Immer treu
26. Juni
18.53 Uhr
Während der Routineüberwachung des Geländeparkplatzes bemerkten wir auf dem Weg dahinter Bewegungen. Es sah so aus, als handele es sich um einen leichten vierachsigen USMC- Panzerspähwagen. Es war nur einer. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit parallel zu uns nach Nordosten. Ich hätte gern eine Aufnahme des Fahrzeugs gemacht, um sie später nach Möglichkeit zu vergrößern und den Kanonier deutlicher erkennen zu können. Ich kann nur einen Schluss ziehen. Es handelt sich um einen Späher, der vorausgeschickt wurde, um dem Führer seiner Einheit Bericht zu erstatten. Ich könnte aber auch völlig falschliegen. Es könnte auch ein Deserteur sein, der mit seinem Fahrzeug das Land unsicher macht. Ich weiß nicht viel über Amphibienfahrzeuge dieser Art. Ich habe bisher nur einmal eines gesehen. Sie stecken Beschuss aus normalen Gewehren weg wie nichts.
Es könnte ein letzter Überrest des Marinekorps in dieser Gegend sein. Wer weiß, ob sie noch zur Verfassung stehen? Stünde ich noch zu ihr, würde ich dies hier nicht schreiben.
Nach der Sichtung des amphibischen Panzerspähwagens waren Dean und ich mit den Kindern ein paar Stunden lang zum Spielen oben. Ich habe ihr von meinem Plan erzählt, mich mit John einem Stadtrand zu nähern, um einige überlebenswichtige technische Handbücher zu ergattern. Sie hält es wohl für eine gute Idee. Sie hat allerdings auch gesagt, dass sie bereits von meinem Vorhaben wusste. Tara hat ihr nach einem Gespräch mit John davon erzählt. Tara hält unseren Plan wohl für ziemlich verrückt. Mir gegenüber hat sie ihre Gefühle zwar noch nicht geäußert, aber mit Dean kann sie anscheinend über alles reden. Dean hat mich gewarnt: Tara könnte es mir verübeln, wenn ich die Sicherheit des Stützpunkts wegen so trivialer Dinge wie Bücher verlasse. Nach Sichtung des Militärfahrzeugs heute Morgen weiß ich nicht mehr genau, was ich machen soll. Ich weiß nur, dass wir ganz sicher medizinische Handbücher brauchen, denn zu uns gehören zwei Kinder und eine ältere Dame. Ich bin kein Mediziner. Janice kommt einer solchen Fachkraft noch am nächsten.
29. Juni
19.13 Uhr
Gestern Abend fing alles an. Es begann als simples Funkgebrabbel. In der Nacht kam dann mehr. Ich hörte eine aufgeregte Stimme. Das Knallen automatischer Waffen überlagerte sie. Ich verstand nur einzelne Worte. Bei Einbruch der Dunkelheit verstummte es. In der Nacht, als John Wache schob, ging es wieder los. Es war 23.00 Uhr. Die Häufigkeit des Geballers und seine Lautstärke hatten nachgelassen. Ich fühlte mich an Popcorn in der Mikrowelle erinnert - in der abnehmenden Knallphase. Die Stimme identifizierte sich als Lance Corporal Ramirez vorn 1. Bataillon der 23. Marines.
Ramirez und seine Truppe saßen nicht nur voll in der Scheiße, sondern in ihrer Karre auch in der Falle. Laut ihm hatte er sechs Seelen an Bord. Ihr Fahrzeug hatte eine mechanische Fehlfunktion erlitten, und jetzt waren sie mitten in einem Meer von Untoten gestrandet. Im Hintergrund schrie jemand, aber ich konnte nicht ausmachen, ob jemand verletzt war oder einfach nur durchdrehte. Diese Marines waren höchstwahrscheinlich mit der Einheit identisch, die gestern an unserem Stützpunkt vorbeigedüst war.
