Verkaufspreis

21. Oktober

12.00 Uhr

Als mein Blick sich im Licht des staubigen Ausstellungsraums verschärfte, sah ich Saien bäuchlings auf seinem Drag Bag liegen und durch das Zielfernrohr seiner Waffe die Gegend vor dem Autohaus absuchen. Da der Versuch, jemandem durch das dicke Glas einen Kopfschuss zu verpassen, absurd gewesen wäre, ging ich davon aus, dass er sich nur versichern wollte, ob die Luft draußen rein war. Obwohl er viele Hundert Kilometer durch apokalyptisches Ödland gezogen war, hatte der Mann überlebt. Es steht mir nicht zu, seine Vorgehensweise infrage zu stellen. Selbst wenn es mir zustünde, bin ich zu abgespannt, um mir darüber Gedanken zu machen.

Ich räusperte mich, um Saiens Beachtung auf mich zu ziehen. Er brauchte ein paar Sekunden, dann sagte er leise über die Schulter hinweg: »Was wollen Sie, Kilroy?«

Ich hatte keine Lust, ihm klarzumachen, dass Kilroy nicht mein Name ist, sondern ein mythischer GI, der schon in Vietnam an jeden Zaun geschrieben hatte, auch er sei dort gewesen. Hätte ich ihm Unterricht in amerikani- scher Geschichte gegeben, wäre dies so nützlich gewesen wie ein Vortrag über die Geschichte der Maya.

»Wir müssen die Werkstatt inspizieren, Saien«, sagte ich, »und ein bisschen Draht erbeuten, damit wir den Wagen für die Reise ordentlich verkabeln können.«

Saien schaute mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Dann fragte er: »Wir können doch die Batterie von einem der Neuwagen auf dem Parkplatz aufladen und seinen Sprit mit dem Treibstoffzusatz behandeln.«

Gott, wie peinlich. Ich musste zugeben, dass sein Vorschlag deutlich mehr Sinn ergab, als den ganzen Tag mit der Neuverkabelung einer alten Karre zu verbringen. Das Werkstattzündungsverfahren war verlässlicher, und der Einsatz eines Neuwagens konnte uns einen potenziellen Zusammenbruch im Niemandsland ersparen.

Trotz seiner Worte mussten wir dennoch die Batterie des Wagens aufladen, den wir dem Autohaus klauten. Auf dem Parkplatz stand eine Auswahl von Hybridfahrzeugen, die aber meist kleiner waren als die anderen.

»Noch eine Frage, Kilroy: Was schreiben Sie da in das Buch rein? Was ist so wichtig, dass Sie immer die Nase in das Buch reinstecken, sobald wir eine Pause machen? Eines Tages werden Sie mit der Nase in dem Buch sterben.«

Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Also sagte ich nur: »Es hilft.« Ich glaube, er hat verstanden, was ich sagen wollte.

Saien und ich diskutierten über Fahrzeuge und kamen zu dem Schluss, dass ein Hybride uns zwar davor bewahren würde, am laufenden Band Sprit organisieren zu müssen, wir aber einen Geländewagen mit einer Abschleppvorrichtung und einer Zugkette brauchten, damit wir an allen Autowracks und Trümmerteilen vorbeikamen, die unseren Weg von hier bis an unser Reiseziel blockierten. Während der Diskussion bemerkte ich, dass Saiens Schlafteppich, der aufgerollt an seinem Rucksack befestigt war, stark verziert war. Es war wohl ein echter Orientteppich. Ich kannte Saien nicht, deswegen war meine erste Annahme die, dass er Moslem und das Ding sein Gebetsteppich war. Seit wir Ruhe haben, wirkt er besorgt, und ich sah Widerstreit in seinem Blick.

