Ich ging mit einer gewissen Bangigkeit die St Patrick’s Avenue entlang, am Haus des Stalkers vorbei, rechnete halbwegs damit, dass er jeden Moment herausgestürzt kommt. Aber im Westen nichts Neues, und schon gar nicht auf der Avenue. Bei der Kirche sah ich auf die Uhr – fünf vor halb elf – und bemerkte einen Typ, der mit dem Rücken gegen die Kirchenmauer gelehnt auf dem Boden saß. Es würde Malachy gar nicht gefallen, den dort zu sehen. Die Sonne schien, aber in der Luft war ein Kälteeinbruch zu spüren. Der Typ trug Jeanszeug und ein rotes Tuch um den Hals, das besagte, dass er Franzose oder affektiert war, las ein Buch, sah auf, als ich mich näherte, sagte:
»Tag auch, Sportsfreund.« Australier.
Ich nickte, und er hielt das Buch hoch, Artemis Fowl von Eoin Colfer, sagte:
»Wahnsinnsbuch.«
Ich fragte:
»Ist Ihnen da nicht kalt?«
Nicht, dass mir das nicht scheißegal gewesen wäre. Er reckte sich, sagte:
»Mir? Spür die Kälte nicht. Irland kann gar nicht richtig kalt, oder?«
Trug mein Scherflein zum Fremdenverkehr bei, sagte:
»Jedenfalls nicht mit Absicht.«
Er legte das Buch beiseite, sagte:
»Brauche etwas Proviant. Wo wäre es empfehlenswert?«
»Das Pucan, in der Forster Street. Die machen große Pfannengerichte.«
Er leckte sich die Lippen, rieb sich die Hände, sagte:
»Prima, passgenau. Man sieht sich, Sportsfreund.«
Und weg war er, sein Halstuch blowing in the wind, wobei mir das Gerücht einfiel, dass Bob Dylan nächsten Sommer nach Galway kommen würde. Ihn zu sehen, würde ich ernsthaftes Bargeld zahlen. Ich mochte ihn, weil er älter war als ich. Solang Bob mir altersmäßig voraus war, war ich noch nicht reif für den Schindanger. Die Messe war vorbei, und die Gläubigen begannen, aus der Kirche zu tröpfeln, hauptsächlich alte Leute, und sie machten weder einen sehr erhobenen noch einen sehr erbauten Eindruck. Ich nehme an, es gab charismatischere Prediger als Malachy. Zehn Minuten vergingen, und ich begann mir Sorgen zu machen, dass das Eis schmilzt. Malachy erschien in einer Wolke aus Rauch und Grimm, trabte an mir vorüber, drehte sich, als ich nicht folgte, um und bellte:
»Kommst du jetzt mit oder nicht?«
»Sagen wir nicht mehr Guten Morgen? Tun wenigstens, als wären wir ein bisschen zuvorkommend?«
Er warf seine Zigarette weg und steckte sich sofort eine neue an, sagte:
»Ich fühle mich nicht sehr zuvorkommend.«
»So kenne ich Sie ja gar nicht.«
Ich fiel neben ihm in Gleichschritt, und wir gingen in Richtung College Road. Er sah kurz auf die Tüte von Roche’s, sagte:
»Wehe, das ist Alkohol.«
»Das ist Eiskrem –, nicht, dass es Sie was anginge.«
Er starrte mich an, sagte:
»Es ist halb elf Uhr vormittags, wer isst denn um diese Tageszeit?«
Ich wollte ihm auf die Ohren hauen, sagte:
»Ich habe gehört, sie mag gern Süßes.«
Er antwortete nicht. Wir blieben vor einem Haus auf halbem Wege den Hügel hoch stehen, und er fragte:
»Warum lässt du die ganze Sache nicht einfach auf sich beruhen?«
Ich sagte ihm die Wahrheit. Wie Sean Connery sagte: Sag ihnen die Wahrheit, dann ist es ihr Problem.
