bestimmt alle in dich verliebt, was?“ flüsterte sie und selbst für ihre Ohren hörte sich ihr anschließendes Lachen echt an, obwohl es erzwungen war.
Noch während sie zur Eingangstüre schlenderte, sah sie, wie er sich verwundert aufsetzte und ihr nachstarrte. Er war es nicht gewohnt, dass sie ihn ansprach, dass sie frech war, dass sie etwas entgegnete, sie hatte viel zu lange geschwiegen.
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während sie sich die Laufschuhe anzog.
Und obwohl sie keinen Blick zurück warf, hätte sie schwören können, dass er ihr am Fenster nachsah, als sie die Straße hinunterlief.
Natürtlich war er geschockt darüber wie sie mit ihm sprach, wieviel Selbstbewusstsein und wie wenig Angst sie plötzlich hatte. Auch wenn es sie alles an Überwindung kostete: bis jetzt klappte ihr Vorsatz doch wunderbar.
Als sie nach einer Stunde zurückkam, war sie bestens gelaunt.
Sie hatte sich am Abend zuvor darüber geärgert, dass Ken seinen Bruder einfach bei ihnen schlafen ließ, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass was sie Ken vergangenes Weihnachten gefragt hatte: ob er nicht das obere Zimmer für Jake herrichten wollte, wenn dieser aus dem Knast kam. Er nahm also an, dass sie nichts dagegen hatte. Sie hätte es niemals zugegeben, aber eigentlich war sie doch froh, dass er hier in ihrer Nähe war, ohne es so recht zugeben zu wollen. Sie hielt also besser den Mund, nicht dass Ken tatsächlich auf die Idee kam ihn hinauszuwerfen.
Sie begann ihr Cool-Down wie jeden Morgen, streckte sich, beugte sich, führte die Bewegungen möglichst anmutig aus, nur für den Fall. Nicht, dass sie sich einbildete er interessierte sich für sie, aber es könnte ja sein, dass er einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster warf.
Sie betrat das Haus, alles hier fühlte sich in den letzten Monaten so renovierungsbedürftig an, die Türen, die Wände, die Küche… Sie wusste, dass dringend etwas getan werden musste, aber Ken war viel zu beschäftigt mit seinem Schichtdienst als Polizist, er war entweder bereits frühmorgens auf der Arbeit und kam nachmittags todmüde heim oder er schlief aus, weil er eine Nachtschicht hatte.
Sie selbst war mit ihrem Job zwar nicht gerade überlastet, aber sie fühlte sich auch nicht imstande alles alleine zu machen und handwerklich begabt konnte sie sich nicht unbedingt nennen.
Aber an diesem Morgen wusste sie, wen sie darum bitten sollte. Gleich heute Abend würde sie Jake darauf ansprechen.
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Dienstag, 18. Mai 2010
Machtspiele
Megan 23, Ken 30, Jake 27
Drei Nachmittage später hatte sie sich noch immer nicht getraut Jake darauf anzusprechen.
Den ersten Tag hatte er auswärts verbracht, war betrunken und missgelaunt zurück gekehrt und war ihr glücklicherweise aus dem Weg gegangen. So hatte sie wenigstens nicht unter seiner Laune leiden müssen.
Am zweiten Tag hatte er bis in den späten Nachmittag hinein seinen Kater auskuriert und war mit Kenny und zwei der anderen Jungs nur für kurze Zeit am Abend in eine Bar verschwunden.
Als sie zurückkamen, hatte sie bereits im Bett gelegen, müde vom Tanzunterricht. Dennoch hatte sie sich zwingen müssen dort zu bleiben und nicht den Abend unten im Wohnzimmer mit den anderen zu verbringen. Sie wollte ihn nicht noch mehr nerven, als sie es mit ihrer bloßen Anwesenheit ohnehin schon tat, aber es fiel ihr schwer die Jungs unten lachen zu hören und nicht dabei zu sein. Noch schwerer fiel es ihr, als er begann Gitarre zu spielen.
Er spielte oft ein paar Songs, wenn die anderen hier waren. Sie würde es niemals zugeben, aber sie liebte es, wenn er sang. Seine tiefe Stimme, begleitet von seiner Gitarre… sie ertappte sich jedes Mal dabei wie sie ihn anstarrte und zu träumen begann.
Sie hatte an diesem Abend gemerkt, dass sein Gitarrenspiel ein wenig eingerostet war – schließlich hatte er ein ganzes Jahr nicht spielen können – ein paar mal stockte er, suchte nach dem richtigen Akkord und begann von vorne, wenn er nicht zufrieden war. Dennoch rührte es sie zu Tränen, so sehr hatte sie es vermisst.
Aber heute. nahm sie sich vor. Heute würde sie ihn irgendwie dazu bekommen bei den Renovierungen zu helfen.
Nach dem Mittagessen waren sie aufgebrochen, Ken, Jake, die anderen vier Jungs und sie selbst.
Jake war nicht weiter verwundert darüber gewesen, dass Megan mit zu den Sportplätzen kam. Sie war in den letzten Jahren immer dabei gewesen.
Hin und wieder hatten sie Volleyball gespielt, hatten sie mitspielen lassen, doch Jake liebte es ihr einen Dämpfer zu verpassen, indem er entschied, dass man nun doch Basketball oder Baseball spielen würde, weil er genau wusste, dass sie und Lauren dann ausgeschlossen wurden. Sie setzten sich dann entweder ins Gras und schauten ihnen dabei zu oder sie taten irgendetwas anderes, wie zum Beispiel Sprints üben oder Megan lief einige Runden auf der 400-Meter-Bahn, die rund um den Baseballplatz führte, während Lauren die Zeit stoppte.
Megan wusste, dass erJake das auch heute tun würde, er hatte sich nicht geändert. Und sie freute sich bereits als sie aufbrachen auf sein Gesicht, wenn er erkennen musste, wie viel sich in seiner Abwesenheit geändert hatte.
Sie hatte bereits seinen leicht verstörten Blick genossen, als die anderen Jungs sie freudig und mit einer Umarmung begrüßten.
Sie waren leicht zu beeinflussen gewesen ohne Jake in ihrer Nähe, sie hatte nicht allzu schweres Spiel gehabt im letzten Jahr.
Mit allen Mitteln, aber doch für die Jungs kaum merklich hatte sie sie auf ihre Seite gebracht. Mit weiblichem Charme und Selbstbewusstsein, genauso wie mit feuchtfröhlichen, gelungenen „Männerabenden“ in Bars oder in ihrem Garten mit Bier und Barbecue und bereits nach drei Monaten hatten David und Dan sie zur Seite genommen und sich für alles entschuldigt, was sie ihr bisher angetan hatten.
„Weißt du, Ken hat uns vor ein paar Tagen erzählt, dass du jahrelang Albträume hattest, wegen der Sache am Fluss und der Sache mit dem Sand und dem Feuer und der Schaukel und wir wollten dir nur sagen wie leid uns das alles tut.“ Dan hatte fast gestottert, als sie ihr gegenüber standen und David hatte nur Kreise im feuchten Erdboden gezeichnet mit seinen weißen Sneakers, von denen er geschworen hatte sie nur im Haus zu tragen, weil er sich in sie verliebt hatte und nicht wollte, dass sie je mit Dreck in Berührung kamen. Soviel dazu.
„Ihr könnt das zu gegebenem Zeitpunkt wieder gut machen.“ Hatte sie ihnen lächelnd und zwinkernd verkündet.
Nicht ohne Hintergedanke.
Sie sollten ruhig das Gefühl haben, dass nicht alles sofort wieder gut war, nur weil sie sich entschuldigten. Sie sollten wissen, dass sie etwas bei ihnen gut hatte, dass sie ihr etwas schuldeten.
Und Big John hatte eine Woche später nach einem Basketballspiel bei ihr eingeschlagen und hatte verkündet, dass sie das coolste Mädchen auf diesem Planeten war und sich Ken glücklich schätzen konnte einen solchen Sechser im Lotto zu haben wie sie.
Big John war früher nicht dabei gewesen, wenn man sie quälte. Er war eigentlich ein Freund von Ken, aber mit den Jahren hatten sich die Jungs alle verstanden. Ein paar aus der ehemaligen Clique waren zum Studieren oder Arbeiten in andere Städte gezogen, übrig geblieben waren Ken, Jake, Big John, David, Dan und Thommy.
Nach und nach hatte sie sie in Jakes Abwesenheit alle erobert.
Es war viel Arbeit gewesen, aber als sie am Ende das Ergebnis ihrer Manipulation sah, war sie zufrieden mit sich. Und sie hatte tatsächlich alle ein wenig in ihr Herz geschlossen.
