Der Mann hatte die Nonne mit dem Versprechen angelockt, er werde Geld für die Kirche spenden. Er erwürgte sie im Auto – es dauerte nicht lang, sie schien es fast resigniert hinzunehmen, kampflos, als wäre es die Buße, auf die sie gewartet hatte.

Er murmelte:

»Du musstest unbedingt meine Schwester erwähnen, ja? Ihr Pack, ihr glaubt, ihr könnt jeden zerstören, den ihr zerstören wollt.«

In den frühen Morgenstunden hatte er ihre Leiche zum Spanish Arch gefahren. Es war ganz still, niemand unterwegs, alles Leben spielte sich auf der anderen Wasserseite in der Quay Street ab. Nur den Schwänen fiel etwas auf, als wäre er gekommen, um sie zu füttern. Das war er ja auch, gewissermaßen.

Er ließ sie ins Wasser gleiten, und vier Schwäne kamen herangeschwommen, um sie zu begutachten. Er sah kurz zu, wie sie unter Wasser rutschte, wie ein Schwan mit dem Schnabel mehrmals kurz und wütend auf das Nonnenhabit einhackte.

Dann drehte er sich schnell um, stieg ins Auto, fuhr los, hinaus aus der Stadt.

Hinter Spiddal stand eine alte Schandmauer aus Granit, immer noch so stabil wie Hass. Er beschleunigte, als er sich näherte, sah nicht die Mauer, sondern eine großartige Stadt, seine Stadt, vielleicht ein Bronzestandbild von John Behan zur Erinnerung an den Mann, dem sie zu verdanken war, einen wahren Herrscher, der sein Leben für sie gegeben hatte, das strahlende Licht in Europas Finsternis. Er kreischte:

»Der Herrscher des Eises, des Speiseeises!«

Das Auto fuhr mit mehr als hundert Meilen pro Stunde gegen die Mauer, und der Aufprall weckte die Menschen im weiten Umkreis.

Ich blätterte in den Büchern, die Vinny mir gegeben hatte. Es dauerte lang, sämtliche Titel durchzusehen, und unter den Krimis wäre dieser fast verschüttgegangen: Wann hast du zuletzt deinen Vater gesehen? von Blake Morrison.

Ich wählte etwas Lyrik aus und versuchte zu lesen, aber welchen Lyriker, welche Lyrik? Ich kann mich nicht erinnern. Ich erinnere mich aber noch daran, dass ich glaubte, die Antwort auf meine Ängste gefunden zu haben. Bedankte mich bei der Literatur und gestand mir nicht die doppelte Sehnsucht in meinem Herzen ein, die nach einem Kind und die nach, ja, flüstere den Namen … Wellewulst. Ich träumte immer noch von ihr. Ich dachte, diese Träume wären der Grund für mein Fieber, meine Abgespanntheit, das Kratzen im Hals. Fand eine Apotheke mit Nachtdienst, und der Apotheker warnte:

»Nicht zusammen mit Alkohol einnehmen.«

Ach, echt wahr?

Irischer wird’s nicht.

Hatte mir eine üble Grippe eingefangen. Ich sage gar nicht, dass das mit der Lektüre von Lyrik zu tun hatte, aber Bücher sind gefährlich, da können Sie jeden reaktionären Hinterwäldler fragen.

Ich hatte keine Ahnung gehabt, wohin mich meine Ermittlungen führen würden, außer an den Hafen. Mir war, als würde ich emotional eingeschmolzen, als wäre ich hinter Glas. Nichts nahm ich wirklich wahr – als wäre ich ein Zuschauer bei Begebenheiten, die sich abspielten, ohne dass ich die Macht hatte, sie zu verhindern.

Vielleicht war es schließlich doch ein Segen. Ich habe mal im Claddagh eine Frau gehört, wie sie plärrte:

»Könnte mir nicht auch mal ein Scheißsegen zuteilwerden, der gleich als Segen zu erkennen ist?«

Was mich vor dem totalen Verblassen rettete, war Cody. Er kam in meine Wohnung, wedelte mit Eintrittskarten.

»Ich hab zweimal Tribüne für das Spiel.«

Das Spiel.

