Sechzehn
»Bla, bla, blabla!«
Als Cait schließlich aufhörte zu schreien, musste sie sich anstrengen, über dem Lärm der Alarmglocke – und ihrem rauschenden Blut, in dem das Adrenalin wie wild kreiste – überhaupt etwas zu hören. Zu viel Input für einen winzigen Raum mit zu wenig Luft zum Atmen.
Vielleicht galt das ebenso für ihr Gehirn.
»Polizei!«, rief jemand auf der anderen Seite der geschlossenen Tür.
»Miss Douglass? Was ist denn bei Ihnen los?«
Oh, natürlich, sie hatte ja immer noch die Dame vom Notruf am Ohr.
»Äh, die Polizei behauptet, sie wäre hier – aber ich werde diese Türen nicht öffnen, bevor ich das nicht ganz sicher weiß.«
»Bitte bleiben Sie kurz dran.« Als wäre das hier eine Bestellhotline, und man müsste nun ihre Kreditkartenangaben überprüfen. »Miss Douglass? Der Name des Beamten sollte Hoffman sein. Peter Hoffman. Fragen Sie die Person draußen, wer sie ist.«
»Wie heißen Sie?«, brüllte Cait über den Alarm hinweg.
»Hoffman! Pete Hoffman – Dienstmarke Nummer eins null vier eins!«
Sie wandte sich wieder dem Telefon zu. »Eins null vier eins? Die Dienstmarke?«
»Das stimmt überein, Ma’am. Machen Sie die Tür auf.«
»Ich bleibe aber so lange am Handy.«
»Ich bin da.«
Cait sah zu, wie ihre Finger in Zeitlupe den roten Schalter umlegten. Sofort verstummte das Alarmsignal, wobei es in ihren Ohren weiterschrillte, da sie sich noch nicht an die plötzliche Stille gewöhnt hatten.
Dann hörte sie jedoch ein Bing, als würde sich der Aufzug räuspern und auf eine neue Runde vorbereiten. Die Türen schoben sich zur Seite.
Die dunkelblaue Uniform mit dem glänzenden Polizeiabzeichen war mit Abstand das Beste, was Cait je gesehen hatte.
Sie stürzte sich förmlich auf den Beamten. »Dem Himmel sei Dank!«
»Ma’am?« Der Polizist packte sie am Arm und hielt sie fest, damit sie nicht umkippte. »Am besten setzen wir uns hin.«
Ja, gute Idee.
Ein solches Zittern hatte sie noch nie erlebt, als ob sich ihr Inneres in einen rollenden Ball verwandelt hätte. Abgesehen davon nahm sie so gut wie nichts wahr. Nicht was Peter Hoffman, eins null vier eins, zu ihr sagte, nicht die Kälte, nicht den harten Beton, auf dem sie saß, nicht die Worte, die sie offensichtlich als Antwort auf Fragen von sich gab. Der größte Teil ihres Selbst befand sich immer noch in diesem Aufzug, schlug nach dem Alarmknopf, betete, dass der Verriegelungsmechanismus der Türen halten würde, und fragte sich, wie sich der Abend in einen solchen Albtraum hatte verwandeln können.
»… habe niemanden richtig gesehen«, hörte sie sich selbst sagen. »Jemand kam auf mich zugelaufen. Von der Rampe, zuerst ist er schnell gegangen – dann losgerannt.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich bin in den Aufzug geflüchtet und habe den Knopf gedrückt.« Bei jedem Blinzeln sah sie wieder ihre Finger im flackernden Licht vor sich, die auf den Knopf einhämmerten. »Ich habe nur … dann habe ich den Notruf gewählt. O Gott … ich kann nicht aufhören zu zittern.«
»Sie stehen unter Schock, Ma’am.«
Vermutlich. Mit einem Gesetzeshüter darüber zu sprechen, machte die ganze Sache plötzlich real. Sämtliche vagen Fantasien, dass es sich hierbei nur um einen schlechten Traum handelte und sie zu Hause in ihrem Bett lag, lösten sich in der kalten Luft auf.
