Ich ging zum Eyre Square, hatte die magere Hoffnung, vielleicht Jeff zu finden. Vielleicht hatte er sich wieder der Trink-Akademie angeschlossen. Die Sonne spielte mit uns nach irischer Weise, in der einen Minute bestens sichtbar, und man zog die Jacke aus, dachte:
»Ah, Gott sei Dank.«
Dann, sobald sie das Engagement sah, verschwand sie, und man erfror in einem Wind der Stärke 5, der schierer Bosheit entsprang. Ein Landfahrer hatte einst zu mir gesagt:
»Nicht dass die Menschen sich in Irland umbringen, Jack, ist unerklärlich, bei dem Wetter, unerklärlich ist, dass es nicht mehr sind.«
Sag was dagegen.
Renovierungsarbeiten waren in vollem Gange. Die Bäume waren weg, wie die Höflichkeit, und Arbeiter gruben bereits den Park auf, trieben Stemmbohrer in das frische grüne Erdreich. Da steckt eine tiefe Metapher drin, aber sie ist mir gerade zu traurig. Es gelang mir, mich auf eine der wenigen verbliebenen Bänke zu setzen, und ich beobachtete die Trink-Akademie, die sich zusammenklumpte, dass es aussah wie ein Gedränge beim Rugby. Falls Jeff dabei war, konnte ich ihn nicht sehen. Eine Frau näherte sich, und etwas an der Neigung ihres Kopfes war vertraut. Sie war durchschnittlich groß, hatte mausgraues Haar, etwas Zögerliches an ihrem Gang, wie ein Mensch, der überfallen wurde und sich nie davon erholt hat. Ihr Gesicht –, oh Gott, ich kannte das Gesicht.
Cathy.
Was für eine gemeinsame Geschichte wir hatten. Sie war eine Punkrockerin gewesen, die es mit einer höllischen Singstimme und einer noch höllischeren Heroinsucht nach Galway verschlagen hatte. Sie hatte erfolgreich entzogen, ich hatte sie bei einem Fall helfen lassen und dann Jeff vorgestellt.
Sie hatten geheiratet, hatten Serena May bekommen, und ich hatte das bis in alle Verdammnis hinein versiebt.
Ich hatte sie, seitdem das Kind beerdigt wurde, nicht mehr gesehen und konnte mich glücklicherweise nicht daran erinnern, was sie zu mir gesagt hat, falls sie was zu mir gesagt hat.
Mein Impuls war wegzurennen, und das so schnell wie möglich, aber meine Beine wollten nicht. Sie stand vor mir, bohrte sich in meine Augen. Was für ein Licht da auch strahlte – und etwas Dunkles war eindeutig am Brennen –, Versöhnlichkeit war es nicht. Sie sagte:
»Jack Taylor.«
Sie war Anfang dreißig, nehme ich an, aber sie sah aus wie eine schlecht erhaltene Fünfzigjährige, tiefe Falten unter den Augen und um den Mund. Wer sagt, Gram adelt, hat nie ein Kind verloren. Ich stand auf, und sie sagte verächtlich:
»Manieren? Oder rennst du weg?«
Ich versuchte:
»Cathy …«
Und es gelang mir kein einziges weiteres Wort. Alle Bücher, die ich je gelesen hatte, kein halbes müdes Garnichts wert. Mein geliebter Merton hätte bestimmt etwas zu dieser entsetzlichen Trauer zu sagen gehabt, aber an dem Tag lieferte er nichts.
Sie ging vor mir in Kampfstellung, anders kann man es nicht nennen, sagte mir ins Gesicht:
»Wie geht’s denn immer, Jack? Schlauchst dich tüchtig voll?«
Hatte keinen Sinn, ihr zu sagen, dass ich nicht trank, keinen Sinn, irgendwas zu sagen, aber schließlich schaffte ich:
»Es tut mir so leid, du ahnst ja gar nicht, wie ich …«
Ich wollte ihr sagen, dass ich monatelang in der Anstalt weggesperrt gewesen war, dass ich das Kreuz ihres Kindes jeden lebendigen Moment lang mit mir herumschleppte, dass ich den Anblick von Kindern nicht mehr ertrug, ohne dass es mir die Seele als solche versengte.
Ich sagte es nicht.
Vielleicht habe ich geseufzt. Gern hätte ich geseufzt, ich wollte weinen, bis die Flüsse austrockneten.
Ihre Körpersprache war, um es milde auszudrücken, kämpferisch, und dafür war sie korrekt gekleidet. Schwarze Lederweste, schwarze Laufhose, schwarze Trainingsschuhe und tiefschwarzer Gesichtsausdruck. Sie fragte:
»Hat die Katze deine Zunge geholt? Kein markiges Zitat für mich, keine deiner philosophischen Mäandrierungen aus all den oh-so-wichtigen Büchern, wie dem, das du gelesen hast, während du eigentlich auf mein kleines Mädchen hättest aufpassen sollen?«
Heiland.