»Das kann ich nicht.«
Er steckte einen Schlüssel in die Tür, sagte:
»Also, ich werde anwesend sein, während du sie … verhörst. Bedenke stets, dass die arme Frau über siebzig ist.«
Ich packte ihn am Handgelenk, schwächte den Zorn in meiner Stimme nicht ab, sagte:
»Bedenken Sie stets, dass ein Priester geköpft wurde und sie von seinem Treiben wusste. Und, nein, Sie werden nicht anwesend sein. Muss ich Ihnen wieder mit den Zeitungen drohen?«
Wir traten in einen kleinen Salon mit einem großen Bild des Allerheiligsten Herzens Jesu Christi an der Wand. Der Holzfußboden war blitzsauber, glänzte sogar. Malachy brüllte:
»Schwester, wir sind da.«
Mahnte mich:
»Pass auf deine Manieren auf.«
Ich hörte leise Schritte, und die Nonne kam herein. Sie war so nonnenhaft, geradezu wie eine Karikatur. Sie trug ein schweres Habit, vorne von einem großen Silberkruzifix geschmückt, die Gestalt am Kreuz in wilder Qual verzerrt. Das Habit reichte bis auf ihre Schuhe hinab, diese winzigen schwarzen Lackschuhe – denen nicht unähnlich, die die Tänzerinnen von Riverdance tragen. Ihr Gesicht war faltenlos, ein wunderschöner Teint und bekümmerte blaue Augen. Sie war leicht gebeugt und bedachte mich mit einem winzigen Lächeln, eindeutig angstvoll. Malachy sagte:
»Guten Morgen, Schwester. Dies ist Jack Taylor, er möchte nur ein paar Minuten Ihrer Zeit.«
Ich war erstaunt von seiner Stimme, nicht bittend, sondern sanft, als spräche er mit einem zurückgebliebenen, schüchternen Kind. Sie sah uns an, fragte dann:
»Möchten Sie etwas Tee? Ich habe ein Kännchen frisch aufgebrüht, und Brot, frisch aus dem Backofen.«
Um Malachy zu ärgern, hätte ich fast um einen großen Jameson gebeten, aber er sagte:
»Ich werde im Zimmer nebenan sein. Sie rufen, Schwester, wenn Sie fertig sind.«
Bestürzung war auf ihrem Gesicht, als ihr klar wurde, dass sie mit mir allein sein würde. Er blickte finster in meine Richtung, tätschelte ihr die Hand und ging. Ich wartete einen Moment, hielt ihr dann die aufgeweichte Tüte hin, sagte:
»Man hat mir gesagt, dass Ihnen so was schmeckt.«
Sie nahm die Tüte, sah nicht hinein, sagte:
»Sie hätten sich keinerlei Mühe machen sollen, aber Gott segne Sie, bitte, setzen Sie sich.«
Ich setzte mich. Sie blieb stehen, bereit zur Flucht. Ich fragte:
»Sie haben Pater Joyce gekannt, haben ihn gut gekannt?«
Herumeiern hatte keinen Sinn, die Zeit lief, und Malachy konnte jeden Moment den Stecker rausziehen. Sie zuckte zusammen, gab zu, dass sie ihn gekannt hatte. Sie wich meinem Blick aus, und das irritierte mich – also beschloss ich, sie rasch festzunageln, schnarrte:
»Ihnen war klar, was er diesen Jungs, den Messdienern, antat?«
Lügen Nonnen? Ich wüsste nicht, warum nicht, aber sie haben wahrscheinlich nicht allzu viel Gelegenheit dazu. Sie seufzte tief, nickte. Ich hatte Entschuldigungen, Ausflüchte erwartet. Sie hielt sich offensichtlich ebenfalls an Sean Connerys Diktum. Ich mischte meinem Tonfall etwas Stahl bei, sagte:
»Und Sie haben nichts unternommen. Sie haben ihn diese jungen Menschen zerstören lassen und dabei, was, zugesehen?«
Barscher, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. Ihr Gesicht verzog sich, und ich sah, dass sich Tränen in den Augenwinkeln sammelten, aber das machte es auch nicht besser. Ich setzte nach:
»Wem gelten die Tränen, Ihnen selbst oder dem Stück Müll, das sich Pfarrer nannte?«
Jetzt sah sie mich an, und mit einem Anflug von Zorn in diesen blauen Augen sagte sie:
»Damals war das anders, Sie müssen das verstehen …«
Ich schnappte:
»Sagen Sie mir bloß nicht, was ich zu tun und zu lassen habe, Schwester. Und machen Sie hier nicht plötzlich auf entschlussfreudig.«
Sie wich zurück, als wäre mein Ärger etwas, von dem sie sich physisch wegbewegen müsste. Der Herr weiß, dass ich viel zu oft aus Wut gehandelt habe, und die Folgen waren meist zerstörerisch. Unbändige Wut hat einen Großteil meines Lebens bestimmt, aber die weiß glühende Aggressivität, die ich gegenüber dieser alten Frau empfand, war mir neu, und ich konnte sie nicht zügeln. Ich wollte eine Delle in ihre kirchliche Rüstung schlagen, sie dazu zwingen, sich zu ihrer Komplizenschaft zu bekennen.
