Wir waren an dem Abschnitt der Straße, der nach Galway hineinführt. Links konnte man den Ozean sehen, und wie immer erfüllte er mich mit Sehnsucht – wonach, habe ich nie gewusst. Das Schweigen im Wagen war erdrückend, und Wellewulst stellte mit einer sehr aggressiven Bewegung das Radio an.
Jimmy Norman und Ollie Jennings machten ihren Zweier über
Sport
Politik
Musik
Craic.
Ich war auf dem Nachhauseweg.
Jimmy sagte:
»Hier ist meine Lieblingsplatte.«
Und Shania Twain ließ es mit »Forever And For Always« krachen. Mir gefiel die Stelle, wo sie verspricht, dass sie dich nie untergehen lässt. Es fiel mir kein einziges menschliches Wesen ein, das mir gegenüber solche Empfindungen hegte.
Vor Jahren habe ich Bruce Springsteen auf Video gesehen, und da behielt Patti Scialfa ihn ganz fest im Auge, der Blick ein Mix aus Bewunderung, Anbetung und Besitzerstolz, das Ganze ein Arrangement tiefster Liebe. In einem schrecklichen Moment der Klarheit wusste ich, dass mich nie jemand so angeglotzt hatte. Ich hatte gemault: »Das entsetzliche Wissen, dass der Zorn Gottes unausweichlich ist.« In der Kneipe musste ich mich physisch schütteln, meinen Kopf von den Dämonen befreien. Muss mir anzusehen gewesen sein, weil Wellewulsts Blick weicher wurde, was sehr selten vorkam. Sie fragte:
»Jack, alles in Ordnung?«
Jack!
Da hatte sich, wie man so sagt, der Teufel eine Rippe gebrochen. Ich antwortete nicht, und einen irren Augenblick lang schien es, als würde sie die Hand ausstrecken und mich berühren. Dann sagte sie:
»Jack, in Galway hat sich einiges verändert.«
Ich schrak aus der rührseligen Stimmung hoch, sagte:
»Ja?«
Als wäre mir das nicht so was von scheißegal.
Sie holte Luft, dann:
»Ihre Freunde, Jeff und Cathy … Sie ist zurück nach London, und er … Tja … Er trinkt.«
Die Eltern des toten Kindes – meine Freunde. Jeff hatte die Suffkiste gewählt, wie ich. Ich hätte nach ihnen fragen können, nach den tollen harten Einzelheiten, aber er soff, da gab es nur eine Antwort. Also ließ ich es bleiben. Fragte:
»Wie geht es Mrs Bailey?«
Die Besitzerin des Hotels, in dem ich gewohnt hatte. Über achtzig und eine Frau von Format.
Wellewulst sagte nichts, dann:
»Das Hotel wurde verkauft … Und sie … ist vor einem Monat gestorben.«
Tiefschlag.
Wie eine Klinge ins Gedärm. Einst maulte ich, vor langer Zeit, als ich aus dem Delirium tremens auftauchte: »Alle sind tot, zumindest die Erwähnenswerten.«
Wellewulst fuhr fort, sagte:
»Eine Freundin von mir hat ein Apartment im Granary gemietet, kennen Sie das?«
Klar. Ich war aus Galway, ’türlich kannte ich es. Die alten Mühlen und Speicher an der Brücke waren, wie alles andere, umgebaut worden. Zu Luxus-Apartments. Mit Aussicht auf das Claddagh-Becken, die ganze Bucht. Hauptsächlich wusste ich, dass man sich da dumm und krumm zahlte. Ich fragte:
»Warum sollte mich das interessieren?«
Gelang mir nicht, das ganz ohne Bitterkeit zu sagen. Mrs Bailey war ein Bollwerk in meinem Leben gewesen. Wellewulst gab sich fast lebhaft.
»Sie hat nur eine Woche da gewohnt, weil ihre Mutter krank wurde und sie nach Dublin musste.«
Ich steckte mir eine weitere Lulle an, sagte:
»So faszinierend, wie das sein mag, würde es mich wahrscheinlich noch mehr fesseln, wenn sie mir persönlich bekannt wäre. Es stellt sich die Frage nach der Pointe.«
Der Zorn huschte über ihr Gesicht. Sie unternahm nichts dagegen, erwiderte:
»Sie sind so unerträglich wie eh und je.«
Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber jetzt schien es wirklich zu passen.