John rief mich an dieser Stelle in den Kontrollraum, so dass ich beschloss, mit den Marines Kontakt aufzunehmen. Ich schaltete das Mikrofon ein und sagte ganz ruhig und gelassen: »An die Marineeinheit, die das Notsignal sendet ... Übermitteln Sie Längen- und Breitengrad. Ende.«
Nach einigen Sekunden statischen Rauschens erhielten wir die Antwort. »Unidentifizierte Station, wir brauchen dringend Unterstützung und müssen abgeschleppt werden. Bitte, wiederholen Sie ... Ende.«
Ich wiederholte meine Frage viermal, erst dann übermittelte der Funker die gewünschten Daten. >Sendestation, unsere Position müsste N29-52, W097-02 sein. Wir empfangen Sie sehr schwach und wirklich kaum verständlich. Wir haben keine Munition mehr für unsere schweren Waffen. Die Luke unseres Fahrzeugs ist geschlossen. Die Lage ist verheerend. Bitte, stehen Sie uns bei.«
Ich hatte wirklich keine Wahl. Ich konnte die Leute nicht im Regen stehen lassen. Zwar konnten die Untaten nicht zu ihnen rein, aber die Marines konnten nicht raus.
Ich markierte die Position auf der Landkarte, dann nahmen John, William und ich eiligst Vorbereitungen in Angriff. Wir gingen in dieser Nacht so früh wie möglich raus, um den Vorteil der Dunkelheit zu nutzen. Ich griff mir ein tragbares Kurzwellen- HF- Funkgerät, die M-16 mit dem M-203- Granatwerfer, meine Glock und das NSG. Ich zeigte meinen Freunden auf der Karte, wohin wir fahren würden. William schlug vor, einen Geigerzähler mitzunehmen. Ich war einverstanden. Bevor wir gingen, bat ich John, mir zu helfen, meine Schulterklappen abzuschneiden. Ich konnte nicht riskieren, dass die Männer erfuhren, dass ich Soldat bin (oder war). Außerdem packten wir für den Fall, dass wir sie mitnehmen mussten, mehrere Kopfkissenbezüge ein.
Wer nachts mit einem Nachtsichtgerät ein Flugzeug landen kann, kann wohl auch einen Land Rover steuern. Das einzige Problem, dem ich mich gegenübersah, bestand darin, dass ich, um nicht stecken zu bleiben, mich auf dem Asphalt halten musste. Das Fahrzeug war zwar tauglich für Geländefahrten, aber im Gegensatz zu dem Ding, in dem die Marines festsaßen, war es nicht dazu gebaut, den Fäusten und blutigen Stümpfen von Untotenscharen standzuhalten, falls es liegen blieb.
Um 0.30 Uhr traten wir ins Freie und eilten zu unserem nordwestlich gelegenen Treffpunkt. Beim Verlassen des Geländes griff ich an meine linke Schulter und riss die mit einem Klettverschluss an meiner Jacke befestigte US- Flagge ab. Auch jetzt wollte ich das Risiko nicht eingehen, erkannt und für eine fruchtlose (oder noch schlimmere) Sache in den aktiven Dienst gezwungen zu werden - oder gar in den Knast zu wandern. Mit dem Beschluss, meine Einheit zu verlassen und- zu überleben, hatte ich mein Schicksal selbst besiegelt. Außer mir lebt wahrscheinlich keiner mehr. Ein Sieg über unseren Gegner war unmöglich. Wir konnten ihn nur aussitzen.
Laut Landkarte lagen vor uns etwa fünfzig Kilometer gefährliches Gelände.
Laut den mir übermittelten Informationen hielten sich die Soldaten etwa zwölf Kilometer westlich von La Grange, Texas, auf. Auch diesmal besagte die Karte, dass es nur ein kleines Örtchen war. Die Marineinfanteristen waren kaum einen Kilometer vom Colorado River entfernt. Das Gebiet lag rein technisch gesehen tief in der verstrahlten Zone und außerdem näher an einem radioaktiven Niederschlagsgebiet als alle Gegenden, die ich seit der Rettung der Grishams betreten hatte. Dies sorgte mich, denn mir fielen die Funksprüche des Abgeordneten aus Louisiana vom letzten März ein. Es war durchaus möglich, dass wir uns in die Höhle des Löwen begaben. Wir hatten aus Louisiana nichts mehr gehört, und ich hatte mich seither oft gefragt, was dort passiert war. Hatten die von dem Abgeordneten in Marsch gesetzten Kundschafter nur eine Legion verstrahlter Untoter zu ihrer Stellung gelockt?
