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5. Oktober

Vormittags

Ich habe kaum noch Wasser. Als der Hubschrauber abstürzte, waren wir von Shreveport aus in Richtung Norden unterwegs. Ich kenne zwar meine genaue Position nicht, doch nach sorgfältigem Überlegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich, wenn ich zum Hotel 23 zurückwill. grob nach Südwesten halten muss. Ich brauche sauberes Wasser, um meine offene Kopfwunde zu reinigen. Sie eitert. Ich muss sie alle paar Stunden quetschen, um Druck abzulassen. Rings um den Riss ist es sehr heiß. Immerhin weiß ich nun, dass mein Körper die Infektion bekämpft.

Normalerweise würde ich lieber in der Nacht abhauen, aber meine Wassersituation hat mich erneut in die Welt der Toten hinaus gezwungen. Unter mir halten sich etwa zehn bis zwölf Kreaturen auf. Ich weiß, dass sie mich sehen oder hören, wenn ich die Pressekabine verlasse, denn ich habe nicht vor, hinter der Tribüne nach unten zu klettern und das Risiko einzugehen, mir die Beine zu brechen.

Ich habe lange überlegt, ob ich alles, was passiert ist, aufschreiben soll. Ich glaube, im Moment kann ich es aufschieben, weil meine Rückkehr mich beschäftigt und Schreiben sich in dieser Situation als ungesund (tödlich) erweisen könnte. Ich muss gestehen, dass ich versucht habe aufzuhören, aber es ging nicht lange gut. Ich schreibe, wenn ich es kann; danach geht es mir besser. Kann sein, dass es nur dann und wann so ist oder auch nur meine Langeweile widerspiegelt, aber wenn ich den ganzen Scheiß zu Papier bringe, ist es meiner geistigen Gesundheit zuträglicher.

Während ich dies schreibe, versuche ich mich an all meine Bank PIN- Nummern und E-Mail- Passwörter von früher zu erinnern. Ich hatte zehn Jahre lang mit der gleichen PIN- Nummer ein Konto bei meiner Sparkasse, und jetzt habe ich sie vergessen. Ich musste mich wirklich konzentrieren, um mich an mein E-Mail- Passwort zu erinnern, obwohl ich es, bis die Kacke anfing zu dampfen, jahrelang jeden Tag verwendet hatte.

Ich habe meinen Tornister gepackt, die MP5 geladen und alle regelmäßig gebrauchten Gegenstände an den Tornister geschnallt, damit ich schnell und bequem an sie ran komme. Mit einer Klebebandrolle habe ich die Messerscheide und das Überlebensmesser mit dem Griff nach unten an den linken Schulterriemen des Tornisters geklebt. Wenn es hart auf hart kommt, möchte ich es schnell und leicht erreichen können. Ich bin nun ausgeruht genug, um zu glauben, dass ich irgendwohin komme und mit etwas Glück eine Weile überleben kann. In einer Stunde breche ich auf.

Später Abend

Heute habe ich zum Kämpfen den Sportplatz betreten. Nachdem ich den letzten Schluck Wasser getrunken hatte, verließ ich die Pressetribüne. Mein Tornister war voll und lag dicht am Körper an, so dass mein Kreuz leicht schmerzte. Der erste Teilnehmer am Wettbewerb »Wer frech wird, kriegt ’nen Kopfschuss« war einjunger Mann mit nur einem Halbschuh und einem dreckigen grünen 7UP- T-Shirt. Er sah mich aus der Kabine kommen und stolperte auf der Stelle die Treppe rauf. Da ich noch immer nicht genau wusste, wie ich mit der Waffe umgehen sollte, ließ ich ihn ziemlich nah rankommen, bevor ich zur Tat schritt und seine Schädeldecke sich wie eine Fliegende Untertasse in die Lüfte erhob. Er fiel nach hinten, wobei sein Beinknochen lauter knackte als die Kugel, die ihn erledigte. Einige seiner Art hatten mein Tun beobachtet und kamen auf mich zu.

