30
Flucht vor dem Unsichtbaren
Catherine stand draußen und starrte in den sternenübersäten mitternächtlichen Himmel. Es war so kalt, dass sie ihren Atem sehen konnte, doch sie fröstelte weit mehr von dem, was geschehen war. Wenn sie einen Ort auf der Welt für sicher gehalten hatte, dann ihr eigenes Zuhause, auf einem Grund und Boden, den sie seit so vielen Jahren in guten wie in schlechten Zeiten bewohnte und auf dem sie jeden Baum, jeden Strauch kannte und wo tausend Erinnerungen erwachten, wenn die Dachrinnen unter einer Brise schepperten. Hier hatte sie Wurzeln geschlagen. Doch in dieser Nacht war die Sicherheit ihres Hauses in dem Moment untergraben, als sie O’Connell sagen hörte: Ich komme zurück.
Catherine wandte sich zum Haus um. Plötzlich schien es ihr zu kalt, um draußen stehenzubleiben und zu überlegen, was sie machen sollte, was sie ein wenig überraschte. Sie hatte schon oft und zu allen Jahreszeiten so unter dem Himmel von Vermont gestanden und über die unterschiedlichsten Fragen nachgedacht. Doch in dieser Nacht brachte der schwarze Himmel keine Klarheit, sondern nur eisige Kälte, die ihr den Rücken hinunterkroch, so dass sie zitterte. Ihr kam der schreckliche Gedanke, dass Michael O’Connell den Frost gar nicht bemerkte. Seine Obsession hielt ihn warm.
Sie betrachtete die Baumreihe an der Grundstücksgrenze und darüber hinaus über das flache Gelände neben ihrem Haus, wo ihr Mann mit einem geliehenen Traktor ein Stück eingeebnet hatte, um darauf Sportrasen einzusäen und zwei Torpfosten zu setzen – alles als Geschenk zu Hopes elftem Geburtstag. Gewöhnlich rief der Anblick des Minispielfelds viele glückliche Erinnerungen wach, die Catherine tröstlich fand. In dieser Nacht jedoch wanderte ihr Blick an den verblichenen weißen Pfosten vorbei. Sie stellte sich vor, dass O’Connell irgendwo dort draußen lauerte und sie aus sicherer Entfernung beobachtete.
Catherine biss die Zähne zusammen und ging wieder ins Haus, nachdem sie an der Tür noch einmal stehengeblieben war und in einer eindeutig obszönen Geste die Hand gehoben hatte. Für alle Fälle, dachte sie. Es war längst nach Mitternacht, doch sie hatten noch eine Menge zu packen. Ihre eigene Tasche war fertig, doch Ashley, die immer noch vollkommen fertig war, brauchte länger.
Scott saß, die alte Schrotflinte neben sich auf dem Tisch, in der Küche und trank schwarzen Kaffee. Er strich mit dem Finger den Lauf entlang und dachte, dass sie weitaus besser dran wären, wenn Catherine einfach abgedrückt hätte. Sie hätten sich für den Rest der Nacht mit der örtlichen Polizei und einem Coroner herumschlagen müssen und Catherine einen Anwalt besorgt, obwohl sie vermutlich nicht einmal festgenommen worden wäre. Wenn sie den Bastard einfach erschossen hätte, als er durch die Tür kam, stellte er sich vor, dann wäre kurz danach er eingetroffen und hätte geholfen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Binnen Tagen hätten sie wieder ein normales Leben führen können.
Er hörte, wie Catherine zur Haustür herein und in die Küche kam.
»Ich denke, ich leiste dir Gesellschaft«, erklärte sie und goss sich selbst eine Tasse ein.
»Es wird eine lange Nacht«, sagte Scott.
»Ist es schon.«
»Ist Ashley so weit?«
»Braucht noch eine Minute«, meinte Catherine. »Sie packt nur das Nötigste.«
»Sie ist ganz schön mitgenommen.«
Catherine nickte. »Das kannst du ihr nicht verübeln. Ich bin auch noch ganz schön durcheinander.«
»Du überspielst es besser.«
»Hab mehr Erfahrung.«
»Ich wünschte …«, begann er, brachte den Satz aber nicht zu Ende.
Catherine verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Ich weiß, was du dir wünschst.«
»Ich wünschte, du hättest ihn geradewegs zur Hölle geschickt.«
Sie nickte. »Ich auch. Im Nachhinein.«
Keiner von beiden sprach aus, was sie beide dachten: O’Connell vor der Mündung einer Schusswaffe zu haben war eine Gelegenheit gewesen, wie sie sich wahrscheinlich kein zweites Mal bieten würde. So schnell ihm der Gedanke kam, so schnell verbannte Scott ihn aus seinem Kopf. Der aufgeklärte, rationale Mensch in ihm erklärte entschieden, dass Gewalt nie die Antwort sein konnte. Doch ebenso schnell stellte sich die Gegenfrage ein: Wieso eigentlich nicht?
