Fünf

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Die Dämonin Devina nahm vor dem unauffälligen, modernen Eingang der Integrated Human Resources Incorporated Gestalt an, deren »Büro« sich in einem von Caldwells zahlreichen Dienstleistungskomplexen befand. Die »Firma« besaß weder Klienten noch Angestellte. Es handelte sich auch nicht um eine Personalagentur, hatte nichts mit Integration am Hut, und eine amtlich eingetragene Gesellschaft war es schon lange nicht. Dafür bot sie den perfekten Deckmantel für Devinas Sammlung, und der Name war eine nette Anspielung auf das, was sie tatsächlich tat.

Schließlich war sie gut darin, sich wortwörtlich in Personen zu integrieren.

Um genau zu sein, kam sie gerade aus einer höchst kleidsamen Hülle.

Diese enge schwarze Jeans war einfach der Hammer.

Devina marschierte direkt durch die verschlossene Stahltür in den leeren, abgedunkelten Raum dahinter. Dort gab es keine Schreibtische, keine Telefone, keine Computer, keine Kaffeemaschinen oder Wasserspender – und selbst Montag bis Freitag zwischen acht und siebzehn Uhr wurden hier keine Meetings abgehalten, Vorstellungsgespräche geführt oder Geschäfte abgewickelt. Wenn nötig, konnte sie diese Illusion jedoch von jetzt auf gleich aus dem Nichts herbeizaubern.

Nachdem Jim und seine Engelskumpel in ihr letztes Versteck eingedrungen waren, hatte sie sich etwas Neues suchen müssen, und bis jetzt funktionierte das hier einwandfrei.

»Hallo, Schatz, ich bin wieder da«, begrüßte sie ihr aktuelles, diesmal männliches Jungfrauenopfer, das kopfüber über einer kleinen Zinnwanne neben dem Aufzug hing.

Natürlich antwortete er ihr nicht.

In seinem früheren Leben, bevor Devina ihn zu etwas Wichtigem gemacht hatte, war er ein Computerfreak gewesen. In Anbetracht des chronischen Mangels an Jungfrauen – männlich wie weiblich – im heutigen Amerika, war sie dem technologischen Fortschritt wirklich dankbar. Sie musste lediglich in den Gelben Seiten nach IT-lern suchen.

Und obwohl der Kerl als metaphysisches Sicherheitssystem fungierte, rannte Devina vor lauter Nervosität förmlich auf die Aufzugtüren zu. Es gab zwei weitere Stockwerke zur Auswahl: »2« und »LL«. Sie drückte den zweiten Knopf. Die Fahrt in die Tiefe ging lautlos vonstatten, hinunter in den fensterlosen, offenen Bereich des Kellers. Vor Aufregung stockte ihr der Atem, als sich die Aufzugstüren öffneten …

»Oh, fuck, was für ein Glück.« Sie lachte erleichtert.

Es war noch alles da. Die Uhren, die auf Devinas Anwesenheit reagierten, indem sie ihre Zählung der Minuten und Stunden wieder aufnahmen, die vielen Kommoden voller Gegenstände, die sich jetzt wieder ordentlich in Reih und Glied rückten, wobei durch die Bewegung die Schubladen ein wenig klapperten. Devinas zahllose Messer, die nun erneut mit der Spitze nach Süden zeigten, und ihr wichtigster Besitz – das Kostbarste von allem, trotz seines hässlichen Verfallszustands –, ihr Spiegel, befand sich noch genau dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, in der gegenüberliegenden Ecke.

Und dann gab es da natürlich noch die ganzen spaßigen Sachen in ihrem »Schlafzimmer«-Bereich: das große Bett, den Schminktisch mit ihren zahlreichen Kosmetikutensilien, ihre endlosen Garderobenständer, die Regale mit den Schuhen, die Schränke voller Handtaschen.

Jedes Mal, wenn sie den Keller verließ, breitete sich Unfrieden unter ihren Sachen aus, sodass in dem riesigen Raum völliges Chaos und Durcheinander herrschten. Aber bei ihrer Rückkehr stellte sich augenblicklich die Ordnung wie von selbst wieder her.

Ähnlich wie ein Magnet Metallspäne bündelte.

Und auf dieselbe Weise, wie ihre Objekte sich auf Devina ausrichteten, übten sie im Gegenzug Macht über die Dämonin aus. Ihre größte Angst, zumindest hier auf der Erde, war, eines Tages in ihr Lager zurückzukehren und festzustellen, dass irgendetwas fehlte. Nur ein einziges Teil davon. Oder womöglich sogar alles.