Als sie den Beach-Volleyball-Platz betraten, fing Jake bereits an zu nörgeln. Er beschwerte sich über den Sand, darüber, dass man den nie ganz von den Füßen bekam, wenn man dann wieder in die Sportschuhe schlüpfte. Thommy bot an, man könne auch erst Basketball spielen und dann später zu Volleyball wechseln, doch diesen Vorschlag ignorierte Jake einfach.
Megan konnte ihm regelrecht ansehen, wie sehr er den Sand vermisst hatte. Er ging darüber, als würde er zum ersten Mal Sand sehen, atmete lächelnd durch, als er sich unbeobachtet fühlte. Thommy argumentierte weiter, dass sie jetzt immer die Außendusche der Umkleide benutzten um sich den Sand von den Füßen zu waschen und sie meistens Handtücher mitbrachten um sich damit abzutrocknen. Jake murrte genervt auf.
Man einigte sich darauf, dass man nur eine schnelle Runde spielen und spätestens in zehn Minuten zum Basketballplatz hinüber gehen würde.
Megan spürte geradezu, wie er sich innerlich freute ihr den Tag zu vermiesen. Aber die Freude würde auf ihrer Seite sein, denn diesmal machte sie ihm einen Strich durch die Rechnung.
Sie spielte mit Thommy und Ken in der Mannschaft gegen Jake, Big John und David, während Dan zum Supermarkt lief um zwei Sixpack Bier zu holen. Er würde bestimmt zehn Minuten brauchen, allein für den Hin- und Rückweg.
Es war offensichtlich, dass Jake sich in seiner Einstellung ihr gegenüber nicht so leicht ändern würde. Es fühlte sich schon fast wieder an, als wäre er nie weg gewesen. Aber egal wie schwer es auch war in seiner Nähe zu sein, es war noch schwerer für sie gewesen ihn nicht in ihrer Nähe zu haben.
Wie musste es sich angefühlt haben, ein ganzes Jahr nicht unter seinen Freunden gewesen zu sein, keinen Sand und kein Gras unter den Füßen zu haben, immer auf der Hut, nie wirklich entspannt?
Sie begannen zu spielen und Megan stellte fest, dass sie sich viel zu sehr an die Harmonie und Ruhe gewöhnt hatte, die während seiner Inhaftierung geherrscht hatte.
Jetzt nur nicht sensibel werden, dachte sie bei sich. Bloß keine Schwäche zeigen.
Selbst auf dem Volleyballfeld weigerte er sich den Ball in ihre Richtung zu spielen. Lieber verlor er und versiebte einen Ball, als dass er einen Ball von ihr annahm oder in ihre Richtung zurück spielte.
Nur wenn er die Gelegenheit hatte einen Ball übers Netz zu schmettern, von dem er wusste, dass er wehtun würde, wenn man ihn abbekam und bei dem man keine Chance hatte ihn zurückzuspielen, schlug er ihn mit aller Kraft gegen Megan. Sie war es gewohnt gewesen, Volleyball mit Jake war alles andere als ein Spaß für sie, aber nie im Leben hätte sie das zugegeben, diese Genugtuung gönnte sie ihm nicht. Er sah es weniger als Spiel sondern vielmehr als eine Gelegenheit ihr weh zu tun.
Sie hatte schon ganz andere Blessuren davon getragen, heute traf er sie nur einmal an der Schulter und ein weiteres mal am Rücken, weil sie es rechtzeitig schaffte sich weg zu drehen.
Einmal war sie ohnmächtig geworden, als er sie mit einem seiner Schmetterbälle am Kopf traf, aber das war bereits über drei Jahre her und hatte zur Folge gehabt, dass sie sich noch mehr anstrengte und ihm schneller auswich.
Durch ihn und seine Wut auf sie war sie schneller und wendiger geworden als alle anderen.
Als Dan zwanzig Minuten später mit dem Bier zurückkam, meldete Jake sich wieder zu Wort.
„So, Männer, wird Zeit für einen Wechsel.“ Ohne auf Antworten oder andere Meinungen zu hören, machte er sich auf den Weg hinüber zum Basketballplatz. Und natürlich trotteten ihm alle hinterher. Er hatte noch immer das Sagen. Nicht offiziel zwar, keiner hatte ihn je für den Anführer oder Boss der Gruppe auserwählt, aber er hatte eindeutig das Sagen. Das war schon immer so gewesen und daran hatte auch seine einjährige Abwesenheit nichts geändert. Daran würde sich wohl nie etwas ändern.
Thommy rannte sofort um den Volleyball gegen den Basketball einzutauschen. Megan schlenderte den anderen hinterher.
Früher hatte sie ihnen beim Spielen zugesehen oder war einige Runden auf der Tartanbahn gelaufen, wenn ihr zu langweilig wurde. Jake rechnete bestimmt damit, dass sie sich neben dem Basketballplatz ins Gras niederlassen würde und ihnen zusah. Wahrscheinlich freute es ihn heute umso mehr, denn Lauren war nicht dabei und somit niemand mit dem sich Megan in der Zwischenzeit beschäftigen könnte. Er nahm an, sie würde die nächsten Stunden allein da sitzen und zusehen. Falsch gedacht, sie lächelte unbewusst vor sich hin.
„Wer mit wem?“ fragte Ken.
„Megan und David sind bei mir im Team!“ verkündete Big John augenblicklich.
Jake sah auf. „Die spielt mit?“ Megan konnte seine Maske regelrecht fallen sehen.
Kurz herrschte betretenes Schweigen. Sie musste sich zwingen nicht zu grinsen.
Ken sah seinen Bruder ermahnend an. „Dann stehen die Teams ja fest.“
„Blödsinn, wir sind zu siebt.“ Protestierte Jake.
„Ach ja, Thommy macht meistens eh den Schiedsrichter.“ Erklärte David ihm.
„Sie wurde für Thommy eingetauscht?“
„Ist okay!“ rief Thommy ihm zu. „Basketball ist nicht mehr so mein Ding, ich bewerte euch lieber!“ er lachte, aber Jakes Blick blieb verständnislos oder besser gesagt völlig entsetzt.
Es ging los, drei gegen drei.
Es war heiß, die Nachmittagssonne brannte vom Himmel herunter und flirrte geradezu, sie mussten immer wieder eine kurze Trinkpause einlegen um nicht zu sehr auszutrocknen.
Jake spielte erbarmungslos harte Bälle, steckte seine ganze Wut auf diese Situation in dieses Spiel. Zwei mal stieß er sie absichtlich grob zur Seite, sodass sie fast fiel und wusste, sie würde am nächsten Tag einen Bluterguss am Arm und an der Hüfte haben, doch sie sagte nichts, Thommy gab sein Bestes als Schiedsrichter und bestrafte Jake dafür.
Als bereits alle aufgegeben hatten, spielte sie immer noch gegen ihn. Es war ein Kräftemessen, bei dem es um alles ging.
Sie war kleiner als alle anderen, aber dafür wendiger und unglaublich schnell. Die Jungs hatten es ihr im letzten Jahr beigebracht, weil es hin und wieder vorkam, dass einer von ihnen nicht mitkommen konnte. Zusätzlich war sie manchmal nächtelang hintereinander allein hierher gekommen, um allein Körbe zu werfen und zu trainieren. Sie hatte niemandem etwas gesagt, die Jungs dachten, sie hätte ein paar Extrastunden mit Tanzen verbracht, wenn sie verschwitzt nach hause kam.
Am Ende war sie so gut gewesen, dass man sie oft gegen Thommy eingewechselt hatte, dem das allerdings nichts ausmachte, er war von Grund aus faul.
„Der letzte Korb entscheidet!“ rief David eine halbe Stunde später, weil alle genug hatten und heim wollten.
„Entscheidet was?“ fragte Megan. Sie wusste wie Jake darauf reagierte und wartete nur auf die Frage, die prompt folgte. In mancherlei Hinsicht war er so berechenbar.
„Oh, du willst einen Einsatz?“ fragte Jake aufgebracht und ein bisschen außer Atem, allerdings eher aus Wut, denn sie wusste von seiner hervorragenden Ausdauer und diese hatte er auch im Gefängnis eindeutig nicht verloren. Sein Körper war immer noch schlank, sah aus wie gemeiselt. Sie konnte den Blick kaum von seinen Bauchmuskeln abwenden, seit er sich sein Shirt ausgezogen hatte.
„Ja. Will ich. Wie wäre es damit: wenn du verlierst, renovierst du unser Haus.“ Sagte sie mutig und dribbelte mit dem Ball vor ihm herum. „Schließlich wohnst du ja auch dort, dann tu auch was dafür.“ Fügte sie hinzu. Sie sah ihm direkt in die Augen, fest und mutig. Nicht nur um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, sondern auch um seinen nächsten Schritt vorherzusehen. Und wie sie es vermutet hatte: Er blockte sie.
Schnell drehte sie sich zur anderen Seite.