Ich schlug vor, dass wir uns ein Fahrzeug aussuchten, damit wir den Lade & Betankungsprozess in Angriff nehmen konnten, und er war einverstanden. Zuvor aber kamen wir überein, in der Werkstatt und den Büros der Wartungsabteilung nachzusehen, ob dort vielleicht Gefahren lauerten. Saien schob ein frisches Magazin in die MP5. Ich hatte die Waffe im Anschlag, als wir die Tür öffneten. Außer der apokalyptischen Stille, die meine Nerven noch immer quälte, wartete dort draußen nichts auf uns. Der hintere Teil des Autohausgeländes war von einem Maschendrahtzaun umgeben. Wir strolchten an dieser Grenze entlang, sahen aber außerhalb der Werkstatträume nur den Kadaver eines Hundes, dem es nicht gelungen war, das umzäunte Grundstück zu verlassen, um für sich selbst zu sorgen. Aus irgendeinem Grund machte mich dies trauriger als vieles andere in den letzten Monaten. Ich stellte mir das arme verdurstende und verhungernde Tier vor, das hier elend verreckt war.

Dieser Gedanke war schuld daran, dass ich die Kreatur übersah, die sich uns hinter dem Zaun näherte. Ihr Gekreisch riss mich jedoch in die Wirklichkeit zurück. Ich zog instinktiv die Waffe hoch und richtete den roten Punkt auf ihre Stirn. Das Ding reagierte natürlich nicht: es ging einfach weiter auf den Zaun zu, prallte gegen ihn und fiel nach hinten auf den Boden. Ich ließ meine Waffe sinken, am Tragriemen baumeln und bat Saien, die Kreatur mit der MP5 zu erledigen, um den Lärm zu vermeiden, den meine M4 machte. Er wollte meiner Bitte gerade nachkommen, als ich ihn bat, zu warten. Ich brauchte etwas mehr Übung mit der Glock. Ich schraubte den Schalldämpfer auf und ballerte dem Ding, wie in Mozambique üblich, zwei Kugeln in den Brustkorb und eine in den Kopf. Ich vergeudete die ersten beiden Kugeln aus keinem bestimmten Grund; ich hatte einfach nur das Gefühl, etwas Praxis zu brauchen. Eine der auf den Brustkorb der Kreatur abgefeuerten Kugeln beschädigte auch den Zaun, hatte aber trotzdem noch genug Kraft, ihre Rippen zu durchdringen.

Mit dem an der Schulter hängenden Gewehr und der schussbereiten Pistole in der Hand ging ich am Zaun entlang. In unserer unmittelbaren Umgebung hielten sich keine anderen Kreaturen auf. Mit dem Fernglas schaute ich mir das Gelände gegenüber dem Autohaus an. Ich sah zwei Gestalten, die sich aber von unserem Standort entfernten. Solange wir keinen Krach veranstalteten, müssten wir es hier aushalten können - es sei denn, sie kommen, wie zuletzt, in Scharen.

Die zum kaufmännischen Teil des Gebäudes führende Tür war verschlossen. Saien und ich lugten durchs Fenster und blieben eine Weile dort, bis wir sicher waren, dass sich dahinter nichts bewegte. Ich drückte meine Stirn so lange ans Glas, bis es beschlug undjeder weitere Verbleib dort sinnlos schien. Wenn dort drin irgendwas war, rührte es sich nicht oder war tot. Saien holte ein kleines rechteckiges Ledermäppchen mit Reißverschluss aus seinem Drag Bag und präsentierte mir ein Schlossknackersortiment und einen Spannungsschlüssel. Mit zusammengebissenen Zähnen, zwischen denen ein weiteres Schlossknackerwerkzeug klemmte, bat er mich, ihm während seiner Tätigkeit Deckung zu geben. Wenige Sekunden später hatte er das Schloss geöffnet und sein Zeug wieder weggesteckt. Wir entsicherten unsere Knarren und traten ein. Ich fragte mit lauter Stimme, ob jemand im Hause sei. Ich wusste natürlich, dass sich unter diesem Dach kein lebendes Wesen befand, aber falls hier ein funktionierender Untoter hauste, würde er zweifellos auf meine Stimme reagieren und uns seinen Aufenthaltsort verraten.