»Wenn man jemandem oft genug zeigt, was eine Harke ist, merkt er’s sich und wird selbst eine.«
Ich reckte mich, und sie sagte:
»Warten Sie … Okay?«
Ich wartete.
Sie fuhr fort:
»Ich versuche gerade, Ihnen einen Gefallen zu tun.«
Ich konnte nicht widerstehen, schnappte:
»Und habe ich Sie um einen Gefallen gebeten?«
Der Typ hinterm Tresen beobachtete uns argwöhnisch. Die feindseligen Schwingungen hatten ihn offenbar erreicht. Wellewulst stand auf, und wir gingen. Draußen überreichte sie mir einen Schlüsselring, zwei Messingschlüssel und eine silberne Reliquie der hl. Therese. Ich lächelte, konnte nicht anders. Andere Nationen greifen zu den Waffen, wir greifen zu den Reliquien. Sie lächelte ebenfalls.
»Habe ich bei der Novene gekriegt.«
Ich jonglierte mit den Schlüsseln, sagte:
»Für das Reich Gottes, würde ich sagen.«
»Nicht ganz … Für die Furbo-Suite, das Apartment meiner Freundin im Kornspeicher oder Granarium. Sie haben drei Wochen, können sich über sich selbst klar werden.«
»Ich war Monate in einer Irrenanstalt. Wie klar soll ich mir denn noch über mich werden?«
Darauf wusste sie keine Antwort.
Die Angst schlug zu, als wir Bohermore erreichten, den Friedhof zu meiner Linken. Ich sah einfach nicht hin. Tom Waits’ »Tom Traubert’s Blues« begann sich in meinem Kopf aufzudröseln … verwöhnt und verwundet.
Heiland.
Ich war mit einer Deutschen verheiratet gewesen, wenngleich nur kurz. Sie hatte Rilke an der Wand ihrer Londoner Wohnung.
»Komm nicht zurück. Wenn du’s erträgst, so sei
tot bei den Toten. Tote sind beschäftigt.«
Reuig hatte ich manches Mal gedacht: Genau, damit beschäftigt, mich heimzusuchen.
Das Gedicht ist »Requiem: Für eine Freundin«.
Wellewulst sagte:
»Sogar während Ihrer kurzen Abwesenheit hat Galway sich stark verändert.«
Es sah aus wie immer – abweisend. Ich sagte:
»Verändert, nicht zu verwechseln mit verbessert.«
Als wollte sie sich über meine Worte lustig machen, kam die Sonne heraus, als wir den Eyre Square erreichten. Sie ließ die ganze Gegend aufleuchten – die Menschenmassen im Park, sogar die Penner waren beseelt. Als wir am Fußgängerüberweg hielten, gingen Ströme von Rucksacktouristen vorbei. Wellewulst war nicht beeindruckt.
»Wir sind gerade zur schmutzigsten Stadt Irlands gewählt worden.«
Als Eingeborener war ich nicht überrascht – die wenigen Abfalleimer schienen ausschließlich als Urinale genutzt zu werden –, aber es passte mir nicht, dass das übrige Land Wind davon bekommen hatte. So rumpelig meine Geschichte in der Stadt auch gewesen sein mag –, es war die einzige Stadt, die ich hatte. Johnny Duhans »Just Another Town« fing die Widersprüche am besten ein. Ich antwortete:
»Zur schmutzigsten? Und ich nehme nicht an, dass damit der Abfall gemeint war.«
Das ignorierte sie.
»Ein Priester wurde enthauptet.«
Ich konnte nicht widerstehen, sagte:
»Wurde aber auch Zeit.«
Einige Jahre zuvor hatten Studenten die Statue von Pádraic Ó Conaire geköpft. Vielleicht war es ansteckend. Wir fuhren am frisch verschönten Great Southern Hotel vorbei, bogen nach rechts ab und passierten das Skeffington Arms, das sich ebenfalls hatte liften lassen. Nur die Eingeborenen blieben mit ihren alten Gesichtern ganz die Alten. Meine leichtfertige Bemerkung regte sie auf, und sie setzte ihren Gegenschlag niedrig an, sagte:
»Ich kannte ihn.«
Was konnte ich da tun? Ich murmelte ein lahmes »Tut mir leid«, aber das brachte überhaupt nichts. Sie schnappte:
»Tut Ihnen leid! Herrgott im Himmel, ständig tut Ihnen was leid, aber bereuen Sie auch?«
Bereute ich?