Der Moment, in dem er sie mit seinem nackten Oberkörper berührte und versuchte um sie herum zu greifen, verlor sie fast die Fassung. Er hinterließ einen leichten Schweißfilm an ihrem Arm und sein männlicher Duft hing leicht in der Luft. Nicht ablenken lassen, schalt sie sich selbst.
Er lachte säuerlich auf. „Und wenn ich gewinne?“
„Wirst du nicht.“ Sie täuschte nach rechts an, warf den Ball aber links über seine Schulter, alle hielten die Luft an. Die Ketten des Korbes rasselten als der Ball in den Korb ging.
„Du verdammtes…“ er verkniff sich das letzte Wort, doch er war so wütend, dass der nächste Ball daneben ging, weil er mit viel zu viel Druck geworfen hatte.
Megan riss die Arme in die Luft und grinste.
6
Dienstag, 04. Juli 2000
Unabhängigkeitstag
Megan 13, Ken 20, Jake 17
Zum vierten Juli wurde Megan von den Daniels eingeladen. Kennys Eltern hatten die Beziehung ihres Sohnes von Anfang an mit gemischten Gefühlen betrachtet.
Megan war zu jung für ihn, Megan war doch noch ein Kind und Megan lebte im Trailerpark, sie war sozusagen eine Zigeunerin… Kenny hatte sich so vieles anhören müssen.
„Es ist ja nicht so, dass wir sie nicht mögen, sie ist bestimmt ein liebes Mädchen, aber…“
„Wollt ihr, dass ich glücklich bin?“ hatte Ken am gestrigen Abend gefragt.
„Natürlich, du bist unser Sohn!“
„Dann ladet sie morgen zum Essen ein und gebt ihr eine wirkliche Chance. Vergesst mal wie alt sie ist oder wo sie herkommt. Lernt sie selbst kennen.“
Nun saßen sie also am Tisch, der patriotisch gedeckt war, mit einer amerikanischen Flagge als Tischdecke und amerikanischen Servietten. So etwas war typisch für die Daniels. Jake fehlte am Tisch, er machte sich oben in seinem Zimmer fertig um mit Freunden auszugehen, um den Unabhängigkeitstag auf seine Weise zu feiern.
Bereits nach kürzester Zeit unterhielten sich Dario und Megan so angeregt über die Entstehung des heutigen Feiertages und die amerikanische Geschichte im Vergleich zur Europäischen. Dario war ein Einzelgänger, brauchte außer seiner Frau nie viele Leute um sich und sprach auch üblicherweise nicht viel. Er war ein gebildeter Mann, der der Meinung war, man müsse den Mund halten, wenn man nichts Kluges zu sagen hatte.
Von Megan war er beeindruckt.
Er stellte sie zwei oder dreimal auf die Probe, was Jahreszahlen anging oder verdrehte die Namen der Präsidenten, die an manchen Zuständen schuld waren, aber Megan merkte es und warf höflich ein „War das nicht Nixon?“ ohne dabei besserwisserisch zu wirken, so als wäre sie sich selbst nicht sicher und wolle nur nachhaken.
„Wie kann man mit dreizehn so viel geschichtliches Wissen haben?“ fragte er seine Frau, als er mit ihr den Hauptgang aus der Küche holte.
„Kenny hat erzählt, dass sie viel liest. Sie verbringt den ganzen Sommer in der Stadtbücherei.“
„Es ist unglaublich. Ich habe sie völlig unterschätzt.“
Kenny und Megan hörten das leise Gespräch seiner Eltern vom Esszimmer aus mit an und lächelten.
„Und das schon nach der Vorspeise…“ flüsterte Kenny ihr zu und strich ihr zärtlich über die Wange. An diesem Abend war er so stolz auf sie gewesen.
Beim Hauptgang fragten sie Megan nach ihren Interessen, Kenny hatte seiner Mutter erzählt, dass Megan Ballettunterricht nahm, nun wollte sie wissen, wie weit Megan war, ob es ihr noch Spaß machte.
„Ich liebe es.“ antwortete Megan. „Ich kann dabei richtig abschalten. Irgendwann hätte ich gerne ein Haus mit einem kleinen Tanzstudio im Keller, wo ich ganz für mich alleine tanzen kann. Die üblichen Träume einer Dreizehnjährigen.“ Sie lachte, hörte sich dabei ganz und gar nicht an wie dreizehn, sondern viel erwachsener.
Jake eilte durch den Flur, am Esszimmer vorbei und verabschiedete sich von seinen Eltern. Megan warf er einen Blick zu, als wolle er sie erwürgen.
„Benimm dich, Junge! Dann findest du vielleicht eines Tages auch so eine Freundin wie dein Bruder.“
„Ein Grund mich völlig daneben zu benehmen.“ Nuschelte Jake und zog die Türe hinter sich zu.
Megan verzog die Mundwinkel, es war ihr unangenehm vor Kennys Eltern, obwohl sie die Situation mit Jake kannten. Sie wussten nicht alles was er ihr angetan hatte, aber einiges. Megan fühlte sich unbehaglich deswegen. Wenn jemand eine andere Person so sehr hasste, musste es dafür ja einen Grund geben und nun hatte sie das Gefühl, sie müsste den Daniels umso mehr beweisen, dass es eigentlich gar keinen Grund gab für Jake’s Groll auf sie, nicht dass sie wüsste.
„Ignorier ihn einfach.“ Sagte Patty. „Du willst also mal in einem Haus wohnen? Keinen Wohnwagen mehr?“ Sie sah sie interessiert an, erhielt einen ermahnenden Blick von Kenny.
„Es ist ganz nett eine Weile so zu leben, aber es ist nicht das, was ich mir für meine Zukunft wünsche. Meine Mutter liebt den Wohnwagen und dieses Leben im Trailerpark. Aber ich freue mich schon darauf irgendwann etwas mehr Platz zu haben.“ Sie sah an den Reaktionen, dass sie eine befriedigende Antwort gegeben hatte.
Nach diesem Abend wurde sie bei den Daniels mit offenen Armen empfangen. Sie hatte deren Vorurteile erfolgreich widerlegt, war seither immer willkommen.
Und Kenny war glücklich, dass er sie nicht länger verteidigen musste. Megan hatte seine Eltern in sekundenschnelle um den Finger gewickelt und wurde ab sofort wie eine eigene Tochter von ihnen behandelt. Sie hatte es so leicht mit anderen Menschen, warum schaffte sie das nicht bei Jake?
„Behandle sie gut.“ Hatte sein Vater Kenny nach diesem Abend geraten. „So eine findest du nicht noch einmal.“
7
Samstag, 29.Mai 2010
Veränderungen
Megan 23, Ken 30, Jake 27
„Liebling, wo bleibst du?“
„Fünf Minuten, verdammt!“ rief sie nach unten.
Ken erhielt einen genervten Blick von seinem Bruder. „Liebling? Wirklich?“ Er schnaubte verächtlich. „Was ist noch alles passiert, als ich weg war?“
Ken lachte, nahm einen Zug von seiner Zigarette und lachte erneut auf, weil ihm klar wurde, wie sehr sich alles verändert hatte in nur einem Jahr und wie all das auf Jake wirken musste.
„Hat sie jetzt das Sagen hier? Küsst ihr ihr auch alle schön artig den Arsch?“
„Hätte nichts dagegen.“ Murmelte David und bekam einen angwiderten Blick von Jake zugeworfen.
Etwa zehn Minuten später kam Megan die Treppe hinunter gestöckelt. Drei Augenpaare sahen ihr entgegen. Zwei Gesichter wechselten von Ungeduld zu Erstaunen, Jakes eher von Genervtheit zu Desinteresse.
„Wow.“ Sagten David und Ken gleichzeitig.
„Können wir endlich?“ fragte Jake.
Thommy kam später, er würde in der Scheune zu ihnen stoßen. Sie achteten stets darauf, dass sie in einer großen Gruppe ankamen, bei diesen Abenden wusste man nie, wem man über den Weg lief und meistens waren die Erinnerungen an den Scheunenabend vor einem Monat so verschwommen, dass man auch nicht mehr genau wusste, wen man gegen sich aufgebracht hatte und warum. Aber Thommy wollte ein paar Minuten nach ihnen eintreffen und er war eher klein und unauffällig, nicht so stadtbekannt wie Jake, Ken, Dan und Big John. Und auch Lauren würde später dazu stoßen. Alle wussten zwar, dass sie Megans Freundin war, aber niemand brachte sie mit den Jungs in Verbindung, so hatte auch sie nichts zu befürchten.
Die anderen Jungs warteten in ihren Autos vor Megans Haus. Big John und Dan hatten ebenfalls ihre Mädchen dabei. Doreen und Tini. Sie alle sahen in etwa genau so drein wie Ken und David zuvor im Haus, als sie Megan erblickten.