Staub, Schimmel und eine Korkpinnwand waren die Hauptschauwerte des Büros. Auf der Pinnwand befanden sich handgeschriebene Notizen und Botschaften aus der ersten Januarwoche. Einige Mitteilungen lauteten »Das ist das Ende« und »Die Zeit zur Reue ist gekommen und vergangen«. Ich sah auch Internet-Ausdrucke der wichtigsten Schlagzeilen aus der Zeit, in der die Welt anfing, sich aufzulösen. Es reichte von »Wie wirken sich die Toten auf die Wirtschaft aus?« bis zu »Falls noch jemand da ist: Das war’s«.

Letzterer Artikel, der aus der Online-Version des Wall Street Journal stammte, gefiel mir, deswegen habe ich ihn hier eingefügt:

Falls noch jemand da ist Das war's!

Hallo, Leute, ich heiße ... Ach, wen interessiert das schon ...

Ich arbeite beim Wallstreet Journal Ich bin weder Kolumnist noch Nachrichtenredakteur noch sonst ein Journalist. Ich bin der hiesige Systemadministrator. Unsere Generatoren sind bei 37% Treibstoffkapazität, und ich habe das Gefühl, dass diese Geschichte, wenn ich sie jetzt nicht rausbringe, niemals erzählt werden wird. Schon ziemlich am Anfang der Epidemie hatten wir im New Yorker Stadtgebiet keinen Strom mehr. Unser Verteilernetz ist so anfällig, dass es ein Wunder ist, dass es, bevor es losging, überhaupt noch funktionierte. Aber ich muss abschweifen.

Warum ich noch hier bin? Tolle Frage. Das Unternehmen hat mir mitgeteilt, die Lage im Gebäude sei unter Kontrolle und ich würde eine hübsche Gehaltserhöhung kriegen, wenn ich die Serverfarmen und Netzwerksachen während der Krise am Laufen halte; dass man sich um meine Familie kümmert und die Firma bewaffnetes Sicherheitspersonal zu mir nach Hause schickt, um ihr beizustehen. Als ich raffte, dass hier überhaupt nichts unter Kontrolle ist, war es zum Abhauen zu spät.

Meine Familie ist zweifellos tot, wie auch der Rest der Stadt. Ich bin sicher in unserer Serverfarm eingeschlossen und kann ehrlich sagen, dass ich sehr glücklich darüber bin, dass wir als Vorsichtsmaßnahme für die Sicherheit der Rechner dicke Stahltüren eingebaut haben, weil sie nämlich, bestünden sie aus anderem Material, inzwischen längst kaputt wären. Das methodische (fragwürdige) unermüdliche Geklopfe lässt mich allmählich durchdrehen. Seit gestern habe ich kein Wasser mehr, deswegen musste ich einen meiner wassergekühlten Server runterholen, um an das Wasser aus den Kühlmittelrohren ranzukommen. Sie enthalten genau vier Liter abgestandenes H20. Es schmeckt grässlich, hält mich aber am Leben. Momentan tüftle ich eine Methode aus, meinen Urin zu verdampfen, indem ich zur Erzeugung von Trinkwasser Generatorenwärme verwende. Mit einem der Tele Fotoobjektive und einer Digitalkamera, die ich mir zugelegt hatte, bevor ich mich hier einschloss, kann ich durchs Fenster auf die Straßen von Zoo York hinabschauen.

Ich habe da unten seit einer Woche nichts Lebendiges mehr gesehen. Das letzte Lebewesen, das ich da unten sah, war ein laufender Polizist. Ich habe mit der Kamera eine Aufnahme von ihm gemacht, als Andenken an das letzte Lebewesen in den Straßen von New York City.

Die Nachrichten aus Übersee, die ich lese, besagen, dass es in Europa noch schlimmer aussieht als in den Vereinigten Staaten, falls man sich das überhaupt vorstellen kann. ln Großbritannien sieht es ebenso aus. Allem Anschein nach hat der Beschluss der Briten, ihre Bevölkerung zu entwaffnen, keine Dividende geblecht, als die Anomalie zuschlug. Natürlich bin ich bei allem, was ich hier schreibe, gezwungen, unparteiisch und apolitisch zu sein, aber das Gefühl, jetzt eine Knarre in den Händen zu halten, würde mir schon gefallen. Falls jemand, der dies liest, irgendwo in Sicherheit ist, Waffen hat und vorbereitet ist Ich beneide euch! Ich glaube nicht, dass ich nochmal aus diesem Elfenbeinturm rauskomme. Unter mir sind Dutzende von Stockwerken, die ich durchqueren müsste, um auf die Straße zu gelangen. Doch wofür? ln der gleichen Sekunde, in der ich mich ins Freie wage, müsste ich rennen. Aber wohin?

