Fand eine neue Kneipe. Notwendigerweise musste es eine sein, die unter dem Radar existierte. Ich hatte oft von Coyle’s gehört, am Arschende der Dominic Street. War fast ein urbaner Mythos, hatte einen Ruf, der nicht mehr zu retten war. Es ging das Gerücht, der Laden habe nie geschlossen, nur die Türen würden um Mitternacht zugemacht, um die Gästeschaft in der stabilen Schräglage zu halten. Am frühen Morgen öffneten sich die Türen, und der Dämmerungsschub lebender Toter trat ein. Alles, was verlangt wurde, war Geld. Streit, Schlägereien, auffälliges Verhalten waren akzeptiert. Was nicht akzeptiert wurde, waren Höflichkeit oder Bürgersinn, in dem Sinne, dass man eine Stütze des Gemeinwesens war oder ihm überhaupt nur in irgendeiner Form angehörte.
Es war der letzte Anlaufhafen vor der Straße oder dem Grab.
Als ich dort angeschwemmt wurde, hatte niemand etwas dagegen. Ein leerer Hocker am Tresen, zwar nicht mit meinem Namensschild dran, aber genauso wacklig wie ich und entsprechend einladend.
Willkommen in der Hölle.
Meine erste Sitzung dort: erkannte ein paar Gesichter, die Gesichter der Verschwundenen. Typen, die ich in der Schule gekannt hatte, Typen, mit denen ich aufgewachsen war und die ich für tot gehalten hatte. Waren sie ja auch irgendwie. Als ich einen großen Whiskey bestellte, winkten ein paar von ihnen, wenn auch nur schwächlich. Ich hörte: Jack … Taylor und, aber das stellte ich mir vielleicht nur vor: Wieso so spät? Der Tresenmann/Besitzer, genannt Schnäppchen, war Boxer gewesen und sah aus, als hätte er jeden einzelnen Kampf verloren. Der Spitzname rührte daher, dass er alles, jeden, jederzeit gegen Geld eintauschte. Er war nicht im Geschäft, um Freundschaften zu schließen, beliebt zu sein, ihm ging es ausschließlich um Geld.
Kahl, groß, mit toten gelben Augen sah er mich an, sagte:
»Wir haben eine Sorte Whiskey, Hausmarke. Ist die okay?«
Hausmarke heißt übersetzt: keine Marke, sondern hausgemachter Fusel. Ich nickte, legte ein paar Scheine auf den Tresen, und er schenkte ein, stellte das Glas vor mich hin. Mir zitterte die Hand, aber das war sowieso Pflicht. Ich wusste, wenn ich einen Schluck trank, würde es mich vom Hocker katapultieren, 70 Prozent und schmeckt wie Terpentin. Er fragte:
»So weit genehm?«
Die schiere Nähe des Alkohols hatte mir kurz die Sprache verschlagen, und er sagte:
»Dabei ist dir der Geschmack doch so was von scheißegal.«
Ich schwöre, er kicherte, als er sich davonmachte. Es hieß, dem Getränk werde poitín zugesetzt, illegaler Kartoffelbrand, und ich glaubte es gern. Eine dichte Rauchwolke schwebte über uns, und die Wände waren gelb vom Nikotin. Das neue Rauchverbot in Kneipen usw. würde hier keine große Wirkung zeitigen. Ich gestattete mir einen Blick in die Runde, sah einen Expolizisten, aber er sah gar nichts, wirkte so k. o., dass er auf das Zählen keines Ringrichters der Welt mehr reagieren würde. Entfernte mich von dem Hocker. Neben einem ziemlich kaputten Tisch stand ein leerer Stuhl, und den nahm ich. Die Atmosphäre schien mir ähnlich wie in der Klapse, das gleiche Gefühl abgestumpfter Verzweiflung. Ein Typ gegenüber fragte:
»Wie geht’s?«
Sein Ton klang ganz leicht herausfordernd. Ich sah ihn an, ließ mir Zeit, unternahm nichts Schnelles. Er hätte zwanzig oder sechzig sein können, seine Augen waren nicht fokussiert. Ich sagte:
»Nicht schlecht.«
Schien das als Einladung zu verstehen, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu mir, sagte:
»Ich habe ein Problem mit Glücksspielen.«
Fast lachte ich, hielt es aber zurück, nickte feierlich. Er zeigte auf einen Mann in der Ecke, fragte:
»Sehen Sie den?«
Ich dachte an den Song von R. E. M.