Bis zur I-10 hatten wir keine Schwierigkeiten.
Natürlich war auch diese Landstraße ein Kriegsschauplatz. Auf dem Mittelstreifen spross hohes Gras. Hinter dem Grünzeug hätte sich ein ganzes Heer verbergen können. All dies erzeugte in mir ein Gefühl der Unwirklichkeit und verdeutlichte mir, wie schnell alles den Bach runtergehen konnte, wenn der Mensch sich nicht um alles kümmerte. An der Auffahrt zur 71 North stießen wir auf eine von vier Vehikeln erzeugte Massenkarambolage. Es gab keine Möglichkeit, den Trümmerhaufen zu umfahren, denn eine hohe Betonmauer hatte den Schrott zwischen Scylla und Charybdis gequetscht. Wir hatten keine andere Wahl. Wir mussten eins der Fahrzeugwracks mit dem Land Rover beiseite ziehen. Einige Wochen zuvor hatten wir aus den Heck- und Bremsleuchten alle Birnen entfernt. Bei ausgeschalteten Scheinwerfern gaben wir, so fest man auch auf die Bremse latschte, kein Licht mehr ab. Wir hatten ebenfalls die Blinkerbirnen ausgebaut; konnte ja sein, dass einer von uns sie beim Abbiegen aus Gewohnheit bediente.
Natürlich ... mit menschlichem Versagen musste man auch in einer untoten Welt immer noch rechnen. John und William stiegen aus, um die Kette an einer der Schrottkarren zu befestigen. Ich sah durch mein NSG, dass William mir signalisierte, zurückzufahren. Bei der körnigen grünen Bildauflösung konnte ich nicht über ihn und John hinweg bis in die Finsternis der hinter ihnen liegenden Auffahrt sehen. Ich legte den Rückwärtsgang ein ... Auf der Stelle erzeugte das Licht der Rück- und Seitenspiegel ein starkes Schneegestöber in den Sichtgläsern. So sehr wir auch in die Einzelheiten gegangen waren, wir hatten die Birne übersehen, die aufleuchtet, wenn man rückwärtsfährt. Das Licht war so hell wie ein Phönix. Ich riss mir das NSG vom Kopf und prüfte erneut die Spiegel. Hinter meinen Freunden bewegte sich etwas.
Ich bezog Stellung, schaltete schnell in den Leerlauf und zog die Handbremse. Ich rief John und William zu, sie sollten die Kette fallen lassen und wieder einsteigen. Da ich als Einziger im Dunkeln etwas sah, war es nur logisch, dass ich derjenige war, der das sichtete, was sich als Reaktion auf unser Licht in Bewegung setzte.
Als ich im Begriff war, das NSG wieder aufzusetzen, hörte ich, dass John und William die Kette fallen ließen. Ich vernahm ihre klatschenden Schritte und ein etwas weiter entferntes Geräusch.
Ich verließ den Wagen und schob die Tür nur so weit zu, dass sie nicht ins Schloss fiel. In der Hoffnung, durch das NSG die vertraute Reflektion der lebendigen Augen eines Tiers zu sehen, trat ich vor.
Der Leichnam eines Monteurs oder Bauarbeiters kam hinter einem Unfallwagen hervor. An seinem Ledergürtel baumelte ein Hammer. Sein restliches Werkzeug hatte er vermutlich verloren. Er sah noch nicht allzu schlimm aus. Da er mich nicht sehen konnte und keinen Weg durch den Trümmerhaufen fand, stand er einfach nur da und versuchte zu erfassen, wo ich war.