Ob die Herren von der Regierungspresse uns irgendwelche Nachrichten vorenthalten haben? Na, und ob! Ich bin selber Augenzeuge. Wir wurden schon am 3. Januar verdonnert, nichts über die Anomalie in Übersee und die Lage an der Ostküste zu berichten. Wir hatten unseren eigenen »Mann in Schwarz« hier im Haus, der persönlich jeden ausgehenden Nachrichtenfetzen mit seinem schwarzen Sharpie- Marker durchstrich und den Ersten Verfassungszusatz abschnitt wie eine Scrabble-Regel.

Das ist aber nichts Neues. Jede Durchschnittsfamilie, die zu Hause sitzt, hat die Schrift an der Wand gesehen. Man kann zwar die Nachrichten zensieren, aber nicht wirkungsvoll auch das Internet. Video- und Gesellschaftswebsites waren voll mit Aufnahmen, die die Leute mit Handykameras gemacht haben. Ich habe so viel wie möglich davon auf dem Server NYT2 archiviert, der auf unserer Sicherheitsserverfarm in Wichita, Kansas, steht. Er ist stabil und müsste die Daten auch dann noch schütten, wenn im Mittelwesten die Lichter längst ausgegangen sind. Ich habe Aufnahmen gesehen, die ich nicht mehr vergessen kann. Wenn ich daran denke, wie sich Amerika vor dieser Scheiße über die Benzinpreise aufgeregt hat! Ein Handyfoto eines Tankstellenschildes, auf dem 4$ pro Liter stand! Eine Woche danach gingen Gerüchte um, Sprit koste nun 30 Dollar pro Liter. Eine Frau, die in einem Ü- Wagen in Chicago saß, hat ihre letzten Tage übers Telefon ins Nett gehoben. Sie war umzingelt und wurde überrannt. Eins ihrer Wagenfenster wurde eingeschlagen, drei dieser Dinger hatten sich in der Öffnung verkeilt, um an sie ranzukommen. Sie fraßen den Fahrer, während die Journalistin weinte und ihre letzten Worte sprach. Dann öffnete sie die Hintertür und sprang bei ihrem Fluchtversuch in die Menge.

Außer mir lebt in diesem Stockwerk niemand mehr. Ich kann nicht runter. Es gibt keinen Fluchtweg. Viel Glück euch allen da draußen. Sollte jemand dies lesen und in meiner Nähe sein, besuch mich bitte mal und mach der Sache ein Ende.

Der noch lebendige G. R., Systemadministrator Wall Street Journal /, IT- Abteilung Saien und ich prüften jede Büroecke. Dann nahmen wir uns die Wartungsnischen vor. Nachdem wir sie ebenfalls überprüft und ein paar leichte Kleinigkeiten eingesackt hatten, die uns von Nutzen sein konnten, begaben wir uns zum Schlüsselkasten des Autohauses, um unsere Neuerwerbung auszuwählen. Nachdem wir das Für und Wider aller möglichen Fahrzeuge besprochen hatten, entschieden wir uns für einen langen Diesel-Kleinlaster. Er sah neu aus und schien, wenn man von dem Reifen vorn rechts absah, der etwas Luft brauchte, funktionstüchtig zu sein. Da der Kompressor in der Werkstatt ohne Strom vermutlich nicht lief, mussten wir unterwegs irgendwo einen billigen Zigarettenanzünderkompressor auftreiben oder die Karre aufbocken und eine Fahrradpumpe verwenden.

