Meine stärkste Erinnerung an die Nervenklinik

die Klapsmühle

die Irrenanstalt

das Verwirrtenheim

ist ein Schwarzer, der mir vielleicht das Leben gerettet hat.

In Irland …? Ein Schwarzer rettet einem das Leben, ich meine, wie wahrscheinlich ist das denn? Ein Zeichen für das Neue Irland und möglicherweise, nur möglicherweise, ein Hinweis auf den Tod des alten Jack Taylor. Wie ich fünf Monate lang gewesen war, auf einen Stuhl gesackt, eine Wolldecke über den Knien, die Wand angestarrt. Auf meine Medikamente gewartet, tot bis auf die Formalitäten.

Nur mal eben zum Waschen weg.

Der schwarze Mann beugte sich über mich, pochte mir sanft an den Kopf, fragte:

»He, Bruder, jemand zu Hause?«

Ich antwortete nicht, hatte die letzten Monate nicht geantwortet. Er legte mir die Hand auf die Schulter, flüsterte:

»Nelson ist heutigentags in Galway, Mann.«

Mann!

Mein Mund war trocken, immer, von der hohen Dosierung. Ich krächzte:

»Welcher Nelson?«

Er sah mich an, als wäre ich noch schlimmer dran, als er gedacht hatte, antwortete:

»Mandela, Mann.«

Ich kämpfte, um den Kopf aus der Schlangengrube zu kriegen, die mich, wie ich wusste, erwartete, sagte versuchsweise:

»Und wenn … mir das … scheißegal ist?«

Er lüpfte sein T-Shirt – die Nationalmannschaft von Kamerun war drauf –, und ich zuckte zurück, der erste Messerstich der Wirklichkeit, der Wirklichkeit, vor der ich floh. Seine Brust war wund und rau, mit den hässlichen Striemen von Transplantationen. Weiße, ja, weiße Verletzungen schlängelten sich über seinen Torso. Ich glotzte, knüpfte gegen meinen Willen einen menschlichen Kontakt. Er lächelte, sagte:

»Sie wollten mich deportieren, da habe ich mich selbst in Brand gesteckt, Mann.«

Er griff in seine Jeans, holte eine Zehnerpackung Blue Silk Cut und ein Feuerzeug heraus, steckte mir eine Lulle zwischen die Lippen, zündete sie an, sagte:

»Jetzt rauchst du auch, Bruder.«

Bruder.

Das saß und rührte mich tief. Damit begann der Prozess des Zurückkommens. Er berührte meine Schulter, meinte:

»Du hältst dich an mich, Mann, hörst du?«

Ich hörte.

Der Teewagen kam, und er holte zwei Tassen, sagte:

»Ich habe den schweren Zucker reingetan, der bringt dich in die Gänge, macht dir Feuer unterm mojo, dass es anspringt.«

Ich fasste die Tasse mit beiden Händen an, spürte die stumpfe Wärme, riskierte einen Schluck. Er war gut, süß, aber tröstlich. Er beobachtete mich scharf, fragte:

»Kommst du, Bruder? Kommst du da raus?«

Das Nikotin raste in meinem Blut. Ich fragte:

»Warum? Wozu?«

Ein großes Lächeln, die Zähne unglaubwürdig weiß gegen die schwarze Haut. Er sagte:

»Mann, wenn du da so sitzt, verbrennst du langsam.«

***

So fing es an.

Ich ging sogar in die Krankenhausbibliothek. Sie wurde von einem Mann Ende sechzig geführt, der eine schwarze Hose und ein schwarzes Sweatshirt trug. Erst dachte ich, das Hemd hätte einen weißen Kragen, aber zu meinem Entsetzen sah ich, dass es Schuppen waren. Er hatte so was Klerikales, einen Ausdruck von gravitas, als hätte er das Handbuch über Bibliothekare gelesen und am Image Gefallen gefunden. Es war das einzige Territorium in dem ganzen Laden, wo Ruhe herrschte, man konnte die stumme Qual nicht hören, die in den anderen Räumen so deutlich war.