Ich versicherte ihm, ich sähe ihn, und den Mann immer noch anstarrend, sagte er:
»War mal Pfarrer.«
Fast hätte ich gefragt:
»Was ist passiert?«
Wenn je eine Frage überflüssig war. Der Typ lachte, ein im Hochtonbereich angesiedeltes Gegickel, nicht ganz hysterisch, aber so nah dran wie möglich, ohne in Jaulen überzugehen, sagte:
»War mal … Die trifft man hier häufig.«
Keinen Sinn, das zu bestreiten. Er starrte mich an, etwas Scharfes kroch in seine Stimme, fragte:
»Und Ihre Geschichte? Was waren Sie mal?«
Sein Körper hatte sich gestrafft. In einem Sekundenbruchteil war er von liebenswürdig zu aggressiv gewechselt. Ich fragte, ließ auch in meine Stimme ein bisschen Hartes einsickern:
»Ist das wichtig?«
Er lachte laut heraus, stand dann abrupt auf, als hätte er irgendeinen Ruf zu den Waffen vernommen, und marschierte mit einzigartigem Zielbewusstsein hinaus.
Als ich etwas später ebenfalls ging, sagte Schnäppchen:
»Sie haben Ihr Getränk nicht angerührt.«
Klang fast freundlich. Ich fragte:
»Haben Sie nachtsüber geöffnet?«
Er bedachte mich mit einem langen Blick, und ich fragte mich, ob ich irgendeine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Er sagte:
»Ich werde Ihnen was sagen, Sie kommen mitten in der Nacht vorbei, klopfen an die Tür, sehen, was passiert. Beantwortet das Ihre Frage?«
Ich nickte und machte, dass ich wegkam.
In der Nacht träumte ich von meinem Vater. Er saß auf seinem Stuhl in der Küche, weinte, weinte, ohne Worte, nur ein stilles klägliches Weinen. Ich wachte auf – verstörter als nach einem offenen, ehrlichen Albtraum. Er war in jedem Sinn des Wortes ein starker Mann, und ich erinnere mich nicht, dass er vor irgendwas Angst hatte. Nicht, dass er so eine Art Macho-Arschloch gewesen wäre, aber er ging alles, was ihm das Leben so zuwarf, ohne jegliches Geschiss an. Egal, was auf ihn zukam, er war wenn schon nicht dafür gewappnet, dann doch zumindest willens, es sich anzusehen. Wie jeder hatte er jedoch einen Bereich der Verletzlichkeit, in seinem Fall war’s eine seltsame Marotte, die nur für ihn einen Sinn ergab. Seine Marotte war die Hintertür. Wir wohnten in einem Reihenhaus des sozialen Wohnungsbaus mit einem kleinen Hintergarten. Meine Mutter war Frischluftfanatikerin. Sie war sowieso Fanatikerin, aber frische Luft war eine ihrer Lieblingsmethoden, für Ärger zu sorgen. Im tiefsten Winter hatte sie alle Fenster offen, und wenn man eins zuzumachen wagte, war man in Gottes Hand. Mein Vater ertrug das schweigend, wie er ihre meisten Aktionen ertrug, aber die Hintertür stellte die Ausnahme dar. Es machte ihn wahnsinnig, wenn sie offen war. Dies war das einzige irrationale Verhalten, das er je an den Tag legte. Meine Mutter riss die Hintertür natürlich auf, und er machte sie sofort wieder zu. Eine jener kleinen Szenen aus dem Ehekrieg, eine Vorstellung ohne Worte, aber geladen mit höchster