Erstaunlicherweise findet sich hier nirgendwo ein Starterkabel. Selbst wenn man eins fände, würde es zu viele Dezibel kosten, um ein Fahrzeug anzuwerfen. Als ich die Batterie zum Ford schleppte und eine Ladestation aufbaute, schob Saien Wache. Ich hatte den Sprit aus dem Kombi absaugen wollen, aber bei einem Diesel nützte er nichts. Sieht aus, als säßen wir hier für mindestens einen Tag fest, bis die Sonne die Batterie aufgeladen hat. Ich habe den Sonnenkollektor auf dem Kleinlaster platziert und einen meiner schmutzigen Pullis druntergelegt, um ihn nach Süden zu kippen. Nach einer vollen ununterbrochenen Aufladung müsste die Batterie einen problemlosen Start hinlegen. Ich würde auch gern Zugriff auf irgendwas haben, mit dem ich wie in Mad Max irgendeinen Scheiß über die Windschutzscheibe schweißen könnte, damit Saien und ich für die Reise irgendwas Dauerhaftes haben, aus dem heraus wir schießen können, ohne uns Sorgen zu machen. Außerdem habe ich alle Ecken des Wagens untersucht. Das Öl schien in Ordnung und auf dem richtigen Stand zu sein. Der Schlüssel aus dem Kasten passte problemlos ins Zündschloss. Der Ersatzreifen unter der Ladefläche hat das richtige Format und ist aufgepumpt. Ich schaute fortwährend auf die Uhr. Ich wollte während des heutigen Satellitentelefontermins keinen möglichen Anruf verpassen. Da der Sonnenkollektor für die Autobatterie tätig ist, bin ich gezwungen, das Telefon abgeschaltet zu lassen, um bis zum Termin Batterie zu sparen.

Remote Six ist von einer seltsamen Aura umgeben. In meinem Kopf klärt sich nichts. Der seltsame Benzinzusatz, die Drohnen- Signalfeuertechnik und der bemerkenswerte Sonnenkollektor, der Batterien offenbar schneller lädt, als ein handelsüblicher zu Hause es je könnte.

Laut Preisschild kostet der Kleinlaster $ 44.995. Auf dem Schild steht auch, dass die Karre auf dem Highway dreizehn Liter auf hundert Kilometer frisst. Laut Handbuch fasste der Tank hundert Liter Diesel. Im Kopf rechnete ich aus, dass man mit einer Tankfüllung mehr als sechshundert Kilometer weit kam. Hotel 23 war über dreihundert Kilometer von hier entfernt. Mit einem vollen Tank mussten wir es also locker dorthin schaffen.

Ich begutachtete das Handbuch, insbesondere das Thema Reifenwechsel Manchmal verwenden Hersteller ziemlich exotische Werkzeuge für Ersatzreifen oder die Montage anderer auswechselbarer Teile. Und natürlich erforderte auch dieser Laster, dass der Besitzer irgendein Gerät zusammenbaute, um den Reifen von der Ladefläche am Heck zu lösen. Ich sah darin keinen Wert und wusste, dass es uns vielleicht an den Kragen ging, wenn wir an irgendeiner Straße an einer NASCAR- Werkstatt einen Boxenstopp machen mussten. Ich löste den Ersatzreifen und warf ihn hinten rein, da dort genug Platz war. Ich nahm mir genügend Zeit, um die Wagenheber zu überprüfen. In der Werkstatt fand ich eine Abschleppkette und warf auch sie hinten rein. Damit konnten wir Straßenblockaden leichter beseitigen. Ich erspähte eine Dose voller alter Zündkerzen und bat Saien, so viel von der Kerzenkeramik abzuklauben wie möglich und sich zu bemühen, die Scherben groß zu lassen. Keramikscherben konnten sich später bei kleinen Einbruchsunternehmen als nützlich erweisen.

