Exodus
21. August
20.57 Uhr
22. August
Das Hauptquartier hat meine jüngste Verlautbarung nicht beantwortet. Ich habe per Funk die Anweisung gegeben, dass das bisherige Lager die Evakuierung vorbereiten soll. Nach einer 36 Stunden Woge von Untoten in der Umgebung des Lagers ist dies vonnöten. Man wird zwei Tage brauchen, um mit den Frauen und Kindern zu uns zu gelangen. Hier im Hotel 23 sind wir damit beschäftigt, Materialien zu finden, damit wir unsere sichere Grenze ausweiten können, um die neuen Bewohner anzusiedeln. Es ist unmöglich, sie alle im Inneren der Anlage unterzubringen; sie wurde einfach nicht für so viele Menschen gebaut. Das alte Camp hat seit meinem Befehl, bei uns ein Kontingent zu stationieren, acht Menschen verloren. Ich weiß nichts Genaues, aber ich glaube, es gibt Animositäten. Offenbar wurde einem der Zivilisten letzte Woche erlaubt, auf Hirschjagd zu gehen. Als er zurückkam, hatte er nichts als die Bisswunde eines Untoten zu bieten. Der Mann hat die Wunde aus Angst vor Quarantäne oder einer schnellen Exekution verborgen. Drei Tage später war er im Schlaf gestorben und hatte zwei andere Zivilisten getötet - oder sogar drei, wenn man die junge Frau mitzählt. die nach seinem Biss erkrankte und exekutiert wurde. Sie wurde aber nicht wie ein Tier abgeschossen, sondern erhielt eine Morphium- Überdosis. Nach dem Herzstillstand wurde über ihrem linken Ohr ein kleines Loch in ihren Kopf gebohrt, um jede Möglichkeit einer Wiederbelebung auszuschließen.
Wenn solche Dinge passieren, kann ich nicht mehr schlafen. Ich weiß, dass in den letzten Monaten Millionen Menschen auf viel schlimmere Weise ums Leben gekommen sind, aber es schmerzt mich immer wieder, ein Kind in den Klauen dieser Krankheit zu sehen. Ich weiß auch jetzt noch nicht, ob es überhaupt eine Krankheit ist. Manche scheinen es zu glauben.
Bei der Überwachung des täglichen Nachrichteneingangs, der über unseren steinzeitlichen Nadeldrucker reinkommt, habe ich eine erwartete Botschaft gelesen. Das Raketen- U-Boot, das vor Ausbruch der Seuche getaucht ist, war gestern zum Auftauchen gezwungen. Das war das letzte Schutzgebiet echten, endgültigen Tods.
Es war der letzte bekannte Ort unseres Planeten, an dem Menschen in Frieden sterben konnten ... bis es auftauchte.
Der auf natürliche Weise verstorbene und tiefgekühlte Soldat war nach nur zwei Stunden wieder da gewesen. Zum Glück hatte man ihn an eine Kiste mit Rindfleisch minderer Qualität gebunden. Der Schiffskoch hatte ihn gefunden. Er war in den Kühlraum gegangen, um die letzten Proviantvorräte zu holen. Als er an der Leiche vorbeispaziert war und bemerkt hatte, dass sie sich im Kühlraum zähneknirschend nach ihm umdrehte, hatte ihn beinahe ein Herzschlag niedergestreckt.
Das U-Boot will sich der Kampfgruppe anschließen, bis es genug Proviant aufnehmen kann, um eine zweckdienliche Zeitspanne unter Wasser zu bleiben. Statt ausländische Großstädte in die Luft zu jagen, besteht seine Aufgabe nun darin, Küstengebiete auszukundschaften und Hochseepiraterie zu unterbinden. Die wöchentlich gesendeten Zustandsmeldungen besagen, dass die meisten atombetriebenen Schiffe in frühestens zwanzig Jahren (oder später) wieder »betankt« werden müssen. Über die Zeit danach will niemand eine Wette abschließen. Meiner Ansicht nach haben wir nicht mal in hundert Jahren genügend qualifiziertes Personal, das dies bewerkstelligen könnte.
Morgen schicke ich all unsere Panzerspähwagen hinaus. Sie sollen sich mit den anderen Überlebenden auf halber Strecke treffen und den Rest des Wegs hierherbegleiten. Von nun an bedarf es jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes, unsere sicheren Grenzen auszudehnen. Wir werden keine andere Wahl haben. Wir werden auch gefährliche Ausflüge zu den Interstates in der Nähe machen müssen, um Betontrennwände heranzuschaffen, mit denen wir unseren Stützpunkt befestigen können.
Tara und ich haben seit meiner Rückkehr vom Golf von Mexiko mehr Zeit miteinander verbracht als je zuvor. Dean wurde zur offiziellen Stützpunkt-Lehrerin ernannt. Natürlich haben wir bis jetzt lediglich zwei Schüler, aber bald werden es mehr sein. Annabelle wurde erlaubt, am Unterricht teilzunehmen, aber nur unter der Auflage, dass sie nicht bellt oder den Unterricht stört. Gestern Abend habe ich als Gasthörer an einer Unterrichtsstunde teilgenommen. Laura entwickelt sich zu einer Multiplikationskanone. Danny ist noch ein bisschen besser, aber schließlich auch älter. Laura lernt gerade die Siebenerreihe beim kleinen Einmaleins. Danny kann schon Teilen und Bruchrechnen.
