Check-out
Ich war es gewohnt, nicht in allzu langen Zeiträumen zu denken. Dass nach vier Monaten im Diamant schon wieder alles vorbei war, damit hatte ich zwar nicht gerechnet, aber es fiel mir auch nicht schwer, neue Pläne zu schmieden. Ich hatte ja auch keine andere Wahl.
Schon im Central hatte mich manchmal der Gedanke gestreift, dass ich für einen echten Ausweg aus diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen mehr brauchen würde als nur eine entsprechend hohe Anzahl von Bewerbungen für alle möglichen Stellen. Es war noch zu Central-Zeiten, als eine Azubi-Kollegin, die im Jahr vor mir fertig wurde, erzählte, sie wolle »noch mal studieren«. Ich hatte das nicht vergessen und diese Möglichkeit immer im Hinterkopf behalten, für den Fall, dass mal gar nichts anderes mehr gehen würde. Und jetzt ging, wie es aussah, gar nichts anderes mehr. Außerdem hatte ich jetzt wirklich das Bedürfnis, etwas zu lernen, das mich intellektuell forderte, mich weiterzubilden und Neues in den Kopf zu bekommen.
Die Kollegin damals schrieb sich allerdings nicht an der Uni ein oder an einer Fachhochschule. Sie ging zur Hotelfachschule – nach ihrer Ansicht der beste Weg, um sich fit zu machen für den Arbeitsmarkt. Ich fand das vollkommen überzeugend: eine Schule, nur für Leute aus der Hotellerie, die sich fortbilden wollen. Ein Studium beginnen, das vier Jahre dauert, das hätte ich mir nicht leisten können.
Ich war fünfundzwanzig und sagte mir: Hey, du bist jung genug, um noch einmal etwas Neues anzufangen, andere fangen da erst an zu studieren, weil sie vorher nichts auf die Reihe bekommen haben. Ich war wirklich optimistisch, und Sara und Katja waren es auch.
Nach zwei Jahren würde ich »Betriebswirtin« sein, das klang viel besser als Hausdamenassistentin, wie ich fand. Dass hinter der Betriebswirtin in Klammern »Hotel- und Gaststättengewerbe« stand, fand ich erst mal nicht so wichtig. Ich würde BWL und Controlling lernen, Fächer, vor denen ich großen Respekt hatte und die es mir ganz sicher ermöglichen würden, einen besseren Job zu finden – und zwar nicht im Hotel. Ich würde mich durchbeißen und am Ende würde ich, als Akademikerin mit jahrelanger Praxiserfahrung, Traum aller Personalchefs sein und Hotels fortan nur noch als Gast betreten.
Es war März, als ich das Diamant verließ, und bis zum nächsten Starttermin auf der Hotelfachschule waren es noch sechs Monate. Um mir die Schule leisten zu können, suchte ich mir einen Job für zwischendurch, und fand ihn im Bremer Hof: drei Sterne, noch weniger Glanz als im Central, und meine Berufsbezeichnung lautete nun »Rooms Division Agent« – ein weiteres Synonym für »Mädchen für alles«. Ich würde am Empfang arbeiten, im Housekeeping und in der Reservierung. Es war ein typisches Drei-Sterne-Haus: Das Frühstück war gut, das kostet ein Hotel ja nicht viel, dafür waren die Matratzen besonders schlecht. Sie kosteten dreißig Euro das Stück, billigere waren nicht zu haben und dauernd kamen neue Lieferungen, weil die alten nach kürzester Zeit einfach niemandem mehr zuzumuten waren. Das Putzen übernahm auch hier eine Fremdfirma. Inzwischen war ein Mindest-Stundenlohn für Zimmermädchen Pflicht geworden, etwas mehr als sieben Euro. Eigentlich. Aber die Firma rechnete einfach weiter pro Zimmer ab, niemand wehrte sich. Sie zahlte den Frauen, die allesamt ungelernt waren, sogar noch weniger als meine alte Firma im Royal. Wahnsinn, dachte ich, ich hätte nicht geglaubt, dass ein solcher Lohn noch zu unterbieten war.
