Als ich zum Newcastle Park kam, zu dem Haus, in dem Sarah Bradley gewohnt hatte, musste ich mich regelrecht treten. Die Stimme sprach:
»Was für eine Zeitverschwendung, von verdammt leichtsinnig ganz zu schweigen.«
Ich klopfte an die Tür, die von einem extrem hässlichen Mädchen mit Latzhose und nackten Füßen aufgemacht wurde. Dreckigen nackten Füßen.
Sie schnappte:
»Was?«
Genau so.
Ich war versucht zu sagen:
»Die Füße könntest du dir zum Beispiel schon mal waschen.«
Begann meinen Schwindel, indem ich ihr rasend schnell meine Brieftasche zeigte. Da waren ein abgelaufener Führerschein und mein Bibliotheksausweis drin.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich komme von der Allianz auf Gegenseitigkeit, und es wurde auf Ihre frühere Mitbewohnerin Sarah Bradley eine Lebensversicherung abgeschlossen. Ich müsste da noch ein paar Punkte klären.«
Sie rief über die Schulter:
»Peg, da ist so ein Typ von der Versicherungsgesellschaft, bist du vorzeigbar …? Oh …, ich bin Mary.«
Ich verstand die gedämpfte Antwort nicht, aber sie klang nicht nach einem Willkommen. Mary winkte mich herein, ging vor mir einen Korridor entlang. Das Studentenaroma von Curry, Füßen, Bier, Trimm-dich-Gerät und forcierter Bonhomie. Peg war auch kein doller Anblick, aber sie hatte kein Problem damit. Im geschlitzten Nachthemd kam sie die Treppe herunter, gähnte. Ihre Körpersprache deutete an, dass sie diesen Körper einzusetzen verstand.
Sie sagte mit Beavis / Butt-Head-Akzent:
»Scheiße, ich brauch Kaffee, und zwar ein bisschen dallo-dallo.«
Clueless hatte sie wahrscheinlich nicht studiert, aber eindeutig war sie bei Popular in die Schule gegangen.
Ich starrte auf den unteren Treppenabsatz, wo Sarah gestorben war.
Peg sagte:
»Parken wir uns in der Küche.«
Jetzt war sie Susan Sarandon. Ich folgte. Die Küche sah aus, als wäre eine nachlässige Bombe eingeschlagen. Klamotten, Bücher, CDs, leere Pappschachteln vom Mitnehm-Chinesen (hoffte zumindest, dass sie leer waren), Strumpfhosen, Büstenhalter, Weinflaschen mit Kerzenstümpfen und ausrangiertes Selbstdreher-Papier.
Mary machte Kaffee, fragte:
»Sie auch einen?«
»Nein, ich brauche nichts.«
Ich kauerte mich auf einen harten Stuhl, holte mein Notizbuch heraus, sagte:
»Nur ein paar Fragen, und schon bin ich … dallo-dallo wieder weg.«
Mal sehen, wie Peg die Echo-Behandlung gefiel. Sie kam nicht an. Peg ließ mir über den Rand ihrer Tasse hinweg einen koketten Blick zuteilwerden, sagte:
»Sie sehen aus wie ein Polizist.«
Ich ließ ihr mein schüchternes Lächeln zuteilwerden, als wäre ich insgeheim geschmeichelt. Ich war mir nicht ganz sicher, wie im Versicherungswesen gelächelt wird, aber ein Raubtierlächeln war für den Anfang schon mal nicht schlecht. Ich fragte:
»War Sarah ungeschickt? Neigte sie dazu, hinzufallen?«
Peg warf Mary einen Blick zu, ich versuchte, ihn zu deuten, scheiterte aber. Peg grub in einem Haufen zerknüllter Zigarettenschachteln nach einer Lulle, fand eine, zündete sie am Gasherd an, sagte zu Mary:
»Er fragt, ob sie besoffen war, ob sie Trinkerin war … Das fragen Sie doch, oder? Das schreibt er dann in seinen Bericht, und …, he, prompt gibt’s kein Geld.«
Ich taxierte Peg neu, den harten Blick, die Leck-mich-am-Arsch-Körpersprache, und dachte, da kann ich mitspielen. Sagte:
