Neun
Morgens ließ es sich immer am besten arbeiten.
Cait saß in der Sonne, deren Strahlen von links auf ihren Zeichentisch fielen und damit für bessere Beleuchtung sorgten, als es eine Lampe je hatte tun können. In diesem klaren Schein leuchtete das rote Halsband des kleinen schokofarbenen Labradors wie ein Rubin, sein braunes Fell schimmerte samtig, und das fröhliche Grün der Grashalme unter seinen Pfoten erinnerte an Smaragde.
Seit sie in dieses Haus gezogen war, gab es für Cait keine jahreszeitlich bedingte Depression mehr. Schluss mit Januarblues – egal, wie lang und heftig der Winter im nördlichen Teil des Bundesstaates New York auch war.
Das Licht bedeutete gleichzeitig auch Wärme. Obwohl es erst kurz vor sieben Uhr morgens war und die Temperatur bei gerade einmal knapp über sieben Grad lag, war der Wintergarten, in dem sie arbeitete, fast schon tropisch aufgewärmt. Und die bodentiefen Fenster auf drei Seiten boten eine hübsche Aussicht auf ihren schmalen Gartenstreifen mit den Büschen und knospenden Bäumen.
Cait streckte blind die Hand nach ihrem Edelstahlbecher mit Kaffee aus. Sie nahm einen weiteren großen Schluck. Letzte Nacht hatte sie nicht besonders viel geschlafen, da ihre Gedanken um diese beiden Männer gekreist waren, zusammen mit Bildern von ihrem Äußeren, Gesprächsfetzen und Nahaufnahmen von der Art, wie die zwei sie angestarrt hatten. Rund und rund ging es in ihrem Kopf. Gegen fünf hatte sie schließlich die Hoffnung auf Tiefschlaf aufgegeben und war aufgestanden, um sich die erste von zwei Kannen Kaffee zu kochen. Zum Glück fand sie Trost und Ruhe, sobald sie sich auf ihrem gepolsterten Stuhl niedergelassen hatte.
Nun beugte sie sich wieder übers Papier und zeichnete mit farbiger Tusche die letzten Striche am Auge des Welpen. Eine hochgezogene Braue, winzige aufgefächerte Wimpern und ein kleines bisschen silbriges Weiß am Rand der Iris.
Fertig.
Trotzdem überprüfte sie alles noch ein letztes Mal. Dazu steckte sie die Kappe auf den Stift und legte ihn zu den anderen, bevor sie den Blick über jeden Zentimeter der sechzig mal dreißig Zentimeter großen Illustration wandern ließ. Der Welpe war gerade dabei, einen Vogel zu beschnuppern, den Schwanz hatte er in die Höhe gereckt, die Ohren neugierig gespitzt, und seine stämmigen Beinchen waren jederzeit bereit, nach hinten zu springen, falls sich das Rotkehlchen vor ihm als Feind statt als Freund entpuppen sollte. Der Text würde über seinem Rücken erscheinen, deshalb hatte sie da eine große freie Fläche hellblauen Himmels eingeplant.
»Prima«, sagte sie, als wäre sie ihre eigene Studentin.
Dann löste sie die vier Ecken und trug das Blatt vorsichtig zu den langen Klapptischen hinüber, die sie an der Wandseite des Raumes aufgestellt hatte. Das hier war die zwölfte Doppelseite des Buches. Cait legte sie ans Ende der Reihe.
Das Ausbreiten der Blätter war ein wesentlicher Teil ihres Arbeitsprozesses. Es verschaffte ihr einen besseren Überblick über die Illustrationen, denn sie kehrte immer wieder unbewusst zu bestimmten Haltungen, Raumaufteilungen, Gesichtsausdrücken und Nuancen zurück. Das Projekt auf diese Weise als Ganzes zu betrachten half ihr dabei, Wiederholungen zu vermeiden, die zwar vermutlich nur ihr selbst auffielen, aber trotzdem Schwächen darstellten.
Mein Gott … wie sie Kinderbücher liebte! Die Schlichtheit der Botschaft, die Leuchtkraft der Farben, den Rhythmus der Worte … diese schwarz-weiße kindliche Sicht der Dinge hatte wirklich etwas für sich. Gut war gut. Böse war böse. Gefährliche Dinge stellten heiße Herdplatten, offene Flammen und Steckdosen dar – alles Sachen, die sich relativ einfach vermeiden ließen. Und das Monster im Schrank entpuppte sich stets als Camping-Schlafsack, der in eine Ecke gestopft worden war – niemals als etwas, das einem tatsächlich wehtun konnte.