Während sich ihr Puls wieder normalisierte, zog sie ihren Pelzmantel aus und schritt die Gänge entlang, die die Schränkchen gebildet hatten. Da und dort blieb sie stehen und zog wahllos Schubladen auf, wie zum Beispiel die oberste einer Hepplewhite-Kommode, die sie damals 1801 direkt vom Hersteller George Hepplewhite erworben hatte. Darin befanden sich Monokel aus jener Zeit mit dünnen gebogenen Drähten und schimmernden alten Glasscheiben. Als Devina sie berührte, schoss die Energie der früheren Besitzer durch ihre Fingerspitzen und verband sich mit den Seelen, die sie eingefordert und in ihrem Gefängnis eingesperrt hatte.

Sie kannte jeden Einzelnen der Sünder, jedes ihrer Kinder, der geliebten Auserwählten, die sie unten in ihrer Wand durch ewigen Schmerz und Demütigung hegte und pflegte.

Dieser verfluchte Jim Heron.

Dieser verdammte »Erlöser« würde womöglich noch ihr Untergang sein. So sollte die Scheiße eigentlich nicht laufen. Am Anfang dieses Spiels in sieben Runden hatte sie große Hoffnungen in ihn gesetzt, war fest davon überzeugt gewesen, dass seine schlechte Seite, die er doch über lange Zeit hinweg durch seine berufliche Tätigkeit genährt hatte, ihr nutzen würde. Aber was war stattdessen passiert? Dieser Schwanzlutscher spielte für die gegnerische Mannschaft!

Und gewann auch noch.

Und wenn er nun noch einen weiteren Sieg davontrug?

Völlig überwältigt, ließ Devina den Blick über ihre Sammlung schweifen, wobei ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Wenn der Erlöser fürs Team Angel gewann, würde das hier alles verloren sein, ihre ganzen Sachen würden aufhören zu existieren – und noch schlimmer: auch alle ihre Seelen würden der Vergangenheit angehören. Alles, was sie über Äonen hinweg zusammengetragen hatte, würde sich in Rauch auflösen.

Genau wie sie selbst.

Verflucht sei Jim Heron.

Sie marschierte zu ihrem Schminktisch hinüber, warf den Nerz aufs Bett und ließ sich auf den zierlichen Stuhl fallen. Sie warf einen Blick in den Spiegel und war sehr angetan von dem, was sie sah, gleichzeitig verabscheute sie, wie sie sich innerlich fühlte.

Zum einen hasste sie es, dass es eine Frau gab, die Jim so viel bedeutete, dass er bereit war, einen Sieg für sie zu opfern. Und zum anderen war da noch ihr ganz persönliches Dilemma: Sie sollte etwas hergeben, das ihr gehörte?

Wann hatte sie das letzte Mal irgendetwas losgelassen?

Da hielt sie es wie Taylor Swift: never ever … niemals.

Mann, Zwangsstörungen waren echt kein Zuckerschlecken. Die Vorstellung, den ganzen Kram in diesem Keller zu verlieren? Das reichte locker aus, um einen Herzinfarkt zu bekommen.

Devina stützte sich auf dem Tisch ab und schnappte angsterfüllt nach Luft. »Du bist unsterblich … du bist unsterblich … du musst keinen Krankenwagen rufen …«

Denn man konnte, verdammt noch mal, niemanden wiederbeleben, der gar nicht auf die übliche Herz-Kreislauf-Art existierte.

Astreine Logik. Nur dass dieses kleine Quäntchen Vernunft im Mülleimer landete, sobald die Panik durch ihre Adern schoss und ihren Verstand ausschaltete. Zitternd schob Devina sich die dunklen Haare aus der Stirn und versuchte, sich an die Strategien der kognitiven Verhaltenstherapie zu erinnern, die sie seit einiger Zeit machte.

Es wird dich nicht umbringen. Es handelt sich lediglich um einen körperlichen Zustand. Es geht nicht wirklich um deine Sachen, Devina – sondern darum, die Kontrolle zu behalten.

Bullshit. Natürlich ging es um ihre Sachen. Und übrigens konnten selbst Unsterbliche abkratzen – das hatte sie schließlich bewiesen, als sie Adrians verehrten Kumpel Eddie in der vorletzten Runde abgemurkst hatte.

»O Gott«, stöhnte sie. Sie hatte das Gefühl, von ihrer Umgebung wie losgelöst zu sein, ihr Sehvermögen spielte plötzlich verrückt, und sie fing an zu schwanken.

