Brücke ohne Wiederkehr
9. November
10.43 Uhr
Nach zahllosen Stunden und Widrigkeiten seit der Abfahrt aus dem Kohlekraftwerk mussten Saien und ich auf dem letzten Wegstück zum Hotel 23 noch ein größeres Hindernis überwinden. Nach sorgfältiger Sichtung unseres Kartenmaterials hatten wir eigentlich nur zwei Möglichkeiten:
1. Wir konnten nach Norden ziehen und vielleicht einen Weg über den vor uns liegenden Fluss suchen.
2. Wir konnten über die Livingstone Bridge fahren.
Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Brücke auf unseren Karten, wenn sie so breit war wie der auf sie zuführende Highway, zweispurig.
Wenn wir bei dem Versuch, den See zu umfahren, nach Norden auswichen, kamen wir in die Nähe einer größeren Stadt. Der einzige Nachteil von Möglichkeit 2 war der uns nicht bekannte bauliche Zustand der Brü- cke. Nachdem wir diverse Pros und Contras diskutiert hatten, hielten wir die Brückenoption für die sinnvollste. Gestern haben wir tagsüber unseren Südkurs ein wenig nach Westen korrigiert, um auf die Brücke zu stoßen. Ich fuhr mit dem Buggy vorweg, Saien zuckelte nicht weit entfernt mit dem Laster hinterher. Die Landschaft war so monoton, dass sie sich kaum zu beschreiben lohnt ... überall wimmelte es von kaputten Autos, vollgepackten Geländewagen, verstreuten Ambulanzfahrzeugen und natürlich Toten. Ich habe mich oft dabei ertappt. dass ich sie so einfach wegschaltete wie unerwünschte Geräusche in einem teuren Headset - eine gefährliche Angewohnheit.
Als die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreichte, gab ich vom Buggy aus das Signal. dass es Zeit war, an den Straßenrand zu fahren. Ich wählte eine Stelle an einer Reihe liegengebliebener Eisenbahnwaggons aus. Dieses Unterkunftssystem war uns bisher immer so gut bekommen, dass Saien und ich uns nach Möglichkeit darauf verließen. Wir saßen auf dem Dach eines Güterwaggons mit der Aufschrift »Northern Railroad« und versuchten uns in der Sonne aufzuwärmen. Die Waggonwände waren mit zahllosen Graffiti aus der Zeit vor dem Zusammenbruch dekoriert. Der größte Teil des Geschmiers waren Bandenzeichen und geheimnisvolle Hobo-Signale. Als ich mit der Inspektion der einen Waggonseite fertig war und mir die andere vornahm, rief Saien, ich solle raufkommen. Ich stieg über die Leiter zum Waggon hinauf, und als ich übers Dach hinwegschaute, sah ich ihn auf seinem Drag Bag liegen und nach Osten starren. Ich ging zu ihm hin und fragte, was los sei.
Saien klappte das Zweibein aus, ließ die Schulterstütze des Gewehrs auf seiner Jacke ruhen und sagte: »Schau mal.«
Ich blickte durch sein stark vergrößerndes japanisches Fernglas und sah den Grund seiner Besorgnis. Eine riesige Staubwolke wirbelte am Horizont heran. Ohne den Blick durch die Optik seiner Waffe hätte man sie für ein wogendes Regenwölkchen halten können. Ich hatte den Eindruck, dass wir dort möglicherweise einen Untotenschwarm sahen.
Wenn es einer war, übertraf er alles, was wir seit dem Tag unserer Begegnung gesehen hatten. Die bloße Präsenz eines knapp fünfzehn Kilometer von uns entfernten Schwarms bedeutete aber nicht unbedingt, dass er auf unsere Stellung zukam. Man konnte eher annehmen, dass er in unsere allgemeine Richtung nach Südwesten hin unterwegs war und, wenn er an den Fluss kam, entweder auf- oder abwärts zog. Der Fluss konnte sie entweder in unsere Richtung lenken, oder sie konnten kollektiv flussaufwärts ziehen. Wir verbrachten den Rest unserer verkürzten Mittagspause mit dem Versuch, die Richtung und Geschwindigkeit der Masse zu berechnen, doch ohne Erfolg.