Am Rand ihres Blickfeldes schwebte die ganze Zeit unheilvoll die aufgeschlagene Ausgabe des Caldwell Courier Journal, obwohl die Zeitung flach auf dem Couchtisch lag. Cait hatte nicht sonderlich weit blättern müssen, bis sie die gesuchte Information entdeckte: Die Notiz zu Sissy Bartens Beerdigung stand unterhalb des Knicks auf der ersten Doppelseite. Der Gottesdienst fand in der St. Patrick’s Cathedral statt mit einem direkt anschließenden Begräbnis auf dem Pine-Grove-Friedhof.
Selbstverständlich würde sie in die Kirche gehen.
Cait schob sich die Haare hinter die Ohren, wandte sich wieder ihrem Arbeitstisch zu … und erlaubte sich einen Moment lang zu betrauern, dass Sissy nie mehr einen Morgen wie diesen würde genießen können. Würden ihre Eltern und ihre Familie jemals wieder dazu in der Lage sein? Vielleicht in einem Jahrzehnt oder so. Frühestens.
Cait hatte die Mutter und den Vater an einem Tag der offenen Tür im Herbst kennengelernt, als Sissy sie mitbrachte, um ihnen ihre wunderbaren Bleistiftzeichnungen zu zeigen.
Es war fast schon unheimlich, an jenen Tag zurückzudenken, als Cait die beiden lächelnd begrüßt und ihre Tochter in den höchsten Tönen gelobt hatte. Was, wenn ihr jemand in diesem Moment gesagt hätte, dass das Mädchen sechs Monate später tot sein würde? Unvorstellbar.
Aber genau das war passiert.
Der Vorsitzende der Fakultät hatte sie angerufen. Er berichtete ihr, dass Sissy am Abend zuvor nicht von den kurzen Besorgungen, die sie hatte machen wollen, zurückgekehrt und seither verschwunden war. Ihre Eltern hatten die Mitbewohner auf dem Campus angerufen, falls sie stattdessen dorthin gegangen sein sollte, und dann war die Polizei eingeschaltet worden. Die Beamten fanden zwar das Auto, mit dem Sissy zum Supermarkt gefahren war, aber von ihr selbst keine Spur.
Sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Bis man sie dann in diesem Steinbruch gefunden hatte.
Cait war diejenige gewesen, die Sissys Sachen aus ihrem Spind und den Schränken in der Kunstfakultät ausgeräumt hatte. Sie war dieser Pflicht abends nach Vorlesungsschluss nachgekommen, als sich nur noch die Reinigungskräfte und der Wachmann in den Räumlichkeiten befanden.
Dabei hatte sie so heftig geweint, dass sie sich auf der Toilette Papierhandtücher hatte holen müssen.
Nachdem sie sämtliche Materialien, die Zeichnungen und Gemälde verstaut und die Skulpturen in Kisten verpackt hatte, nahm Cait alles mit zu sich nach Hause. Dann hatte sie die Nummer gewählt, die in Sissys Akte vermerkt war – doch am anderen Ende ging nur die Mailbox dran, und obwohl sie eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte sich daraufhin nie jemand bei ihr zurückgemeldet.
Andererseits musste die Familie sich wirklich um genug anderes kümmern.
Vermutlich würde Cait die ganzen Sachen irgendwann an Sissys Adresse schicken müssen. Eigentlich hätte sie sie lieber persönlich übergeben, aber sie wollte auch nicht stören – und sie wusste genau, dass sie sich nicht im Griff haben würde, wenn sie die Eltern wiedersah.
Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was diese gerade durchmachten. Da sie selbst bereits in jungen Jahren ihren Bruder verloren hatte, kannte sie zumindest einen Teil dieses Schmerzes, aber sie nahm an, dass er noch um ein Vielfaches schlimmer war, wenn es sich um das eigene Kind handelte.
Cait nahm wieder am Zeichentisch Platz, sortierte ihre Prismacolor-Marker, überprüfte die Spitzen ihrer Bleistifte und stellte sicher, dass ihre Aquarellpinsel perfekt sauber waren.
So empfindliche Utensilien, die leicht kaputtgingen, sich in ihren Händen jedoch in mächtige Werkzeuge verwandelten, mit denen es gelang, aus dem Nichts etwas zu erschaffen. Ohne ihre Führung waren es bloß leblose Staubfänger.