Wieder hatte ich ein begabtes Zehntel am Hals, ein völlig anders begabtes Zehntel, als W. E. B. Du Bois eins gewesen war. Bei meinen letzten Reisen und Mühsalen war mir aufgefallen, dass etwa eins von zehn dieser Dinger entweder schlauer oder schneller war als der Rest. Oder beides. Ich erkannte es sofort. Sie war wacher und kam mir koordinierter entgegen als alle anderen. Sie ging aufrecht und näherte sich mit forschem Schritt, während die anderen nur vor sich hin stolperten. Ich gewährte ihr kein Pardon, sondern schoss ihr in den Hals und den Kopf. Sie ging ebenso leicht zu Boden wie die anderen, stammte aber vermutlich aus einer heißen Zone. Zwar war sie nicht so verstrahlt wie die grässlichen Figuren auf dem Kutter der Küstenwache, aber ich wusste von der eigenartigen Auswirkung, die die Strahlung auf sie hatte. Sie spielten deswegen in einer anderen Liga -aber nicht in der meinen.

Ich kümmerte mich nicht um alle auf dem Sportplatz Anwesenden. Ich habe nur so viele ausgeschaltet, dass die Bedrohung auf überschaubarem Niveau blieb. Ich hatte vor, alle zu töten, die ich töten musste, dann auf die andere Seite des Platzes zu wechseln, ihn zu umkreisen und mich zurückzuziehen. Ich erledigte vier und behielt die acht anderen im Auge. Ich versuchte, einen Blick auf ihre Handgelenke zu werfen, denn ich wäre durchaus näher ran gegangen, um einem meiner Opfer die Armbanduhr zu klauen. Leider war die Aussicht nicht so gut, und ich war offen gesagt auch ein bisschen zu ängstlich, um allzu lange auf dem Platz rumzulungern.

Schließlich verdünnisierte ich mich und marschierte mit dem Kompass nach Südwesten, bis ich an ein Schild kam, auf dem »Oil City, 15 km« stand. Ich befand mich an der Kreuzung einer Landstraße und eines zweispurigen Highways. Ich ging zehn Meter neben der Landstraße, damit mich nichts sah. Meine in dieser Welt gesammelten Erfahrungen besagen, dass Tote nicht die tödlichsten Feinde sind. Von meinem Aussichtspunkt an der Kreuzung sah ich auf der nach Süden führenden Seite des Highways eine alte Straßensperre und auf der nach Norden führenden etwa vierzig aufeinander gekrachte Fahrzeuge. Neben der Straße tröpfelte aus einem Abwasserrohr ein Bächlein dahin. Ich kam zu dem Schluss, dass mein Wasserbedarf im Moment wichtiger war als mein Unsichtbarkeitsbedürfnis. Also wagte ich mich dorthin, wo das Wasser rauschte.

Als ich vor dem fassdicken Rohr stand, hätte ich schworen können, in der Nähe der Straßensperre eine Bewegung gesehen zu haben. Ich verharrte eine ganze Minute, denn ich wollte sicher sein. Was immer es auch gewesen war, es rührte sich nicht mehr. Ich bückte mich und trank von dem Wasser, bis ein anderes Geräusch meine Aufmerksamkeit erregte. Ich riss den Kopf so schnell hoch, dass ich mit dem Schädel gegen die Oberkante des Rohrs knallte und für einen Moment Sterne sah. Ich schüttelte sie beiseite und lauschte erneut. Ich erkannte das Geräusch eines schrill und rhythmisch laufenden Motors und fühlte mich an einen elektrischen Rasenmäher erinnert. Ich versuchte in die Richtung zu schauen, aus der das Geräusch zu kommen schien, aber sosehr ich meine Augen auch anstrengte, ich konnte nichts sehen. Das Geräusch verstummte so schnell, wie es erklungen war. Ich hockte eine Weile da und fragte mich, was ich wohl gehört hatte. Ein Motorrad? Nein. Motorräder klangen anders. Trotzdem war es mir vertraut vorgekommen.