Vermutlich hätte ich auch als Nachtpage angefangen, wenn es nichts anderes gegeben hätte. Es war mir vollkommen egal, mit welchem Job ich fast kein Geld verdiente, denn die beiden letzten Monate vor Schulbeginn würde ich so viel verdienen wie noch nie: Ich wollte auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik anheuern.
Von den großen Kreuzfahrtschiffen hieß es, dass sie wegen der schwindelerregend hohen Trinkgelder eine prima Einnahmemöglichkeit waren. Ich hatte mir einen Luxusliner ausgesucht, auf dem vor allem amerikanische Gäste verkehrten, die als ganz besonders spendabel galten. Von Trinkgeldern in fünfstelliger Höhe in drei Monaten war die Rede. Ich glaubte daran.
Ich kam nicht dazu, festzustellen, ob reiche Amerikaner wirklich so spendabel sind.
Ich war gerade bei C&A in der Umkleidekabine und probierte einen Übergangsmantel an. Ich hörte das Telefon in meiner Handtasche klingeln. Es war eine Berliner Nummer, die ich nicht kannte. Eine Weile überlegte ich, ob ich überhaupt drangehen sollte.
Ich ging dran, und plötzlich erklärte mir ein Arzt in knappen Worten, dass mein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte. Er nannte mir Krankenhausadresse und Zimmernummer und erkundigte sich, ob ich vorbeikommen könnte. Ich bedankte mich ebenso knapp und legte auf. Ich stand noch immer in diesem Mantel vor dem Spiegel. Eine ganze Weile starrte ich mich an. Dann rief ich meine Mutter an. Ich konnte da nicht alleine hingehen, das war ausgeschlossen. Und auch wenn die beiden lange geschieden waren, so war ihr Umgang gut genug, um sie das jetzt zu fragen.
Ich habe den Mantel sogar zurück an den Ständer gehängt, bevor ich losging.
Ich wusste nicht viel über Schlaganfälle. Ich wusste nicht, dass man so etwas mit fünfzig bekommen konnte. Ich wusste nur, dass es schlimm war. Und es war schlimm.
Zehn Wochen lang konnte mein Vater nur liegen, fast nicht sprechen. Kein Gedanke, sein altes Leben wiederaufzunehmen. Und kein Gedanke für mich, jetzt Berlin zu verlassen, um durch die Karibik zu schippern.
Auch wenn klar war, dass mein Vater nicht sterben würde – er würde auch nicht wieder gesund werden. Ein Gericht bestimmte mich sogar vorübergehend zu seinem Vormund.
Mein Vater war bis vor dem Schlaganfall noch mit weit größerer Ausdauer als ich durch die Kneipen und Bars der Stadt gezogen. Er arbeitete als selbständiger Fotograf und Kameramann und liebte es, auszugehen und Freunde zu treffen. Wie stolz war ich früher, wenn er eine Folge vom Sandmännchen gedreht hatte und sein Name im Abspann stand.
Tagsüber arbeitete ich jetzt also im Bremer Hof, abends rannte ich in die Reha, um meinem Vater aus dem Tagesspiegel vorzulesen oder einfach nur, um bei ihm zu sitzen. Als er wieder in seine Wohnung ziehen konnte, war es schon September und die Schule würde bald anfangen. Die Betreuung meines Vaters würden wir uns teilen: ein bisschen meine Schwester aus der ersten Ehe meines Vaters, ein bisschen ich. Damit würde er vorerst klarkommen.
Den Job im Bremer Hof behielt ich, für die Wochenenden. Vom BAföG und der erneuten Zuwendung meiner Mutter alleine hätte ich nicht leben können.
Es war einer der ersten wirklich schönen Herbsttage, als ich wieder eingeschult wurde. Die Blätter waren bereits goldgelb und rot, die meisten hingen noch an den Ästen. In der S-Bahn standen die Berufspendler dicht gedrängt. Ich schielte hinaus, zwischen den Armen hindurch, die sich zum Festhalten reckten, um möglichst lange die bunten Blätter sehen zu können. Ich war ein bisschen aufgeregt und freute mich auf meinen ersten Schultag – ich konnte es kaum erwarten, mit dem Lernen loszulegen.