Energie. Eines Abends war meine Mutter auf ein paar Rosenkränze in die Kirche gegangen und hatte vorher die Hintertür geöffnet. Sobald sie weg war, sprang mein Vater auf, knallte die Tür zwar nicht gerade zu, schloss sie aber mit Nachdruck. Ich kam immer prima mit ihm aus, konnte mit ihm reden und ihn was fragen, und er schnitt mir nie das Wort ab. Heute ist mir klar, dass das ein seltener Segen war. An dem Abend fragte ich:
»Warum musst du die Tür zu haben?«
Damals rauchte er, nicht viel, nur ein paar Woodbine nach der Arbeit. Wenn er eine Zehnerpackung pro Woche schaffte, war das schon eine ganze Menge. Er holte die Packung hervor, zog langsam eine heraus, steckte sie mit einem Küchenzündholz an, einem dieser langen Dinger, dick wie eine kleine Kerze. Ich erinnere mich genau an das Aroma der Zigarette und des Schwefels, es kam mir vor wie der Duft der Geborgenheit. Er sah mich an, sagte:
»Wenn man die Hintertür offen lässt, kommen Nager rein.«
Und beinah hätte ich gelacht. Daran erinnere ich mich am besten: wie ich diesen blubbernden Drang, laut loszulachen, unterdrückte, und ich danke Gott tausendmal, dass es mir gelang. Mein Vater war so feierlich, und ich merkte, wie todernst er es meinte. Wir haben das Thema nie wieder erwähnt.
Am Abend nach der Beerdigung meines Vaters hatten ein paar Nachbarn uns besucht, Jameson getrunken, englischen Kuchen gegessen, an ihn gedacht. Gleich nachdem sie weg waren, wurde ich ins Bett geschickt. Als ich so dalag, von seinem Verlust ganz stumpf, hörte ich, wie meine Mutter die Hintertür aufriss, und hasste sie mit wilder Leidenschaft. Ich muss eingenickt sein, als ich sie wie aus weiter Ferne kreischen hörte – ich setzte mich auf, und sie brüllte wie eine Todesfee. Ich ließ mir Zeit mit dem Hinuntergehen. Sie stand auf einem Küchenstuhl, Entsetzen im Gesicht. Sie gellte:
»Da ist eine Ratte, die größte Ratte, die ich jemals gesehen habe. Sie ist reingerannt gekommen – ich glaube, sie ist unterm Tisch.«
Ich tat, als stocherte ich herum, aber vor allem machte ich die Tür zu – ganz laut. Ich ging zu ihr, um sie auf dem Stuhl zu betrachten, und sie fragte:
»Ist sie weg?«
Ich warf einen Blick zur Tür, sagte:
»Ich sehe sie nicht.«
Dann ging ich hinauf ins Bett. Ich weiß nicht, wie lange sie da unten blieb, es ist mir auch egal. Ich weiß nur, dass die Hintertür von da an zu blieb. Kurz darauf kaufte ich mir meine erste Packung Woodbine, die Zehnerpackung. Ich kann keinerlei Moral oder Lehre aus den Ereignissen ziehen, ich weiß nur, wie mein Vater sagte, früher oder später kommen die Schädlinge rein.
Mir ist natürlich klar, dass mancher sagen wird, ich mache seitdem immer alle Türen zu.
Ein Seelenzustand, den man nur als aufgewühlt bezeichnen konnte – nachzulesen irgendwo in der Rekonvaleszenzliteratur, wenn der trockene Alkoholiker beschrieben wird, ’s ist traurig, aber wahr.