Den Krieg zu gewinnen bedeutete die Herrschaft über die Erde und alle Seelen darauf zu erlangen. Großartig. Keine Frage. Aber zu verlieren?

Allein beim Gedanken daran hätte sie sich am liebsten übergeben.

Der Wetteinsatz könnte nicht höher sein.

Verflucht sei Jim Heron!

»Bekomme … keine Luft mehr …«

Na toll. Wie es aussah, würde das eine weitere Woche mit drei Sitzungen bei ihrer Therapeutin werden. Vielleicht auch vier.

Devina zwang sich, tief und ganz bewusst in den Bauch zu atmen. Außerdem spannte sie immer wieder die Oberschenkelmuskeln an. Rief sich in Erinnerung, dass sie doch schon eine Million Mal diesen pulsierenden Zustand des Adrenalin-Überschusses erlebt und immer überstanden hatte. Dachte an die neue Louis-Vuitton-Kollektion und was sie sich in der New Yorker Hauptfiliale in der Fifth Avenue kaufen würde …

Letztlich brachte der Gedanke an einen Ohrring Erlösung von ihrem Anfall. Ein Schmuckstück, das sie persönlich selbst dann nicht getragen hätte, wenn ihr jemand mit einem Kristalldolch gedroht hätte.

Muscheln? Also echt! Das war ja so was von Cape Cod. Ätzend.

Vermutlich hatte die Besitzerin das verdammte Ding von irgendeinem Typen bekommen, nach einem langen Wochenende am Meer, mit Strandspaziergängen, Händchenhalten und Sex in der Missionarsstellung in einer kleinen Pension.

Schnarch.

Devina zog das lächerliche vierzehnkarätige Goldteilchen heraus, ließ die Hand an fünf ordentlich aufgereihten Parfümflaschen der Marke Chanel vorbeiwandern und zog schließlich einen flachen Teller aus einem glänzenden Silbermaterial hervor. Als sie den Ohrring hineinfallen ließ, hüpfte er ein paarmal auf dem Metall, und für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie das Ding am liebsten zu Staub zermahlen … einfach nur, weil sie es konnte. Stattdessen begann sie, in ihrer Muttersprache zu rezitieren, wobei sich ihre Stimme verzerrte und das »S« in die Länge gezogen wurde wie das Zischen einer Schlange. Sobald der richtige Moment gekommen war, streckte sie mit geschlossenen Augen die Hand aus, wodurch der Zauber noch intensiver wurde und Hitze sich zusammenballte.

Nach und nach stiegen Bilder aus dem Objekt auf, wie ein Film über die Besitzerin, der nun in Devina hineinfloss und die Geschichte samt Bildern zur späteren Verwendung in ihrem Prozessor abspeicherte. O ja, Gegenstände aus Metall waren einfach überaus praktisch, denn die Energie ihrer Eigentümer war bis in alle Ewigkeit zwischen den Molekülen eingeschlossen und wartete bloß darauf, von etwas anderem absorbiert zu werden.

Bevor Devina die Sitzung beendete, gab sie der Versuchung nach und fügte noch ein kleines Extra zur Mischung hinzu, einen geringfügigen Nachtrag, nur ein winziger Schubs in die richtige, also in ihre Richtung. Nichts im Vergleich zu den Methoden, die sie in den Runden zuvor eingesetzt hatte, nicht einmal annähernd.

Nur eine klitzekleine künstlich geschaffene Anziehungskraft.

Mehr nicht.

Sie öffnete die Lider einen Spaltbreit und starrte in den glühend heißen Strudel, der wie ein Tornado über dem flachen Teller wirbelte – dann war die Aktion beendet, der Energieaustausch vollbracht, das Wechselspiel zwischen den Objekten vorbei.

Keine große Sache. Und falls der Schöpfer auf dieser Ebene Haarspalterei betreiben wollte, dann würde sie ihm ebenfalls eine Sitzung bei ihrer Therapeutin empfehlen.

Devina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie spürte die Anwesenheit ihrer gesammelten Habseligkeiten ebenso wie die Essenz der Seelen unten; sie vermischten sich miteinander und behielten doch ihre individuellen Eigenschaften.

Genau wie die Dinge in ihrer Wand es taten.

Verflucht sei Jim Heron!