Ich trank, bis ich nicht mehr konnte. Dann füllte ich die Feldflasche in meinem Tornister und ging weiter, wobei ich ständig zehn Meter von der Straße entfernt blieb. Unterwegs sah ich jede Menge Zeug, das ein Mensch besser nie zu sehen kriegen sollte. Rings um die Straßensperre lagen verwesende Leichen. Sie wirkten, als lägen sie in einem Bett aus Altblech; als hätte hier vor Monaten ein Heer versucht, sich seiner Fußkranken zu entledigen. Tote Menschen standen in winterschlafähnlicher Benommenheit auf dem Highway herum, als könne nichts sie motivieren. Ich nehme an, dass sie auf diese Weise Energie sparen. In der Ferne sah ich eine über ein Feld hetzende Hundemeute. Der Wind kam aus ihrer Richtung, deswegen bin ich ziemlich sicher, dass sie nicht ahnten, wie nahe ich ihnen war. Ansonsten fand ich nirgendwo Anzeichen menschlichen Lebens.

Die Sonne sank dem Horizont entgegen. Für mich war es an der Zeit, ein Nachtquartier zu finden, damit meine Nerven sich entspannen und ich mich geistig sammeln konnte. Etwa drei oder vier Kilometer hinter der Kreuzung fiel mir ein Haus auf, das in der Ferne hinter einer Baumreihe stand. Ich ging vorsichtig näher, hielt nach allen Seiten Ausschau und blickte öfter als nötig hinter mich. Es war sehr still, und ich war von den Ereignissen des Tages noch sehr aufgewühlt. Meine Nieren waren voller Wasser; ich musste pieseln. Es erinnerte mich an meine Kindheit. Immer wenn wir Verstecken spielten, musste ich pieseln. Das Haus hatte zwei Stockwerke und stammte aus den 1950 er Jahren. Die Farbe schien vor meinen Augen abzublättern.

Ich setzte mich hin und beobachtete das Haus sehr lange. Ein vom her neuer, doch ausgebrannter Chevrolet, der einige Meter neben dem Haus stand, fiel mir auf. Motorhaube und Karosserie wiesen Einschusslöcher auf. Die Hausfenster im Parterre waren mit Brettern vernagelt; davor lagen menschliche Überreste. Ich lauschte und spähte aus, bis das verblassende Licht mich zwang, eine Entscheidung zu fällen. Das Haus machte einen verlassenen Eindruck. Ich umrundete es und hielt nach potenziellen Zugängen Ausschau. Vorder- und Hintertür waren ebenfalls verrammelt. Die einzige Möglichkeit, hineinzugelangen, bestand darin, aufs Dach zu klettern und durch ein unverrammeltes Fenster in der oberen Etage einzusteigen.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, hievte meinen wehen Körper die Vorbaustützen hinauf und kletterte auf den Überhang, der zu einem der oberen Fenster führte. Hätte ich früher bei der Marine und auch zu Hause nicht täglich Klimmzüge gemacht, wäre es mir nie gelungen. Oben angekommen, setzte ich mich hin, bewunderte die Aussicht und lauschte meiner Umgebung. Hinter dem Fenster war es dunkel, und zwar so dunkel, dass ich um keinen Preis in das Haus einsteigen wollte. Das Fenster war vielleicht um zwanzig Zentimeter hochgeschoben, so dass ein Teil der weißen Gardine sich leicht bewegte. Der Wind ließ sie wehen, aber vielleicht ließ auch mein Atem sie flattern. Meinem Gefühl zufolge brachte ich da oben Stunden zu. Ich wollte nicht rein. Ich nahm mir fest vor, im Freien zu schlafen, doch das ging wiederum nicht, weil ich Angst hatte, ich könnte vom Vordach rollen und in die ausgestreckten Arme der Untaten fallen. Das Licht der Sonne wurde von der Atmosphäre rot gefärbt, als sie sich am westlichen Horizont verabschiedete. Ich griff in meinen Tornister und entnahm ihm die Taschenlampe.

Ich streckte den Arm zum Fenster hin aus und glaubte, als ich es berührte, einen Stromschlag zu spüren. Ich wollte es mit einer Hand nach oben schieben, aber es hatte so lange in seiner Stellung verharrt, dass es nicht nachgeben wollte. Mit Einsatz beider Hände und Beine gelang es mir, es so hoch zu schieben, dass ich einsteigen konnte. Ich teilte den Vorhang und drehte das Endstück meiner Lampe. Der Raum kam mir so normal vor, wie ein Raum in einem verlassenen Haus nur sein kann. Die Türwar geschlossen, das Bett war gemacht, der Boden jedoch voller Blätter und Vogelkacke.