Ihr Akzent.
Als ich sie kennenlernte, hatte sie einen Londoner Akzent, harte Kanten überall, jede Silbe troff vor Attitüde, und es gefiel mir, es war anders, es war, tja …, es war sie. Sie war eine der wenigen echten Gesetzlosen, die ich kannte. Die Pose war real, wenn das nicht ein irischer Widerspruch ist. Sie hatte sich gerade das Heroin abgewöhnt und war ein Nervenbündel, ein Bündel ungeschützt blank liegender Nervenstränge. Und diese Singstimme, wie ein düsterer verhexter Engel, weniger gefallen als abgesprungen.
Dann heiratete sie Jeff und wurde eingeboren. Wurde irischer als wir. Trug nicht gerade bestickte Umhänge, aber viel hat nicht gefehlt. Nahm einen zutiefst verstörenden irischen Akzent an, eine hybride Angelegenheit, die weder Vereinigtes Königreich noch Éire war, sondern irgendeine bastardierte bühnenirische Nummer.
Der war weg.
Ihre Londoner Kanten waren wieder da und übten Vergeltung, raue Kadenzen mit einer Bitterkeit, die einem in die Zähne trat.
In meiner Verzweiflung stellte ich genau die schlimmste Frage. Ich staune immer noch, wie krass ich danebenlag. Ich fragte:
»Wie ist es dir ergangen?«
Ich krümme mich bei den Worten.
Sie stieß ein harsches Lachen aus, das sich aus Wut und Wildheit nährte. Äffte mich nach:
»Wie ist es mir ergangen?«
Ließ es da hängen, ließ mich die schiere Ekelhaftigkeit der Nachfrage genießen. Dann:
»Na, mal sehen, nachdem ich meine Tochter begraben und meinen Mann verloren hatte, ist es mir … danke, recht gut ergangen. Bin nach London zurück, in dieses Scheißkaff, zum Heroin zurück, in all seiner Schönheit, und bin so schnell gestorben, wie ich konnte, aber dann, rate mal?«
Sie wartete, als könnte ich einen Anhaltspunkt, auch nur eine winzige Idee haben, was sie wohl meinen mochte, dann fügte sie hinzu:
»Ich hatte ein Glühbirnen-Erlebnis, weißt du, den Moment, von dem Oprah Winfrey spricht. Ich konnte dich in Galway sehen, wie du dir die pints hinter die Binde kippst, deine Bücher liest, und das hat mir enormen Auftrieb gegeben. Ich wurde clean und besorgte mir eine Mission – meinen Mann zu finden beziehungsweise meinen Mann von dir finden zu lassen. Und jetzt noch was ganz Tolles: Ich habe Schießen gelernt. Hat mich vom Schusssetzen abgelenkt. Du findest doch Sachen, stimmt’s, Jack? Das ist doch dein Beruf. Also finde meinen Mann. Ich werde in der Zeit versuchen, eine Flinte zu finden. Ich habe da aber ein kleines Problem – ich scheine nicht hoch genug zielen zu können. Wenn ich jemandem in den Kopf schießen will, treffe ich immer zu tief. Du kennst das ja, Jack, oder? Tiefschläge.«
Ihre Stimme war Eis, und von ihr tropfte eine Kälte herab, da hätte eine Leiche Gänsehaut gekriegt. Und ich dachte ausgerechnet an My Aim Is True von Elvis Costello.
Nun setzte sie hinzu:
»Und weißt du was? Wenn du ihn nicht findest, lebendig natürlich, bringe ich dich um. Wie ihr Iren so gern sagt, zu und zu schade ist’s. Na, richtig schade ist es, dass du kein Kind hast, Jack. Dann könnten wir das ganz leicht regeln. Du hast mir meine Tochter genommen, also …«
Sie ließ diese schreckliche Drohung in all ihrer nackten Bosheit wirken, fügte dann im Plauderton, sehr beiläufig, hinzu:
»Du hattest immer ein Gespür für Drama. Dann dramatisiere mal Folgendes. Sieh hoch zu den Dächern – auf einem davon werde ich stehen und auf das zielen, was als dein beschissenes, elendes steinernes Herz durchgeht. Bis dahin müsste ich meine Tendenz, zu tief zu treffen, korrigiert haben. Dir einen schönen Tag noch, ta ra.«
Die Munterkeit, mit der sie dies ta ra aussprach, war vielleicht das Frostigste, was ich je zu hören bekommen habe.