Ich war in meiner Wohnung, versuchte, die Überbleibsel des Traums über meinen Vater loszuwerden. Ein lautes Geheul der Qual hatte mich geweckt. Ich hatte mich aufgesetzt, Terror in der Seele, mich gefragt, was zum Teufel denn da irgendeinem armen Scheißkerl angetan wurde, dass er so einen Krach schlägt, dann die Tränen auf meinen Wangen gespürt und geschnallt, dass der Mensch, der den Schrei ausgestoßen hatte, ich war. Ich glaube nicht, dass Seelenpein sehr viel scheußlicher werden kann.
Ich trug den winzigen Schwan in der Tasche mit mir herum wie einen blöden Talisman. Ich beschloss, Tom Reed, den Rausschmeißer, noch einmal zu besuchen. Er war einigermaßen empfänglich gewesen, und ich wollte sehen, wie er auf Michael Clares Schuldeingeständnis reagieren würde. Wenn jemand Michael kannte, dann Tom.
Auf dem Weg dorthin kaufte ich Kaffee, Milch, Kekse. Als ich mich seinem Haus näherte, konnte ich die Telefone schrillen hören, die Geschäfte liefen also immer noch hektisch. Klingelte, und dasselbe gehetzte Mädchen machte auf. Ich sagte:
»Diesmal habe ich Proviant mitgebracht.«
Sie winkte mich herein und rannte davon, um einen Hörer abzunehmen. Tom war in der Küche, und falls ihm meine Einkäufe zusagten, ließ er es sich nicht anmerken. Ich sagte:
»Hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich wollte noch ein paar Dinge mit Ihnen abklären.«
Er sah müde aus, sagte:
»Und eine Tüte Milch, ein paar Kekse – wozu berechtigt Sie das?«
Sein Ton grenzte an feindselig, also versuchte ich:
»Vielleicht zu einer Tasse Kaffee?«
Keine Reaktion.
Ich probierte es mit einem üblen Klischee aus dem Kino:
»Passt es gerade schlecht?«
Brachte es auch nicht.
Er seufzte, ließ einen unterdrückten Atemzug entweichen, fragte:
»Und wann würde es gut passen?«
Bevor ich mit irgendeiner lahmen Erwiderung kontern konnte, sagte er vorwurfsvoll:
»Sie waren bei Kate.«
»Ämm ja. War das keine gute Idee?«
Er trug ein weißes Hemd, das eine Wäsche nötig hatte – mehrere Wäschen –, und eine Marinehose, die im Bund zu weit war. Er zog sie hoch, aber es machte keinen großen Unterschied. Ich wusste nicht, wie ich das Gespräch auf eine freundlichere Ebene hieven sollte, sagte:
»Ich bin auf der Promenade spazieren gegangen, dachte, vielleicht laufe ich Ihnen über den Weg.«
Er schnappte:
»Diese Scheiße mache ich schon lange nicht mehr, ich habe ein Geschäft zu führen.«
Dann schien er etwas in seinem Kopf zu wägen.
»Kate und ich haben eine gemeinsame Geschichte.«
Ich hielt mein Gesicht neutral, sagte:
»Sagenhafte Frau.«
Jetzt begann er, Kaffee zu machen, warf den Kessel an, häufte Granulat in große Becher, goss das Wasser drauf, überreichte mir einen Becher und hieß mich Platz nehmen. Während dieser gesamten rasenden Geschäftigkeit sprach er nicht, und ich wartete gern. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, dann:
»Besengt, wie ich war, führte ich echt was im Schilde, aber sie war besessen von jemand anderem.«
Was sagt man da, Schöne Scheiße? Ich nickte, und er sagte:
»Wie kriegt man eine Beziehung hin, wenn die Frau in ihren Bruder verliebt ist?«
Oh.