Ich schob den Kopf tiefer ins Zimmer hinein, um mich zu versichern, dass er wirklich sauber war. Als ich zufrieden war, stieg ich ein. Mein erster Gedanke galt der Zimmertür und der Frage, ob sie abgeschlossen war. Ich ging langsam zu ihr hin und spürte das Knirschen des Holzbodens unter meinem Gewicht. Nach jedem von mir erzeugten Geräusch verharrte ich und lauschte nach irgendwelchen von unten oder aus dem Hausflur kommenden Reaktionen. Ich hörte nichts. Ich streckte die Hand aus und überprüfte das Schloss der Schlafzimmertür - es war abgeschlossen. Dann schaute ich leise in den Kleiderschrank, unters Bett und auch sonst überall dorthin, wo kleine Kinder böse Männer vermuten. Auf der Frisierkommode fand ich eine halb heruntergebrannte Kerze und eine halbe Schachtel Streichhölzer.

Ich fragte mich, ob ich die Kerze anzünden sollte, um Taschenlampenbatterie zu sparen. Nach einigem Nachdenken zog ich die Vorhänge der Schlafzimmerfenster zu und verhängte sie zusätzlich mit Decken aus dem Schrank. Dann zündete ich die Kerze an und wärmte meine Hände an der Flamme. Meine Augen passten sich an das Kerzenlicht an, und ich versank in etwas, das kein Schlaf, aber etwas Ähnliches war.

Ich weiß nicht genau, wie lange ich gedöst habe, aber ein Donnerschlag ließ mich schlagartig erwachen. Ich schaute zur Kerze und stellte fest, dass sie nicht sonder-1 ich viel kleiner geworden war. Ich ging zum Fenster rüber, zog die Decke beiseite und schaute aufs Feld hinaus. Ein Blitzschlag erhellte in der Ferne den Umriss eines Menschen. Ich wusste nicht im Geringsten, was die Absichten der Kreatur waren. Ich schaute fortwährend ins Nichts hinaus und wartete auf weitere die Nacht erhellende Blitzschläge. Schließlich wandte die Gestalt sich ab, und ich fragte mich, ob sie überhaupt je da gewesen war.

Es regnet noch immer, und ich habe beschlossen, mich aufs Bett zu legen. Hinter der Tür ist zwar kein Geräusch zu hören, aber ich werde heute Nacht trotzdem mit der Waffe in der Hand schlafen. Und wahrscheinlich auch für den Rest meines Lebens.

6. Oktober

Heute Morgen hat mich der Wind geweckt. Ich musste etwas essen. Es sind noch drei Einmann-Rationen übrig. Seit dem Absturz habe ich immer nur stückchenweise etwas zu mir genommen. Ich glaube, heute ist ein guter Tag, um etwas mehr Proviant zu verzehren. Auch mein Kopf fühlt sich besser an. Die Nähte jucken. Ich achte darauf. sie nicht zu berühren. Wenn ich aus dem Fenster schaue, deutet nichts auf Untote hin. Es ist trostlos draußen. Es sieht aus, als stünde mir wieder ein Unwetter bevor.

Ich fing gerade an, mich zu recken und auf den Tag vorzubereiten, als mir das für meine akute Lebenssituation Wichtigste einfiel: der untere Teil des Hauses. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich sorglos. Ich hatte vergessen, wo ich war. Obwohl ich nur eine Nacht in diesem Raum verbracht hatte, war mir, als wären es Tage gewesen. Mein Bewusstsein hatte meinem Unterbewusstsein übermittelt, ich sei sicher; hier sei mein Zuhause. Natürlich war das nicht der Fall. Im Parterre konnte sich ein Dutzend Untoter aufhalten. Vielleicht standen sie in schlummernder Trance da und waren sich meiner Gegenwart noch nicht bewusst. Wenn es für sie nichts zu fressen gibt oder niemand lärmt, scheinen sie in eine Art Winterschlaf zu verfallen. Ich stellte mir eine komplette untote Familie vor, die benommen unten herumstand und daraufwartete, dass ein erstes Lebenszeichen sie weckt und in den Killermodus versetzt.