Wir haben den Punkt des Eindringens in Rekordzeit erreicht. Kurz vor der Brücke, auf einem hohen Hügel. nahmen wir ein wenig Aufklärung vor. Ein rostender Abrams- Panzer stand genau vor der Brücke quer auf der Straße. Die Farbe war zwar noch nicht abgeblättert, aber überall auf den dicken Stahlteilen zeigten sich Rostflecken. Eine Fernmessung des Geigerzählers enthüllte, dass er eine mittelhohe Strahlendosis abgab. Sie war zwar nicht sofort tödlich, aber mehrere Nächte hintereinander wollte ich in dem Ding nicht verbringen. Auf dem Panzer waren überall Eiterschlieren zu sehen. Die zivilen Fahrzeuge in der Umgebung waren schwer beschädigt, fast so wie die auf der Hauptstraße des Kaffs, durch das wir Tage zuvor gefahren waren.
Bevor wir den Hügel runter zur Brücke fuhren, schauten wir uns die Staubwolke nochmal genau an. Sie wurde deutlich größer. Der Wind wehte schwache Geräusche heran, die solches Unbehagen in mir auslösten, dass ich mich anstrengen musste, die Nerven zu behalten. Als es den Hügel hinabging. demoralisierten mich die Dimensionen der Brücke. Sie war so lang, dass die Fahrzeuge auf der anderen Seite wie weit entfernte Pünktchen aussahen.
Aus der Nähe erkannte ich, dass die Luke des rostenden Abrams- Panzers ein Stückweit offen stand. Ich sprang auf den Panzer und öffnete sie mit ein wenig Anstrengung ganz. Die Geigerzählermessung blieb konstant. Ich leuchtete ins Fahrzeuginnere und scheuchte einen Vogel auf, der mich fast zu Tode erschreckte und hinausflog. Der Panzer war unbemannt.
Ohne ihn zu bewegen bestand keine Möglichkeit, mit unseren Fahrzeugen an ihm vorbeizukommen. Ihn abzuschleppen war nicht möglich, denn er wog ein Vielfaches unseres Lasters. In einem Fach neben den Kontrollen fand ich Bedienungshandbücher. Ich folgte den Instruktionen und brachte den Motor nach drei Versuchen zum Laufen. Der Panzer war zwar noch funktionstüchtig, aber es hatte den Anschein, dass der Düsentreibstoff im Tank kontaminiert war, da ich den Motor nie so weit kriegte, dass er auf die im Handbuch angegebene optimale Funktionstemperatur beschleunigte. Dies führte dazu, dass er sich schwerfällig und träge bewegte.
Nach einer kurzen Aufwärmperiode schaltete ich den Panzer ein und gab Gas. Er tat einen Satz nach vorn. Der Geruch brennenden Düsentreibstoffs breitete sich im Inneren des Fahrzeugs aus und durchdrang alles. Nachdem ich angehalten hatte, gelang es mir, ihn laufen zu lassen, bis ich Saien geholfen hatte, unsere Fahrzeuge auf die Brücke zu fahren.
Als Buggy und Laster sicher auf der Brücke standen, lief ich zum Panzer zurück, um ihn umzustellen. Dabei fiel mir auf, dass jemand »TROLL« auf den Geschützturm gesprüht hatte. Ich stieg wieder ein und versuchte das Gefährt nach hinten zu fahren. Ich zerstörte das Geländer auf beiden Seiten der Brücke und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Schließlich gab ich auf und war mit der neunzigprozentigen Lösung zufrieden.
Auf einer Seite klaffte eine Lücke, durch die sich ein Motorrad quetschen konnte. Bevor ich ausstieg, schaltete ich das Funkgerät ein und setzte die Kopfhörer auf. Alle Frequenzen, die ich mit der SINCARS- Funke absuchte; antworteten nur mit einem statischen Rauschen, das wie ein Störsignal klang. Ich hörte RF- Energie. aber übertragen wurde nichts. Ich sandte auf 282,8 Mhz und 243.0 Mhz Notrufe an Hotel 23 ab, um die Leute wissen zu lassen, wie meine Lage und Position waren. Wenn diese Gegend gestört wurde, musste es nicht bedeuten, dass es H23 ebenso erging. Damit Störmanöver etwas bringen, muss die Störstrahlung auf den Empfänger gerichtet sein, denn die Störung des Senders schadet dem Empfänger nicht.
Ich wiederholte meinen Spruch dreimal. dann schaltete ich die Gasturbine ab und ging zu unseren Fahrzeugen zurück. Die Staubwolke war am Horizont noch immer präsent. Ich dachte daran, welch unbrauchbare Waffe der Panzer aufgrund seiner mangelhaften Treibstoffwirtschaft und seines zerschmetternden Gewichts war. Ich bezweifelte, dass die Brücke ihn trug. Wir waren halb über sie rüber, als es zum ersten Blickkontakt mit dem Schwarm kam. Das Geräusch blähte sich auf wie in meinem Brustkorb hallende Tubas.