Ashley kam und blieb im Türrahmen stehen.
»Also«, sagte sie. »Ich bin so weit.«
Sie starrte ihren Vater und Catherine an. »Seid ihr sicher, dass es das Beste ist, wegzufahren?«
»Wir sind hier draußen ziemlich isoliert, Schätzchen«, erwiderte Catherine behutsam. »Und es ist wirklich nicht leicht, vorherzusagen, was Mr. O’Connell als Nächstes tut.«
»Es ist nicht fair«, meinte Ashley. »Catherine und mir gegenüber, und auch allen anderen gegenüber.«
»Ich denke, es geht hier längst nicht mehr um Fairness«, sagte Scott.
»Es geht vor allem um unsere Sicherheit«, warf Catherine in sanftem Ton ein. »Besser übervorsichtig als zu wenig.« Ashley ballte die Fäuste und kämpfte gegen die Tränen an.
»Lasst uns einfach gehen«, schlug Scott vor. »Sieh mal, wenigstens wird sich deine Mutter ganz entschieden besser fühlen, wenn du nach Hause kommst. Hope auch. Und Catherine möchte ganz gewiss nicht allein hier oben bleiben und sich mit dem Scheißkerl rumschlagen, wenn er rausgefunden hat, dass wir dich weggeschafft haben.«
»Auch wenn ich mich das nächste Mal, glaube ich, nicht lange mit Small Talk aufhalten werde«, erklärte Catherine steif. Dabei deutete sie auf die Flinte, so dass Scott und Ashley beide schmunzelten.
»Catherine«, sagte Ashley, während sie sich die Augen wischte, »du würdest einen tollen Profikiller abgeben.«
Catherine lächelte. »Danke, Schätzchen. Das nehme ich als Kompliment.«
Scott stand auf. »Ist jedem klar, wie das heute Nacht laufen soll?«
Ashley und Catherine nickten beide. »Auch wenn’s mir ein bisschen übertrieben vorkommt«, fügte Catherine hinzu.
»Lieber Vorsicht als das Nachsehen. Wir gehen besser davon aus, dass er das Anwesen beobachtet, meint ihr nicht? Und dass er versuchen wird, uns zu folgen. Und dass wir nicht wissen, worauf er noch verfällt. Immerhin hat er euch heute schon einmal von der Straße abgedrängt.«
»Falls er das war«, gab Ashley zu bedenken. »Wir konnten den Kerl nicht ein einziges Mal richtig sehen. Oder seinen Wagen. Es leuchtet mir nicht ein. Wieso sollte er uns zuerst fast umbringen wollen, um als Nächstes in der Diele zu stehen und zu brüllen, dass er mich liebt?«
Scott schüttelte den Kopf. Er begriff es genauso wenig. »Wie auch immer, wir geben ihm was zu beißen, falls er uns observiert.«
Er sammelte das Gepäck ein und stellte es an der Haustür auf. Catherine löschte sämtliche Lichter. Scott ließ die beiden Frauen in der Diele zurück und trat in die Nacht. Als er das Dunkel absuchte, fühlte er sich plötzlich an die Zeit erinnert, als er selbst in Ashleys Alter war und in Vietnam mit dem Fernglas in den Dschungel spähte, wenn endlich einmal die Haubitzen hinter ihm schwiegen, wenn ihm der feuchte, muffige Geruch der prall gefüllten Sandsäcke, an die er sich lehnte, in die Nase stieg und er sich fragte, ob sie in diesem Moment vom undurchdringlichen Dickicht aus beobachtet wurden.
Scott glitt hinters Lenkrad seines Porsche und fuhr rückwärts neben Catherines kleinen Kombi mit Vierradantrieb. Er ließ den Motor laufen und stieg aus, nachdem er die Kofferraumhaube entriegelt hatte. Dann beugte er sich in Catherines Auto und warf den Motor an. Er öffnete bei beiden Wagen die Beifahrertür und kurbelte jeweils die Rücklehne so weit herunter, wie es ging.
Dann ging Scott wieder ins Haus und holte das Gepäck.
Catherines Tasche packte er in seinen Porsche und Ashleys in Catherines Fahrzeug; er klappte bei beiden den Kofferraum zu, ließ jedoch alle vier Türen offen.
Mit wenigen Schritten war er wieder an der Haustür. »Seid ihr so weit?«
Beide Frauen nickten.
Alle drei bewegten sie sich in einem einzigen Knäuel. Ashley glitt auf den Beifahrersitz des Porsche und Catherine hinters Lenkrad ihres eigenen Wagens. Sobald sie saß, tauchte Ashley ab, so dass sie von draußen nicht mehr zu sehen war. Ihr Haar hatte sie unter einer eng anliegenden dunkelblauen Strickmütze versteckt.