Aber gerade das war ja das Schöne am Leben. Es verlieh leeren Objekten Aufgabe und Sinn. Ohne Leben jedoch …
Wie seltsam, dass ihr solche Gedanken gerade jetzt durch den Kopf gingen. Von ihrem Talent, aus zwei Dimensionen etwas Dreidimensionales zu zaubern, konnte sie sehr gut leben. Doch sie hatte nie über ihren Hauskredit, die Stromrechnung und Essen hinaus gedacht, hatte nie die wahren Konsequenzen der Kinderlosigkeit in Betracht gezogen … sich bis zu diesem Moment nie ernsthaft mit dem Gedanken befasst, dass das, was sie auf Papier hinterließ, möglicherweise ihr gesamter Beitrag zur Menschheit war.
Nicht unbedingt ein Riesenverdienst. Und auch nicht von großer Beständigkeit, denn zweifellos würden die Menschen irgendwann aufhören, die Bücher zu lesen, die sie illustriert hatte, und ihre Bilder würden verblassen oder zerfallen, während sie selbst, wie wir alle, bei den Lebenden in Vergessenheit geriet.
Kinder waren die einzige Unsterblichkeit, die Sterblichen vergönnt war – und selbst dann kannte einen zwei oder höchstens drei Generationen später keiner mehr persönlich.
Fetzen dieses Liedes aus dem Café am Abend zuvor zogen durch ihren Kopf.
Vielleicht hatte G. B. doch recht, was das ewige Leben betraf.
Es schien zumindest bedeutungsvoller als die übliche kurze Spieldauer, gefolgt vom Abpfiff. Wobei übrigens fünfundsiebzig oder achtzig Jahre noch das positivste Szenario darstellten.
Das war nicht das, womit die Bartens sich jetzt herumschlugen. Nicht zu vergleichen mit dem gewaltsamen, unvorhergesehenen, sinnlosen und schrecklichen Tod einer Tochter, die ihnen von einem Verrückten gestohlen worden war.
Cait gebot ihren Gedanken an dieser Stelle ganz bewusst Einhalt und kehrte dem deprimierenden Loch, in dem sie sich verkriechen wollte, den Rücken zu.
Die Sache mit Sissy würde ihr noch lange zu schaffen machen, und das war durchaus angemessen. Aber sie musste trotzdem ihre Arbeit erledigen.
Also holte sie sich das nächste leere Blatt, klemmte es fest, überprüfte ihre Notizen und den Text der Autorin … und setzte im zauberhaften Sonnenlicht des Morgens den Bleistift erneut aufs Papier.
Das war so viel besser, als nachzudenken, ehrlich.
Sissy Barten saß auf der Veranda, auf der sie am Abend zuvor aufgewacht war. Vor ihr stieg langsam die Sonne zwischen den immer noch recht spärlichen Blättern der Frühlingsbäume auf, ihre Strahlen waren rosagolden und versprachen Wärme.
Sissy hatte nicht damit gerechnet, das noch einmal zu erleben.
Nun zog sie die Decke, die sie mit heruntergebracht hatte, fester um die Schultern und blinzelte ins stärker werdende Licht. Das Haus hinter ihr lag still da. Sicher schliefen die beiden Männer noch in irgendwelchen Betten, in die sie schließlich gefallen waren. Im Laufe der Nacht hatte sie die beiden stundenlang herumpilgern hören – oder es gab Geister in dieser alten Villa.
Als endlich Ruhe eingekehrt war, als kein Knarzen, kein Gemurmel mehr erklang und sich die Zigarettenrauchschwaden aufgelöst hatten, war sie aus dem Zimmer geschlichen, in das man sie gebracht hatte.
Das Einzige, was sie wollte, war, ihre Familie zu sehen. Und daran hatte sich seither nichts geändert.
Sie wollte einfach nur nach Hause gehen, zu Hause sein, zu Hause bleiben.
Das Problem war, dass sie nicht wusste, ob sie dieser Version der Realität wirklich trauen konnte. Was, wenn das alles hier nur ein grausamer Scherz war, eine weitere Facette dessen, worin sie eine Ewigkeit gefangen gewesen war, eine Illusion, die extra deshalb erschaffen worden war, um ihre Qual zu verschlimmern, wenn man sie ihr plötzlich wieder wegnahm?