Ich wollte nicht über die Erforschung des Hauses nachdenken, bevor ich nicht etwas Rührkuchen aus meinem Tornister gegessen hatte. Nach dem Frühstück trank ich etwas Wasser und fing an, mir Entschuldigungen dafür auszudenken, wieso ich nicht nach unten gehen und mich umsehen musste. Ich wusste aber, dass ich hinuntergehen musste, weil es in diesem Haus Dinge gab, die ich brauchte, um am Leben zu bleiben. Erst als die Sonne durch die Wolken gekrochen war und hoch am Himmel stand, fasste ich den Entschluss, ins Parterre hinabzusteigen.

Ich überprüfte meine Waffe und befestigte mein Leuchtwerkzeug mit dem Klebeband aus dem Tornister am Schalldämpfer der MP5. Ich zog auch den Schlitten meiner Glock zurück und überzeugte mich, dass sie geladen war.

Kein Teil meines Körpers war sichtbar, als ich die Linke ausstreckte, um die Tür aufzuschließen. Sie klemmte, vermutlich weil sie seit Monaten nicht bewegt worden war. Ich musste sie mit Gewalt öffnen, was ein lautes Klicken hervorrief. Ich legte eine Hand auf die Tür, hielt sie fest und lauschte. Wenn das Geräusch sie zu mir führte, wollte ich wieder abschließen und in die Hügel fliehen.

Ich wartete mindestens fünf Minuten lang und glaubte in diesem Zeitraum von Untoten über einen Rasenmäher bis hin zu einem Nebelhorn alles zu hören. Dann ließ ich die Tür los und griff nach dem Knauf, um ihn -vermutlich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit - zu drehen. Als ich ihn bewegte, war meine Rechte darauf vorbereitet, alles zu töten, was sich mir in den Weg stellte. Der Schalldämpfer meiner Waffe war der erste Teil von mir, der sich durch die Tür schob. Als ich die Waffe herumschwenkte, erhellte die Blautönung des Leuchtwerkzeugs den Korridor der ersten Etage.

Ich fragte mich unaufhörlich, ob ich das Magazin wirklich überprüft hatte oder mir nur einbildete, es überprüft zu haben. Ich schob den Gedanken beiseite und setzte mich in Bewegung. Ich warf einen Blick in das Schlafzimmer, das ich gerade verlassen hatte. Die Tür wies alte Blutflecke auf, als hätte etwas auf sie eingeschlagen und irgendwann das Interesse verloren. Diese Dinger wissen Bescheid.

Als ich mich umdrehte, fiel mir etwas Eigenartiges auf. An der Wand gab es helle Stellen. Dort hatten Bilder gehangen. Es kam mir fast so vor, als hätten die Hausbesitzer sie abgehängt und mitgenommen. Mir fielen ein paar Hundert Dinge ein, die wichtiger waren. Überall auf dem Boden lagen tote Fliegen; sie waren so verbreitet wie der Staub. Der Boden im ersten Stock war mit Schichten von beidem bedeckt, doch ich sah keine Fußabdrücke, die anzeigten, dass hier kürzlich jemand gewesen war. Wenn sich in diesem Haus etwas Lebendiges oder Totes aufhielt, hatte es sich nie die Mühe gemacht, sich nach oben zu begeben. Kurz darauf erkannte ich den Grund dafür. Als ich zur Treppe schlich und beinahe hinunter gegangen wäre, hielt ich an und blickte auf meine Füße. Die Treppe bestand nur aus zwei Stufen und war dann zu Ende. Jemand hatte die anderen Stufen entfernt. Unten lagen sechs Untoten- Leichen. Jede mit einem Kopfschuss. Allmählich begriff ich. Die mir unbekannten Hausbesitzer hatten die Stufen wahrscheinlich entfernt und sich in die obere Etage zurückgezogen. Sie hatten die Untoten höchstwahrscheinlich erschossen und sich dann durch das Schlafzimmerfenster davon gemacht. So erschien es mir logisch. Das erklärte aber noch nicht das Blut an der Tür hinter mir und ebenso wenig. wie die Dinger ins Haus gekommen waren. Allerdings hatte ich die obere Etage ja noch nicht in Gänze untersucht.