Ein flüchtiger Gedanke brachte mich dazu, die aufgeladene Batterie des Kombis abzutrennen und zum Laster zu bringen. Sie gehörten zwar verschiedenen Marken an, aber ich wollte es trotzdem versuchen. Während ich mein wissenschaftliches Experiment durchführte, zerbrach Saien die alten Zündkerzenkeramiken mit einem Schraubstock. Bevor ich zu sehr vereinnahmt wurde, ging ich nochmal an den Zaun, um mich zu versichern, dass wir nicht in unmittelbarer Gefahr schwebten, überflutet zu werden. Wieder beim Laster stellte ich die Kombi-Batterie dort ab, wo die leere lag. Ich verband die Fahrzeugdrähte wahllos mit der Batterie und begab mich an die Fahrerseite, um nachzusehen, was es zu sehen gab. Ich drehte den Zündschlüssel, um das Armaturenbrett mit Strom zu versorgen, weil ich sehen wollte, wie viel Sprit im Tankwar. Ich hatte Glück, denn der Lastertank war fast voll. Da Diesel im Gegensatz zu Benzin nicht raffiniert wird, hat es eine längere Lebensdauer, also wollte ich mal sehen, ob ich den Laster auch ohne Treibstoffzusatz ans Laufen kriegte.

Ich sagte Saien, was ich vorhatte, damit wir das Für und Wider des Fahrzeuganlassens im Freien diskutierten. Ob wir damit vielleicht Beachtung auf uns zogen? Es war fast 11.00 Uhr, als wir den Laster beluden, um einen Startversuch zu machen. Wir dachten, wenn der Lärm keine Untoten anlockt, bleiben wir noch eine Weile und sorgen dafür, dass unsere Ausrüstung ordentlich verpackt und auch sonst alles in Ordnung ist.

Ich drehte den Schlüssel. und der Laster spuckte etwa fünf Sekunden lang, bis er lief. Dann kam mir eine Idee, die die Batterie betraf. Mit Handschuhen verband ich die fabrikneue Batterie während des Laufens wieder mit dem Laster, so dass die Lichtmaschine statt des Sonnenkollektors ihre Arbeit tun konnte. Die Lichtmaschine würde die leere Batterie viel schneller aufladen als die Sonne, egal wie effizient der Kollektor auch war.

Danach schloss ich leise die Tür und marschierte nochmal am Zaun entlang. Ich sah nirgendwo am Autohaus Anzeichen für irgendwelche Aktivitäten. Nach der Überprüfung der Landkarten schätzte ich, dass H23 etwa 370 Kilometer von uns entfernt lag. Je nach Sender kamen wir schon viel früher in Funkkontakt. John überwachte bestimmt die Flieger-Notfrequenz, so dass dies die beste und früheste Möglichkeit war, Hotel 23 zu erreichen. Das Problem war, ein funktionsfähiges VHF- Gerät aufzutreiben, um überhaupt senden zu können. Da das Aufladen einer Batterie gut dreißig bis fünfundvierzig Minuten dauert, dachte ich, mir die doppelte Zeit oder mindestens eine Stunde gönnen zu können, damit auch wirklich alles glattgeht. Ich öffnete die Tür und atmete den Neuwagengeruch ein, der dem Fahrzeug noch anhaftete, obwohl es seit Monaten herumstand. Beim Einschalten der Heizung genoss ich das Gefühl der künstlichen, über meine Hand strömenden Wärme. Ich hatte so etwas schon lange nicht mehr gespürt. Wenn unser Zeug hinten verstaut war, war es vielleicht auch möglich, in dem Wagen eine Runde zu schlafen - falls wir in der Nacht ein gutes Versteck fanden. ln einem anderen Kleinlaster entdeckten wir eine Bettdecke, die leicht in unserem Wagen anzubringen war. Es erschien mir sinnvoll, um unsere Sachen trocken und untote Blinde Passagiere aus dem hinteren Teil heraus zu halten. Als Nächstes stand auf der Geschäftsordnung die Entfernung sämtlicher Rücklichter und Strahler. Die einzigen Lichter, die ich haben wollte, waren die Frontscheinwerfer, für den Fall, dass diese gebraucht wurden. Die Untoten waren nicht unsere einzigen Feinde. Ich verhüllte alle freiliegenden Bereiche mit Klebeband, um jede Möglichkeit einer versehentlichen Betätigung auszuschalten. Der Laster würde zwar ohne Hilfe eines Schweißfachmanns niemals straßenreif sein, aber für unsere Zwecke musste es reichen. Ich schaltete das Radio ein und suchte die AM- und FM- Frequenzen ab.