Er fuhr fort:
»Als Kinder waren sie unzertrennlich. Näher als die beiden konnte man sich nicht stehen. Dann begann Pater Joyce mit seinen …«
Er strampelte nach einem Wort, und ich wollte aushelfen, wie wenn man mit jemandem zusammen ist, der stottert, man aber weiß, dass man es lieber lässt. Schließlich begnügte er sich mit:
»… Aktivitäten, und Michael war für sie verloren, für alle verloren. Sie hat immer weiter versucht, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen – ist das das Traurigste, was Sie je gehört haben? Jahre später, als wir uns zusammentaten, war das nur, damit sie vielleicht eine Möglichkeit findet, mit Michael zusammen zu sein. Ihre andere Leidenschaft, Pferde, sie liebt Pferde, hab gesehen, wie sie eine wilde Stute gezähmt hat. Ihre Hände, haben Sie die bemerkt? Heiland, ich hätte meine Seele gegeben, um sie zu berühren.«
Er schien gebrochen, schien nur noch in der Vergangenheit zu gründeln. Um ihn zurückzuholen, sagte ich:
»Michael hat mir gesagt, er hätte Pater Joyce umgelegt. Meinen Sie, das stimmt?«
Die Möglichkeit verdatterte ihn überhaupt nicht. Er dachte drüber nach, sagte dann:
»Er ist dazu fähig – Scheiße, ich bin dazu fähig – aber mein Instinkt sagt, dass er’s nicht war.«
Meine Skepsis, was seinen Instinkt betraf, muss mir anzusehen gewesen sein, und er sagte:
»Plus, vor Jahren, als Michael und ich soffen, um drüber wegzukommen – oh ja, wir haben zusammen getrunken –, haben wir einen Abend mit genau der Überlegung verbracht, den Scheißkerl umzubringen, und erörtert, wie wir das machen würden. Ich sagte, ich würde ihn verbrennen, ja, damit er weiß, wie es in der Hölle ist, aber Michael hat gesagt, er würde ihn ersäufen, weil er ihm die Schwäne genommen hatte, die Liebe zum Wasser. Das Claddagh-Becken, da würde er ihn hinbringen, ihn genau neben den Tieren sterben lassen, um die er ihn beraubt hatte.«
Ich dachte, wie nah dran ich gewesen war, den Stalker zu verbrennen, und wie Cody anschließend gekuckt hatte. Tom rieb sich das Gesicht, als wäre dieses ganze Wühlen in Erinnerungen das Anstrengendste gewesen, was er seit Jahren getan hatte, und vielleicht war es das auch, sagte:
»Sie nehmen das ja wirklich ernst.«
Ich gab zu, dass es mich gepackt hatte, dass ich es nicht abschütteln konnte, bevor ich die Antwort wusste. Er fragte:
»Haben Sie mit Schwester Mary Joseph gesprochen?«
»Mit wem?«
»Ich wollte sie nicht erwähnen, weil ich sie, trotz allem, immer irgendwie gemocht habe. Aber sie war Haushälterin, Sekretärin, Mädchen für alles bei Joyce, und sie wusste, sie wusste, was er trieb, und sie sagte nichts. Ich frage mich oft, wie sie jetzt damit fertigwird.«
»Wo könnte ich sie finden?«
»In der Kirche, wo sonst? Es sei denn, sie ist tot, aber davon hätte ich, glaube ich, erfahren. Ja, gehen Sie sie besuchen, sie weiß, was im Kopf von Pater Joyce vorging, als die beiden noch nicht getrennt auftraten. Bringen Sie ihr Speiseeis mit, dafür hatte sie immer eine Schwäche.«