Dann scheiß drauf! Unter diesen Umständen würde sie lieber nicht zum Haus ihrer Eltern zurückkehren.
Sie würde dieser Frau, dieser Dämonin, oder was auch immer sie war, nicht die Genugtuung verschaffen.
Sissy warf einen Blick über die Schulter. In der offenen Tür war der Mann aufgetaucht, der sie gerettet hatte. Er wirkte eher wie ein Unheilsbote als wie jemand, der einen beschützte. Seine dunkelblonden Strähnen standen in alle Richtungen ab, als hätte er sich die Haare gerauft. Seine Augen waren so fest zusammengekniffen, dass sie fast unter den Brauen verschwanden.
Unter anderen Umständen hätte sie vermutlich einen großen Bogen um ihn gemacht. Aber nicht jetzt. Nicht hier.
Sie verspürte Erleichterung, ihn zu sehen.
»Alles klar bei dir?«, erkundigte er sich.
Sie wandte das Gesicht wieder der Sonne zu. »Ist das echt?« Um ihre Frage zu verdeutlichen, klopfte sie auf die Dielenbretter, auf denen sie saß, und musste sich dann die Farbsplitter von den Fingerknöcheln wischen. »Ist irgendwas hiervon echt?«
»Ja.«
»Wie viel?«
»Alles.«
Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, ob sie ihm trauen konnte. Aber dann tauchten wieder Bilder auf, deren lebendiger Horror ihm eine Glaubwürdigkeit verlieh, die weder Worte noch Beteuerungen je hätten erschaffen können.
»Was bin ich?«, platzte es aus ihr heraus.
»Du bist … du.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich brauche eine bessere Definition als das.«
Es folgte ein langes Schweigen. Dann hörte sie ihn näher kommen.
Er setzte sich neben sie und stützte die Ellbogen seiner kräftigen nackten Arme auf die Knie. »Ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll.«
»Bin ich ein Geist?«
»Nein.«
»Du?«
»Nein. Brauchst du einen Mantel? Es ist kalt hier draußen.«
»Ich habe ja meine Decke. Beziehungsweise … deine, nehme ich mal an. Das ist doch dein Schlafzimmer, oder?« Als er keine Antwort gab, zuckte sie mit den Schultern. »Es riecht nach dir. Zigarettenrauch und Rasierschaum.«
Eigentlich ein angenehmer Geruch. Das Einzige, was sie an dem Zimmer mochte.
Sissy strich sich das Haar nach hinten und spürte, wie es über das viel zu weite Hemd mit der Knopfleiste fiel, das er ihr gegeben hatte. »Ist sie der Teufel?«
Als er immer noch nicht antwortete, blickte sie zu ihm hinüber. In seinen Augen lag ein mörderisches Licht, das nicht vom Sonnenaufgang herrührte. »Ist sie?«
»Ja.«
»Dann bist du … ein Engel?«
»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher. Aber es gehört zur Stellenbeschreibung.«
»Du hast keine Flügel.« Als er bloß die Achseln zuckte, spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Wenn du ein Engel bist, kannst du doch nicht lügen, oder?«
»Zumindest dir gegenüber nicht.«
»Also, wenn das hier echt ist und keine Illusion … dann will ich zu meiner Familie. Kannst du mich hinbringen?«
Ohne zu zögern, sah er sie an und nickte. Fast so, als wäre das Teil des Plans gewesen – sie da rausholen und nach Hause bringen.
Er streckte die Hand aus und wischte ihr zart eine Träne von der Wange. »Wir können gehen, wann immer du willst. Außerdem habe ich deiner Mutter versprochen, ich würde ihr dich zurückbringen.«
»Du hast sie gesehen?«, flüsterte sie.
»Ich war bei ihr, ja.«
»Geht es ihr … gut?« Blöde Frage. Keinem von ihnen ging es gut. »Ich meine … kann ich wieder bei ihnen wohnen? Kann ich zurückgehen und …«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Scheiße, dachte sie. An der Art, wie er die breiten Schultern hochgezogen hatte, und der Tatsache, dass er ihrem Blick auswich, erkannte sie, dass sie nicht auf die herkömmliche Art würde heimkehren können.