Am erstaunlichsten fand ich es, wie schwer es mir fiel, neunzig Minuten lang auf einem Stuhl zu sitzen. Ich fühlte mich wie ein Erstklässler, der das Stillsitzen lernen muss. Meine Mitschüler waren größtenteils so alt wie ich, also Mitte zwanzig, oder noch ein bisschen älter. Ins Hotel zurück wollten von fünfundzwanzig nur genau zwei: Das waren die beiden Jüngsten. Ihre Eltern hatten sie hierher geschickt, sie sollten hier auf eine Karriere in ihrem Familienhotel vorbereitet werden, das sie schließlich eines Tages mal übernehmen sollten. Alle anderen wollten das genaue Gegenteil von den beiden und damit das Gleiche wie ich: nicht rein ins Hotel, sondern möglichst schnell raus.
Niemand will alt werden im Hotel. Noch nicht mal in der Hoteldirektion, auch diese Jobs sind nicht besonders gut bezahlt und für ein paar hundert Euro mehr arbeitet man endgültig rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Der Chef einer Kollegin formulierte es so: »Bevor ich morgens meiner Frau ›Guten Morgen‹ sage, rufe ich im Hotel an und frage, ob alles in Ordnung ist. Und nachdem ich ihr abends ›Gute Nacht‹ gesagt habe, rufe ich auch noch mal im Hotel an.« Er war stolz auf seinen Einsatz. Ich kenne Kollegen, die schlafen zu Hause in Hotelbettwäsche und essen von Hotelgeschirr.
In der Schule versammelten sich die, die es nie so weit kommen lassen wollten.
Dass darin ein gewisser Widerspruch steckte, eine Hotelfachschule zu besuchen, um aus der Hotellerie auszusteigen, kam mir erst nach einer Weile in den Sinn.
Wenn unsere Lehrer uns sagten: »Ihr werdet strampeln müssen, wenn ihr woanders Karriere machen wollt. Ihr werdet euch wundern. Niemand gibt euch einen guten Job, nur weil ihr hier wart«, dann dachte ich: Selbst wenn ihr recht habt, was ich bezweifle, und ich mit diesem Studium eigentlich ins Hotel zurück sollte, dann werde ich eben die Einzige sein, die von hier aus doch einen Sprung macht, einen viel größeren, als ihr mir zutraut. Haben nicht schon früher alle Lehrer damit gedroht, aus uns werde nichts, wenn wir nicht bald dieses oder jenes verstünden? Und dann wurde doch etwas aus uns. Zumindest aus einigen.
Das erste Schuljahr war fast zu Ende, als ich Fabian wiedertraf. Ich kannte Fabian, seit ich sechs war, wir waren zusammen in der Grundschule und ich hatte ihn als einen hibbeligen Schlaks mit roter Brille in Erinnerung. Jetzt entdeckte ich ihn auf Studi-VZ. Auf seinem Profilfoto im Netz trug er keine rote Brille mehr. Er hatte ein markantes Kinn bekommen und grinste frech in die Kamera, und das gefiel mir.
Ich schickte ihm eine Nachricht und dann verging fast ein halbes Jahr, in dem wir uns regelmäßig schrieben. Ein erstes Thema für unsere Mails hatten wir: Fabi war Nachtportier in einem Designhotel, in dem die Dichte der echten VIPs tatsächlich ziemlich hoch war, höher als im Royal und höher natürlich als im Diamant, vom Bremer Hof mal ganz zu schweigen.