»Also hat sie? Gern mal einen gezwitschert, meine ich? Bei Studentinnen gehört das doch dazu, schönste Zeit des Lebens und so weiter.«
Sie ließ die Lulle in ihre Kaffeetasse fallen, die verlöschende Glut zischte wie ein Gerücht, dann rührte sie den Inhalt einmal gründlich um. Sie sagte:
»Sie sind ein Scheißkerl, wissen Sie das?«
Ich begann mich für Peg zu erwärmen, gar kein Zweifel. Mary hob ein Buch auf, weil sie beschlossen hatte, dass ich nicht mehr von Belang war, und fragte Peg:
»Bist du schon dazu gekommen, das zu lesen?«
Ich sah den Titel, In meinem Himmel, von Alice Sebold. Es fing so an:
»Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6.Dezember 1973 ermordet wurde.«
Peg zuckte dramatisch die Achseln, machte:
»Ich les keinen Saccharinscheiß.«
Mary wandte sich an mich, erklärte:
»Susie, in dem Buch, sie wurde ermordet, unsere Sarah ist bei einem verrückten Unfall gestorben, also zahlen Sie das Scheißgeld.«
Bevor ich darauf einsteigen konnte, sagte Peg:
»Hab ich nicht ein Interview im Guardian mit Alice Sebold gelesen?«
Mary ließ mir nun ein Lächeln aus schierer Boshaftigkeit zuteilwerden. Sie hatte auf ein männliches Publikum gewartet, um das, was nun kam, vorzuführen.
Hier war ich.
»Alice war achtzehn, Studentin, und auf dem Nachhauseweg wurde sie vergewaltigt. Der Angreifer hat sie mit der Faust und dem Penis vergewaltigt, zusammengeschlagen und ihr aufs Gesicht uriniert. Als sie an dem Abend nach Hause kam, fragte ihr Vater, ob sie was zu essen möchte.«
Mary machte eine Pause, damit ich merkte, dass es gleich hart werden würde. Sie fuhr fort:
»Alice antwortete: ›Das wäre nett, wenn man bedenkt, dass alles, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden im Mund hatte, ein Keks und ein Penis waren.‹«
Einmal in meinem dummen Leben tat ich das Schlaue: Ich tat nichts. Sie starrten erwartungsvoll, und ich starrte zurück.
Dann sagte Peg:
»Wenn sonst nichts mehr anliegt, Mr …? Dann würden wir nämlich gern mit was anderem weitermachen, wie zum Beispiel unserem Leben.«
Ich stand auf. Ich war weiß Gott von Expertinnen entlassen worden. Ich war gewiss gedisst. Ich fragte:
»Könnte ich ein Exemplar des Buches sehen?«
Mary, argwöhnisch, sagte:
»Alice Sebold?«
Ich beobachtete ihre Gesichter, sagte:
»Ein Exemplar eines Buches von Synge, das unter der Leiche gelegen hat.«
Peg zuckte die Achseln, begann, einen weiteren Kaffee zu bauen. Ich fragte, wie aufgedreht sie noch werden wollte.
Sie sagte:
»Es ist im Bücherregal …, dort …, wo … wir … unsere … Bücher … aufbewahren.«
Sie trug das sehr langsam vor, wie einem Kind, das besonders schwer von Begriff ist, aber, he, ich beherrsche den Toleranz-Rap. Ich fragte:
»Könnte ich es sehen?«
Mary stürmte hinaus, ließ mich mit dem koffeinierten Dämon zurück. Ein paar Augenblicke später war sie zurück, hielt mir den Band hin, fragte:
»Wenn ich Ihnen das gebe, sind Sie dann weg?«
»Wie der Wind, der durch die Midlands weht.«
Ich steckte das Buch in die Tasche, sagte:
»Sie waren sehr großzügig mit Ihrer Zeit.«
Peg streifte an mir vorbei, schubste mich nicht direkt mit der Schulter, aber die Absicht war klar, und sie sagte:
»Wichser.«
Mit dem Klang dieses Wortes im Ohr verließ ich das Haus.