Ich hielt ihn für einen Priester, und er starrte mich an, sagte:

»Du glaubst, ich wäre ein Priester.«

Er hatte einen Dubliner Akzent, und der klingt immer aggressiv, als könnte man sich nicht auch noch mit culchies, mit Landeiern, abgeben – da war man doch viel lieber bereit, sich mit jedem Bauern zu schlagen, der einen herausfordert. Eine Frage an jemanden aus Dublin wird immer als Herausforderung interpretiert. Ich war das Sprechen noch nicht gewohnt. Man hält monatelang die Klappe, lauscht nur dem weißen Lärm, man muss dann kämpfen, um echte Wörter zu bilden. Ich war aber, nach allem, was ich durchgemacht hatte, nicht eingeschüchtert, war nicht gewillt, mir von einem Sackgesicht etwas bieten zu lassen. Schnappte:

»So gründlich habe ich nun auch wieder nicht über dich nachgedacht, Burschi.«

Schön mit schneidendem Galwayer Tonfall versetzt. Was ich eigentlich sagen wollte, war: Mensch, schaff dir doch mal Anti-Schuppen-Shampoo an, ließ es aber. Er gackerte wie eine geknebelte Todesfee, sagte:

»Ich bin schizophrener Paranoiker, aber keine Angst, ich nehme meine Pillen, da kann dir nach menschlichem Ermessen nicht viel passieren.«

Vor dem menschlichen Ermessen nahm man sich besser in Acht. Er sah kurz auf sein linkes Handgelenk, an dem keine Armbanduhr befestigt war, und sagte:

»So spät schon? Muss mir meine Koffeindröhnung holen. Wehe, du klaust was, ich merke das, ich habe die Bücher zweimal gezählt.«

Ein Buch zu klauen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, aber wenn ein Dubliner einen bedroht? Die Bücher waren ein Mix aus Agatha Christie, gekürzten Reader’s Digest-Hauptvorschlagsromanen, Sidney Sheldon und drei Jackie Collins. Ein sehr alter Band stand einsam herum, wie ein Junge, der nicht in die Mannschaft gewählt wurde. Ich nahm ihn. Pascal, Pensées.

Klaute ihn.

Dachte nicht, dass ich ihn je aufschlagen würde.

Irrte mich.

Ich weigerte mich, weiter meine Pillen zu nehmen, begann mich umzutun, von den Monaten der Tatenlosigkeit tat mein schlimmes Bein wieder weh. Ich spürte, wie meine Augen sich vom Neun-Meter-Blick zurückzogen, nicht mehr nur den toten Punkt fixierten. Nach ein paar Tagen wurde ich zur psychiatrischen Oberaufsicht befohlen, einer Endfünfzigerin namens Joan Murray. Sie war schwer gebaut, konnte es aber gut tragen, ihre Hände waren knochig. Ein Claddagh-Ring am Ringfinger, das Herz nach innen gedreht. Sie sagte:

»Sie haben mich in Erstaunen versetzt, Jack.«

Mir gelang ein knappes Lächeln, das Lächeln, das man sich aneignet, wenn man zum ersten Mal die Polizeiuniform anzieht. Es hatte nichts mit Humor oder Wärme zu tun, eher mit Feindseligkeit. Sie lehnte sich zurück, lockerte ihre Finger, fuhr fort:

»Wir bekommen hier nicht viele Wunder zu sehen. Zitieren Sie mich nicht, aber dies ist der Ort, an dem die Wunder sterben. In all den Jahren habe ich noch nie eine so gründliche Wiederherstellung wie Ihre erlebt. Was ist geschehen?«

Ich wollte die Wahrheit nicht weitersagen, hatte Angst, wenn ich sie artikuliere, verkehrt sie sich gegen mich. Sagte:

»Ich habe gehört, dass David Beckham verkauft wurde.«

Sie lachte laut auf, sagte:

»Das müsste genügen. Ich habe Kommissarin Nic an Iomaire kontaktiert, die Sie hierhergebracht und sich immer über Ihren Zustand informiert hat.«