Das groß angekündigte Hurlingspiel. Ich wollte nicht hin, aber Cody sagte:

»Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich verstehe nicht viel von Hurling. Wenn Sie’s mir erklären könnten?«

Also ging ich hin, und es wurde ein toller Tag.

Tolle Tage und ich kommen nicht oft im selben Satz vor, noch seltener in derselben Gegend. Der Tag war einer dieser herrlich knackig frischen Tage, die Sorte Tag, da man glaubt, alles wird gut, nicht übermäßig wunderhübsch, aber irgendwo in dem Bereich. Das Spiel war der Hammer. Wir brüllten wie die Geistesgestörten, kauften uns Schals und trugen sie voll Stolz, danach das große Pfannengericht in der Galleon, einem der letzten richtigen Esslokale im Land.

Als wir auf dem Heimweg waren und Cody sagte, er hätte einen prima Tag gehabt, sagte, der Tag sei begabt, ganz groß gewesen, hätte ich ihn um ein – ganz dünnes – Haar umarmt. Mir wurde klar, dass der Nebel sich gelichtet hatte. Die psychischen Fensterläden, die mich am Sehen gehindert hatten, waren aufgestoßen, und Helligkeit strömte herein.

Woran ich mich bei diesem Tag erinnere, ist, dass ich Väter mit ihren Söhnen gesehen habe, die sich das Spiel ansahen, und dass ich mich ihnen zugehörig empfand. Es war, das sage ich nicht gern, regelrecht berauschend.

Vor meiner Wohnung sah ich Umzugsleute und dann den Mieter, der mich zur Schnecke gemacht hatte. Er versuchte, unerkannt an mir vorüberzuschleichen. Ich fragte:

»Was läuftn hier, Bruder?«

Das Bruder war ausschließlich meinem schlechten Charakter zu verdanken. Er versuchte, aufrecht zu stehen, Schultern zurück, aber sein Gesicht verriet ihn – eine Mischung aus Angst und Beklommenheit. Er sagte:

»Ich ziehe aus.«

Ich stieg drauf ein:

»Warum?«

Fast hätte er eine prima Entrüstung hingelegt, aber dann versiebte er sie doch, sagte:

»Die Gegend hier ist nicht mehr, was sie mal war.«

Ich bot an, den Karton zu nehmen, den er trug, aber er hielt ihn an sich gedrückt wie einen Rosenkranz bei der Totenwache. Fast hysterisch rief er:

»Ich glaube, Ihre Hilfe ist nicht das, was ich brauche.«

Ich lächelte, ging weiter, setzte hinzu:

»Schreiben Sie eine Karte, wenn Sie Bodenberührung haben.«

Er starrte mich an, und ich sagte:

»Sie werden mir fehlen, Bruder. Partylöwen sind rar.«

Gab mir selbst einen neuen Auftrag: Jeff finden – und vielleicht sehen, ob ich den Mut aufbrachte, Cathy anzusprechen. Damit wäre ich mental beschäftigt genug. Dann rief ich Wellewulst an und überredete sie zu einem Kaffee.

Wir trafen uns bei Java-Kaffee, auf neutralem Boden. Ich war erstaunt, wie gut sie aussah, in einem Marine-Trainingsanzug, Augen und Haar glänzten. Ich sagte:

»Dia go glór«, Gott sei gepriesen, »… Sie sehen großartig aus.«

Sie lächelte, sagte:

»Ich habe jemanden kennengelernt.«

Sie war entzückt, dass ich Irisch sprach, ihre Geburtssprache. Sie nahm mich in Augenschein – wenn eine Irin das tut, ist das gründlicher als jeder Scanner – und sagte:

»Sie sind nüchtern.«

»Zumindest heute.«

Ich wollte hinzufügen: Nächster Versuch, nächste Niete, das hätte aber zu winselig geklungen. Wir plauschten tatsächlich sehr zivilisiert, dann gestand sie:

»Ich hätte nie gedacht, dass ich mich wieder mit jemandem zusammentun würde.«

Ich war froh, ehrlich froh. Ihre harten Kanten waren beinah glatt.