Die gute Nachricht war, dass der Polizist ganz ruhig und gelassen blieb, was ihr – zusammen mit der Pistole an seiner Hüfte – das Gefühl vermittelte, in Sicherheit zu sein. »Die Verstärkung ist gerade eingetroffen, und die Beamten werden jetzt das Gelände ringsherum sowie die Parkdecks absuchen. Aber wer auch immer das war, hat sich vermutlich inzwischen längst verdrückt. Ich sage es ja nur ungern, aber als Frau sollten Sie in diesem Teil der Stadt nicht allein unterwegs sein. Wir bekommen eine Menge solcher Anrufe – und leider sind die Täter ziemlich gut im Verschwinden.«
Cait neigte dazu, seiner Theorie zuzustimmen. Es klang absolut logisch. Das Problem war nur, dass die Flucht des Täters ihr die Gewissheit nahm. Es war wie ein schwarzes Loch. Und jetzt, wo die erste Angstwelle verebbt war, fragte sie sich zwangsläufig, ob sie womöglich überreagiert hatte – immerhin hatte sie ihren Angreifer nie richtig gesehen.
Oder hatte sie sich gerade selbst das Leben gerettet?
Taschendieb oder gewalttätiger Straßenräuber – wem war sie entkommen?
Vergewaltiger oder bloß jemand, der ihr sagen wollte, dass ihr Klopapier am Schuh klebte?
Nein, entschied sie, als ihr dieses Gefühl der Bedrohung wieder einfiel. Wieder einmal fragte sie sich, wie der liebe Gott wohl entschied, wer überleben durfte und wer nicht. Wem eine Rettung in letzter Minute gewährt wurde … und wer in einer Hölle auf Erden endete.
Seltsamerweise weckte die Vorstellung dieser schwierigen Entscheidungsfindung ihr Mitleid mit dem- oder derjenigen, die dort oben über den Wolken saß und das ganze Drama auf der Erde beobachtete. Wenn man davon ausging, dass der liebe Gott ein wohlwollender Schöpfer aller Dinge war, dann musste man doch davon ausgehen, dass er den Schmerz der Opfer fühlte, während sie nicht einfach sanft ins Jenseits hinübertraten, sondern in Stücke gerissen hinübergeworfen wurden.
Entsetzlich …
Als nun zwei weitere Beamte auftauchten und berichteten, dass sich niemand sonst im Parkhaus befand, wurde sich dem Papierkram zugewandt, wodurch das ganze Vorkommnis rasch einen Gang auf die verfahrenstechnische Ebene herunterschaltete: Bestätigung ihrer Aussage, Erhalt einer Fallnummer, Visitenkarte, eine Eskorte zurück zu ihrem Auto.
Ganz normal. So normal, dass es Cait beinahe ebenso sehr aus der Fassung brachte wie zuvor der Panikmodus.
Nachdem sie sich angeschnallt und ihren Wagen gestartet hatte, warteten alle drei Polizisten, bis sie rückwärts ausgeparkt hatte. Ihre Mienen glichen dabei denen von Eltern, die zusahen, wie ihre sechzehnjährige Tochter das erste Mal alleine wegfuhr.
Vorsichtiger Optimismus, gestützt durch einen Haufen Sie-ruft-hoffentlich-an-falls-sie-uns-braucht.
An die Heimfahrt konnte Cait sich hinterher kaum noch erinnern, außer dass sie immer und immer wieder überprüft hatte, ob die Türen des Lexus auch wirklich verriegelt waren. Als sie dann in ihrer Garage angekommen war, wartete sie, bis sich das Tor wieder geschlossen hatte, bevor sie ausstieg, und im Haus schob sie sofort den Sicherheitsriegel vor.
Duschen war das erste und einzige Ziel. Nachdem sie die Alarmanlage eingeschaltet hatte natürlich. Und als sie das Badezimmer betrat, schloss sie auch dort sofort die Tür ab.
Wie lange diese Marotte wohl anhalten würde?
Cait stellte die Dusche an, zog sich aus und ließ zum allerersten Mal in ihrem Leben ihre Klamotten genau dort liegen, wo sie hingefallen waren: die Bluse im Waschbecken, Schuhe und Socken in der Nähe der Toilette, Hose auf der Badematte vor der Wanne. Normalerweise entkleidete sie sich in ihrem begehbaren Kleiderschrank neben den drei Wäschekörben: einer für Weißwäsche, einer für dunkle Sachen und einer für Feines/Farbiges, wobei letzterer meist leer war, da sie nur wenig bunte Teile besaß. Ach, und ihre Tüte mit den Sachen für die Reinigung hing ebenfalls dort.
Erstaunlich, wie die Angst ums eigene Leben plötzlich die Prioritäten verschieben konnte.