Und dieses ganze verkackte Spiel gleich mit dazu. Der Schöpfer brauchte sie. Sie sorgte für das Gleichgewicht in seiner Welt. Was wäre denn ohne sie? Der Himmel würde vollkommen seine Bedeutung verlieren, denn wenn die Erde selbst eine Utopie wäre, würde man ihn ja nicht mehr brauchen.

Das Böse war notwendig.

Doch leider … ob es ihr nun gefiel oder nicht, würde dieser Krieg über die Zukunft entscheiden.

Und sie lag bereits weit im Rückstand: Von vier Runden hatte sie lediglich eine gewonnen.

Devina schnappte sich ihr iPhone, rief die Kontakte auf, wählte eine Nummer aus, und während die Verbindung aufgebaut wurde, stand sie auf und ließ ganz bewusst den Blick über ihre Sachen schweifen, um sich zu vergegenwärtigen, wie viel sie besaß – und wie viel es zu verlieren gab.

»Dies ist die Mailbox von Veronica Sibling-Crout, therapeutische Begleitung. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Nachricht sowie eine Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann. Bitte wiederholen Sie die Nummer dann ein zweites Mal. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

Piep.

»Hallo, Veronica, hier ist Devina. Ich wollte fragen, ob Sie zufällig noch freie Termine haben, so bald wie möglich? Ich werde …« Ihre Stimme kippte. »Ich muss eine schwere Entscheidung treffen und brauche ein bisschen Unterstützung. Meine Nummer ist …«

Nachdem sie die Zahlen zweimal heruntergerattert hatte, obwohl die gute Frau ihre Nummer sicher längst im Kurzwahlverzeichnis eingespeichert hatte, legte sie auf, schloss die Augen und versuchte, ihre Kräfte zu bündeln.

Das würde das Schwierigste sein, was sie je getan hatte.

Abgesehen davon, Jim Heron zu vögeln, natürlich.

Sie gab es genauso ungern zu wie ihre aktuelle Lage in diesem Krieg, aber sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verknallt.

Auch das war ein Grund, weshalb diese Angelegenheit so schmerzte.

Um einundzwanzig Uhr einundfünfzig verließ Duke das Iron Mask durch den Vorderausgang, stieg in seinen Truck und steuerte den Northway an. Zwei Ausfahrten später verließ er den Highway bei einigen neu errichteten Apartmentsiedlungen, die praktischerweise direkt neben der Autobahn lagen. Es handelte sich um Blocks mit so pittoresken Namen Lantern Village für Bauten im alten Kolonialstil oder Swiss Chalets, die wohl der Vorstellung irgendeines Großstadtarchitekten von Gstaad entsprachen. Jedenfalls waren es allesamt gut gepflegte aber dicht gedrängte Ställe für junge berufstätige Pärchen, die gerade in ihr kinderloses Leben mit zwei vollen Einkommen starteten.

Wer sollte das besser wissen als er. Schließlich hatte er mal hier gewohnt.

Am Schild Hunterbred Farms bog er wie auf Autopilot ab. Danach schlängelte sich sein Truck durch die verschiedenen nach Pferderassen benannten Straßen und fuhr dabei an identischen Gebäudekästen vorbei, die in Dunkelgrün und Gold gestrichen waren und in deren Mitte offene Treppenaufgänge nach oben führten.

Nummer tausendeinhunderteins im Appaloosa Way.

Zu jeder Drei- oder Vierzimmerwohnung gehörten zwei Parkplätze, und er stellte seinen Wagen neben einem fünf Jahre alten Ford Taurus ab. Er machte sich nicht die Mühe, das Auto abzuschließend, sondern ging direkt aufs Haus zu. Zwei Stufen auf einmal die Treppe hoch. Dann den Gang ganz bis ans Ende. Letzte Tür links.

Er klopfte einmal laut.

Die Frau, die ihm öffnete, trug immer noch ihre Krankenschwesterntracht. Das dunkle Haar fiel ihr auf die Schultern, und ihre Augen blickten nach einem vermutlich extralangen Tag müde drein. Als sie sich die Ponysträhnen hinters Ohr klemmte, stieg ihm der Geruch von antibakterieller Seife in die Nase.

»Hallo.« Sie trat einen Schritt zurück. »Willst du reinkommen?«

Er zuckte mit den Schultern, trat aber ein. Eigentlich wollte er überhaupt nicht hier sein.

»Hast du schon gegessen?«, erkundigte sie sich.