Ich entfernte mich von dem kaputten Treppenhaus und begab mich langsam zu den beiden geschlossenen Türen am anderen Gangende. Der Boden knarrte bei jedem Schritt, aber ich ignorierte das Geräusch. Meinem Gefühl nach war ich allein. Die erste Tür, die ich erreichte, führte in ein Bad. Alles war ordentlich an seinem Platz. Staubbedeckte Handtücher hingen über der Duschvorhangstange, und ein unbenutztes Stück Seife lag in der Seifenschale des Waschbeckens. Ich schnappte es mir und ließ es in meiner Beintasche verschwinden. Dann ging ich zur Toilette und blickte mich um. Ich sah nichts Ungewöhnliches außer einer bizarren Gipsfigur in Gestalt eines Klodeckels, der auf dem Wassertank lag und auf dem zu lesen war: »Falls du rieselst, wenn du pieselst, sei ein Schatz und wisch den Platz!«

Aus irgendeinem Grund kam mir das sehr witzig vor, so dass ich eine ganze Weile vor mich hin lachte. Bevor ich das Bad verließ, schaute ich unters Waschbecken und fand in einem Kunststoffbehälter ein ganzes Medizinsortiment. Ich nahm ein Röhrchen mit abgelaufenen Dreifach-Antibiotika und eine Rolle Klopapier mit und begab mich zu Tür Nummer zwei.

Mit gezückter Waffe öffnete ich sie. Der Raum war pechschwarz, denn dicke Vorhänge waren vor die Fenster gezogen. Ich schwenkte mein Lämpchen durch den Raum und enthüllte seinen unordentlichen Zustand. Die Bettmatratze war umgedreht. Schmutzige Klamotten und Müll bedeckten den Boden. Überall war Rattenkot zu sehen, was dazu beitrug, dass der Raum nach »alten Büchern« roch. Bevor ich eintrat, ließ ich meine Fantasie schweifen, da ich mehr oder weniger damit rechnete, gleich irgendetwas Grauenhaftes und Wahnsinniges zu sehen. Ich war ziemlich froh, dass ich nicht auf eine alte Dame stieß, die an einem Leuchtkörper hing, weil es ihr nicht gelungen war, sich richtig aufzuknüpfen, nun hin und her baumelte und mit schriller Hexenstimme schrie: »Sei ein Schatz und wisch den Platz!« Gott sei Dank blieb mir das jedenfalls heute erspart.

Das Parterre blieb unerforscht, da mir die Vorstellung nicht gefiel, von einem cleveren Ghoul den Arsch abgebissen zu bekommen. Ich bezweifle zwar, dass sie was auf dem Kasten haben, aber seit sie anfingen, nach ihrem Tod aufzuerstehen, habe ich siejede Menge bizarre Dinge tun sehen. Dies allein halte ich für gespenstisch.

Nach sorgfältigem Überlegen beschloss ich, den kleinen Handspiegel aus dem Badezimmer zu holen und das Klebeband zu verwenden, um ihn an einem Besenstiel aus dem Schrank zu befestigen und mir das Parterre anzuschauen, ohne meinen Hals zu riskieren. So lag ich also zwanzig Minuten lang am oberen Rand der kaputten Treppe auf dem Bauch und schaute mich unten mit dem Besenspiegel um. Dann entschied ich, dass es vielleicht doch kein Risiko darstellte, nach unten zu gehen. Das einzig Ungewöhnliche da unten waren die Leichen auf dem Fußboden sowie eine offene Tür, die aussah, als führe sie in eine Art Keller.

Meine Angst, ich könnte zwischen die Leichen fallen, brachte mich dazu, mein Bein an das feste Geländer im oberen Stock zu binden. Es hätte mir überhaupt nicht zugesagt, auf einen Leichenhaufen zu stürzen, während weitere Untote durch die offene Tür strömten und ich mich nicht schnell wieder nach oben zurückziehen konnte. Aus den gleichen schmutzigen Laken, mit denen ich mein Bein festband, bastelte ich mir für den Abstieg eine Strickleiter. Mit einer Angst, die die an meinem ersten Schultag gespürte deutlich übertraf, kletterte ich schnell nach unten und eilte sofort zur Tür hinüber, um sie zu schließen.