Sein Haar war nicht sehr lang. Er wies kaum Gesichtsbehaarung auf. Im Allgemeinen gilt ja der Mythos, dass das Haar und die Nägel von Verstorbenen im Grab weiter wachsen. Das ist natürlich Unsinn. Aus dem Tod kann nichts erwachsen ...
Es sei denn, man zählt den Hunger der Untoten mit.
Ich war mir nicht sicher, aber angesichts des Werkzeuggürtels, den kurzen Haaren und dem fast glattrasierten Kinn gehörte der Mann zu denen, die vor einem halben Jahr zuerst dran hatten glauben müssen.
Abgesehen von einem dicken Fleischbatzen, der an seiner Schulter fehlte, war er sehr gut erhalten. Als ich ihn mir näher ansah, bemerkte ich, dass an dem Tischlerhammer Haut und Haare klebten. Wahrscheinlich hatte er den Untoten, der ihn gebissen hatte, mit dem an seinem Gürtel baumelnden Werkzeug getötet. Da der Bursche sich nicht rührte und keine unmittelbare Gefahr darstellte, kehrte ich zum Wagen zurück und schnappte mir den Geigerzähler. Ich hatte einige Zeit damit verbracht, Gebrauchsanweisungen zu lesen, seit meine neueste Unterkunft der Umwelt- und Instrumentenraum von Hotel 23 war. Ich wusste alles über die Grenzen von MCU- 2P- Gasmasken und chemischer, biologischer und radiologischer Schutzkleidung. Dem Studium des Geigerzähler-Einsatzes hatte ich sogar eine ganze Nacht gewidmet.
Ich schaltete das Gerät ein und schob mir den Stöpsel ins Ohr. Nachdem ich ihm genügend Aufwärmzeit gegeben hatte, richtete ich das Gerät auf John. Es zeigte einen normalen Strahlungswert an. Das statische Klicken in meinem Ohr war regellos. Als ich mich dem Trümmerhaufen näherte, wurde das Klicken schneller. Da wir uns innerhalb der heißen Zone befanden, wusste ich, dass die Fahrzeuge einiges an Strahlung abbekommen hatten. Solange man nicht über längere Zeit hinweg in ihnen saß, war das Strahlungsniveau aber tolerierbar.
Ich schob das Gerät über die kaputte Motorhaube eines Fahrzeugs, um zu prüfen, inwiefern der Untote strahlte. Das, was ich hörte, erinnerte mich an das Schnurren eines alten Einwahlmodems. Die wandelnde Leiche war so heiß, dass es gefährlich war, sich ihr zu nähern. Ein Blick auf die Messskala: 400 Röntgen. Ich war nicht darauf aus, mich von dem Ding umarmen zu lassen. Beim Zurückziehen meiner Hand muss der Untote wohl Witterung aufgenommen haben, denn er warf sich mit aller Kraft gegen den Wagen, so dass dieser auf den Stoßdämpfern wackelte. Im Gegensatz zu jeder anderen mir bis dahin begegneten Leiche zuckte er unberechenbar hin und her. Ich ging seitlich an dem Wagen entlang und konnte einen Blick auf die Füße meines Gegenübers werfen. Seine Stiefel waren so gut wie abgelatscht. Vermutlich war er seit Monaten in ihnen auf Achse. Die Sohlen waren verschwunden und seine entstellten Füße unter den Lederfetzen und um die Knöchel baumelnden Schnürriemen sichtbar.