Er hatte ein kleines Lächeln im Mundwinkel bei seinen letzten Worten, und ich staunte über seinen versöhnlichen Ton, sagte:
»Ihre Bereitschaft, ihr zu verzeihen, erstaunt mich. Das ist schon was.«
Seine Augen loderten auf, und er fragte:
»Habe ich gesagt, dass ich ihr verzeihe? Ich hasse dieses Scheißweib. Mit einem bisschen Glück hat sie das Saufen angefangen.«
Er stand auf, sagte:
»Noch etwas. Es ist merkwürdig, aber was ist das nicht?«
Er schien mit sich zu ringen, ob er es preisgeben sollte, dann:
»Kate, sie liebt diese Schwäne, unternimmt alles Mögliche, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, aber … außerdem ist sie Jägerin.«
Ich kam nicht mit, fragte:
»Sie jagt Schwäne?«
Und bekam einen Blick totaler Verärgerung verpasst. Er schnappte:
»Seien Sie nicht so gottverdammt dämlich, natürlich nicht die Schwäne. Sie schießt Fasanen und jedes andere Wild, das sich bewegt.«
Ich glaubte ihm nicht, stammelte:
»Das ämm … glaube … ich Ihnen nicht.«
Er starrte mich lange und ernsthaft an, rief dann aus:
»Mein Gott, sind Sie blöd. Sind Sie sicher, dass Sie den richtigen Beruf ergriffen haben? Das ist eine Frau, die ihr eigenes Holz fällt, verdammtescheißenocheins. Sie ist das echte Wahre, ein Urzeitmensch, und, ja, sie jagt. Nächstes Mal, wenn Sie sie besuchen gehen und ihre Aufmerksamkeit erregen wollen, bitten Sie sie, dass sie Ihnen ihre Flinte zeigt, sehen Sie zu, wie sie auflebt.«
Er atmete tief aus. Sein Gesicht war grau geworden, die Anstrengung, die diese Erklärung erforderte, hatte ihren Tribut gefordert. Ich fragte:
»Brauchen Sie einen kleinen Brandy oder was?«
Wobei ich hoffte, dass er einen brauchte und ich ihm vielleicht Gesellschaft leisten konnte. Er schüttelte den Kopf, spottete dann:
»Sie sehen aus, als wollten Sie sich heftig einen auf die Lampe gießen, Sie höchstpersönlich.«
Das Interview – oder was es zum Teufel war, was er mir hier gerade gewährte – war vorbei. Ich versuchte:
»Ja, war alles ein bisschen hart.«
Und hasste mich, weil ich auch nur versucht hatte, es zu rechtfertigen, ausgerechnet jemandem wie Tom gegenüber. Er begleitete mich zur Tür, und als ich mich verabschiedete, sah er mich lange an. Ich fürchtete, er würde die Anonymen Alkoholiker vorschlagen oder etwas Mitfühlendes sagen. Er sagte:
»Gehen Sie ins Claddagh-Becken, das ist schneller.«
Aufgewühlter, als ich zugeben wollte, machte ich mich zu meinem nachmittäglichen Boxenstopp davon, ging zu Coyle’s. Schnäppchen nickte, als er mich sah, sagte nichts, schenkte nur einen großen Whiskey ein, ließ ihn über den Tresen glitschen. Ich legte das Geld neben das Glas und ging, um mich auf einen Stuhl zu setzen, weg von ihm. An diesem Tag konnte ich wirklich keine weitere Bitterkeit gebrauchen, und auf eins konnte man sich verlassen. Schnäppchen würde bitter sein, unbändig bitter.