Unter dem Wasserstrahl schlang sie die Arme um den Körper und senkte den Kopf. Das Wasser war wie Balsam, sowohl für die Seele als auch für den Körper, so fest und warm wie eine Decke über ihren Schultern und ihrem Rücken, so beruhigend wie eine Meeresbrise, während der Dampf aufstieg und tief in ihre Lungen drang.
Erst als sie sich abgetrocknet und ihren Bademantel angezogen hatte und nach unten gegangen war, um sich einen Tee zu kochen, fiel ihr plötzlich ein …
»Shit!«
Sie wühlte ein weiteres Mal in ihrer armen Handtasche herum, bis sie ihr Handy fand. Dann suchte sie G. B. aus der Liste mit den angenommenen Anrufen heraus und drückte auf Verbinden. Während es klingelte, formulierte sie in Gedanken ihre Entschuldigung.
Es tut mir so leid, aber ich wurde beinahe … überfallen?
Nicht ganz korrekt.
Es tut mir so leid. Ich wurde … im Parkhaus verfolgt und habe mich schließlich in den Aufzug retten können, von wo aus ich die Polizei gerufen habe – wirklich nette Jungs übrigens …
Völlig durcheinander beendete sie den Anruf, bevor G. B. abnahm.
Barfuß lief sie in der Küche auf und ab, was sie gleichzeitig ein bisschen eklig fand, obwohl sie den Boden erst tags zuvor auf allen vieren geschrubbt hatte – um sich irgendwie wieder in den Griff zu bekommen.
Nach einem weiteren Fluch musste sie feststellen, dass sie sonst selten so viele Obszönitäten von sich gab, geschweige denn innerhalb einer einzigen Stunde. Mühsam versuchte sie, ihr Gehirn zu aktivieren.
Keine Chance. Es war, als hätte sie einen Kater, so verstopft war alles, so zähflüssig waren ihre Gedanken, so wenig Sinn ergaben die Dinge.
Aber das war keine Entschuldigung, G. B. in der Luft hängen zu lassen. Wie lange hatte er wohl dort im Foyer auf sie gewartet?
Sie fühlte sich wegen so vielem schlecht, als sie wieder nach dem Handy griff und entdeckte, dass sie eine Nachricht auf der Mailbox hatte. Von G. B.
Der Anruf war gerade erst eingegangen, aber ihr Telefon war auf stumm geschaltet gewesen, da sie ja gedacht hatte, sie würde den Abend im Konzert verbringen.
Darauf vorbereitet, dass sie sich gleich noch mieser fühlen würde, aktivierte sie die Wiedergabe des ABs und hielt sich das Handy ans Ohr.
Seine Stimme klang tief und samtig: »Cait? Großer Gott, es tut mir so leid – ich hoffe, du hast nicht ewig auf mich gewartet? Ich bin hier hinter der Bühne aufgehalten worden und konnte mich ewig nicht abseilen – sie haben noch Werbeaufnahmen gemacht und Interviews. Ich habe versucht, jemanden zu schicken, der dir Bescheid sagt, aber alle, die mit der Show zu tun hatten, waren nur wie verrückt am Herumrennen. Bitte … gib mir noch eine Chance! Ich weiß, ich hab’s vermasselt.« Beim Klang seines frustrierten Schnaufens konnte sie förmlich vor sich sehen, wie er sich durch seine langen Haare fuhr. »Es tut mir ganz, ganz furchtbar leid. Ich mach jetzt hier mit den anderen Leuten noch Schluss, und dann … dann gehe ich vermutlich heim. Ruf mich an, wenn du magst, ja? Und noch mal: Es tut mir wahnsinnig leid.«
Cait legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch. Ballte die Hand zur Faust und stützte ihr Kinn darauf ab.
Wie sie so den Linoleumboden anstarrte, fühlte sie sich irgendwie seltsam. Nicht wirklich niedergeschlagen – denn das wäre lächerlich. Erstens war sie am Leben. Und zweitens war, wie sich herausgestellt hatte, nicht sie diejenige, die G. B. versetzt hatte: Hätte sie nicht mit den Uniformierten geplaudert, dann hätte sie sich bloß endlos im Foyer des Theaters die Beine in den Bauch gestanden und darüber nachgegrübelt, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht, und wie lange sie noch warten sollte.
Der Abend hatte sich als totaler Flop entpuppt.