Das Ding war sichtlich aufgeregt - möglicherweise aufgrund meiner Anwesenheit. Es bewegte sich wie ein Spielzeugroboter vor und zurück. Hin und wieder bumste es gegen die Trümmer, dann drehte es sich um und versuchte es an einer anderen Stelle. Wenn es weiterhin so verfuhr, würde es den Wrackhaufen zweifellos irgendwann umrunden. Da es in radioaktiver Strahlung ersoff, konnte ich mir keinen Kontakt mit ihm leisten. Ich hob die Kette auf, ohne die Roboterleiche aus den Augen zu lassen. Ich befestigte sie an der Achse des Fahrzeugs, das wir beiseiteziehen wollten. Dann schlich ich lautlos zum Land Rover zurück und stieg ein. Ich sagte John und William, wie heiß es draußen war. Ich wollte den Wagen zur Seite ziehen, die Kette wieder lösen und abhauen, ohne mich mit dem Untoten anzulegen. Ich legte den Gang ein und fuhr langsam vor. Ich spürte, dass die Kette sich spannte, bis sie stramm war. Ich gab etwas mehr Gas und merkte, dass der Wagen nachgab. Ich fuhr etwa fünfzig Meter weit, dann stieg ich aus, um meinen Plan auszuführen.
Im Freien richtete ich den Blick dorthin, wo der Wagen zuvor gewesen war. Der Untote folgte uns. Er machte einen Versuch zu laufen, doch anscheinend mangelte es ihm an Koordination. Er fiel, stand wieder auf und ging weiter. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin er ging, aber wie der Teufel es wollte, latschte er genau auf unseren Land Rover zu. Ich löste zügig die Kette, öffnete die Hecktür und warf sie hinein. Ich hörte William fluchen, als das über vierzig Pfund schwere Ding seine Beine traf. Als ich wieder im Wagen saß und die Türen verschloss, hörte ich den Untoten von der Heckscheibe abprallen. Ich gab Gas, wendete den Land Rover und bretterte durch die Lücke, die wir im Trümmerhaufen erzeugt hatten. Im Rückspiegel sah ich, dass der Untote, vom Motorenlärm angelockt, den schwerfälligen Versuch unternahm, die Verfolgung aufzunehmen.
Ich mache mir nichts vor. Ich überlegte einen kurzen Augenblick, ob es nicht besser sei, das Unternehmen abzubrechen und nach Hause zu fahren. Was konnten wir drei schon gegen ein Heer verstrahlter Toter ausrichten?
Wir waren unserem Ziel nun näher. William versuchte Funkkontakt herzustellen. Er schaltete das Mikro ein und rief nach den Soldaten. Wir hörten nichts, aber das Gerät war auch weniger leistungsfähig als das im Hotel 23. Die Männer konnten noch am Leben sein. Ich stellte mir vor, wie mir in ihrer Lage wohl zumute wäre. Danach vergaß ich den Gedanken, das Unternehmen abzubrechen.
Wenige Minuten nach Williams erstem Versuch kam Antwort. Auch diesmal identifizierte sich der Lance Corporal mit Namen und Einheit. Ich fuhr an den Straßenrand und ließ mir von William das Mikro geben. Ich fragte Ramirez, ob er seine Position aktualisieren wolle und ob sein Fahrzeug mit irgendwelchen Handfeuerwaffen ausgerüstet sei. Er erwiderte, ihre Position hätte sich nicht geändert, und sie wären alle gut bewaffnet und hätten auch genügend Munition und Handfeuerwaffen. Allerdings wäre es unmöglich, aus dem Fahrzeug heraus gezielt zu schießen, ohne die Deckenluke zu öffnen. Er meldete auch, dass sie keine Munition mehr für das BordMG besaßen und dass sie die Luke aus diesem Grund hatten schließen müssen. Ich fragte ihn, wie viele Untote sich an seinem Standort aufhielten. Nach einer Pause (ich hatte den Eindruck, er wollte es lieber nicht sagen), informierte er mich, dass er Marineinfanterist wäre und nicht so weit zählen könnte. »Dann sind es also Hunderte, Corporal?«, fragte ich.
Ja, Sir«, erwiderte er.
John und William stießen laute Verwünschungen aus und schüttelten angesichts dessen, was sie sich auf den Hals geladen hatten, den Kopf. Es würde ernst werden.