Als ich mich ihr näherte, fiel mir auf, dass dort in der Tat eine Treppe in einen finsteren Abgrund führte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie in einen Lagerraum voller Maschinenpistolen vom Typ MP-16 oder Proviant für ein Jahr gemündet hätte, aber nach allem, was ich hinter mir hatte, wollte ich nicht runtergehen. Ich schloss die Tür und verrammelte sie so leise wie möglich mit einem Sofa, das ich vor sie schob. Als ich sicher war, dass mir von der Kellertür keine Gefahr drohte, suchte ich das Parterre systematisch nach wahrnehmbaren Bedrohungen ab. Wandschrank für Wandschrank und Ecke für Ecke stellte ich sicher, dass kein Ding sich hier unten aufhielt. Ich schaute überall nach und versicherte mich, dass nicht mal ein abgetrennter Oberkörper hier irgendwo unter einem Tisch oder in einer Duschkabine auf mich lauerte.

Zufrieden, weil das Haus sauber war, nahm ich die Suche nach Dingen in Angriff, die ich brauchen konnte. Ich durchwühlte die Küchenschubladen und fand wasserfeste Streichhölzer und drei Päckchen AA- Batterien. Mein NSG war damit wieder einsetzbar. Weitere Ermittlungen forderten eine alte Schachtel zu Tage, die zwei große Rattenfallen enthielt. Ich nahm sie mit, da ich den Eindruck hatte, dass sie auch groß genug waren, um einjunges Kaninchen oder ein Eichhörnchen zu fangen, wenn meine Nahrungsreserven sich erschöpften. Tatsächlich sollte ich jagen, um mein haltbares Zeug aufzusparen. Vielleicht tue ich es auch, sobald ich mich etwas kräftiger fühle.

In einem Wandschrank fand ich einen schwarzgrauen Rucksack. In goldenen Lettern stand da »Arc’teryx Bora 95«. Seine Qualität war eindeutig höher als die meines Tornisters. Er war auch bequemer zu tragen und sah aus, als passe doppelt so viel in ihn rein. Ich ging zur kaputten Treppe rüber, wobei ich darauf achtete, die am Boden liegenden Leichen tunlichst nicht zu berühren. Nachdem ich den Rucksack zum oberen Stock hinaufgeworfen hatte, setzte ich meine Ermittlungen fort.

Ich ging durch alle Parterreräume und begutachtete die verrammelten Fenster und die verstärkte Haustür. Vor dem Fenster links der Haustür lehnte ein langer Mopstiel. An seinem Ende war ein Eispickel befestigt. Das Ding war fachmännisch angebracht. Die Schnur, die es hielt, wies komplizierte Knoten auf, die ein Muster bildeten und den Pickel sehr fest an die selbst gebastelte Lanze banden. Mit ihr hätte man zwar kein Tier erlegen können, aber wenn man ein Auge oder das Weichteil eines verwesenden Schädels traf, konnte man einen Gegner ohne einen Schuss niedermachen und wertvolle Ressourcen sparen. Ich nahm die Waffe mit und legte sie auf die Küchenzeile. Als ich wieder in der Ecke stand, in die ich mich abgeseilt hatte, hörte ich ein Knarren. Ich hielt inne. Es wiederholte sich. Meine Hauptfurcht war, es könne aus dem Keller kommen. Ich ging zur verrammelten Haustür, um einen Blick ins Freie zu werfen. Ich wollte sicher sein, dass sie mir im Notfall einen Fluchtweg bot.

Als mein Auge auf der Höhe des Gucklochs war, sah ich den Umriss eines Untoten.

Einen Moment lang war ich fürchterlich entsetzt. Ich stierte ihn einfach nur an und konnte den Blick nicht abwenden. Die skelettartige Fratze hinter der Tür war keine dreißig Zentimeter weit entfernt. Ich hätte am liebsten durch das Guckloch auf das Ding geschossen, aber dann hätte ich es vielleicht verfehlt und meine Lage durch den Lärm, den splitterndes Holz verursacht, nur verkompliziert. Ich konnte den Blick nicht von dieser wandelnden Katastrophe abwenden. Das Gesicht war verwest, die milchigen Augen traten hervor, die Lippen waren nicht mehr vorhanden. Das Ding schien mich durch die Tür anzustarren.