Ich erwog eine Lulle, aber sie war schon sauer genug. Weiter, an Moons vorbei, dann ein Schlenker, der dem Umweg zur Universität geschuldet war, und wieder sah ich einfach nicht hin.
Noch mehr üble Geschichte. Wie Bono brauchte ich eine Perma-Sonnenbrille. Aber dadurch wurde, hélas, nur das Licht gedämpft, nicht die Erinnerung. Wir kamen in der Dominic Street an, und sie zeigte auf eine Gasse neben dem Reisebüro für Überfahrten zu den Aran-Inseln, sagte:
»Gehen Sie da durch, und dann ist der Speicher links. Die Furbo-Suite, Ihr Apartment, ist in der obersten Etage. Leider ohne Aufzug.«
Ich war schwer zusammengeschlagen worden, und dazu gehörte auch, dass der Betreffende mit einem Hurlingschläger auf mein Knie eingehämmert hatte. Seitdem hinkte ich, zwar nicht mehr so schlimm, aber immer noch sichtbar. Ich sagte ihr:
»Ich bin sehr dankbar, aber ich muss fragen, warum. Warum helfen Sie mir?«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Vielleicht brauche ich mal einen Gefallen, und zwar bald. Außerdem steht das Apartment leer. Es hilft meiner Freundin, und Sie brauchen eine Unterkunft –, ist doch alles nicht so kompliziert.«
Einiges wusste ich mit Bestimmtheit, aber mit ganz besonderer Bestimmtheit wusste ich, dass dies kompliziert werden würde. Also fragte ich:
»Was für einen Gefallen brauchen Sie?«
Sie hatte bereits den ersten Gang eingelegt, schnappte:
»Nicht jetzt.«
So verloren wie nur je stand ich auf der Straße, die Reisetasche zu meinen Füßen, sah zu, wie sie am Kanal wendete und nach Westen verschwand. Sie hatte sich nicht umgesehen.
Wozu auch?
Die Furbo-Suite verblüffte mich. Widerborstig, wie ich war, hatte ich mir vorgenommen, nicht beeindruckt zu sein. Was war es schon groß? Nix als eine Pofe auf Zeit, wie ich schon zahllose erlebt hatte.
Ich sollte mich irren.
Die Suite war sensationell. Voll in Fichte getäfelt, hohe Zimmerdecken und wahrhaft luxuriös. Balken versahen die Decke mit einem Kreuzmuster, und die ganze Dachkonstruktion wirkte irgendwie beruhigend. Es gab eine Treppe. Ich war natürlich nur auf ein Stockwerk vorbereitet gewesen. Die Schlafzimmer – ja, Mehrzahl – waren im Parterre, dann die Treppe hoch in ein riesengroßes Wohnzimmer, von großen Fenstern umgeben. Ich glotzte, sagte:
»Scheiße auch.«
Das Beste war die Aussicht. Über den Claddagh, die Schwäne und die gesamte Bucht von Galway in all ihrer Pracht. Ich liebte die Suite. Für alles war gesorgt: Handtücher, Bügeleisen, Video, Geschirr, und auf einem Zettel stand, der Abfall würde jeden Tag abgeholt. Ich machte den Kühlschrank auf: Milch, Butter, ein Huhn, zwei Steaks, Koteletts.
Wellewulst, folgerte ich.
Ich machte Kaffee und zog zu einem schweren Sessel aus Eiche vor dem größten Fenster, ließ mich hineinsinken und starrte die Aussicht an. Ich fühlte mich ansatzweise entspannt und atmete langsam aus. Mir war nicht einmal aufgefallen, dass ich den Atem angehalten hatte. Nahebei ein kleiner Tisch mit einem Telefon, und wenn ich irgendjemanden zum Anrufen gehabt hätte, hätte ich angerufen.