Welch gnädiges Glück, dass sie drei Kilometer flussaufwärts ins Bild traten! Während meines kurzen Aufenthalts auf der Insel Matagorda hatte ich am Kai Untote beobachtet, die am Ufer standen und sich nicht trauten, ins Wasser zu gehen. Ich weiß, dass sie, wenn sie an ein Ufer stoßen, diesem folgen, bis sie eine Stelle erreichen, an der sie den Fluss überqueren können. Saien und ich beseitigten die Sperren auf der Brücke und verschoben, wo es uns möglich war, Wracks nach rechts und links. Es war wie das alte Schiebepuzzle, bei dem man fünfzehn Fliesen in chronologischer Reihenfolge zum Passen bringen muss und nur einen Leerraum hat, an dem man sie sortieren kann.
Als drei Viertel der Brücke hinter uns lagen, erreichten die Kreaturen den Fluss. Das Heulen und Stöhnen nagte an meinen Nerven und riss mich beinahe von den Beinen. Es waren Tausende. Später sagte mir eine Satellitentelefon-Textbotschaft, dass laut einer verschlüsselten Remote Six- Meldung über eine halbe Million Untote zum Schwarm T-51.1 gehörten.
Als flussaufwärts in der Ferne der Kopf der langen grässlichen Viper ins Wasser stieß, sah ich den Sog von Wildwasser, und das frustrierte Klagen und der urtümliche Hass nahmen zu. Saien und ich arbeiteten weiter und versuchten keinen Lärm zu machen. Mit dem Multitool schaltete ich die Lasterhupe aus, damit sie nicht wie zuvor während einer Säuberungsaktion versehentlich betätigt wurde.
Ein gepanzertes Auto mit vier schweren platten Reifen bereitete uns aufgrund seines Gewichts Probleme. Wir ackerten fast eine halbe Stunde, während sich die Legion der Untoten flussaufwärts am Ufer sammelte. Ihr Radius schwoll dermaßen an, dass ich in der Ferne einzelne Gestalten ausmachen konnte. Als ich ein Abschleppseil an dem alten Ford neben dem gepanzerten Wagen befestigte, hörte ich ein vertrautes Schrillen. Ich griff instinktiv an das vor meiner Brustkorb hängende M4. Ein einziger prüfender Blick auf das transparente Plastikfenster des Polymermagazins machte mir klar, dass ich zu allem bereit war.
Ich suchte die Umgebung der Fahrzeuge ab und hörte gleichzeitig Untotengestöhne. Einige Untote klangen, als gurgelten sie. Ich trat ans Brückengeländer und schaute auf sie hinab. Im seichten kalten Wasser unter mir bewegten sich Dutzende seufzender und um sich schlagender Kreaturen. Das Wasser sickerte in tote Lungen, was dazu führte, dass die Laute, die sie ausstießen, noch grausiger klangen. Flussaufwärts war der Wasserweg mit zahllosen Gestalten gesprenkelt, die sich von der Masse entfernten und auf die Brücke zuströmten, auf der ich stand.
Eine Handvoll Kreaturen, die den Launen des Flusses ausgesetzt waren, erspähten mich. Ihre gekrümmten Finger griffen, als sie unter der Brücke hindurchschossen, ins Nichts hinauf. Trotz unserer besten Bemühungen konnten wir den Ford nicht wegschieben, da der gepanzerte Wagen zu weit in der anderen Spur eingeklemmt war. Die Fahrzeuge, die wir hinter uns verschoben hatten, schenkten uns zwar Rückzugsraum, aber es gab hier mittlerweile einfach zu viele Untote, um es auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Kopfzahl und Größe des sich kaum drei Kilometer flussaufwärts befindlichen Schwarms nahm zu. Bald würden sie uns so nahe sein, dass sie uns entdeckten. Ich fällte einen Entschluss und instruierte Saien, unsere Fahrzeuge vor den verschobenen Autos aufzureihen, damit ich ein freies Schussfeld auf das gepanzerte Fahrzeug hatte. Wenn wir es ohne unsere Fahrzeuge nicht über die Brücke schafften, hatten wir die Untoten bis zum Jüngsten Tag am Hals. Sie würden uns irgendwann kriegen.
Mit dem M4 und den Ersatzmagazinen rannte ich an den Brückenanfang zurück. Ich sprang in den Panzer, ließ die Luke offen und warf die schwere Maschine an. Ein Haufen Fehlermeldungen sagte mir, dass das Teil untertemperiert war und die Luke offen stand. Ich gab Gas, fuhr von der Brücke weg und drückte das Geländer zusammen. Das Kreischen des Metalls war so ohrenbetäubend, dass es sogar die Untoten übertönte.