Nicht, dass sie sonst nicht hübsch war. Wenn sie ausgingen takelte sie sich immer auf und sie sahen sie immer so an, weil sie sich jedes Mal die Mühe machte anders auszusehen und jedes Mal sah sie so heiß aus, als wäre sie direkt von der Victorias-Secret-Bühne gehüpft – viel mehr hatte sie meist auch nicht an.
Heute trug sie ein knappes, weißes Top ohne Träger, das sich wie ein breites Band nur um ihre Brust schlang, es zeigte ihren schlanken Bauch und ihr Dekolleté, der kurze Jeans-Minirock – ebenfalls in weiß – zwang einen geradezu einen Blick auf ihre schlanken, gebräunten Beine zu werfen, die in hellbraunen, mattledernen Cowboy-Stiefeln steckten.
Die dunkelbraunen Haare hatte sie leicht toupiert, trug sie diesmal offen.
Sie war eher ein natürlicher Typ, was den Alltag anging, sportlich, lässig, das Haar meist zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und oft trug sie Jeans und T-Shirt oder Leggins und ein Cowboyhemd.
Sie sah immer gepflegt und eher süß aus, aber einmal im Monat, wenn nach den Rodeos die Country-Abende stattfanden, da hatte sie einfach das Bedürfnis sich besonders hübsch zu machen.
Sie stiegen in Kennys Wagen, Jake wollte fahren und obwohl er vor zwei Jahren den Führerschein abgenommen bekommen hatte, rutschte Ken wortlos zu Megan auf die Rückbank.
Megan verkniff es sich etwas zu sagen, auch wenn Kens Verhalten sie wütend machte.
Er arbeitete schließlich selbst bei der Polizei, wenn sie von einem seiner Arbeitskollegen erwischt wurden, mit denen er sich gut verstand, würde es kein Problem geben, sie hielten zusammen, aber wenn er an den Falschen geriet, hatte er seinen Job los und er wusste genau, dass sie nicht beide von Megans Gehalt leben konnten.
„Muss das sein, dass du dich so anziehst? Du siehst aus wie eine Nutte.“ Schimpfte Ken.
Sie antwortete nicht, sah aus dem Fenster hinaus auf die Felder.
Seine Worte sollten sie verletzen, doch seine Blicke sagten etwas anderes aus, er konnte die Augen kaum von ihren Beinen und ihren Brüsten abwenden, es gefiel ihm eindeutig. Es war nur die Eifersucht, die aus ihm sprach.
Und obwohl er sie beleidigt hatte, ging sie nicht darauf ein, denn diese Momente, in denen er auch nur einen Hauch Interesse an ihr zeigte, waren so selten, dass es ihr fast den Atem raubte vor Freude, wenn er so etwas wie Eifersucht zeigte erst recht.
Sie traf Jakes Blick im Rückspiegel. Jake, der sie genau durchschaute, der ihr ansah, dass die Worte seines Bruders ihr ein Hochgefühl bescherten. Sein stechender Blick brannte ihr auf der Haut, trieb ihr die Röte ins Gesicht. Und sie konnte ihn nicht deuten. Sie konnte nicht sagen, ob es Hass war und Missachtung oder Spott oder einfach nur Verachtung, sonst sprach so vieles aus seinem Blick, aber heute war er einfach nur leer. Es war anzunehmen, dass er sie genau deshalb so ansah, damit sie sich Gedanken machte, was er dachte, damit sie unsicher wurde. Und er schaffte es. Jedes verdammte Mal.
Für den Rest der Fahrt sah sie grübelnd aus dem Fenster, zwang sich die dunklen Felder anzusehen, die Radwege, die alle paar Sekunden von einer Straßenlaterne beleuchtet wurden. Nur nicht nach vorne sehen, nur nicht seinem Blick im Rückspiegel begegnen und ihn noch mehr gegen sich aufbringen. Man wusste nie, wie reizbar er gerade war.
Sie hatte diese monatlichen Abende immer geliebt. Aus allen Dörfern der Umgebung kamen die Bewohner zu Hinley's Ranch angefahren, Jung und Alt. Und es gab nicht einen Einzigen, der über die Musik meckerte, auch wenn keiner der Jugendlichen zuhause Country hörte. Sie alle liebten es sich dort zu treffen, zu trinken, zu tanzen, den Holzboden der riesigen Scheune zum Beben zu bringen. Die Frauen holten ihre schönsten Kleider heraus, die Männer zogen sich ihre Cowboyhüte auf, trugen Westernhemden und Ledergürtel mit breiten Schnallen, enge Jeans und Cowboystiefel.
Und meistens gab es eine kleine Sensation für die Dorfzeitung, die am nächsten Tag darüber berichtete. Meistens waren es nur Schlägereien, die aufgebauscht und verschlimmert wurden, einmal war an diesem Abend ein Baby geboren worden und da der Krankenwagen zu lange gebraucht hatte, brachte die Frau es mithilfe des anwesenden Arztes in einer Ecke der Scheune zur Welt. Einmal hatte es eine Vergewaltigung gegeben. Ständig gab es Schlägereien. Und einmal, als sie an einem der Country Abende gefeiert hatten, waren Megan und ihre Jungs selbst Auslöser für einen Artikel der sensationsgeilen Dorfjournalisten geworden. An Kennys 29.Geburtstag. Aber das war ein anderes Thema.
Als sie die beiden Autos in den Feldweg lenkten, hörten sie bereits die Musik, das Johlen der Feierwütigen und sahen die Lichterketten, die über dem Eingang der Scheune hingen um den Weg zu weisen. Megan selbst hatte sich am Nachmittag darum gekümmert, dass die Rancharbeiter sie richtig aufhängten.
Es roch frisch gemäht und zugleich ein wenig nach Dung. Sie fühlte sich an ihre Arbeit erinnert, jeden Morgen roch es so, diese Ranch war ihr Arbeitsplatz und war jahrelang auch Jakes Arbeitsplatz gewesen, bevor er ins Gefängnis musste.
Sie sah ihm an, dass er sich daran erinnert fühlte, dass er die Arbeit vermisste. Es war etwas, das sie beide verbunden hatte, auch wenn Jake das bestimmt anders sah, aber Megan hatte sich jeden Tag gefreut von Hank und Charlie abgeholt zu werden und mit ihnen und Jake zur Arbeit zu fahren, auch wenn er nie ein Wort mit ihr sprach.
Sie stiegen aus, sechs Jungs, die ihre Cowboyhüte aufsetzten und drei Mädchen, die ihre Röcke zurecht zogen.
„Oh mein Gott! Jake ist wieder raus!“ Von weitem hörten sie eine hohe Frauenstimme kreischen. Megan verdrehte innerlich die Augen, Tini und Doreen stöhnten neben ihr ebenfalls genervt auf, als drei aus dem Nachbardorf auf ihn zu gerannt kamen und sich ihm an den Hals warfen.
„Langsam“ lachte er. „Ist genug für euch alle da.“
Sie wünschte sich, er würde ein einziges Mal so mit ihr reden, sie nur ein einziges Mal so ansehen, mit einem Lächeln. Sie wünschte sich, sie könnte eine von denen sein, die ihn berühren durften, die von ihm einen Kuss bekamen. Eine von denen, die ihn so umarmen durften.
Es drehte ihr den Magen um, das mit ansehen zu müssen.
In der Scheune angekommen, begrüßte sie Jimmy an der Bar, nahm sich ein Tablett und begann bereits ausgetrunkene Gläser von den umher stehenden Tischen einzusammeln und neue Bestellungen anzunehmen.
Man kannte sich hier und begrüßte sie freudig – an den meisten Tischen. Wie immer gab es auch Tische, an denen Jugendliche von Nachbardörfern saßen, mit denen man bereits Spannungen oder gar Schlägereien geteilt hatte und die wussten, dass sie zu den Jungs aus diesem Dorf gehörte.
Seit einigen Jahren half sie hier aus. Meist die Schicht von neun bis Mitternacht, weil es da noch am angenehmsten war zu bedienen. Danach wurde es oft unschön, was betrunkene Zwischenfälle betraf.
Es waren fast immer dieselben Männer, die sie nach ein paar Bier in den Arm nahmen, ihr zu nah kamen, nicht locker lassen wollten und auch nach deutlichen Worten ihrerseits nicht aufhörten ihr nachzustellen.
Sie wurde gut damit fertig, aber sie war froh, dass ihre Schicht vor Mitternacht beendet war und sie dann bei den Jungs sitzen konnte, wo sich kaum einer mehr hin traute. Es störte sie nur, dass Ken sich einen Dreck dafür interessierte, ob sie angemacht wurde oder nicht. Manche, Dan zum Beispiel, drehten schon hohl, wenn ihre Freundinnen nur angeschaut wurden.
Megan hatte es schon oft auf die Spitze getrieben, aber selbst wenn sie eng mit einem anderen auf ein langsames Lied tanzte, sich nicht daran störte, dass er seine Hände zu tief platzierte und über seine Witze lachte, rührte Ken sich nicht von der Stelle. Er war sich ihrer entweder zu sicher oder sie war ihm egal. Wahrscheinlich beides.