Nichts.

Nichts von dem, was die Existenz dessen kennzeichnete, was einst ein geschäftiger Informationsfluss gewesen war.

Mit den Fliegerkarten planten wir den nächsten Streckenabschnitt nach Südwesten. Wir sind nicht fern von Carthage. Vielleicht 20 Kilometer. Sieht aus, als müsste es auch so bleiben. Wir müssen nämlich den Highway 79 runter und nach Süden abbiegen, um auf den 59 zu stoßen. Es muss unsere Priorität sein, so lange wie möglich auf Landstraßen zu fahren und nur, wenn es unbedingt nötig ist, auf Highways zu wechseln. Meine 370 Kilometer- Schätzung bezog sich natürlich auf die Luftlinie. Als ich mir den überlegten Straßenverlauf auf dem Bildmaterial ansah, wurde mir klar, dass die Reise etwas weiter führt und länger ausfallt. Außerdem müssen wir bedenken, dass wir bei all den Trümmern und sonstigen Gefahren, die vor uns auf der Straße liegen, nicht in der Lage sein werden, uns an das Tempolimit von vor einem Jahr zu halten. Vor ein paar Jahren ist mein Vetter James mit seinem Kleinlaster gegen einen Hirschbock geknallt. Sein Wagen war nur noch Schrott. Der Hirsch hat eineinhalb Zentner gewogen. Wenn wir auf eine Zwei- Zentner- Leiche krachen, wäre der Tag vielleicht für uns gelaufen. Leichen versuchen nicht mal, einem aus dem Weg zu gehen. Sie werden von Menschen angezogen wie Fliegen vom Licht. Es ist ihnen gleichgültig, was sich zwischen ihnen und dem Menschen befindet; sie gehen einfach drauflos.

Zu dem Bildmaterial, das ich mit dem Abwurf erhalten hatte, gehörte ein transparentes Plastiktuch mit zwei rechteckigen orangefarbenen Kreisen, einer asymmetrischen orangen Form und einem Strahlungssymbol in der unteren rechten Ecke. Nun erkannte ich den Zweck des Tuchs. Ich legte es über die Landkarte der Region, und sie zeigte uns die radioaktiv verseuchten Gebiete von Dallas, San Antonio und New Orleans an. Dallas und San Antonio wiesen ausgedehnte Schäden auf, doch die verstrahlten Gebiete von New Orleans kündeten von einem dezimierten Gelände, das Südost-Louisiana, Süd-Mississippi, einen Teil von Süd-Alabama und die Spitze des Florida- Panhandle abdeckte. Ich stand eine Weile in sprachlosem Staunen da, dann fragte Saien, was denn los sei. Ich erzählte ihm, dass ich dort überall Freunde hatte, und dass es mir sehr leidtat, dass sie höchstwahrscheinlich tot waren. Er erwiderte, mein Verlust täte ihm auch leid, und nahm die Auflagemaske von der Landkarte, was mich veranlasste, mit der Planung fortzufahren. Ich war zuversichtlich, dass wir den Stadtrand von Carthage in einem Tag erreichten konnten, wenn wir zusammenarbeiteten.

Während wir dort saßen und unseren Plan besprachen, ertappte ich Saien dabei, dass er mein Gewehr betrachtete. Ich wusste, dass er wissen wollte, wie ich am Tag unserer ersten Begegnung sowie beim Aufmarsch der Untoten, als wir versucht hatten, den Kombi zum Laufen zu bringen, die Explosionen ausgelöst hatte. Schließlich gab ich nach und erzählte ihm eine gesäuberte Version dessen, was ich wusste. Ich erklärte ihm, dass die Regierung den Abwurf veranlasst hatte und ich zuvor mit dem, was noch von ihr übrig war, in Verbindung gestanden hatte. Ich erklärte ihm, dass es eine Reaper- Drohne gab, die über uns kreiste, all unsere Schritte beobachtete und darauf wartete, dass ich ein Ziel mit einem auf meinem Gewehr montierten Gerät markierte. Ich sah keinen Grund, ihn über das Signalfeuergerät oder die dazugehörigen störungssicheren Gegenmaßnahmen zu informieren.