Nö. »Ja.«

»Ich hab mir grade was warm gemacht.«

Während sie das spärlich eingerichtete Wohnzimmer durchquerte, zog er den Umschlag mit den fünfhundert Dollar aus der Tasche. Es gab jedoch nichts, wo er das verdammte Ding hätte deponieren können: kein Schränkchen im Flur, kein Beistelltischchen vor der faltigen Ledercouch, nicht mal einen Schemel, um die Füße hochzulegen, wenn sie nach einem Tag Gerenne auf der Intensivstation schmerzten.

Scheiß drauf, dachte er, als er ihr in den mit Linoleum ausgelegten Essbereich mit dem runden Tisch und vier Stühlen folgte.

Sie kam mit einem schwarzen Plastiktablett aus der Küchenecke, auf dem sie etwas Dampfendes und ein Glas blassen Weißwein balancierte.

Nachdem sie sich gesetzt hatte, platzierte sie die Edelstahlgabel nebst Papierserviette links von ihrem »Teller«.

»Da«, sagte er und beugte sich vor, um das Geld auf die zerkratzte Tischplatte zu legen.

Beim Anblick des Umschlags sah sie aus, als würde sie gleich losheulen. Aber das war ebenfalls nichts Neues – und auch nicht sein Problem.

»Ich geh dann mal …«

»Er ist in Schwierigkeiten«, murmelte sie, während sie mit ihrer Gabel in das undefinierbare Etwas stach, das mit Umweg über die Mikrowelle direkt aus dem Gefrierfach kam. »Sieht nicht gut aus.«

»In der Schule?«, erkundigte sich Duke vage.

Sie nickte. »Man hat ihn dabei erwischt, wie er einen Laptop aus dem Computerraum geklaut hat.«

»Ist er suspendiert worden?«

»Drei Tage – und eine Pflichtberatung. Er ist bei meiner Mutter, bis ich ihn nach der Arbeit abholen kann. Eigentlich sollte ich schon dort sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich mit ihm reden soll. Nichts, was ich sage, dringt zu ihm durch … Es ist, als würde er mich nicht mal hören.«

Duke vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans und lehnte sich an die Wand. Falls sie hoffte, er würde ihr jetzt versichern, es würde alles gut werden, konnte sie lange warten. Das war nicht sein Metier.

Sie legte die Gabel beiseite. »Hör zu, ich frag dich das nur ungern …«

Duke schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Dann lass es.«

»… aber könntest du dich vielleicht mal mit ihm zusammensetzen? Je älter er wird, desto schwieriger wird es.«

»Und wie kommst du zu der Annahme, dass er sich für irgendwas von dem interessiert, was ich sage?«

Die dunklen Augen seiner Exgeliebten glichen leeren Höhlen. »Weil er Angst vor dir hat.«

»Und du bist bereit, die Einschüchterungstaktik zu fahren«, murmelte er.

»Ich weiß einfach nicht, was ich sonst noch machen soll.«

»Ich muss zurück zur Arbeit.«

Als er sich zum Gehen wandte, sagte sie: »Duke, bitte. Irgendjemand muss doch zu ihm durchdringen.«

Er warf einen Blick zurück, sah ihre Haare, ihr Gesicht und die verkrampften Schultern, wie sie gebeugt über ihrem Plastikabendessen hockte, das langsam kalt wurde.

In der Stille schmolzen die Jahre, bis es sich anfühlte, als würde er auf sie zugehen, sich ihr immer mehr nähern, obwohl er keinen Muskel bewegte.

Er sah die Nicole von damals vor sich, in einem Vorlesungssaal am Union College. Biochemie, bei diesem Professor, der zwar eine Glatze hatte, aber dafür Augenbrauen wie grau melierte Heckenbüsche. Duke saß hinten, sie in einer der vorderen Reihen. Als plötzlich der Feueralarm losging, drehte sie sich wie die meisten Studenten in Richtung der Ausgänge um, als plane sie ihren Fluchtweg, sollte es sich um eine echte Notsituation statt eines Probealarms oder eines technischen Defekts handeln.

Dunkle Haare. Dunkle Augen. Klein, aber mit langen Beinen, die durch die Shorts noch betont wurden, weil es ein warmer Tag Mitte September war.

Er war so hin und weg von ihr, dass alle anderen Frauen am ganzen verdammten College zu Pappfiguren wurden. Später erfuhr er, dass sie ihn an diesem Tag nicht einmal bemerkt hatte. Aber sobald sie es tat …

Das waren die drei besten Jahre seines Lebens gewesen.

Gefolgt von einem Albtraum, in dem er immer noch gefangen war.

»Warum schaust du mich so an?« Dabei wusste sie ganz genau, warum.