Sie befüllte Biergläser am Zapfhahn hinter der langen Holztheke und verteilte sie im Raum. Nicht selten bekam sie einen Klaps auf den Hintern oder eine anzügliche Bemerkung mit auf den Rückweg.
Sie arbeitete gerne hier, es zeigte ihr deutlich, dass es Männer gab, die sie anziehend und attraktiv fanden, außerdem waren es nur drei Stunden Arbeit und ihre Jungs konnte sie kostenlos bedienen. Zwischendurch war es ihr sogar erlaubt zu tanzen, Hinsley hatte ihr hier nicht wirklich Regeln gesetzt. Sie bekam schließlich nur 10 Dollar die Stunde an den Country Abenden, aber dafür fiel das Trinkgeld üppig aus.
Lauren setzte sich meist an die Theke und unterhielt Megan während diese Bier zapfte. Meist hatte sie nach wenigen Minuten jemanden neben sich sitzen, denn die Leute in den Dörfern hier liebten Lauren. Megan war froh darüber, denn so hatte sie kein schlechtes Gewissen, wenn sie Lauren mal länger allein sitzen lassen musste oder wenn sie wegen Ken die Scheune früher verließ als sonst und Lauren sitzen ließ.
Sie lebte immernoch in der Wohnwagensiedlung aus der auch Megan stammte, oft konnte sie es kaum erwarten Neuigkeiten von Lauren über ihre ehemaligen Nachbarn zu erfahren. Hin und wieder vermisste sie den Trailerpark und das bunte Leben dort.
Den Jungs stellte Megan immer eine komplette Runde auf den Tisch, da sie wusste, dass Jake niemals mit ihr geredet hätte – nicht einmal um eine Bestellung bei ihr aufzugeben. Eher hätte er sein Bier selbst bezahlt, er war viel zu stolz, um ein kostenloses Bier persönlich von ihr anzunehmen.
Der Abend verlief fast wie immer. Ken betrank sich bis zur Besinnungslosigkeit, Jake wurde umschwärmt, sodass er kaum noch Luft bekam und die anderen Jungs tanzten auf der Tanzfläche.
„Warum sind eure Eltern nicht hier?“ fragte sie Ken als sie die nächste Runde Bier brachte.
„Dreimal darfst du raten.“ Antwortete er mit einem Seitenblick auf Jake.
Das war alles, was sie an diesem Abend miteinander sprachen.
Sie war eine gute Tänzerin, nicht nur was ihr Balletttraining anging, doch da Ken nicht gerne tanzte und sie ungern Aufforderungen von schwitzenden und betrunkenen Männern annehmen wollte, blieb sie nach ihrer Schicht meist neben ihm sitzen und sah ihm dabei zu wie ihm von Minute zu Minute mehr die Gesichtszüge entglitten.
Doch heute war es bereits kurz nach Mitternacht soweit, als sie gerade ihre Schicht beendet hatte. Sein Kopf lag auf dem Tisch, er war nicht einmal mehr ansprechbar.
„Ich werde ihn heimbringen.“ Sagte sie mit einem Lächeln in die Runde. Sie versuchte es zu verbergen, aber an den teils mitleidigen Blicken der anderen Jungs merkte sie, dass ihr jeder ansehen konnte, dass sie gerne einen einzigen Abend mit ihm verbracht hätte, an dem er mit ihr tanzte und sich nicht besinnungslos soff.
Jake war gerade von einem Tanz an den Tisch zurückgekommen und hatte sich vor sein Bier gesetzt. Als Megan aufstand und sich verabschiedete, stand auch er auf und versuchte Ken wach zu bekommen. Er stellte ihn auf die Füße und stützte ihn, während sie die Scheune verließen, Megan ging langsam hinterher und beobachtete die Brüder.
Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Ken einmal so mit ihr umspringen würde, dass sie ihm so egal wurde, dass sein kleiner Bruder vernünftiger war als er – zumindest an diesem Abend.
Erst als sie draußen über den Parkplatz liefen, fiel ihr auf, dass sie vergessen hatte Lauren bescheid zu sagen, dass sie früher nachhause ging. Sie rang mit sich noch einmal zurück zu laufen und sich zu verabschieden. Schließlich hatte Lauren sich in den letzten Wochen geduldig Megans Gejammere darüber angehört, was sie alles befürchtete, wenn Jake wieder nachhause käme.
Doch wenn sie nun nach drinnen ginge, würden die Brüder hier draußen vielleicht noch Ärger mit anderen Kerlen anfangen und heute Nacht hatte sie dafür einfach keine Energie mehr übrig. Sie hatte keine Energie mehr für Streits, aber hier geblieben wäre sie trotzdem gerne noch. Natürlich schmerzte es sie, wenn sie sah, dass Jake eine andere küsste oder wenn er mit anderen tanzte, aber nicht zu sehen wen er küsste und nicht zu sehen mit wem er tanzte war noch viel schlimmer. Dann lag sie den Rest der Nacht wach und fragte sich, wer diesmal wohl die Glückliche war und ob er mit ihr nachhause ging. Oft lauschte sie für den Rest der Nacht, wann die Haustüre ins Schloss fiel und ob es Jakes Schritte waren oder die von einem der anderen Jungs, die sich ihren Weg zur Couch bahnten um dort zu übernachten. Das war schon seit Jahren so und das würde wohl noch einige Jahre so bleiben.
Der Wind wehte ihr warm ins Gesicht, es war eine bewölkte Nacht, der Mond stand jedoch rund und hell am Himmel, so groß, dass man die Krater deutlich erkennen konnte. Auf dem Parkplatz war es oft viel zu dunkel, aber heute spendete der Mond genug Licht, sodass man ohne umherzustolpern den Weg zu seinem Auto finden konnte.
Beim Auto angekommen, setzte Jake seinen Bruder auf der Rückbank ab, warf die Türe hinter ihm zu und öffnete die Türe der Fahrerseite, um sich ans Lenkrad zu setzen. Megan war sofort zur Stelle, entwendete ihm geschickt den Autoschlüssel. „Du fährst ganz bestimmt nicht mehr heute Nacht.“ Sagte sie bestimmt.
Sie erwartete Widerworte, dass sie beschimpft und bedroht oder dass er gar handgreiflich wurde, bis er den Schlüssel wieder bekam. Er hielt einen Moment inne, sie sah an ihm vorbei, weil sie es nicht einmal mehr versuchen wollte, seinem Blick stand zu halten. Nicht mehr heute Abend. Sie war zu müde und zu fertig.
Doch zu ihrer Verwunderung ging er um das Auto herum und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er schon mit nachhause kam. Meist war er an Country-Abenden mit einem der Mädchen aus dem Nachbardorf nachhause verschwunden.
Es machte sie nervös, dass er neben ihr saß. So nervös, dass sie den Wagen sofort abwürgte, kaum dass sie ihn gestartet hatte. Der Wagen machte einen kleinen Hüpfer, stotterte und ging aus.
„Bist du sicher, dass…“
„Ja.“ Fauchte sie. Es störte sie, dass er sich über sie lustig machte, aber die Tatsache, dass er sie direkt ansprach, mit ihr redete, ließ ihr Herz rasen.
Sie parkte aus und fuhr den Feldweg zurück, den sie gekommen waren, langsam, da sich eine Wolke vor den Mond geschoben hatte und den Feldweg verdunkelte.
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, starrten in die schwarze Nacht hinaus.
Sie kam aus der Dusche, frisch geduscht, hatte sich den Schweißfilm von der Haut gewaschen, den Staub aus dem Haar und fühlte sich wieder frisch, wenn auch erschöpft.
Es kostete mehr an Kraft immer gut vor ihm auszusehen, als sie sich erinnerte.
Ein Jahr lang hatte sie Schonzeit gehabt, war manchmal tagelang ungeschminkt umher gelaufen, doch nun, da Jake zurück war, wollte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit gut aussehen, selbst wenn er nur eine Sekunde herüber blickte. Sie betrachtete zufrieden ihr Spiegelbild, kämmte sich die Haare zurück und cremte sich ein.
Sie wickelte ihr Handtuch enger um sich, betrat leise das Schlafzimmer. Sie hatte nur noch mitbekommen, wie Ken von seinem Bruder auf die Couch im Wohnzimmer geworfen wurde, dann war sie ins Bad verschwunden.
Jetzt lag Jake auf ihrem Bett. Ken war höchstwahrscheinlich ohnmächtig oder kurz davor und würde das auch bis zum nächsten Nachmittag bleiben, wie sie ihn kannte.