Fabi konnte wunderbar lustige Geschichten erzählen. Wie er einmal einer Ministerin in die Arme gelaufen war zum Beispiel, die den Weg von der Toilette zurück ins Restaurant nicht fand, oder von dem indischen Gast, den er nachts am Rezeptionscomputer erwischte, wo er gerade versuchte, sich übers Internet ein bisschen weibliche Unterhaltung für die Nacht zu bestellen. Von einem ehemaligen Fußball-Weltstar aus Südamerika, der sich mit einem weiblichen Groupie auf dem Zimmer vergnügte, während ihr Freund unten in der Lobby wartete – bis dieser schließlich auch aufs Zimmer gerufen wurde. Von einem Zimmermädchen, das mit dem Chef ins Bett ging, und deshalb zum »Executive Housekeeper« ernannt wurde, weshalb sie im Personalbüro umgehend Visitenkarten verlangte mit der Aufschrift: »Exklusiver Housekeeper«.
Als wir uns zum ersten Mal trafen, im Schwarzen Café in der Kantstraße, tranken wir drei Flaschen Shiraz und redeten bis morgens um acht. Er war so gut gekleidet, er war groß, er sah gut aus. Kurz darauf wurden wir ein Paar.
Ich weiß nicht, ob Hotelmenschen mit Nicht-Hotelmenschen Beziehungen führen können. So wie sich die Filmschauspieler, die bei Fabi im Hotel verkehren, zusammentun, suchen sich auch Hotelleute mit großer Regelmäßigkeit Kollegen als Partner. Sara ist mit einem Kollegen aus demselben Hotel liiert, und auch Katja war eine Zeit lang mit einem Kollegen zusammen.
Wer will schon einen Freund haben, der am Wochenende nie Zeit hat? Der regelmäßig nicht neben einem liegt, wenn man einschläft? Der nicht mal sagen kann, ob er am Geburtstag mitfeiern kann?
Mit Fabi war das plötzlich ganz einfach: Wenn er da war, freute ich mich, und wenn er nicht da war, wusste ich, dass er keine absurden Arbeitszeiten vortäuschte, um fernzubleiben, er konnte wirklich nicht anders. Eine Freundin aus dem normalen Leben hätte ihm sicher Stress gemacht. Sie hätte ihm vielleicht auch nicht geglaubt, wenn er ihr beteuerte, wie egal ihm die Frauen waren, die bei ihm im Hotel zu Gast waren.
Wann immer es ging, schlenderten wir samstags über den Markt am Winterfeldtplatz, der so dicht mit Ständen übersät ist, dass man sich, wenn man mittendrin steht, einbilden kann, der Markt ende nie. Es ist keiner dieser Biomärkte, auf denen alles, was verkauft wird, so korrekt ist, dass man nur noch an alles Schlechte in der Welt denken kann. Hier mischen sich Nippes-Händler, Bäcker und Aufbäcker, Hähnchengriller und Alte-Apfelsorten-Spezialisten mit Anbietern von Schmuck, der meiner Mutter gut gefällt. Manchmal blieben wir Stunden auf dem Markt, tranken Kaffee oder Sekt oder beides und aßen Kuchen. »Einen Markttag machen«, nannten wir das.
Als ich mich zum Ende der Schulzeit daranmachte, Bewerbungen zu schreiben, half mir Fabi. Er kannte sich gut mit Photoshop und Formatierungen in Word aus, und als nach zwei Abenden meine Mappe fertig war, war ich geradezu euphorisch.
Die Seite hotelcareer.de löschte ich vorsichtshalber aus meiner Bookmark-Liste. Ich musste es diesmal einfach schaffen.
Ich verschickte dreiundvierzig Bewerbungen an ganz unterschiedliche Firmen. Assistenz der Geschäftsführung, Projektassistenz, Bürokraft. Es kamen zweiundvierzig Absagen und eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, in dem ich gefragt wurde, ob ich auf der Hotelfachschule gelernt hatte, Teller zu polieren. Hatte ich zwei Jahre lang studiert, um mich hinterher dafür veräppeln zu lassen?
Unsere Lehrer hatten also recht behalten.