Er starrte sie an, weil sie inzwischen über dreißig war, wie er auch, und sie beide von jenem Paar am Tag des Feueralarms so weit entfernt waren wie zwei Fremde: Sie war Krankenschwester geworden, statt wie geplant Frauenärztin und Geburtshelferin. Viel zu früh war sie gealtert, während sie alleine ein Kind großzog, weil der Vater …

Er konnte den Satz nicht beenden. Nicht mal in Gedanken. Es schmerzte einfach zu sehr.

Und was Duke betraf: Auch er war kein Herzchirurg geworden. Nicht mal annähernd. Alles, was ihm vom Studium geblieben war, dem er sich so verschrieben hatte, waren einige nutzlose Vokabeln und eine Liste mit lustigen Fakten rund ums Thema Herz, sodass er gelegentlich Fernsehquizfragen korrekt beantworten konnte.

Er war nichts als Türsteher und städtischer Mitarbeiter beim Straßenbauamt. Sein Gehirn war dauerhaft auf Leerlauf geschaltet, während sein Körper bei der Arbeit an vorderster Front diente.

Beide waren sie der lebende Beweis dafür, dass eine Tragödie nicht von der Sorte Autounfall sein musste, um traumatisch zu sein. Manchmal reichte etwas so Gewöhnliches wie ein einziges Mal ungeschützter Sex.

Bei der Erinnerung an damals öffnete sich knarrend die Gruft in seiner Brust und ließ ausnahmsweise einen Luftzug aus Gefühlen frei, bei denen es sich um etwas anderes als Wut oder Bitterkeit handelte: Vor seinem inneren Auge sah er diese beiden Achtzehnjährigen und ihre großen Pläne fürs Leben und … sie taten ihm leid. Wie lächerlich all diese Sehnsüchte und der Optimismus doch waren, diese naive Vorstellung, dass man bloß eine Reihe von Vorlesungen und Seminaren absolvieren musste, um sich dann aussuchen zu können, wie der Rest des Lebens aussehen sollte.

Als wäre das Schicksal eine Speisekarte.

Wenn man mal davon ausging, dass die Jugend tatsächlich an die Jungen verschwendet wurde – und, verdammt, das war sie wirklich –, dann musste man mit dem Älterwerden für diese Zeit der glückseligen Dummheit bezahlen, und, ganz ehrlich, dieser Tauschhandel war es nicht wert. Es war besser, mit dem Wissen zu starten, dass außer dem Tod und den Steuerabgaben nichts planbar war. Keine Illusionen zu haben bedeutete, dass man nie überrascht war, wenn einem jemand hinterrücks das Messer zwischen die Rippen rammte.

Hätte er damals in Biochemie, als er sie das erste Mal gesehen hatte, eine realistischere Sicht auf die Dinge gehabt … dann hätte er sie eine Woche lang durchgeknallt, um das Brennen in seinem Bauch loszuwerden, und wäre danach frei und unbeschwert davonspaziert. Er hätte nicht all diese Zeit mit ihr verschwendet – und es hätte ihn ganz sicher auch nicht so aus der Bahn geworfen, als plötzlich Sand ins Getriebe kam.

Stattdessen hatte er jetzt keinen Doktortitel vor dem Namen, und den würde es auch nie geben. Sie war eine jener abgehetzten alleinerziehenden Mütter geworden, die seit der Schwangerschaft kein Date mehr gehabt hatten.

»Bitte«, flehte Nicole. »Ich weiß, du willst das nicht, aber …«

»Wir sehen uns nächsten Monat.« Mit diesen Worten ließ er sie und das Kind, für das er »sorgte«, hinter sich.

Beim Verlassen der Wohnung schloss er nachdrücklich die Tür.

Der finanzielle Beitrag war alles, was er bereit war, ihr zu geben – und er brachte ihn alle dreißig Tage höchstpersönlich vorbei, weil er es genoss, sie leiden zu sehen: Es machte ihm Spaß, vor ihr zu stehen und ihr diese Umschläge zu überreichen. Die Erschöpfung und Niedergeschlagenheit in ihrem einst so hübschen Gesicht zu sehen.

Wahrscheinlich war es ähnlich wie ein Aderlass, ein schmerzhafter Schnitt, der Erleichterung mit sich brachte. Sosehr er es hasste herzukommen, beim Gehen fühlte er sich jedes Mal … stark, gereinigt.

Klar, das war nicht fair.

Aber das war das Leben auch nicht.

Die Versuchung
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