Sissy wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Sonnenaufgang zu. Ihr kurz aufgeflammter Optimismus war am Verglühen. »Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren.«
»Kenn ich. Hab ich auch schon erlebt. Das ist … hart.«
Die Vorstellung, dass jemand auch nur einen Bruchteil dessen verstand, was sie durchmachte, half tatsächlich ein bisschen. Aber: »Bist du sicher, dass der Teufel nicht zurückkommen und mich holen kann?«
»Nur über meine Leiche.« Nun sah er ihr wieder direkt in die Augen. »Kapiert?«
Mein Gott, hoffentlich war er so stark, wie er aussah, denn diese Dämonin aus der Hölle war der pure Albtraum. »Wenn du ein Engel bist, bedeutet das nicht auch, dass du schon gestorben bist?«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Merk dir einfach nur: Sie wird dich nicht bekommen.«
Sissy rieb sich über die Stirn und wünschte sich, nicht zum ersten Mal, sie wäre nicht dort gelandet, wo sie sich jetzt befand: auf dieser Veranda, auf halbem Weg zwischen den Toten und den Lebenden, mit einer Feindin, die sie nicht verstand, und einem Retter, der ganz offensichtlich nicht sonderlich glücklich über seinen Job war.
»Ich kann mich gar nicht daran erinnern, was passiert ist«, murmelte sie. »Ich weiß nicht mehr, wie ich da unten gelandet bin. Weißt du es?«
Als er weiterhin schwieg, wandte sie sich ihm zu. »Bitte.«
Bevor er jedoch antworten konnte, kam ein zehn Jahre alter Honda auf die Villa zugebraust. Aus dem offenen Fenster flog eine aufgerollte Morgenzeitung, die aber ihr Ziel verfehlte. Statt irgendwo in Sissys Nähe zu landen, fiel sie in die Büsche neben dem Haus.
Das Auto hielt mit quietschenden Reifen an, und als die Fahrertür aufgerissen wurde, reagierte der Mann neben ihr, indem er minimal sein Gewicht verlagerte, während seine Hand hinten zum Hosenbund wanderte.
Offensichtlich trug er dort eine Waffe.
Doch als ein sechzehnjähriger Kerl ausstieg und über den Rasen schlurfte, entspannte Jim sich wieder.
»Chillie!« Sissy sprang auf. »O mein Gott, Chillie!«
Chillie, alias Charles Brownary, sah nicht einmal zu ihr herüber. Er hielt auch nicht erschrocken inne. Er zeigte überhaupt keine Reaktion. Der kleine Bruder ihrer besten Freundin ging einfach weiter auf die struppigen Büsche zu, fluchte leise vor sich hin und zog dabei seinen Red-Wings-Kapuzenpulli über, als würde ihn der Winter inzwischen gewaltig nerven.
»Chillie«, wiederholte sie dumpf, während er das Caldwell Courier Journal aus der Rabatte klaubte und sich der Veranda zuwandte.
Der zweite Wurf gelang wie am Schnürchen: Die Zeitung flog direkt an Sissy vorbei und streifte dabei fast ihren Arm.
»Chillie …?«
Als er sich umdrehte, um zum Wagen zurückzugehen, prasselte auf einmal alles auf sie ein: die Schrecken der Welt dort unten, die Verwirrung und Angst hier oben, der Schmerz, ihre Familie zu verlieren, diese entsetzliche Gedächtnislücke …
Sissy öffnete den Mund und schrie, so laut sie konnte – und sie schrie immer weiter, bis der Schrei in ihrem Kopf explodierte, zu Konzertlautstärke anschwoll und die Vögel auf den Bäumen zu beiden Seiten des Hauses aufschreckte.
Chillies Schritte verlangsamten sich, dann blieb er stehen. Mit einer leichten Drehung des Oberkörpers schaute er über die Schulter – aber sein Blick war auf das Haus gerichtet; er suchte die Fassade ab, als erwarte er, jemanden am Fenster stehen zu sehen. Dann schüttelte er sich, als handle es sich um Norman Bates’ Villa in Psycho, lief schnurstracks auf sein Auto zu und trat aufs Gas, als wäre jemand hinter ihm her.
Wenn nicht eine starke Hand ihren Arm gepackt hätte, hätte Sissy gar nicht bemerkt, dass sie nach vorne fiel, als ihre Beine unter ihr nachgaben. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war Chillies Anblick im Morgenlicht, die kurzen Haare vom kalten Wind nach hinten geblasen, wie er direkt durch sie hindurchgesehen hatte.
Dann verlor sie das Bewusstsein.