In der vierundvierzigsten Annonce, auf die ich antwortete, stand: »Für unseren Kunden suchen wir …« Ich begriff nicht sofort, dass so Zeitarbeitsfirmen inserieren und am Ende war es mir auch egal. Ich nahm, was sie mir boten, und so wurde aus mir eine Büroaushilfe, die mal in diese Firma und mal in jene geschickt wurde. Oft dauerte ein Einsatz nicht länger als zwei oder drei Tage. Einmal faltete, kuvertierte und frankierte ich dreitausend Briefe in vier Tagen, und das war keinesfalls der anspruchsloseste Job.
Ich lernte an allen möglichen Vollautomaten Kaffee zu kochen. Jura, Saeco und Gaggia, wie sie alle heißen, diese Monstermaschinen, ohne die kein Büro mehr auskommt, und die dauernd kaputtgehen. Chefs, die morgens keinen Kaffee bekommen, sind auch nicht viel besser als Hotelgäste, die keinen Käse bekommen.
Mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen, die Mühe lohnte meist nicht, zu schnell war man wieder weg, zu unwichtig war man im Tagesgeschehen, zu banal erschien den Kollegen, was ich tat. Und das war es ja auch: banal.
Was genau, dachte ich, läuft hier eigentlich schief? Mit ein bisschen mehr Geschick wäre ich jetzt auch einer dieser Büromenschen, jedenfalls glaube ich nicht, dass es mir an Fleiß oder Intelligenz mangelte, um es mit ihnen aufnehmen zu können. Aber stattdessen war ich diejenige, die die kaputte Kaffeemaschine vom Netz nahm und ins Sekretariat wuchtete. Aus den Büros kam dann immer nur ein Stöhnen: »Oh nein, schon wieder kaputt, diese Scheißdinger.« Ja, genau, dachte ich, diese Scheißdinger.
Wenn ich sie so sah, die Versicherungsfrauen, die Werbefrauen, die Angestellten um mich herum, fragte ich mich manchmal, was sie eigentlich von mir unterschied. Gewiss, sie trugen die feineren Sachen. Ihre Einkaufstaschen, die sie von den Mittagspausen ins Büro mitbrachten, waren niemals von C&A, auch nicht von H&M. Zara war schon ein Ausrutscher ins Billigsegment, Marco Polo war gerade noch okay. Manche trugen Schals, wie ich sie aus dem Royal kannte.
Aber warum waren die in der Lage, sich diese französischen Seidenschals zu kaufen, und ich nicht? Wer macht eine Ausbildung in einem Hotel und wem käme so etwas nie in den Sinn? Lag es an den Eltern? Meine Eltern waren beide keine Akademiker, die Eltern von Sara und Katja auch nicht, auch sonst wusste ich von keiner Hausdame und keiner Rezeptionistin, dass sie aus einem Professorenhaushalt kam. Die meisten Eltern waren mittlere Angestellte, Handwerker, Arbeiter. Wenn dann das Kind ins Fünf-Sterne-Hotel zur Arbeit geht, ist das für viele Eltern ein Aufstieg: Schau, die Kleine geht ins Luxushotel. Zu den Reichen, den Erfolgreichen.
Als ich mit meiner Mutter und meinem Bruder alleine lebte, war ich mir für keine Hausarbeit zu schade. Das unterschied mich, glaube ich, damals schon von manchen Mitschülern. Ich konnte es mir jedenfalls nicht leisten, irgendeinen Abiturientendünkel zu zeigen. »Mama Anna« hat mich mein Bruder genannt. Ich putzte, spülte ab, kochte. Ich fand nie etwas Falsches daran. Ich fand auch später nichts falsch daran, anderer Leute Betten zu machen. Vielleicht war das der Fehler.
Tatsächlich gefiel mir ja manchmal die Arbeit in den Zimmern – und, ja: Ich habe ein Faible für alles Häusliche. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass zwischen meinem alten Traum, Immobilienkauffrau zu werden, und dem Housekeeping ein Zusammenhang besteht. In beiden Fällen sorgt man dafür, dass sich andere Menschen zu Hause fühlen. Ich hatte das Putzen immer ernst genommen. Ich finde es schön, wenn ein Zimmer ordentlich und aufgeräumt ist. Ich möchte selbst in einer ordentlichen Wohnung leben und ich kann verstehen, dass ein Gast, wenn er im Hotel ist, ein schönes Zimmer vorfinden möchte. Wer mag schon seine Sachen in den Staub der Nachlässigkeit stellen und sich dann einen schönen Abend machen.