Fand mich neben dem Expfarrer wieder und dachte: Oh Scheiße, wollte woandershin, als er sich regte und sagte:
»Könnten Sie mir gegen das rechte Bein treten?«
Ich dachte, ich hätte ihn falsch verstanden. Ich echote:
»Ihnen gegen das rechte Bein treten?«
»Ja, bitte, es ist eingeschlafen, ich habe kein Gefühl mehr drin.«
Seine Stimme hatte so was Stranguliertes, das Ergebnis einer Operation oder von Zigaretten oder von beidem. Ich trat ihm sanft gegen das Bein, und er schüttelte den Kopf. Mir war klar, wie verrückt mein Leben geworden war. Ich sitze in einer Kneipe, trete einen Priester, und zwar, noch schlimmer, auf dessen Verlangen. Trat etwas fester, und er nickte, sagte:
»Ja, es kommt zurück.«
Sein Gesicht war von der Zeit massakriert, tiefe Furchen in den Wangen, die Augen weit hinten in den Höhlen, eine graue Bleichheit, wie der Tod. Seine Augen, hinter dem Roten, waren einst blau gewesen, jetzt waren sie wie heimgesucht. Er fragte:
»Dürfte ich Ihnen eine Erfrischung spendieren?«
Heiland, wo glaubte er, dass wir waren, auf dem Schützenfest? Ich sagte, danke, ich bin bedient, und er streckte eine zittrige Hand aus, Leberflecken bedeckten die Haut, sagte:
»Ich bin Gerald.«
Ich nahm die Hand. Die Haut fühlte sich leicht an wie Pergament. Ich drückte sie sanft, sagte:
»Ich bin Jack.«
Vor ihm ein volles Glas Hausmarke und eine Packung Players. Er hustete pfeifend, sagte:
»Die werden Ihnen gesagt haben, dass ich Priester war.«
Es war schwer, ihn zu verstehen, und ich musste mich vorbeugen, ein Hauch von Holzfeuer und Eau de Cologne entströmte ihm, natürlich mit Schnaps drin. Ich gab zu, ja, hatten die, und er sagte:
»Das sagen sie den Neulingen. Ich glaube, sie schmücken sich gern mit mir.«
Er ließ ein winziges Lächeln sehen, als wäre er davon am meisten angetan. Er versuchte, die Zigaretten zu erreichen, aber es gelang ihm nicht, also war ich ihm behilflich, zündete ihm eine an. Er fragte, ob ich auch eine wünschte. Ich sagte, ich hätte immer noch die Pflaster, und musste selbst lachen, fügte hinzu:
»Hier bin ich, ganz unten, und ich versuche, mir das Rauchen abzugewöhnen.«
Dies bedachte er gründlich, vielleicht war er auch eingeschlafen, dann fragte er:
»Glauben Sie an das Böse, Jack?«
Ich sah mich um, wollte sehen, ob man uns hören konnte, aber niemand beachtete uns, also sagte ich:
»Ich habe es aus erster Hand erlebt.«
Er wandte sich mir zu, um mich anzusehen, sagte:
»Ja, ja, das haben Sie. Und hat es Sie verbrannt?«
Ich sprach die Wahrheit, sagte:
»Es hat mich verbrannt, und es verbrennt mich noch.«
Er sagte:
»Ich war mal bei einem Exorzismus dabei.«
Ich war nicht sicher, ob ich davon hören wollte. Ich hatte genug eigene Dämonen mit mir herumzuschleppen, ich brauchte nicht noch aus berufenem Munde Zeugnis von ihnen zu empfangen. Er war still, sagte dann:
»Sie überraschen mich, Jack. Die meisten Menschen wären voller Neugierde.«
Ich wählte meine Worte mit Bedacht, versuchte:
»Es ist nämlich so: Wenn ich Sie etwas frage, kann ich mit der Antwort leben?«
Sein Gesicht knitterte sich zu einem Lächeln echten Entzückens, und er sagte:
»Was für eine wunderbare Erwiderung. Sie könnten Metaphysiker sein.«
Er nahm einen winzigen Schluck, und ich wagte mich vor:
»War der Exorzismus erfolgreich?«
Die Frage schien ihn zu quälen, dann:
»Der Junge hatte gesagt, er würde von Stimmen beherrscht. Danach sagte er, jetzt beherrsche er die Stimmen. Würden Sie das für einen Erfolg halten?«
Dauerte etwas, bis ich das verdaut hatte, dann sagte ich:
»Ein Fortschritt wäre es bestimmt, aber für wen?«
Und während ich das sagte, wurde mir klar, dass nur drei Arten von Räumlichkeiten einem solchen Gespräch förderlich waren:
Kneipen,
Anstalten,
kirchliche Gebäude.