Ihr Blick wanderte zu ihren nackten Füßen hinunter. Sie wackelte mit den Zehen.
Zumindest gegen die Sache mit dem fehlenden Schuhwerk konnte sie etwas unternehmen.
Sie stand auf, um sich oben ein Paar frische weiße Socken und ihre Hausschuhe zu holen. Dieses komische Gefühl folgte ihr jedoch hinauf in den ersten Stock und blieb an ihr haften wie eine zweite Haut.
Vielleicht würde es helfen, wenn sie diesem Gefühl einen Namen gab, aber sie scheute sich davor.
Als sie ihr Schlafzimmer betrat, musste sie wieder an Sissy denken und betete, dass das Leben nach dem Tod einfacher war als der ganze Krempel hier auf Erden.
Wenn man sich in einen Geist, einen Engel oder was auch immer verwandelte, wurde man wenigstens nicht mehr in Parkhäusern verfolgt. Oder musste mit der Polizei sprechen.
Während Jim seinen Truck durch die Straßen steuerte, als hätte er ein konkretes Ziel, kam er sich verflucht noch mal kastriert vor. Dass eine ganze Menge an dieser Situation nicht seine Schuld war, war dabei völlig irrelevant. Jemand musste die Verantwortung für die Ungerechtigkeit übernehmen, und außer ihm stand niemand Schlange.
Ihm gefiel überhaupt nicht, dass Sissy einfach nur dasaß. Vor allem als sie die Sonnenblende herunterklappte und sich im kreditkartengroßen Spiegel betrachtete. Als sie damit fertig war, konnte er nicht sagen, ob sie gesehen hatte, was sie wollte. Wahrscheinlich nicht.
»McDonald’s«, wiederholte er, falls sie vorhin zu abgelenkt gewesen war. »Einverstanden?«
Als er keine Antwort bekam, ließ er sie in Ruhe. Ein Big Mac, große Pommes und eine Cola waren vermutlich gerade nicht ihre größte Sorge, aber wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde er …
»Scheiße!«
Indem er das Lenkrad nach rechts riss, gelang es ihm knapp, einer schwarzen Katze auszuweichen, die direkt vor ihnen über die Straße lief. Das waren die guten Nachrichten. Und die schlechten? Während das verfluchte Vieh in die entgegengesetzte Richtung verschwand, steuerte der Truck auf eine Eiche zu, die fett genug war, um in einem Harry-Potter-Film mitzuspielen.
Ohne darüber nachzudenken, streckte Jim den rechten Arm aus, um Sissy auf Brusthöhe aufzufangen. Als würde das irgendwie besser funktionieren als ihr blöder Sicherheitsgurt! Gleichzeitig versuchte er, den Kurs zu ändern, indem er das Lenkrad scharf nach links herumriss und auf die Bremse trat.
Wie in Zeitlupe beobachtete er, wie der Baum auf den Kühlergrill zugerast kam.
Wenn das kein perfektes Timing war: ein Autounfall mitten im …
Rumms!
Langsam hatte er wirklich die Schnauze voll von Explosionen. Und der Aufprall ähnelte sehr dem Feuer einer kleinen Kanone oder zumindest einer Bazooka. Doch er hatte andere Probleme, als die Dezibelstärke zu schätzen.
Im Gegensatz zu Sissy hatte er nämlich vergessen, sich anzuschnallen. Und im Gegensatz zu ihr war zudem sein Airbag nicht ausgelöst worden.
Das Lenkrad schlug ihm mit voller Wucht gegen die Brust, sein Gesicht knallte in die Windschutzscheibe, und ein greller Blitz gab ihm das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Feuerwerkskörper in die Fresse gerammt.
Mann, in letzter Zeit hatte es wirklich zu viele Lightshows und laute Geräusche gegeben.
Zu viele …
»Was soll die Scheiße?«, brüllte er, als jemand auf ihn zukam.
Doch anstatt die Antwort abzuwarten, packte Jim den Kerl vor sich, warf ihn auf den Boden und wollte gerade zuschlagen …
»Halt! Stopp! Ich bin Rettungssanitäter! Ich bin hier, um Ihnen zu helfen!«
Während sich der »Angreifer« unter ihm wand, stellte Jim irritiert fest, dass der Mann ein Stethoskop um den Hals hängen hatte. Und eine weiße Uniform trug. Und dass überall rote und blaue Stroboskoplichter blinkten.