Manchmal schaue ich mir im Internet Hotelzimmer aus aller Welt an. Wenn ich sehe, dass auf dem Foto die Bettlaken nicht ordentlich gespannt sind, dass sie knittern und Falten werfen, dass die Kissen nicht gerade stehen, sondern eine Kissenecke nach vorne und die andere nach hinten zeigt, wenn ich sehe, dass die Naht des Lampenschirms nicht zur Wand, sondern ins Zimmer zeigt, dann würde ich am liebsten zum Telefon greifen und anrufen, um das Hotel zu bitten, das mal zu richten. Im Ernst: Ich würde nie ein Zimmer buchen, das so präsentiert wird. Man lässt sich ja auch nicht mit offener Hose fotografieren, wenn man Geburtstag hat.
Meine Mutter, geschieden, Siebziger-Jahre-Jugend, Sängerin in einer Band, Modedesign-Studentin, viel gereist, durch Thailand, Marokko, Griechenland – sie sagte oft den Satz zu mir, den wahrscheinlich eine ganze Reihe Mütter zu ihren Töchtern sagt: »Mach dich nie von einem Mann abhängig.« Sie hört es nicht gerne, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen, einen Mann und eine Familie zu haben und dann zu Hause zu bleiben bei den Kindern.
Für mich ist Harmonie wahnsinnig wichtig. Ich hasse es, wenn zwei Menschen sich streiten. Ich finde nicht nur lautstarke Diskussionen unerträglich, mir reicht es schon, wenn sich Paare in der Öffentlichkeit streiten. Da möchte ich sofort rufen: Seid lieb zueinander, aber sofort. Manchmal rufe ich das auch, und dann schauen die Leute irritiert, weil sie gar nicht gemerkt haben, dass sie gerade dabei waren, Bosheiten auszutauschen.
Vielleicht dachte ich zu Beginn der Ausbildung ja wirklich irgendwo im Hinterkopf, dass ich im Hotel genau das tun könnte: fremden Menschen zu ein bisschen Harmonie verhelfen.
Dass es in Hotels in Wahrheit überhaupt nicht harmonisch zugeht, weil der Ton unter den Angestellten rau ist und weil viele Gäste gar kein Bedürfnis nach Harmonie haben, merkte ich erst nach und nach. Aber war ich darum auch eines dieser stummen Mädchen, die im Royal überall herumwuselten, die schweigend und schüchtern die Zimmer machten oder in der Küche halfen, und die mich immer wahnsinnig an kleine graue Mäuse erinnerten?
Ich denke nicht. Aber inzwischen habe ich sogar ein bisschen Angst, dass es doch meine freundliche Art ist, die meiner Karriere im Weg stand. Im Hotel jedenfalls, und vermutlich nicht nur dort, machen eher die Frauen Karriere, die wahnsinnig tough sind, hart und streitlustig wie die Männer. Auch den Chefs gegenüber. Die es darauf anlegen, den Ton anzugeben, die Konflikte suchen und sie mit den Ellenbogen lösen und die sich so Respekt erarbeiten. Die, die wie ich versuchen, nett und freundlich zu sein, machen keine Karriere.
In meiner ganzen Hotelzeit ist mir nicht eine Frau begegnet, die es durch ihre faire, ausgeglichene Art, gepaart mit Intelligenz und Organisationstalent, in die Hotelleitung geschafft hätte. Viel mehr Erfolg verspricht die Kombination: extrem zickig und extrem gut aussehend. Oder man schläft gleich mit dem Chef.