Die Untersuchung des Buches hob ich mir für später auf, machte einen langen Spaziergang hinaus an die Bucht, kaufte mir einen Hamburger, große Coca und setzte mich auf die Felsen. Ich weigerte mich, an Ann Henderson zu denken, und hätte gern meinen Walkman dabeigehabt. Ich hatte mich noch nicht bis zum Discman vorgearbeitet und benutzte immer noch Kassetten wie der letzte Saurier. Ein Gutes haben sie: Sie gleiten einem ins Gerät am Gürtel wie eine gefällige Unwahrheit.
In jenem Moment und an jenem Ort hätte ich zu gern Bruce mit Empty Sky gehört. Dass er endlich ein neues Album herausgebracht hatte, hätte mich begeistern sollen. Hier ist das Verrückte – und indem man den Irrsinn zugibt, verliert er nichts von seiner Wucht.
»Für Musik braucht man Schnaps, für Musik braucht man Drogen.«
’tschuldigung; ich brauche das. Es ist die Illusion. Eine Flasche Jack, einen Sechserpack Lone Star, und dann … ist man bereit zu rocken. Ein Tässchen Tee hilft da nicht weiter. Johnny Duhan, der Soundtrack meines Lebens, hatte auch ein neues Album herausgebracht, und ich hatte »Inviolate« gehört, das beste Lied über Kummer, das es je gegeben hat. Vergessen Sie Iris DeMent mit dem Song über ihren Vati oder Peter Gabriels »I Grieve« …, dies ist DAS LIED. Es haute bei mir nicht nur einfach so rein, es hat mich schlicht und einfach zerfetzt.
Ich zündete mir eine Lulle an und verweilte noch ein bisschen bei einem Erlebnis mit meinem Vater. Wir hatten auf genau diesen Felsen gestanden und unsere Schnüre nach Makrelen ausgeworfen. An solchen Tagen stand die ganze Stadt die Bucht entlang aufgereiht, die Fische haben buchstäblich kapituliert. Wir brachten acht nach Hause, und meine Mutter schmiss sie auf den Müll.
In Handbuch des Kriegers des Lichts schreibt Paulo Coelho:
»Zuweilen sieht sich der Krieger des Lichts vor Probleme gestellt, vor denen er schon einmal gestanden hat –, da begreift er, dass hinter der Wiederholung seiner Erfahrungen nur ein einziges Ziel steht: ihn zu lehren, was er noch nicht begriffen hat.«
Ich wollte damals nicht und will wahrscheinlich immer noch nicht wissen, was meine Mutter antrieb. Ich habe den Verdacht, es war Wut, aber woher die kam oder warum, das wollte ich nicht wissen.
Nach ihrem Schlaganfall hatte sie eine im Hause wohnende Krankenschwester. Dann zwang eine Nierenentzündung sie ins Krankenhaus. Bei meinem letzten Besuch, verspannt wie immer, konnte sie schon wieder sehr viel besser sprechen, ein Katheter war gelegt worden, und ich versuchte, nicht zu glotzen. Sie sagte:
»Ich konnte alleine den Nachtstuhl benutzen.«
Bricht einem das Herz, stimmt’s?
Wenn man hört, wie eine Frau mit eisernem Willen damit angibt, dass sie aufs Klo kann.
Falsch.
Ich dachte:
»Echt Scheiße, das!«
Kein Wortspiel beabsichtigt, und ironisch bin ich nur ganz selten, jedenfalls nicht im nüchternen Zustand.