Er sah sich um, eine Hand weiterhin um den Hals des Mannes geschlossen, die andere erhoben und zur Faust geballt.
Ein Stück weiter rechts stand sein Truck um einen Baumstamm gewickelt wie eine Werbung für Versicherungspolicen.
Der Angriff kam von der anderen Seite, und wer auch immer das war, hatte offenbar Erfahrung darin, Leute umzuhauen. Jim knallte mit solcher Wucht nach vorn, dass er über den Asphalt schlitterte, sich ein Loch in den Arm brannte und ihm die Luft aus den Lungenflügeln gepresst wurde.
Im Gegensatz zu ihm selbst war diese Abrissbirne jedoch nicht darauf aus, sein Ziel zu Brei zu schlagen.
Während Jim mit dem Gesicht nach unten wie auf dem Boden festgenagelt lag, ertönte eine vernünftige Stimme in seinem Ohr: »Sie waren in einen Autounfall verwickelt. Als wir am Unfallort eintrafen, waren Sie nicht ansprechbar. Die Rettungssanitäter sind dabei, ihre Untersuchungen zu machen, und mit Ihrem Einverständnis würden sie diese gerne fortsetzen.«
Jim drehte den einen Augapfel, der noch ein bisschen Bewegungsfreiheit hatte, nach oben. Das Bergmassiv auf seinem Rücken war ein afroamerikanischer Cop vom Caldwell Police Department mit Ziegenbärtchen und Glatze. Und der schwere Dreckskerl schien höchst zufrieden damit, Jim so lange wie nötig als Sofa zu benutzen.
Sissy! Wo war …
»Sir, was haben Sie gesagt?«, wollte der Bulle wissen. »Wer ist Sissy? Sie waren allein, als wir Sie gefunden haben.«
»Nein! Sissy war bei mir!« Na super. Seine Aussprache glich der eines lispelnden Dreijährigen.
»Hören Sie, wie wäre es, wenn wir eins nach dem anderen erledigen? Sind Sie damit einverstanden, behandelt zu werden?«
»Ich muss sie finden.«
Der Sanitäter, den Jim in einen Schuhabstreifer verwandelt hatte, kam herbeigehinkt. »Ich glaube, er hat eine Kopfverletzung.«
»Sir, wenn Sie so weitermachen, werde ich Sie vorladen müssen wegen …«
Als ihn nun beide anjammerten, beschloss Jim, seine Taktik zu ändern: »Von mir aus, behandeln Sie mich«, knurrte er.
Das Wichtigste war herauszufinden, wo Sissy steckte – und dafür musste dieser Hinternhocker sich von seinem bequemen Sitz erheben.
O Gott, Devina war doch hoffentlich nicht aufgetaucht mit ihrem Hang zu beschissen perfektem Timing.
Der Cop stieg gemächlich ab. »Sie werden ruhig liegen bleiben müssen. Ihr Kopf hat die Scheibe durchschlagen, und wir machen uns außerdem Sorgen um Ihre Wirbelsäule.«
Alles klar.
Jim drehte sich sofort auf den Rücken mit der festen Absicht, auf die Füße zu springen. Doch sobald er einen Versuch in Richtung Senkrechte startete, gab sein Körper nach.
»Nicht doch«, meinte der Cop, »das lassen Sie mal schön bleiben.«
»Ich bin hier drüben.«
Jim drehte den Kopf hektisch in Richtung der weiblichen Stimme. Gleichzeitig fuhr ihm ein scharfer Stich direkt ins Gehirn und ließ ihn das Gesicht verziehen.
»Am besten lege ich ihm einen Kragen an«, verkündete ein anderer Sani.
»Können Sie mir Ihren Namen nennen?«, wollte der Cop wissen.
Aber Jim hörte gar nicht richtig zu, ihm war völlig egal, was sie mit ihm machten. Sissy stand unter einer Straßenlaterne ganz am Rand des Geschehens; sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und beobachtete das Schauspiel.
Wenn das mal kein Engel war.
Vielleicht lag es an seiner Verletzung … aber, o Mann, er konnte nur daran denken, wie schön sie war – und zwar nicht wie ein Mädchen, sondern als Frau. Die Beleuchtung hüllte sie in einen schimmernden Mantel ein, der Wind spielte in ihren langen, glatten blonden Haaren, und ihre Augen blickten feierlich und ernst drein, nicht groß und ängstlich. Trotz des Unfalls stand sie ganz aufrecht dort, obwohl es an diesem Abend bereits viel zu viele Traumata gegeben hatte.