Sicher mehr als die Hälfte der Frauen im Hotel erhalten früher oder später das freundliche Angebot, auf diesem Wege an einen besseren Job zu kommen. Das Angebot zum karrierefördernden Beischlaf ergeht stets wenig subtil. Nadine hatte in ihrer Ausbildung eine Kollegin, die wahnsinnig gerne für ein paar Monate nach New York ins Schwesterhotel der Kette wollte. Sie blieb dann da, weil sie sich das Ticket persönlich vom Chef hätte abholen müssen. Der Schlüsselsatz hieß dabei: »Wir könnten dann ja auch mal privat was zusammen machen.« Wenn eine Frau im Hotel diesen Satz hört, weiß sie, was er bedeutet.
Vielleicht habe ich ja die eine oder andere Feminismusdebatte in den letzten Jahren verpasst, aber mir scheint, dass es im Großen und Ganzen darum geht, wie erfolgreiche Frauen, Akademikerinnen, endlich Beruf und Familie miteinander vereinbaren können und wie noch erfolgreichere Frauen endlich in die Vorstandsetagen der großen Firmen gelangen. Ich habe nichts gegen diese Dinge. Ja, es kann sein, dass es auch diese Frauen nicht leicht haben mit den Männern. Aber könnte es nicht sein, ganz eventuell, dass es in den Berufen, die nicht mehr einbringen als zweitausend Euro im Monat, für Frauen noch etwas frauenfeindlicher zugeht? Dass Frauen dort noch am ehesten angemacht und angegrabscht oder gleich von ihren Chefs, den Gästen oder Kunden zum Sex aufgefordert werden?
Mir scheint, als interessierten sich die Frauen, die schick angezogen durch die Hotels schreiten, überhaupt nicht dafür. Jedenfalls habe ich es nie erlebt, dass im Restaurant eines Hotels eine Frau am Tisch mal etwas gesagt hätte, wenn der Kollege zum Hintern der Bedienung griff. Das waren wohl zufälligerweise alles keine Feministinnen.
Was ich auch nie erlebt habe in einem Hotel: dass mal eine von diesen Frauen stehen geblieben wäre und ein Zimmermädchen gefragt hätte: Wie ist das hier so? Was erlebt man? Was verdient man? Es passiert nicht. Es interessiert nicht.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen? – träumten Sara, Katja und ich von nichts mehr als davon, endlich Anschluss zu bekommen an die Welt der Halstuch-Frauen. »Assistenz der Geschäftsführung« – von dieser Stelle träumten wir jetzt alle, davon träumte Sara, davon träumte die Hälfte meiner Hotelfach-Klasse. Ein Job zwischen Chefbüro und Sekretariat, ein Job auf dem halben Weg zu Hermès. In den Pausen auf der Hotelfachschule kursierten Geschichten von Assistentinnen, die es bis in die Geschäftsführung der Firma geschafft hatten. Ebenso gut hätten wir uns Geschichten erzählen können von Menschen, die auf dem Flohmarkt vor dem Schöneberger Rathaus einen echten Picasso für fünf Euro kaufen.
Ich schrieb weiter Bewerbungen, gefühlt so viele wie ich an manchen Tagen Briefe faltete. Und tatsächlich meldete sich irgendwann die Geschäftsführerin eines Immobilienbüros, die sich mich mal »angucken« wollte. Ich bekam den Job. Brutto eintausendsiebenhundert Euro. So viel hatte ich noch nie zuvor verdient. Immobilien! Am Abend vor meinem ersten Arbeitstag konnte ich vor Vorfreude nicht einschlafen.
Es dauerte genau zehn Arbeitstage, bis mir die Frau abends in einer E-Mail von ihrem BlackBerry aus mitteilte, sie habe den Eindruck, dass wir nicht »miteinander harmonieren« und dass es darum keinen elften Arbeitstag mehr geben werde.
Ich schrieb ihr zurück, welchen Bruchteil der eintausendsiebenhundert Euro sie mir bitte überweisen solle. »Liebe Grüße, Anna«. Ich blieb auch da noch höflich. Ich grübelte lange, was sie gestört haben könnte, welche Art von Harmonie uns fehlte. Ich kam zu keinem Ergebnis. Vielleicht hätte sie mir auch schreiben können: »Mir gefällt dein Gesicht nicht.« Das wäre wenigstens ehrlich gewesen.