Ich zeigte ihm das Iridiumtelefon und erzählte, dass es aufgrund der verminderten Satellitenkreisbahn nur zwischen 12.00 und 14.00 Uhr benutzbar war. Er fragte, wer denn am anderen Ende säße, und ich informierte ihn, dass es immer eine mechanisch klingende Aufzeichnung mit einem Lagebericht (LB) war und er in dieser Hinsicht nun ebenso viel wusste wie ich. Ich erzählte ihm, dass ich zu einem Ort in der Nähe von Nirgendwo, Texas, unterwegs sei und er, wenn er wolle, herzlich eingeladen sei, mir zu helfen, dorthin zu gelangen. Da San Antonio vernichtet und Saiens ursprüngliches Ziel gewesen war, sagte mir sein Schweigen, dass es keinen anderen Ort gab, an den er gehen konnte. Da der Oktober zu Ende ging, beschlossen wir der Wärme wegen, im Hof der Werkstatt ein Feuer anzuzünden. Die Oktoberkälte war schon in der Luft, und gestern Nacht hatte ich mich bei meinem Versuch, ein paar Stunden Schlaf zu finden, sehr unbehaglich gefühlt.

Früher war mir nichts über meine täglichen acht Stunden Schlaf gegangen. Jetzt freue ich mich, wenn ich fünf kriege. Ich schlafe nicht mehr als ich muss, da die Vorstellung, das wenige zu verschlafen, was einem das Leben noch bietet, mich beunruhigt. Das Satellitentelefon ist eingeschaltet, und ich warte auf den Anruf.

21.00 Uhr

Heute um 13.50 Uhr traf eine Meldung mit der Anweisung ein, mich an die nächste auf der Karte verzeichnete Abwurfstelle zu begeben. Sie liegt südwestlich meiner gegenwärtigen Position. Morgen um 15.00 Uhr wird ein Abwurf erfolgen. Die Botschaft erwähnt weder Saien noch sonst etwas. Ich habe mir die Karte angesehen und den nächsten Punkt auf unserem Weg nach Südwesten eingekreist und mit einem V versehen, um ihn zu kennzeichnen. Das Bildmaterial in meinen Händen beschrieb das Gebiet als oberhalb eines kleinen Flugplatzes liegend. Der Abwurf war östlich von Carthage vorgesehen, gleich vor dem Highway 79. Wir hatten Vorbereitungen getroffen, tagsüber abzufahren, um unsere Chancen zu erhöhen, den Ort des Abwurfs zu finden. Ich weiß nicht genau, wieso man erwartet, dass ich die Stelle auf einer Karte lokalisieren und finden kann, die so wenig Details über das genaue Gebiet bzw. die Koordinaten enthält, an dem der Abwurf stattfinden soll.

Saien und ich haben vor ein paar Stunden beschlossen, Feuer zu machen, um die Kälte des Spätoktobers zu bekämpfen. Als die Sonne begann, unterzugehen, habe ich auf dem Gelände hinter dem Zaun Feuerholz gesammelt. Wir haben es gestapelt, und Saien hat eine Seite aus einem Buch gerissen, das aus seinem Rucksack stammt. Ich las den Titel. Meilensteine. Der Umschlag war einfach gestaltet, und mir schien, dass dies nicht die erste Buchseite war, die er zum Feuermachen benutzte. Das Buch schien höchstens noch aus der Hälfte seiner ursprünglichen Seiten zu bestehen. Wir kochten etwas von dem uns verbliebenen Essen und schlugen uns für den langen Tag, der vor uns lag, den Bauch voll.

»Und jetzt schreibst du wieder was in dein Buch.«

»Immerhin reiße ich keine Seiten aus ihm raus.«

»Gute Nacht, Kilroy.«

»Gleichfalls, Saien ... Und behalt immer ein Auge offen, Mann.«

»Beide, mein Freund.«