Der Krach rief hörbare Reaktionen der Kreaturen unter mir hervor. Ich zwang mich, keine kostbare Zeit damit zu vergeuden, sie mir anzuschauen. Ich ging das Risiko ein, fuhr den Panzer auf die Brücke und gab Gas, um Schwungkraft aufzubauen. Die Brücke bebte, als das Fahrzeug mit 45 km/h voranbretterte. Ich schubste ein Auto beiseite und raste auf Kollisionskurs mit dem gepanzerten Wagen an Saien vorbei.
Ich ging auf 15 km/h zurück, um Verletzungen zu vermeiden, denn ich dachte an die Physik und die Massenunterschiede zwischen dem mickrigen Auto und dem gigantischen Panzer. Wie einen kleinen Bruder bei einer Grillparty am Pool schob die Kriegsmaschine das Auto durch das Geländer in den Fluss.
Ich unterließ nichts, um in den Leerlauf zurückzuschalten, doch der Motor meines Gefährts hatte nicht mal annähernd die Reaktionszeit eines normalen Autos oder Lasters. Das, was ich für die Bremse hielt, trug außerdem dazu bei, den Panzer in einen ungünstigen Winkel zu drehen.
Der Panzer folgte dem Auto in die Tiefe.
Die Zeit verlief im Schneckentempo, als der stählerne Klotz über den Brückenrand rollte und wie eine Wippe nach vorn kippte. Als der Panzer dem Wasserspiegel im freien Fall entgegenfiel, versuchte ich, durch die Luke ins Freie zu springen. Ich war gerade halb draußen, als das kalte Wasser hineinströmte, mich packte und in die finsteren grünen Tiefen des Flusses hinabriss.
Nachdem die Wasserströmung ausgeglichen hatte und der spontane Schreck über das kalte Wasser abgeflaut war, folgte ich den Luftblasen und schwamm zur Oberfläche. Ich konnte im Wasser Gestalten ausmachen. Ihre Beine bewegten sich, als wollten sie, während der Fluss sie mit sich riss, im Wasser spazieren gehen. Als ich zur Oberfläche kraulte, schlug mein Gewehr gegen meinen Rücken und meinen Kopf. Ich kam an die Luft, wischte mir Wasser aus den Augen, hob meine Waffe übers Wasser und schoss auf die mich umgebenden Untoten. Nachdem ich drei getötet hatte, bemerkte ich, dass die Strömung mich unter die Brücke zog. Als ich zum Ufer aufbrach und mir tretend und schlagend einen Weg an Leichen vorbeibahnte, die ich gerade erschossen hatte, schrie ich Saien zu, er solle unsere Fahrzeuge von der Brücke fahren.
Am Ufer angekommen, sah ich die sich der Brücke nähernde Meute. Die Panzerkollision, die Schüsse und der Lärm des Lasters hatten dazu beigetragen, sie verrückt zu machen. Saien hatte den Laster abgestellt und wollte sich den Buggy vornehmen, um ihn an Land zu fahren. Wir hatten keine Zeit. Laut pfeifend signalisierte ich ihm, er solle zurückkommen und mir Feuerschutz geben. Der Buggy war ein annehmbarer Kampfverlust.
Ich ging am Ufer hinter einem Windbruch in Deckung und behielt die Brücke im Auge. Schließlich suchte ich mir auf der Seite der Untoten sorgfältig eine Stelle zwischen den Stützsäulen aus und markierte das Ziel mit dem Laser. Ich musste mich trotz des kalten Wassers zwingen, nicht zu zittern, und hielt den Punkt so lange auf die Brücke gerichtet, bis die Schwingungszahl des Tons zunahm und stabil wurde. Vier Sekunden später brachte eine lasergesteuerte 500 Pfund Bombe die Brücke zum Beben. Ein Abschnitt brach für immer zusammen. Ich hockte da und begutachtete den Schaden, als mich eine Leiche überraschte, die drei Meter hinter mir auf die Steine klatschte - eine halbe Sekunde, bevor ich Saiens Schuss vernahm.
Er winkte mir zu und gab mir zu verstehen, ich solle zu ihm ans Ufer raufkommen.
Als ich am Ufer hinauf zu unserem Laster lief, kam der Fluss mir vor, als wäre er voller Leichen. Durchs Fernglas beobachtete ich zahlreiche Läufer am Ufer gegenüber. Viele wiesen äußerliche Strahlungsverbrennungen auf. Mein Geigerzähler bestätigte es.