Wir fuhren nur drei Kilometer weit über die I-10. Auf der 71 fuhren wir nach Norden raus und düsten auf die Marines zu. Die einzige Taktik, die wir vielleicht anwenden konnten, war die, die ich schon bei den Grishams angewendet und auch bei den Banditen gesehen hatte. Wir mussten die Untoten von dem havarierten Fahrzeug fortlocken. Unter Beibehaltung des Funkkontakts bemühte ich mich um einen lockeren Tonfall, um die Männer von dem, was sie unmittelbar umgab, ein bisschen abzulenken. Ramirez informierte mich, dass sie vom Highway aus zum Fluss abgebogen waren, da die schiere Masse der Untoten auf der Straße zu aufdringlich gewesen war. In Flussnähe hatte ihr Fahrzeug dann einen mechanischen Schaden davongetragen. Sie hatten versuchen wollen. mittels der amphibischen Fähigkeiten des Panzerspähwagens den Fluss zu überqueren, um den Untoten zu entkommen.
Es war übrigens nicht das Funkfeuer des Lance Corporals, das mich befähigte, die Männer überhaupt zu finden, sondern das unüberhörbare Stöhnen der Toten.
Ich verkündete, dass ich versuchen wollte, die Masse der Belagerer mit der Hupe und dem Lärm unseres Fahrzeugs fortzulocken. Wir machten einen Sammelpunkt aus, und ich riet den Soldaten, aus dem Panzerspähwagen abzuhauen und zum Highway 71 zu rennen, und zwar genau dorthin. wo sie von der Straße abgebogen waren. Sie waren einverstanden. Nach einem stummen Gebet meinerseits fragte ich John und William, ob sie bereit seien. Ich gab ihnen jedoch keine Zeit für eine Antwort, sondern trat aufs Gas und raste auf den die gestrandeten Marineinfanteristen umgebenden Untoten Belagerungsring zu.
Der Boden war schon mit jenen Leichen gepflastert, die das Bord-MG des Panzerspähwagens angehäuft hatte. Als ich noch etwa hundert Meter von den Belagerern entfernt war, drehte ich die Scheibe runter und eröffnete das Feuer. John und William luden meine Waffen nach. Der Blitzdämpfer passte das Licht meinen Augengläsern an, aber es war fast vorteilhafter, einfach nur das Mündungsfeuer zu nutzen, um mein Ziel zu sehen. Ich feuerte volles Rohr auf die Untoten.
Als ich um die zwanzig Gestalten von den Beinen geholt hatte, musste ich einen Ortswechsel vornehmen und fuhr hundert Meter weiter. William reichte mir ein neues Magazin; ich zog das leere raus, gab es John und schob das neue rein. Die Untoten kamen schnell näher, denn das laute Knallen und die Mündungsblitze meines Gewehrs zogen sie an. Wie der untote Bauarbeiter, dem wir aus dem Weg gegangen waren, näherten sie sich uns mit ruckartigen ungleichmäßigen Bewegungen. So, wie sie auf uns zukamen, erinnerten sie an eine Polizeitruppe, die eine Leiche suchte. Ironischer Weise war es umgekehrt. Die Leichen suchten nach Lebenden.
Ich schoss fortwährend und bewegte dabei den Wagen. John und William versorgten mich ständig mit vollen Magazinen. Nachdem wir unseren Standort zum vierten Mal gewechselt hatten und ich wieder das Feuer eröffnete, sah ich Bewegung auf dem Dach des Panzerspähwagens. Ich hielt kurz inne, um meine Augen daran zu gewöhnen. Die Marineinfanteristen nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Exakt wie geplant rannte der Trupp dorthin, wo wir ihn auflesen wollten. Ich leerte das sechste Magazin auf die Meute, dann übergab ich William das inzwischen ziemlich heiße Eisen. Ich betätigte die Hupe und lockte die Untoten noch ein Stück weiter von den Soldaten fort. Dann drückte ich auf die Tube und raste zum Treffpunkt.
Die sechs Männer gingen in Verteidigungsstellung und streckten ihre Waffen in die Finsternis hinaus. Sie waren uniformiert und trugen Splitterschutzwesten und Stahlhelme.