In der ganzen Zeit, in der ich es beobachtete, bewegte es sich nicht um einen Millimeter. Ich schätzte seine Größe auf etwa einsachtzig. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte den Gegenstand zu erkennen, den es in einer verwesenden Hand hielt. Ich konnte nicht genau ausmachen, was es war. Ich verharrte an der Tür und blinzelte nur hin und wieder, damit meine Augäpfel nicht austrockneten. Das Ding rührte sich nicht vom Fleck.

Meine Möglichkeiten waren begrenzt ...

Ich konnte mich entweder am Laken entlang wieder nach oben hangeln und die Sache vergessen oder mir das Ding auf der Stelle ein- für allemal vom Hals schaffen. Ich beschloss, leise weiter im Haus nach Dingen zu suchen, die mir nützlich sein konnten, und dann wieder nach oben zu gehen. Ich huschte mit der Lautlosigkeit einer Katze in die Küche zurück, um den Küchenschrank zu filzen. Als ich die Türschwelle überquerte, verursachte ich ein leises Knarzen. Ich blieb mehrere Minuten lang stehen und lauschte ... Knarz ... Knarz ... Es kam von der Haustür. Ich tat die Bedrohung ab, stellte mir vor, dass das Ding den Kopf schief legte und zu erkennen versuchte, ob es das Geräusch selbst erzeugt hatte oder ein leckerer Bissen, der sich hinter der Tür befand ...

Ich schaute mir die Regalbretter an und fand sechs Dosen fleischloses Chili, zwei Dosen mit Gemüse und Rindfleisch und verschiedene andere Gerichte in fortgeschrittenen Stadien der Fäulnis. Ich schob die Dosen in meinen Rucksack und schaute unter dem Spülbecken nach, ob dort noch etwas Nützliches lag. Da stand eine alte Rattenfalle von jener Art, von der ich mir bereits zwei Exemplare unter den Nagel gerissen hatte. Sie enthielt nichts als die knochigen Überreste und den Schrumpelschwanz einer vor Unzeiten gefoppten Ratte. Zufrieden mit meinem Fund packte ich den Mopstiel mit dem Eispickel, wehrte das unnatürliche Verlangen ab, einen weiteren Blick durch das Guckloch zu werfen, und begab mich über die improvisierte Strickleiter nach oben.

Mit dem Mopstiel hob ich meinen Tornister vorsichtig ins obere Stockwerk, damit ich einfacher nach oben klettern konnte. Er war rammelvoll und zu schwer, weswegen ich leicht eierte, um ihn im Gleichgewicht zu halten. Eine Chili-Dose fiel heraus und knallte auf den Boden. Sie erzeugte einen Laut, der aus einem Artilleriegeschütz hätte kommen können. Ich krümmte mich, als ich den Rucksack ins obere Stockwerk hievte und neben den noch leeren großen Rucksack warf. Als ich mich bückte, um die Konservendose aufzuheben, wurde laut gegen die Haustür geklopft. Das Ding schien mit irgendwas auf die Tür einzuschlagen, denn das Klopfen klang viel härter und lauter als eine bloße Faust. Ich schob die Dose in eine Westentasche und sprang fast ins obere Stockwerk hinauf.

Dort lag ich auf dem Boden, verwendete meinen Tornister als Kissen und schaute an die Decke, während das Ungeheuer mir Zeit verschaffte, indem es auf die Tür einschlug. Es hörte einfach nicht auf ... Ich hörte die Tür splittern und nahm den Spiegel. um sie zu beobachten. Wann immer das Ding auf die Tür einschlug, zuckte ich zusammen. Der Spiegel in meiner Hand wackelte. Ein sehr dünner Lichtstrahl fiel etwa siebzig Zentimeter über der Klinke durch ein Loch in der Tür. Stumpfe Gegenstände können solche Schäden nicht bewirken. Die Tür war an drei Stellen mit Brettern vernagelt, und ich weiß noch, dass dies auch für die Außenseite galt.

Ich zog mich in das Schlafzimmer zurück, in dem ich zuvor genächtigt hatte, und als die Sonne dem Horizont entgegen sank, schloss ich mich ein. Mit dem Multitool öffnete ich eine Dose Chili; dann holte ich meinen Einmann- Rationen Plastiklöffel hervor. Als die Sonne unterging, saß ich da und zählte die Schritte unter mir. Bei 353 hatte ich mein Chili verzehrt.