Jake lag auf Megans Seite des Bettes. Er hatte sich wohl noch einen Film ansehen wollen – ihr Schlafzimmer war der einzige Ort im Haus, wo ein DVD-Gerät stand – und war dabei eingeschlafen. Es war ein Film über eine Rockband, den sie schon mehrere Male gemeinsam gesehen hatten, aber sie konnte sich nicht an den Titel des Filmes erinnern. Sie liebte den Soundtrack und sie wusste, dass auch Jake auf die Musik stand. Einen der Songs hatte er schon einige Male auf der Gitarre gesungen. Seine Version davon gefiel ihr besser, sie war sanfter, obwohl Jake härter erschien als der Sänger im Film.
Ein Teil seiner Kleidung lag auf dem Boden verstreut, sein Cowboyhut, die Boots, das Hemd. Nur die Jeans hatte er noch an und es verärgerte Megan, dass er keine Rücksicht darauf nahm, dass die Jeans einen staubigen Abend in der Scheune hinter sich hatte. Er war einfach damit unter die Bettdecke geschlüpft.
Megan stellte den Fernseher etwas leiser, zog sich leise ihr Top und ihre Hotpants an und hoffte, dass Jake nicht ausgerechnet in dem Moment die Augen öffnete, in dem sie nackt im Zimmer stand und nach ihrem Top suchte, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass die Brüder in diesem Zustand nicht einmal mehr von einem Salutschuss erwachen würden.
Sie löschte das Licht, der flackernde Bildschirm des Fernsehers wies ihr den Weg zum Bett.
Einen Moment blieb sie stehen, betrachtete Jakes nackten Oberkörper. Seine gebräunte Haut glänzte leicht im Halbdunkel.
Nachdenklich sah sie auf Kens leere Seite des Bettes. Sollte sie wirklich hier neben Jake schlafen? Sie schüttelte den Kopf, ging zur Türe, fest entschlossen die Nacht auf der zweiten Couch im Wohnzimmer zu verbringen. Doch mit der Hand auf der Türklinke blieb sie stehen.
Nachdem sie Jake einen weiteren Moment beobachtet hatte, machte sie kehrt und beschloss, dass sie doch in ihrem Bett schlafen würde. Zum Teufel mit Jake! Wenn es ihn störte, sollte er nach unten gehen und die Nacht auf der Couch verbringen.
So geräuschlos wie möglich legte sie sich auf Kens Seite des Bettes. Sie wagte es kaum zu atmen.
Jake beanspruchte nicht nur Megans Decke, er lag auch auf der Hälfte von Kens.
Megan versuchte Kens Bettdecke über sich zu ziehen, doch sie konnte nicht einmal einen Zentimeter davon zu sich herüberziehen.
Sie gab auf, starrte Jakes Rücken an, widerstand der Versuchung über seinen gebräunten Rücken zu streichen, sich an ihn zu schmiegen…
Einen Moment blieb sie so liegen, überlegte sich, wie Jake reagieren würde, wenn er morgen früh neben ihr aufwachte.
Ob es nicht doch besser war eine Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer zu verbringen?
Nein, ganz bestimmt nicht. Das war ihr Bett und sie würde ihm eher einen Tritt verpassen, damit sie genug Platz hatte, als klein bei zu geben.
Gerade als sie daran dachte noch einmal aufzustehen und sich eine dritte Decke ins Bett zu holen, drehte er sich auf den Rücken und gab somit Kens Bettdecke frei.
Sie zog sie über sich und legte sich so vorsichtig mit angewinkelten Armen darunter, dass sie Jake dennoch nicht berührte. Er lag fast über das ganze Bett ausgestreckt. Ihr Herz klopfte wild, aus Angst er könnte aufwachen und sie dabei erwischen, wie sie näher an ihn heran rutschte.
Selbst nach einer halben Ewigkeit konnte sie nicht einschlafen. Es war nach drei Uhr nachts, als sie das nächste Mal auf den Wecker sah.
Jake atmete leise, regelmäßig. Sie versuchte sich auf sein beruhigendes Atmen zu konzentrieren und hoffte, dass der Film bald zu Ende war.
8
Samstag, 29.Mai 2010
Die verhängnisvolle Nacht
Megan 23, Ken 30, Jake 27
Jake konnte nicht schlafen. Er tat so als ob, atmete so gleichmäßig wie möglich, bewegte sich nicht, aber es war unmöglich in dieser Situation, mit diesen Gedanken die nicht aus seinem Kopf verschwinden wollten, einzuschlafen.
Er hatte sie den ganzen Abend über beobachtet, wie sie mit ihrem kurzen weißen Jeansrock durch die Scheune wirbelte, die Leute bediente, hatte seinen Blick kaum von ihrer schlanken Taille und ihren nackten Beinen abwenden können. Er hatte versucht soviel Abscheu und Genervtheit wie möglich zu zeigen, wenn er sie ansah, damit niemandem etwas auffiel.
Ken war sofort unter den Bewusstlosen geweilt, wie so oft in den letzten Jahren, hatte seinen Kopf nur hin und wieder angehoben um einen Whiskey hinunter zu kippen oder an seinem abgestandenen Bier zu nippen.
Jake hatte Megans Enttäuschung darüber deutlich gesehen. Es war kein Geheimnis wie sehr sie sich wünschte nur einmal von ihm aufgefordert zu werden, stattdessen soff er sich regelmäßig in Grund und Boden. Jake verstand seinen Bruder einfach nicht. Er konnte sie haben, er war mit ihr zusammen, sie liebte ihn und was tat er dafür? Eigentlich tat er nur etwas dagegen…
Als sie kurz nach Mitternacht ihre Schicht beendete und auf den Tisch der Jungs zu schlenderte, wünschte er sich einmal mehr, er hätte einen anderen Start mit ihr gehabt und könnte sie nun ohne weiteres zum Tanzen auffordern. Doch nach allem was passiert war…nach allem was er gesagt und getan hatte und in welchem Verhältnis sie zu ihm stand… Nach all dem konnte er sich vor ihr und den anderen nicht die Blöße geben.
Außerdem…sie gehörte zu seinem Bruder und wenn er auch nur einen Moment der Schwäche zeigte, konnte er für nichts mehr garantieren.
„Ich werde ihn heimbringen.“ Sagte sie mit einem Lächeln zu allen am Tisch, als wolle sie sich damit verabschieden.
Sie erhielt geknickte, fast mitleidige Blicke von den anderen Jungs und deren Freundinnen. Dans Freundin Tini hatte ebenfalls mit Megan an der Bar gearbeitet und Dan hatte nur darauf gewartet, bis sie endlich frei war. Er zog sie lachend auf die Tanzfläche. Megan sah ihnen nach, ihr Lächeln voll Sehnsucht und Traurigkeit.
Sie hatte ihn fast erschrocken angesehen, als er ebenfalls aufgestanden war um seinen Bruder ins Auto zu bringen und war noch verwunderter gewesen, als sie registrierte, dass er ebenfalls mit nachhause wollte.
Er überlegte etwas zu sagen wie „Nur weil du früher gehen willst, muss ich jetzt auch nachhause. Du kannst ihn schließlich unmöglich allein ins Haus tragen.“ Doch er ließ es sein. Genug für heute.
Er wusste, dass sie Ken auch zuvor schon einige Male einfach hatte im Auto sitzen lassen, bis er morgens wieder einigermaßen ausgenüchtert war und von selbst aufstehen konnte.
Er musste sich auf die Lippe beißen um nicht laut loszulachen, als sie den Wagen abwürgte und sie ihn wütend anfauchte, als er ihr anbieten wollte, dass doch lieber er fahren sollte.
Genauso wie er vor einer halben Stunde die Lippen zusammenpressen musste um nicht loszuprusten, als sie im Schlafzimmer erst halbnackt nach ihrem Top gesucht hatte und sich anschließend nicht entscheiden konnte, ob sie sich neben ihn legen oder lieber unten auf der Couch schlafen sollte. Sie hatteihn längst schlafend geglaubt. Schließlich hatte sie nachgegeben und versucht so geräuschlos wie möglich ins Bett zu schlüpfen. Er hatte sich nach einer Weile zu ihr gedreht und so einen Teil der Decke frei gegeben, damit sie nicht auf die Idee kam aufzustehen und sich einen anderen Schlafplatz zu suchen.
Er mochte es, sie in seiner Nähe zu haben.
Mittlerweile hatte er sich wieder gedreht und lag mit dem Rücken zu ihr. Sie war endlich eingeschlafen.
Doch er war hellwach. Es beschäftigte ihn so vieles. Es hatte sich so viel verändert seit er sie zum letzten Mal vor einem Jahr gesehen hatte – und doch war alles fast wie zuvor.
Er kannte sie so nicht. Sie war immer eine willige Zielscheibe gewesen. Er und seine Jungs hatten machen können was sie wollten, irgendwann – vor einigen Jahren – hatte sie aufgehört sich zu wehren. Vielleicht weil sie angenommen hatte, dass man sie in Ruhe ließ, wenn sie nachgab, weil sie für ihn ein langweiliges Opfer wurde. Doch das war nicht der Fall.