Ich fuhr die Scheibe runter und rief ihnen zu, dass sie einsteigen sollten. Aus Höflichkeit schloss ich die Augen und schaltete die Fahrgastraum-Beleuchtung ein, damit sie uns sehen konnten. Sie sprangen in den Land Rover. Drei Mann mussten ganz hinten Platz nehmen, aber ich bin mir sicher, dass sie nichts dagegen hatten. Wir rasten zur I-10 zurück, dann in Richtung Hotel. Die Marineinfanteristen bedankten sich aufrichtig bei uns allen für die Rettung ihrer Leben.
Auf der Rückfahrt bat ich John, die Männer mit dem Geigerzähler zu überprüfen, um zu sehen, ob sie in Ordnung waren. Wie sich ergab, hatten sie von der schieren Masse der Untoten ein wenig Umgebungsstrahlung absorbiert, aber es war nicht schlimm.
Kurz vor der Stelle, an der wir den Unfallwagen von der Fahrbahn gezogen hatten, hielt ich an. Ich drehte mich um und fragte nach dem Gruppenführer. Ramirez sagte, er leite den Trupp.
Ich sagte, für jemanden, der einen Spähtrupp an den Arsch der Welt zu führen hätte, wäre sein Rang ja nicht besonders hoch. Seine verschämte Antwort: »Da müssen Sie erst mal unseren kommandierenden Offizier sehen.«
Einer seiner Leute gab ihm mit dem Ellbogen zu verstehen, die Klappe zu halten. Dies war der Augenblick, in dem ich glaubte, dass es an der Zeit war, die Regeln zu verkünden. »Lance Corporal Ramirez«, sagte ich, »ich kann Sie an einen Ort bringen, an dem es Wasser, Nahrung und einen Schlafplatz gibt, aber dort müssen Sie tun, was ich sage. Sie werden keine Gefangenen sein und können jederzeit wieder gehen.«
Im Rückspiegel sah ich Ramirez nicken. Er war bereit, mir zuzuhören.
»Sie müssen Ihre Waffen abgeben und sich einverstanden erklären, dass wir Ihren Kopf verhüllen, bis wir in unserem Zuhause sind und weitere Beschlüsse fassen können.«
Ramirez wies seine Kameraden nach kurzem Zögern an, meinem Wunsch zu entsprechen.
John konfiszierte ihre Waffen und lagerte sie vorn bei uns ein. William durchsuchte die- Männer nach Handfeuerwaffen. Ich wies William an, ihnen die Messer zu lassen. Mit sechs Marineinfanteristen an Bord, die alle einen Kissenbezug über dem Kopf trugen, raste ich los. Hinter dem Ort der Massenkarambolage sah ich keine Spur mehr von der radioaktiven Bauarbeiterleiche.
Die Rückfahrt zum Hotel 23 dauerte nicht lange.
Als wir aufs Gelände fuhren, leuchteten die Infrarotlämpchen der Außenkameras hell in unsere Richtung. Die Frauen erwarteten uns. Wir stellten den Wagen ab und führten die Soldaten durch den Zaun und die Treppe hinab ins Großraumquartier. Dort verkündete ich, sie sollten die Kissenbezüge nun abnehmen. Wir entnahmen ihren Waffen die Magazine und gaben sie ihnen gesichert zurück. Ich verdeutlichte ihnen, dass sie die Munition zurückbekämen, wenn sie uns verlassen wollten. Es war spät. Ich zeigte ihnen, wo die Feldbetten und Decken lagerten. Ich informierte sie, dass sie sich in einem sicheren unterirdischen Bunker befanden; dass sie beruhigt schlafen konnten und wir am nächsten Tag über alles weitere sprechen konnten.