Gerald hob die rechte Hand, ließ sie erhoben, und mir dämmerte, dass er Schnäppchen ein Signal gab. Ich sagte:
»Hey, ich hol’s Ihnen.«
Er schüttelte den Kopf, sagte:
»Nicht nötig, ich bin der einzige Gast, den er am Tisch bedient, und das liegt daran, dass er an Angst leidet. Er glaubt, wenn er sich einen Priester warmhält – und sei es auch nur so eine trostlose Ausgabe von Priester wie mich –, wird er errettet werden, der fehlgeleitete Wicht.«
Tatsächlich kam Schnäppchen herangeschossen wie der Blitz, fragte mit einer Stimme, die ich an ihm gar nicht kannte:
»Was darf es sein, Gerald?«
»Zwei von Ihrem Feinsten, Herr Wirt –, einen für meinen Gefährten.«
Schnäppchen sah mich seltsam an, als hätte er mich falsch eingeschätzt, ging die Getränke holen. Mein erstes stand immer noch unberührt da, wie die Erbsünde. Gerald sagte:
»Während dieses Exorzismus sprach der Dämon zu mir. Wünschen Sie zu wissen, was er sagte?«
Ich nahm an, ich konnte damit fertigwerden, sagte:
»Ja.«
»Er hat gesagt, er würde mich umbringen.«
Nicht zum ersten Mal zog ich einen vorschnellen Schluss, sagte:
»Sind Sie deshalb hier gelandet?«
Er stieß ein volles Gelächter aus, das zu einem schleimgetränkten Gebrüll ausartete, dann:
»Lieber Gott, nein. Der Dämon ist der Vater der Lüge. Ich bin wegen der Getränke hier.«
Schnäppchen war wieder da, stellte zwei tödliche Mengen vor uns hin. Gerald zog ein Bündel Geldscheine hervor, und Schnäppchen nahm drei, sagte:
»Danke, Herr Pfarrer.«
Ich versetzte mein Glas um ein paar Zoll, sagte:
»Prost.«
Er nickte und sagte:
»Die Heilung des Bösen ist einfach, aber oh so kompliziert.«
Ich hoffte, allmählich wieder wegzudürfen, und um das zu beschleunigen, fragte ich:
»Und zwar?«
»Liebe.«
So ein Scheiß. Er muss meine Enttäuschung gespürt haben, sagte:
»Ich habe noch nie jemanden gefragt, und wenn ich ›noch nie‹ sage, meine ich ›noch nie‹, warum er hier ist, aber Sie, Jack, würde ich gern fragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht?«
Machte es mir etwas aus? Vielleicht ein bisschen, aber was hatte ich schon zu verlieren? Sagte:
»Ich habe ein Kind umgebracht.«
Er stöhnte in echtem Schmerz, sein Gesicht verzerrte sich, und ich dachte, ich hätte einen Schlaganfall verursacht, aber er erholte sich, sagte:
»Was für eine entsetzliche Bürde.«
Wir saßen eine Zeit lang in tiefem Schweigen. Kein unbehagliches Schweigen, aber mit Bedeutung beladen, und schließlich sagte er:
»Es gibt eine Antwort.«
Ich bestand darauf:
»Nein, Gerald, nein, es gibt keine.«
Er schien das erwartet zu haben und sagte:
»Vergeben Sie sich selbst, das ist der Schlüssel.«
Er enttäuschte mich. Was für ein abgenutztes, lausiges Klischee. Ich hatte Besseres von ihm erwartet, aber ich nehme an, er war eben doch nur ein Priester. Er sagte:
»Ich habe Sie enttäuscht, ja?«
»Ein bisschen.«
»Das tut mir wahrhaft leid, ich habe sonst nichts. Ihnen sind zweifellos die Worte Kommet her zu mir, und ihr werdet Frieden finden vertraut. Das ist leider eine Lüge.«
Ich stand auf, sagte:
»Ich muss los. Man sieht sich, eines Tages, vielleicht.«
Ihm fielen die Augen zu, und ich sah, dass er gleich einschlafen würde. Er murmelte:
»Die rechte Hand des Teufels.«
Fast hätte ich etwas Verächtliches gesagt, stattdessen: »Offenbarung des Johannes?«
»Nein, Steve Earle.«