Ken hörte irgendwann auf ihr zu helfen, weil sie sich nicht mehr beschwerte. Sie wurde einfach immer stiller und dünner.
Doch jetzt, als er nach einem Jahr wieder zurück gekehrt war, schien sie neue Kraft und Energie zu haben, die anderen Jungs waren plötzlich eng mit ihr befreundet, hielten viel von ihr, verteidigten sie vor ihm und – wie David ihm verraten hatte – hatten sich sogar bei ihr entschuldigt.
David hatte große Gewissensbisse zugegeben, weil er erfahren hatte, dass sie jahrelang unter Alpträumen gelitten hatte und sich seit ihrer Kindheit – seit sie ihr das angetan hatten – vor Schaukeln und vor tiefem Wasser fürchtete.
Jake schüttelte das Bild aus seinem Gedächtnis, wie er sie mit beiden Händen um ihren Hals unter Wasser drückte. Er wollte jetzt nicht daran denken. Er hatte dieses Bild seitdem oft genug vor Augen gehabt und sich darüber geärgert, dass nicht er selbst ihr Held geworden war, sondern sein Bruder. Und dass er ihm sozusagen dazu verholfen hatte, ihr Held zu werden.
Sie waren damals kleine Kinder gewesen, erst Jahre später hatte er sie mit anderen Augen gesehen und sich begonnen für sie zu interessieren. Aber da war es bereits zu spät gewesen, weil sie seit zwei Jahren mit seinem Bruder zusammen war und weil er es einfach nicht zugeben konnte, dass er sie plötzlich mochte. So hatte er sie weiterhin geärgert und runter gemacht, wo er nur konnte und sich nur wenn er alleine war vorgestellt, wie es hätte sein können, wenn…
Er hatte ein Jahr lang keine Frau im Bett gehabt, es war nicht schwer ihn zu erregen. Aber ihr Anblick heute Abend war sensationell gewesen! Da brauchte es nicht erst ein Jahr Abstinenz um darauf anzuspringen. Er fühlte die Wärme ihres Beines an seinen Beinen, ihre Schulter an seinem Rücken. Sie hatte bis zur letzten Sekunde im Wachzustand darauf geachtet ihn ja nicht zu berühren. Jetzt, da sie eingeschlafen war, entspannte sie sich endlich.
Eine ganze Weile fühlte er ihre Nähe, dachte darüber nach wie gerne er es zur Gewohnheit werden ließe mit ihr unter einer Decke zu liegen.
Er wusste selbst, dass er diese Gedanken nicht haben sollte, Ken war sein Bruder und – auch wenn dieser sich selten einmal daran gehalten hatte und Jake ihm sogar ein Jahr Gefängnis verdankte (und es hätte bei Gott mehr sein können, wenn die Richterin ihn nicht gemocht hätte) – er hasste sich selbst für diese Gedanken und für die Gefühle, die er Megan gegenüber verspürte.
Er hatte heute Abend nicht viel getrunken, aber auch das bisschen Alkohol reichte aus um seine Bedenken beiseite zu schieben und mutiger zu werden.
Vorsichtig griff er hinter sich, nahm sie an ihrer Hand und zog sie am Arm zu sich. Ihre Hand fiel sanft über seine Taille.
Im Schlaf atmete sie tief ein an seiner Haut, ihr Atem an seinem Rücken ließ ihn erschauern. Fest schmiegte sie sich an ihn, er spürte ihre Brüste an seinem Rücken, eines ihrer Beine schob sich langsam zwischen seine.
Die Hand, die er zu sich gezogen hatte, strich ihm langsam über den Bauch. Einige Minuten verharrte sie dort, dann wanderte sie tiefer, ihre kleine Hand zwängte sich an seiner Jeans vorbei, unter seine Boxershorts und begann ihn zu reiben. Er hatte nicht damit gerechnet, aber wirklich dagegen hatte er auch nichts. Er wusste, dass es nicht richtig war was sie da taten, aber er schob den Gedanken beiseite, dass er gerade seinen Bruder hinterging.
Als sie das nächste Mal erwachte, streichelte sie Kens Bauch. Sie atmete den Duft seines Körpers ein und strich ihm weiter über die sanften Muskeln. Er musste in den letzten Tagen viel trainiert haben, denn seine Bauchmuskeln traten stärker hervor als sonst, auch sein Rücken fühlte sich ein wenig muskulöser an.
Er roch so gut. Sie überlegte im Halbschlaf, wann sie je von einem Duft so angezogen worden war.
Es erregte sie, wie er schlafend vor ihr lag, nichts ahnend.
Seit Monaten hatte sie ihn nicht mehr verführt.
Ihre Hand wanderte tiefer. Für einen Moment fragte sie sich, warum er seine Jeans im Bett trug, doch sie dachte nicht weiter darüber nach, wanderte tiefer mit ihrer Hand.
Wenn er aus dem Schlaf gerissen wurde hatte er oft eine tiefere Stimme, hörte sich fast an wie Jake, darauf stand sie unglaublich.
Sie stellte sich vor es wäre Jake, den sie gerade erfolgreich versuchte anzutörnen und augenblicklich war sie erregt.
Sie küsste seinen Rücken, hörte sein leises Stöhnen, dass sich noch tiefer anhörte als sonst und erregter und dann – ganz plötzlich – fiel ihr alles in Sekundenschnelle ein: warum er noch seine Jeans trug, was in dieser Nacht vorgefallen war, dass sie mit ihm im Bett lag. Jake lag mit ihr im Bett und nicht Ken!
Sie hatte sich nicht nur in ihrer Phantasie vorgestellt Jake glücklich zu machen, sie hatte gerade wirklich ihre Hand in seiner Hose!
Sie erschrak so heftig, dass sie gleichzeitig ihre Hand aus seiner Hose riss und aufschreckte.
Sie setzte sich auf, geschockt, wagte es kaum sich zu bewegen und hoffte inständig, dass Jake nichts mitbekommen, doch er setzte sich fast im selben Moment ebenfalls auf. Er saß direkt vor ihr.
Ihr war klar, dass er wach geworden war, als sie sich an ihn geschmiegt hatte.
Er hatte seit einem Jahr keine Frau mehr im Bett gehabt, es war ein ungewohntes Gefühl für ihn mitten in der Nacht so berührt zu werden.
Er sah sie ernst an, verstört? Wütend? Genervt?
Sie war sich nicht sicher worauf er wartete, warum er keinen bösen Kommentar von sich gab und genervt das Zimmer verließ. Wartete er darauf, dass sie sich bei ihm entschuldigte?
Sie begann zu zittern.
Er sah sie einen kurzen Moment so an, wahrscheinlich waren es nur drei Sekunden, aber es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit, dann beugte er sich vor und küsste sie. Sie spürte seine Lippen auf ihren, seine Zunge an ihrer, ein paar seiner Bartstoppeln an ihrer Wange. Sie war so überrascht und überrumpelt, dass sie nicht zu atmen wagte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl ihr Herz würde aussetzen. Aber dann pochte es so heftig in ihrer Brust, dass sie fürchtete er könne es hören.
Sanft aber bestimmt drückte Jake sie in die Kissen zurück, legte sich über sie ohne von ihren Lippen zu lassen. Sie spürte, wie seine Brust gegen ihre presste, spürte seinen Bauch an ihrem, seine Beine an ihren.
Als sie protestieren wollte, nahm er wortlos ihre beiden Hände und hielt sie über ihrem Kopf fest, sodass sie sich nicht wehren konnte.
Sie versuchte dennoch ihren Körper von ihm weg zu drehen, ihn von sich zu stoßen, doch er war stärker. Mit einer Hand hielt er ihre Hände fest, mit der anderen öffnete er eilig seinen Gürtel und den Reißverschluss seiner Jeans.
„Nein!“ flüsterte sie, ihre Augen weit aufgerissen. Sie reagierte heftig auf ihn und wahrscheinlich spürte er das und hörte deshalb nicht auf sie festzuhalten.
„Jake, hör auf!“ Sie brachte ihren Atem nicht unter Kontrolle und ihre Augen sahen ihn flehend an.
Sie hatte sich immer gewünscht Jake so nah zu sein, sie wehrte sich nur, weil sie es nicht hinter dem Rücken seines Bruder mit ihm treiben wollte, mit dem sie fast die letzten zehn Jahre ein Bett geteilt hatte. Dieses Bett…
Es war wie ein Traum für sie, ihr größter Traum, der zum falschen Zeitpunkt Wirklichkeit wurde und gegen den sie versuchte sich zu wehren, obwohl sie wusste, dass es nichts gab, was sie sich sehnlicher wünschte. Sie war innerlich zerrissen.