Heute Morgen kam der Lance Corporal in aller Frühe an meine Tür, um mit mir zu reden. Er wollte mir zwar nicht verraten, wo seine Einheit stationiert war, aber er sagte, dass nicht mehr viel von ihr übrig sei. Ich erwiderte, er könne gern unsere Funkgeräte benutzen, um mit seinem kommandierenden Offizier Verbindung aufzunehmen. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass er erfuhr, wo wir waren. Ich machte den Vorschlag, er solle noch einen Tag bleiben, sich alles gut überlegen und erst mal etwas essen und trinken, bevor er den Beschluss fasste, ob er mit seinen Leuten wieder gehen wollte. Die Namen der anderen Marines wurden mir nur insofern bekannt, als dass sie auf ihren Brusttaschen standen.
Im Moment spielen sie im Schlafsaal Karten. Ich habe jemanden sagen hören, wie schön es hier im Vergleich mit ihrer eigenen Basis ist. Ist von unserem Militär überhaupt noch etwas übrig? Irgendwie würde ich den Männern gern sagen, wer ich bin.
1. Juli
22.24 Uhr
Corporal Ramirez und die fünf anderen Männer sind heute Morgen abgereist. Ich habe gestern Abend mehrere Stunden lang mit ihnen geredet. Sie sind alle noch sehr jung und heißen Ramirez, Williams, Bourbonnais, Collins, Akers und Mull. Nach Vornamen habe ich nicht gefragt; es hätte uns ja auch nichts gebracht. Als ich mich nach ihrem kommandierenden Offizier und der Lage ihrer Basis erkundigte, haben sie jeden Kommentar abgelehnt. Ramirez führte dazu an, wir wären ja auch nicht bereit, die Lage unseres Stützpunkts preiszugeben. Dagegen konnte ich nichts einwenden. Er hatte Recht.
Ich fragte Ramirez, wie es um die Regierung der USA stünde und ob von ihr noch etwas übrig sei. Seine Antwort: Den letzten regierungsamtlichen Befehl von ganz oben hatte seine Einheit Anfang Februar erhalten. Ramirez glaubt nicht, dass wir noch irgendeine Art von Zivilregierung haben. Er hat Gerüchte gehört, laut denen die unterirdische Zuflucht des Präsidenten von innen infiziert wurde. Dies erklärt vielleicht den letzten Funkspruch der First Lady nach dem Tod des Präsidenten.
Ich fragte ihn, wie eine so große Einheit wie die seine so lange an der Oberfläche hatte überleben können. Ramirez schmunzelte nur und sagte: »Tja, wir sind halt Marineinfanteristen; da ist das Überleben eingebaut.« Natürlich merkte er, dass meine Frage eine Fangfrage war und ich lediglich herauskriegen wollte, wie groß seine Einheit war. Er war jung, aber nicht blöd. Heute Morgen gegen 10.30 Uhr sind John und ich mit den Männern in zwei Fahrzeugen aufgebrochen. Wir haben ihnen erneut Kissenbezüge übergestülpt und sie zum Land Rover gebracht. John fuhr mit dem Bronco hinter uns. Wir sind im Kreis gefahren und haben unser Bestes getan, um die Sinne unserer Passagiere zu verwirren. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass wir es mit ehrlichen Kerlen zu tun haben, aber was weiß ich schon über ihren Kommandanten?
Es dauerte nicht lange, bis wir übereinkamen, sie an einem Ort abzusetzen, von dem aus sie problemlos ihren Weg finden konnten. Dort angekommen nahmen wir ihnen die Kissenbezüge ab und gaben die Magazine ihrer Schusswaffen zurück. John ließ den Motor des Bronco laufen. Wir verabschiedeten uns voneinander, dann begaben sich die Soldaten zum Bronco.
Einer der jüngsten Marineinfanteristen drehte die Scheibe runter und sagte: »Danke für die Gastfreundschaft, Sir.«
So wie er das Sir betonte, hatte ich das Gefühl, dass er etwas ahnte. Vielleicht lag es aber auch nur an meiner Paranoia oder an meinem schlechten Gewissen. Die restlichen Soldaten folgten dem Beispiel des jungen Mannes, und ich hätte schwören können, dass Ramirez salutierte, bevor er aufs Gaspedal trat und in der Leere des Untotenödlands verschwand.