Nic an Iomaire, Wulst-, Welle-, Bergkammtochter, um es übersetzt zu sagen. Tochter eines alten Freundes, wir waren in einer Reihe von Fällen widerstrebende Verbündete gewesen. Unser Verhältnis war stachlig, zornig, auf Konfrontation angelegt, aber auf unerklärliche Weise andauernd. Wie Ehe. Wir kämpften wie Ratten in der Falle, bissen einander und knurrten uns an. Wie soll ich die Dynamik oder Dysfunktion unserer Allianz erklären? Vielleicht hatte ihr Onkel, Brendan Flood, etwas damit zu tun. Er war mein gelegentlicher Freund gewesen, verlässliche Informationsquelle und Expolizist. Sein Selbstmord hatte uns beide erschüttert. Ganz gegen ihre Neigung war sie jetzt zu meiner Quelle geworden. Ich hatte ihr geholfen, bei ihren Vorgesetzten gut auszusehen, und vielleicht half meine Anwesenheit in ihrem Leben, das Andenken an ihn am Leben zu halten. Auch sie war eine Einsame, durch ihre sexuelle Orientierung isoliert und ausgegrenzt. Da wir sonst niemanden hatten, klammerten wir uns aneinander, nicht die Partnerschaft, die sie oder ich anstrebten. Oder, was soll’s, vielleicht waren wir beide so seltsam, so anders, dass niemand sonst uns ertragen mochte.

Die Ärztin fragte:

»Erinnern Sie sich, wie Sie hierhergekommen sind?«

Ich schüttelte den Kopf, fragte:

»Kann ich eine Zigarette haben?«

Sie stand auf, ging an einen Wandschrank, holte ein schweres Schlüsselbund hervor und schloss ihn auf. Das ist die Tonspur einer Klapsmühle, das Klirren von Schlüsseln. Das und ein leise angestimmtes Stöhnen des menschlichen Geistes, wie er eingeschmolzen wird, von den Seufzern der Verlorenen akzentuiert. Sie nahm eine Packung B&H heraus, riss das Zellophan ab, fragte:

»Sind die okay?«

Hatte ich die Wahl? Sagte:

»Hauptsache, man kann husten.«

Und wieder lachte sie. Sie brauchte eine Weile, bis sie Streichhölzer gefunden hatte, aber schließlich brachte sie mich in Gang und sagte:

»Sie sind Alkoholiker, Jack, und waren früher schon mal hier.«

Ich antwortete nicht.

Was soll man da auch sagen? Sie nickte, als wäre das Bestätigung genug, fuhr fort:

»Aber diesmal haben Sie nicht getrunken. Überrascht? Laut Frau Nic an Iomaire waren Sie einige Zeit lang nüchtern. Nach dem Tod des Kindes …«

Ich biss auf den Filter, fror ihre Worte ein.

Nach dem Tod des Kindes.

Ich konnte die Szene in ihrer gesamten grässlichen Deutlichkeit sehen. Ich sollte auf Serena May aufpassen, das Kind meiner Freunde Jeff und Cathy, das Kind mit Down-Syndrom. Dieses Kind, den einzigen echten Wert in meinem Leben. Wir waren uns nahegekommen; das kleine Mädchen liebte es, wenn ich vorlas. Es war ein glühend heißer Tag, ich hatte das Fenster des Zimmers im ersten Stock geöffnet, in dem wir waren. Ich war kurz zuvor bei Ermittlungen übel zusammengeschlagen worden und entsprechend unkonzentriert. Das Kind fiel aus dem Fenster. Nur ein winziger Schrei, und weg war sie. Danach hat mein Geist einfach dichtgemacht.

Ich sah über den Schreibtisch. Sie fügte hinzu:

»Sie sind in Kneipen gegangen, haben Whiskey bestellt, schön Guinness dazu, das Ganze säuberlich vor sich aufgestellt und einfach die Gläser angestarrt.«

Sie hielt inne, damit die Tatsache, dass ich wirklich nicht getrunken hatte, sich setzen konnte, dann:

»Ihre Polizistin hat Sie hergebracht.«

Sie wartete, also sagte ich:

»Üble Getränkeverschwendung.«

Kein Gelächter, nicht mal ein Lächeln. Sie fragte:

»Worauf basiert Ihre … Freundschaft? Mit ihr?«

Fast hätte ich gelacht, wollte auf verdammtescheißenochmal Kon. Fron. Tation sagen. Ist aber ein Wort, das die Zunge manchmal nicht schafft. Als ich nichts sagte, sagte sie:

»Sie werden uns morgen verlassen. Kommissarin Nic an Iomaire kommt, um Sie abzuholen. Meinen Sie, dass Sie’s schaffen?«

Würde ich es schaffen?