Janice ist noch immer die Stützpunktkrankenschwester und hilft oft aus, wenn die Männer mit Beulen, Kratzern und Schrammen zurückkehren. John und ich haben uns in letzter Zeit nicht oft gesehen. Mir fiel ein, dass er am Anfang der Einzige war, den ich hatte. Das werde ich nie vergessen. Manchmal sehe ich ihn, wenn ich vor mich hin träume, mit der Thermoskanne und dem langen Gummiband auf dem Dach seines Hauses. Mein geistiges Auge zeigt es mir immer in Schwarz-Weiß, als wäre es Jahrhunderte her.
Ich frage mich, wie wohl die Antwort des Flugzeugträgers lauten wird, nun, da man an Bord weiß, dass wir die Untoten vernichten mussten, um den Rest der Mannschaft zu retten.
3. September
20.36 Uhr
Sechzig Prozent. Das ist die Anzahl der Überlebenden, die vom anderen Marine-Außenposten zu uns gekommen sind. Viele sind Zivilisten. Es war ein konstanter Kampf, sie zu uns zu holen. Das Gebiet hinter dem das Raketensilo umgebenden Maschendrahtzaun wimmelt von Behelfszelten und Menschen. Der Stützpunkt Hotel 23 ist so überfüllt, dass man die Abläufe in seinem Inneren kaum noch organisieren kann. Nach der vor zehn Tagen erfolgten Ankunft der Neulinge wurde ein Zählappell durchgeführt. Das Ergebnis: 113 Seelen. Die Marines, die ich den Menschen entgegengeschickt hatte, sind ungeheurem Widerstand begegnet. Um die zu Fuß gehenden Zivilisten nicht zu überfordern, hat sich der Konvoi nur langsam voranbewegt. Viele Menschen saßen auf erbeuteten Fahrrädern, um mit den gepanzerten Fahrzeugen, die vor und hinter ihnen fuhren, Schritt zu halten. Frauen und Kindern wurde das Mitfahren gestattet. Die Masse der Verluste ist ein Resultat der Angriffe, die von der Seite her auf die Formation erfolgten.
Die Untaten kamen aus dem dichten Gestrüpp und erledigten mit nichts als ein paar Kratzern und Bissen etliche Männer. Die meisten hielten durch und trugen trotz der ihnen auferlegten Todesstrafe zur Sicherheit des Konvois bei. Andere verschwanden im Gestrüpp und begingen Selbstmord. Als der Konvoi bei uns ankam, war er knapp an Munition. Die Leute hatten sich den ganzen Tag über in einem Feuergefecht befunden und die Woge der kalten Hände zurückgedrängt, die über die Fahrzeugbrüstungen griffen. Der Konvoi hat sein Bestes getan, die Untoten von Hotel 23 fortzulocken, um dann auf Umwegen zu uns zurückzukehren. Die Taktik hat offenbar funktioniert, aber seit der Ankunft der Neuen registriere ich eine ständige Aktivitätszunahme. Ich war gezwungen, Männer in Marsch zu setzen, um uns die Zaungäste vom Hals zu schaffen. Je mehr sie werden, umso leichter wird es ihnen fallen, den Maschendrahtzaun niederzutreten. Hauptsächlich deswegen habe ich ein Team für Aktionen auf der Interstate zusammengestellt. Die festgefahrene Unendlichkeit der Betontrennwände ist der Schlüssel zu unserem gegenwärtigen Überleben. Wir haben viele Hundert Trennwände von dort gebraucht, um unsere Grenzen zu befestigen, damit unsere neuen Bürger sicher innerhalb des umzäunten Gebiets leben können.
Der schwierigste Teil bestand darin, die Gerätschaften zu organisieren, die man für den Transport der Trennwände braucht. Wir benötigten Tieflader und Gabelstapler. Nur wenige Männer auf dem Stützpunkt haben schon mal einen Gabelstapler gefahren. In einem Holzlager an der Interstate trieben wir vier mit Propan angetriebene Gabelstapler auf. Wir haben darüber hinaus zwei Tieflader-Zugmaschinen zum Transport der Trennwände ergattert und repariert. Seit das Unternehmen angelaufen ist, sind erst zwei Ladungen hier eingetroffen. Es geht langsam, aber beständig voran. Ich schätze, der Zaun hält auch fünf Reihen von Untoten stand. Ein paar mehr könnten den Zaun eintreten. Unsere neuen Bürger würden es gewiss ausbaden müssen. Ich habe meinen Lebensraum an Frauen und Kinder abgetreten. Ich erlaube nur den Frauen, die sich freiwillig melden, an der Oberfläche zu bleiben. Tara hat darauf bestanden, bei mir zu bleiben. Ich habe nichts dagegen. Schließlich kann ich anderen Frauen nicht erlauben, über sich selbst zu bestimmen, und es ihr verwehren.
Vergangene Woche habe ich offiziell darum gebeten, dass man uns einen mit Antipersonenwaffen und einem Piloten bestückten Hubschrauber zuteilt, der uns helfen soll, die Umzäunung des Stützpunktes von dem hohen Untoten- Zustrom zu reinigen. Ich habe die Sache etwas schlimmer ausgemalt, als sie ist, da ich sicher sein will, dass unserer Bitte entsprochen wird. Für die Sicherheit und Aufklärung dieses Gebiets brauchen wir Luftunterstützung. Starrflügelmaschinen können wir nicht gebrauchen, da sie uns mehr Probleme als Nutzen bringen. Sie müssen gewartet werden und brauchen ein eineinhalb Kilometer langes Rollfeld. Mal sehen, was passiert.