Ich senkte bewusst die Stimme, damit Malachy nicht hereingeteufelt kam. Ich war mit dem armen Geschöpf noch nicht fertig, noch lange nicht. Fast spuckte ich:
»Als die Polizei den Mord untersuchte, haben Sie sich da nicht veranlasst gesehen, Kontakt mit den Behörden aufzunehmen?«
Sie bekreuzigte sich, als könnte das Ritual sie beschützen, murmelte auf Irisch: Máthair an Íosa … Mutter Jesu. Sie antwortete:
»Das hätte mir nicht zugestanden.«
Ich zeigte ihr den Ekel auf meinem Gesicht, fragte:
»Und als die Jungens, die Männer, Schritte gegen den Pfarrer unternommen haben, fanden Sie nicht, dass es an der Zeit gewesen wäre zu sprechen, oder stand es Ihnen da noch immer nicht zu?«
Sie stand Qualen aus. Das war doch mir so wurscht, ich fuhr fort:
»Einer der Jungens, der, der so gern die Schwäne gefüttert hat, meinen Sie nicht, den hätten Sie zumindest trösten können?«
Ihre Augen weinten, durch ihren Körper gingen stille Schauer, und sie sagte:
»Der arme Kerl, er war so klein. Ich habe ihm Schokolade zugesteckt.«
Ich explodierte.
»Schokolade! Allmächtiger Gott, wie großartig von Ihnen! Und das hat geholfen, ja? Beim nächsten Arschfick des Pfarrers konnte er an Schokolade denken, wie wunderbar!«
Das A-Wort gab ihr fast den Rest, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich blanker Terror, als durchlebte sie diesen Moment noch einmal, habe sie ihn konkret vor Augen. Vielleicht konnte sie das.
Sie sagte:
»Er zeigte eine Reaktion, als würde er jeden Moment ohnmächtig. Sein ganzer Körper hat sich geschüttelt, die Augen sind ihm in den Kopf gesunken …«
Ich schnitt ihr das Wort ab, sagte:
»Aber es ist Ihnen gelungen, das zu ignorieren, einfach so weiterzumachen, keine besonderen Vorkommnisse, die Böden sind zu bohnern, die Blumen am Altar zu drapieren, eben der wirklich lebenswichtige Scheiß?«
Ich hörte Malachy kommen – Besuchszeit vorbei. Sie sagte:
»Ich sehe diesen Jungen jeden Tag vor mir, den der Herr werden lässt.«
Dann, als hätte sie die Gabe der Prophetie gepackt, rollte sie die Augen – wie die Visionäre oder die Politiker in Ulster, wenn sie voll in Fahrt sind –, stimmte beschwörend an:
»Eine Enthauptung … Sehen Sie in die Bibel … Salome, die Frau … Die Frau ist es, die Sie suchen.«
Ich wandte mich von ihr ab, murmelte:
»Schieben Sie ab in die Hölle.«
Sie hielt den Kopf gesenkt, zeigte auf die nunmehr völlig durchgeweichte Roche’s-Tüte, sagte:
»Danke dafür.«
Als Malachy die Schwelle erreicht hatte, sagte ich so leise, dass sie es eben gerade hören konnte, nur sie:
»Ich hoffe, Sie ersticken dran.«
Draußen fragte Malachy:
»Na, hast du gekriegt, weshalb du hergekommen bist?«
Ich fühlte mich beschmutzt, witzelte:
»Ich glaube, es ist ganz gut gelaufen.«
Er steckte sich eine Zigarette an, beglotzte mich, dann:
»Ich hatte nie eine hohe Meinung von dir, aber als strammen Antiklerikalen kannte ich dich noch gar nicht.«
Worauf ich keine Antwort hatte und fragte:
»Haben Sie je einen Pater Gerald gekannt?«, und ihn beschrieb.
Er tat ihn mit einem Wedeln der Hand ab.
»Ah, ein Trunksüchtiger, ein Suffkopp, ein Schluckspecht – genau wie du.«
Als ich nicht anbiss, setzte er hinzu:
»Der Mann war brillant, weißt du. Sollte in den Vatikan versetzt werden, hätte alles haben können – sogar den roten Hut. Aber irgendwas ist passiert. Da war Gerede von einem Exorzismus, aber dem messe ich keinerlei Bedeutung bei. Wie du war er schlicht nutzlos, hat sich alles durch die Gurgel gejagt und ausgepisst. Alkis, man kann sie nicht retten, sie gehören dem Teufel.«
Ich war zu müde für die volle Distanz und fragte:
»Haben Sie schon mal Steve Earle gehört?«