»Danke, Gott«, wisperte Jim.
»Echt jetzt?«, meinte der Cop, während die Sanitäter sich um ihn scharten und verschiedene medizinische Geräte aus ihren Taschen holten und an ihm befestigten. »Ich hätte nicht gedacht, dass Eltern heutzutage noch ›Danke‹ als Vornamen wählen. Und Gott ist auch ziemlich ungewöhnlich.«
Was? Ach, die Namensfrage. »Nein, ich habe sie gefunden«, murmelte Jim.
»Wen?«
»Sissy.« Jim versuchte, wieder den Kopf zu heben. »Mir geht’s gut!«, rief er ihr zu.
»Haben Sie getrunken, Sir?«, wollte der Polizist wissen.
»Bist du sicher, dass alles okay ist?«, fragte Sissy.
»Ja«, erwiderte Jim. »Ich bin sicher.«
»Das mit dem Alkohol müssen wir überprüfen«, warf der Polizist ein.
Ein weiterer uniformierter Wichtigtuer kam herbei. »Hast du eine Brieftasche bei ihm gefunden?«
»Sir, haben Sie einen Führerschein?«
»Mach dir keine Gedanken«, erklärte er Sissy.
»Na, ich sollte mir schon Gedanken machen«, meinte daraufhin der Polizist. »Das ist schließlich mein Job.«
»Gib dem Mann doch deine Papiere«, warf sie ein.
Scheiße. Wahrscheinlich hatte er immer noch seinen alten Führerschein bei sich, aber wenn sie nach dem Namen und dem Foto suchten? »Ich bin tot«, murmelte er.
Der Sanitäter, den er zuvor überwältigt hatte, lachte. »Falls ja, dann sind Sie die erste Leiche mit Blutdruck, die mir je begegnet ist.«
Wart’s nur ab, dachte Jim.
»Ich werde sie mit einem Bann belegen«, erklärte Jim Sissy, während eine Halskrause um sein Genick befestigt wurde. »Ich werde mich um alles kümmern.«
»Bringt mal die Bahre her!«, rief jemand.
»Ich gehe nicht ins Krankenhaus.«
Der Cop beugte sich lächelnd über ihn. »Einen Bann, ja? Sie meinen, Sie blinzeln einmal, und dann ist der ganze Spuk hier vorbei?«
Jim sah dem Typen in die Augen, verankerte sich in seinem Blick. »Ganz genau.«
Mit reiner Willenskraft sandte er einen Energieschub aus, schob ihn durch die Luftmoleküle zwischen ihnen, übernahm die Kontrolle über die Gedanken und Taten des Mannes. Der Ausweg aus diesem Schlamassel war, dasselbe mit jedem einzelnen der Anwesenden zu tun, dann wären er und Sissy frei.
Er könnte sogar dafür sorgen, dass dieser Clown in Uniform sie nach Hause fuhr.
»Habt ihr eure Bahre?« Der Cop drehte sich um und blickte über die Schulter. »Zeit für den Transport.«
Jim blinzelte verwirrt. Warum zum Henker funktionierte das nicht?
Der Blutdruck-Sani zuckte mit den Schultern. »Es besteht kaum Fluchtgefahr, falls Sie das meinen. Sein Bein ist vermutlich gebrochen. Der geht so schnell nirgendwo hin.«
»Das mit dem Aufspringen hat er aber vorhin ganz gut hingekriegt«, wandte der Officer ein.
Halt, halt, halt, so sollte das doch eigentlich nicht laufen.
»Hier ist die Trage. Achtung, Sir, wir werden Sie jetzt bewegen. Auf drei: eins … zwei … drei!«
Als der Schmerz in seinen Körper geschossen kam, alles überflutete und in seinem Gehirn für einen Kurzschluss sorgte, war Jims letzter Gedanke, dass es eigentlich hätte funktionieren müssen. Seit Eddie ihn mit den Engeltricks vertraut gemacht hatte, war er in der Lage gewesen, Dinge und Menschen wie durch Zauberhand zu beeinflussen.
Mit dem eigenen Gesicht Schlaghammer zu spielen schränkte diese praktischen Fähigkeiten jedoch offenbar ein.
Verdammt.