Ich drückte die Zigarette in einem Messingaschenbecher aus. In der Mitte war ein Hurlingspieler abgebildet, dazu die Worte

G. A. A. ANNUAL CONVENTION

Ich sagte:

»Ich werde es schaffen.«

Sie taxierte mich, dann:

»Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer und ein Rezept für ein mildes Beruhigungsmittel, um Ihnen über die ersten Tage zu helfen. Unterschätzen Sie die Schwierigkeiten nicht, wenn Sie in die Welt zurückkehren.«

»Bestimmt nicht.«

Sie machte an ihrem Ring herum, sagte:

»Sie sollten zu den Anonymen Alkoholikern gehen.«

»Stimmt.«

»Und Kneipen meiden.«

»Jawoll, Ma’am.«

Ein kleines Lächeln. Sie stand auf, reichte mir die Hand, sagte:

»Viel Glück, Jack.«

Ich nahm ihre Hand, sagte:

»Danke.«

Ich war an der Tür, als sie hinzufügte:

»Ich bin Liverpool-Fan.«

Fast hätte ich gelächelt.

An jenem Abend nahm ich meine erste richtige Mahlzeit mit der allgemeinen Bevölkerung ein. Die Atmosphäre in der Kantine war gedämpft, fast religiös. Lange Tische, an denen sich knapp hundert Patienten sammelten. Die Freuden großzügiger Medikation. Ich bekam einen Teller mit Würsten, Kartoffelbrei und zusätzlich Blutwurst. Ich konnte das Essen schmecken, beinah genießen, bis der Fernseher eingeschaltet wurde. Er stand über dem Raum, an Stahlträgern befestigt, angekettet. Was? Falls ihn jemand klauen wollte? Die Eröffnungsfeier der Paralympics mit Irland als Gastgeber. Eine Woge der Benommenheit erfasste mich, als das Gesicht eines behinderten Kindes den Bildschirm füllte. Der Grund für meine Anwesenheit. Ich stieß mich vom Tisch ab, stand auf. Eine Frau mit wirrem schwarzen Haar, die Nägel abgebissen bis aufs Blut, fragte:

»Krieg ich dein Happa?«

Herzrasen. Ein Schweißstrom lief mir den Rücken hinunter, suppte mein Hemd durch. Serena May, das einzige Licht in einem immer dunkler werdenden Leben.

Tot.

Drei Jahre alt und dahin, weil ich nichts mehr unter Kontrolle, weil ich nicht aufgepasst hatte. Als ich aus dem Speisesaal schoss, rief ein Patient:

»Ey, schluck’s runter.«

In meinem Entsetzen dachte ich, er hätte gesagt: »Ey, schubs runter.«

Am nächsten Morgen hatte ich gepackt, war bereit. In meiner Reisetasche waren Hose, Hemd und Rosenkranz.

Die irische Überlebensausrüstung.

Ach, und Pascal.

Ich wollte den schwarzen Mann finden, ihm für seine Hilfe danken. Ich hatte eine Zwanzigerpackung Lullen, die wollte ich ihm geben. Die Ärztin hatte sie mir zum Rezept gelegt. Der schwarze Mann stand im Tagesraum und starrte eine Zeitung an. Nein, er las sie nicht, er hielt sie nämlich verkehrt rum. Ich hatte erfahren, dass er Solomon hieß, sagte:

»Solomon.«

Keine Reaktion.

Ich ging in die Hocke, versuchte es noch einmal. Er war an der Wand heruntergerutscht. Langsam hoben sich seine Augen, und er fragte:

»Kenne ich Sie?«

»Ja, du hast mich aus dem Sumpf gezogen, weißt du nicht mehr?«

Ich wollte ihm die Lullen geben, und er bedachte mich mit einem pikierten Blick, sagte:

»Ich rauche nicht, Boss.«

Ich wollte seine Hand berühren, aber er stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, sagte dann:

»Verpiss dich, weißer Mann.«

Später, Monate später, rief ich im Krankenhaus an, um zu fragen, ob ich ihn vielleicht besuchen kann, und mir wurde gesagt, seine Deportation sei beschlossen worden. Die Regierung deportierte gerade achtzig unerwünschte Ausländer pro Tag. Er nahm zwei nasse Laken, an selbigem Morgen frisch gestärkt, und erhängte sich in der Wäscherei.

Das Neue Irland.