Sie beugte sich vor, sagte:

»Ich habe ein paar Nachforschungen über den … Stalker … angestellt. Er wurde einmal wegen Besitzes einer großkalibrigen Flinte verhaftet, aber das Verfahren wurde eingestellt.«

Ich zuckte die Achseln, sagte:

»Er ist weg. Er hat einen ernsten Weckruf verpasst gekriegt. Seinesgleichen findet immer einen Stein, unter dem es sich verstecken kann.«

Sie war nicht ganz überzeugt, sagte auf Irisch:

»Bhî cúramach«, sei vorsichtig.

Draußen blieben wir noch ein bisschen stehen, von der, fast könnte man sagen: Intimität überrascht, die wir aufgebaut hatten. Ein kalter Wind plusterte sich auf. Sie kommentierte:

»Der Winter kommt.«

Ich sagte:

»Weitgehend überschätzte Jahreszeit.«

Und sie lachte. Dann hätte es fast eine Umarmung gesetzt. Ich sagte:

»Man sieht sich, Nic an Iomaire.«

Sie nickte, sagte:

»Das wäre gut.«

Ich ging los, ging weiter, ging schneller, ließ sie zurück. Das Unheimliche daran war, dass in meinem Kopf ein Priester das Exsultet sang, das ich mal in der Christuskirche gehört hatte … und eine Frau hinter mir hatte gesagt:

»Heiland, das ist ja nur schön.«

Die nächsten paar Tage blieb ich zu Hause, zog den Telefonstecker aus der Wand, sah keine Nachrichten, hörte kein Radio. Ich wollte nur Zeit, mich auszuruhen, vielleicht etwas Energie zurückkriegen. Vertiefte mich richtig ins Lesen. David Goodis natürlich. Zu der Ladung Bücher gehörte auch – eingeklemmt zwischen Dark Passage und Cassidy’s Girl – Invasions von Eugene Izzi.

Wenn je ein Noir-Schriftsteller einen Noir-Tod gestorben ist, war er das. In Chicago baumelte er in einem dreizehnstöckigen Bürogebäude aus dem Fenster. Er hatte eine kugelsichere Weste an. In seinen Taschen waren

ein Messingschlagring

Tränengas

Drohbriefe von einer Bürgerwehr.

Seine Wohnungstür war abgeschlossen, und neben seinem Schreibtisch lag ein geladenes Gewehr. Fast wie in einem behaglichen englischen Roman, aber da war dann auch schon Schluss mit der Übereinstimmung.

Ich konnte mich mit der Paranoia identifizieren.

In meiner Hand lag ein winziger Silberschwan.

Ein Dienstagvormittag – wer Tony hieß, hatte Namenstag – es klopfte an meiner Tür. Ich erwog, es zu ignorieren, aber falls es Wellewulst war …, also, ächz, stand ich auf, öffnete die Tür. Ein Typ, ernsthaft außer Atem, hielt ein Paket, keuchte:

»Mann, ist das Mistding schwer … Und die Treppe?«

Er pausierte, fragte:

»… Sie Jack Taylor?«

»Ja.«

»Dem Heiland sei Dank. Ich hätte das Teil nur sehr ungern auch bloß einen Meter weiter geschleppt.«

Er überreichte mir das Paket, und er hatte völlig recht gehabt, es war schwer. Ich stellte es hin, und er zog einen Lieferschein hervor, bat:

»Hier unterschreiben.«

Ich unterschrieb.

Er wischte sich die Braue, und ich bot ihm was zu trinken an, wobei ich gleichzeitig nach meinem Portemonnaie suchte, um ihm Trinkgeld zu geben. Er lehnte mit einem Achselzucken ab, sagte:

»Nö, ich hab die ganze letzte Woche gesoffen.«

So genau wollte ich es nun auch wieder nicht wissen. Trinkgeld brauchte er auch nicht, sagte:

»Geben Sie’s den Armen Klarissen.«

Ich wollte ihm sagen, dass sie eine Website unterhielten, aber er keuchte bereits davon. Ich machte die Tür zu, stellte das Paket auf den Tisch, holte ein Messer, zerfetzte die Verpackung, trat einen Schritt zurück.

John Behans Bronzestier.

Brauchte einen Moment, bis ich die weiße Karte unter den Hufen des Stiers sah. Zog sie heraus. Die Schrift war eine Art Fraktur, der Text lautete:


KÜHN TRÄGT DER STIER ZUR FLEISCHBESCHAU

DIE KLOSTERFRAU, DIE KLOSTERFRAU.