Jake war zu stark für sie. Sein Gesicht war verzerrt, fast wütend, seine Lippen zusammen gepresst. Kaum hatte er den Gürtel und die Hose geöffnet, war er auch schon in ihr.
Als er eindrang, stöhnte sie auf, erschrak selbst darüber, wie laut sie war. Jake hielt einen Moment inne in seiner Bewegung.
Ihr Kopf schnellte herum, sie sah hinüber zur Türe, als lausche sie nach einem Geräusch aus dem Wohnzimmer, wo Ken schlief. Doch der schlief garantiert weiter.
Jakes Gesichtsmuskeln entspannten sich, er lächelte sie an und sie lächelte im gleichen Moment zu ihm auf. Sie lächelten sich an, weil sie beide wussten, was sie sagen wollten: „Keine Sorge, der liegt im Koma.“ Doch keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort.
Es war das erste Lächeln, dass sie in ihrem ganzen Leben je von ihm erhalten hatte, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte. Es machte sie sprachlos, lähmte sie fast, weil sie es nicht glauben konnte. Sein Griff um ihre Handgelenke war hart und schmerzte.
Jake begann sich langsam in ihr zu bewegen. Es war das beste Gefühl ihn in sich zu spüren. Ihre Fantasie, die vielen Male, in denen sie sich vorgestellt hatte, wie es mit ihm sein würde, waren ihm nicht gerecht geworden. Sie spürte erst, dass sie die Luft anhielt, als sie danach japste um nicht blau anzulaufen.
Megan konnte sich nicht entspannen, wandte ihr Gesicht der Türe zu, starrte sie an, als könne sie so die Anzeichen deuten, ob Ken unten im Wohnzimmer aufwachte und presste die Lippen zusammen, um nicht laut aufzuseufzen.
Als Jake das bemerkte, griff er zärtlich in ihr Haar, drehte sie sanft zu sich und hielt sie fest, sodass sie gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen, während er mit ihr schlief.
Seine wunderschönen, grauen Augen, die sie mit einem Mal so anders ansahen. Erregt und verzehrend, aber dennoch erkannte sie ein Lächeln darin. Nicht als würde er sich über sie lustig machen. Irgendwie anders. Sie versanken in den Augen des anderen, es war das erste Mal, dass sie seinem Blick standhalten konnte, das erste Mal, dass sie keine Angst bekam, das erste Mal, dass keine böswilligen oder wütenden Funken sprühten, kein Hass, keine Macht.
Dann ließ er ihre Hände los.
Erst traute sie sich kaum ihn zu berühren, weil sie fürchtete er würde sie jeden Moment von sich stoßen und sie auslachen – fast so wie an Kens 29.Geburtstag letztes Jahr – kurz bevor Jake wegen versuchten Mordes festgenommen wurde.
Doch dann überwand sie sich, fuhr mit zittrigen Fingern über seinen Rücken und als sie sich sicher war, dass er es zuließ, zog sie ihn enger an sich.
Er küsste sie ununterbrochen, auf den Mund, auf die Wange, die Stirn, am Hals, ließ seine Zunge um ihre kreisen.
Er stöhnte ebenfalls leise und – obwohl Ken neben ihnen lag und jeden Moment hätte aufwachen können – er sah kein einziges Mal zu seinem Bruder hinüber.
Megan fühlte sich geborgen in seinen starken Armen, fühlte sich begehrt durch die Art wie er sie ansah, sie berührte, sie küsste.
Sie konnte diese unglaubliche Zärtlichkeit kaum fassen, hatte etwas Vergleichbares noch nie erlebt.
Ken war auch vorsichtig gewesen, als er zum ersten Mal mit ihr schlief, aber gerade bei Jake hatte sie etwas anderes erwartet. Animalisch und grob, ungestüm und wild. Grob und wild hatte es begonnen, aber sie hatte erwartet es würde anhalten.
Bestimmt gab es auch andere Momente, in denen er seine wilde Seite zeigte, aber heute Nacht war er zugleich so leidenschaftlich und dennoch sanft. Sie hatte nicht einmal geahnt, dass eine derartige Sanftheit gepaart mit soviel Leidenschaft überhaupt existierte. Und dass Jake dazu fähig war – gerade ihr gegenüber – konnte sie kaum glauben. All das kam ihr unwirklich vor, wie ein Traum, von dem sie nie wieder erwachen wollte.
Sie schloss die Augen, biss sich an seiner Schulter fest um nicht noch einmal so laut zu stöhnen und kam ihm mit ihrem Becken entgegen.
Sein Atem ging schneller, zwischendurch stöhnte auch er leise, mit seiner tiefen Stimme, war so empfindsam, dass er erschauderte, als sie ihn noch tiefer in sich ließ.
Als er kam, stöhnte er in ihr Kopfkissen, direkt neben ihrem Gesicht, sie fühlte seinen heißen Atem an ihrem Hals, sein warmes Gesicht berührte ihres. Er umarmte sie fest.
Für einen Moment wirkte er hilflos, an sie geklammert, zuckend, während sie seinen Hals mit Küssen bedeckte und seinen Rücken streichelte.
Ein paar seiner Strähnen fielen ihr ins Gesicht und er war immer noch in ihr. Sein Haar, seine Haut, seinen Geruch, all das kannte sie ihr Leben lang und hatte sich so danach verzehrt. Jetzt, da sie das erlebt hatte wovon sie so viele Male heimlich geträumt hatte, konnte sie es noch nicht ganz realisieren. Aber da war er: auf ihr, in ihr, fest umschlungen, atmete an ihrem Hals und trieb ihr damit wohlige Schauer über den Nacken. Sie wollte dieses Moment für immer festhalten, für immer in ihr Gedächtnis einbrennen. Sie atmete den Duft seiner Haut ein, er roch nach Sommer, ein wenig nach Rauch vom heutigen Abend und nach ihm selbst. Er hatte nur einen Hauch Aftershave aufgetragen. Oft hatte sie das Fläschchen geöffnet, tief eingeatmet und jedes Mal unwillkürlich gelächelt, aber nie hätte sie für möglich gehalten, dass sie es einmal direkt an ihm riechen konnte, nachdem sie gerade miteinander geschlafen hatten.
Eine ganze Weile blieben sie so liegen, aufeinander, ineinander, versuchten ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen und das Rasen ihrer Herzen.
Dann schien Jake zu spüren, dass es ihr schwerfiel zu atmen, weil sein Gewicht sie erdrückte.
Er löste sich von ihr, legte sich neben sie, drehte sich jedoch von ihr weg. Sie wusste, dass er hellwach war, auch wenn er sich nicht mehr regte.
Plötzlich hörte sie die Klospülung im Erdgeschoss. Megan erschrak. Sie war so in Gedanken versunken gewesen Jakes’ Gedankengänge zu analysieren, dass sie Ken darüber hinaus vergessen hatte.
Schnell bedeckte sie ihre Brüste indem sie ihr Trägerhemd wieder nach oben zog, welches Jake zuvor nach unten gezogen hatte um ihre Brüste zu küssen.
Sie wartete einen Moment ab, ihr Atem ging immer noch heftig und je mehr sie versuchte ihn zu unterdrücken und leiser zu atmen, desto heftiger schien ihr Herz gegen ihre Brust zu pochen. Erst nach einer ganzen Weile normalisierte sich ihr Atem wieder.
Ihr Herz raste jedoch weiterhin.
Sie wollte wissen, was in Jake vorging, was er sich dabei gedacht hatte.
Und dann, ganz plötzlich, kam ihr siedend heiß in Gedanke: was würde morgen passieren? würde er es seinem Bruder sagen, nur um ihre Beziehung zu ihm zu zerstören und zu bekommen, was er sich immer gewünscht hatte: Megan zu vernichten. Das war es doch was er wollte, das war sein größter Wunsch: endlich ein Leben ohne Megan zu führen.
Nun hatte er endlich einen Grund, dass Ken sich von ihr trennen würde.
Wie hatte sie nur so dumm sein können sich auf ihn einzulassen. Sie fühlte sich krank beim Gedanken daran, dass sie ihm genau das nun ermöglicht hatte.
Bei der ersten Möglichkeit, hatte sie sich ihm hingegeben, die Beine gespreizt und war von seiner bloßen Anwesenheit und seinem plötzlichen Interesse so vernebelt gewesen, dass sie keinen zweiten Gedanke daran vergeudet hatte, was seine Absichten sein konnten.
Bald war sie zu müde um über irgendetwas nachzudenken. Vor Müdigkeit fielen ihr die Augen zu, wurden schwerer und schwerer.
Bevor sie ganz einschlief, spürte sie noch, wie Jake sich auf den Rücken drehte. Als sie nach wenigen Minuten noch ein letztes Mal die Augen öffnete, sah sie wie er die Decke anstarrte, als würde er angestrengt nachdenken.
Dann schlief sie ein.