Scott lief herum und schlug sämtliche Türen zu, bevor er auf seinen eigenen Sitz sprang. Er machte Catherine Zeichen mit dem Siegesdaumen, und sie gab so kräftig Gas, dass der Schotter spritzte. Scott schwenkte, dicht hinter ihr her, auf die Straße. Jetzt Tempo, was das Zeug hält, dachte er. Doch Catherine stand bereits auf dem Gaspedal, und so rasten sie dicht an dicht Richtung Highway.
Scott sah in den Rückspiegel, um hinter ihnen nach Scheinwerfern zu suchen. Die vielen Kurven verstellten allerdings die Sicht. Wir haben Vollmond, dachte Scott. Wenn ich in dieser Nacht jemanden verfolgen wollte, führe ich ohne Licht.
Neben ihm drückte sich Ashley an den flachen Sitz. Er beschleunigte und blieb dicht hinter Catherine.
Sie wollte zu einer Stelle, die sie kannte, kurz vor der Highway-Auffahrt. Es war eine Drive-In-Bank mit einem kleinen Parkplatz dahinter. Als sie vor sich die Abzweigung entdeckte, wartete sie mit dem Blinken bis zur letzten Sekunde und riss das Steuer herum. Beim Abschwenken in die zweispurige Einfahrt hörte sie kurz die Reifen quietschen; sie fuhr sofort bis ans hintere Ende, wo es keine Beleuchtung gab. Dort hielt sie an und holte Luft.
Scott fuhr neben ihr heran, sprang heraus und rannte zur Ecke des Gebäudes.
Ein einziger Wagen fuhr auf der Hauptstraße vorbei, dann folgte ein zweiter; bei keinem konnte er den Fahrer erkennen.
Doch keins der Fahrzeuge drosselte das Tempo; vielmehr passierten sie beide die Abfahrt; keines von beiden bog zum Highway ab. Auch sonst ließ nichts darauf schließen, dass die Fahrer zögerten oder jemanden suchten. Er wartete, bis ein weiteres Fahrzeug vorbeikam, was fast eine Minute dauerte. Dann kehrte er zu den beiden Frauen zurück.
»Alles klar, Zeit zum Tauschen«, sagte er, »er ist nirgends zu sehen.«
Wortlos glitt Ashley aus dem Porsche und duckte sich auf den Beifahrersitz des Kombi, wo sie sich in eine alte Wolldecke wickelte. Catherine nickte, legte den Gang ein und fuhr zur Highway-Einfahrt Richtung Süden.
Scott folgte ihr dicht, doch statt ebenfalls die Auffahrt nach Süden zu nehmen, hielt er an der Landstraße an. Er sah den Rücklichtern des kleineren Wagens hinterher. Er wartete, fest entschlossen, sich jeden Wagen gut anzusehen, der Catherine nach Süden folgte. Außer ihm war niemand weit und breit. Er zählte bis dreißig, trat heftig aufs Gas und lenkte den Porsche mit quietschenden Reifen auf die Auffahrt nach Norden. Am Ende der Auffahrt fuhr er schon rund hundertfünfzig Stundenkilometer. Er sah, dass ihm auf der rechten Spur ein Sattelschlepper den Weg versperrte, doch statt zu bremsen, gab er Gas und überholte den Lkw auf der Standspur. Der Fahrer hinter ihm hupte gewaltig und blinkte mit allem, was er hatte. Scott ignorierte ihn und konzentrierte sich auf die nächstbeste Gelegenheit zu einer illegalen Wendemöglichkeit links von ihm. Er hoffte, dass nicht irgendwo die Polizei auf ihn lauerte. Sein Fernlicht fiel auf ein Schild mit der Aufschrift Nur für autorisierte Fahrzeuge, und er trat auf die Bremse. Mit ein und derselben Bewegung knipste er alle Lichter aus.
Der Porsche holperte auf den unbefestigten Mittelstreifen und setzte ein, zwei Mal mit dem Chassis auf, als er von der Autobahn nach Norden auf die südliche wechselte. Ein rascher Blick sagte ihm, dass sie leer war. Indem er kräftig beschleunigte, warf er den Porsche wieder auf den Highway und machte die Scheinwerfer an. Auf der Mittellinie leuchteten kurz die roten Augen eines Rehs. Er holte tief Luft. Das mach mir erst mal nach, sagte er in Gedanken.
Er schätzte, dass er kaum zehn Minuten brauchen würde, um wieder hinter Catherine und Ashley zu sein, nachdem er sich auf dem Weg bis dahin jeden Wagen angesehen hatte. Anschließend würde er sie bis nach Hause begleiten.
Er presste die Lippen zusammen.
Ich hab noch ein paar Tricks auf Lager, dachte er. Er spürte, wie der Motor vor Geschwindigkeit brummte, und zum ersten Mal in dieser Nacht kam in ihm das Gefühl auf, die Situation einigermaßen unter Kontrolle zu haben.
Allerdings war er klug genug, um zu wissen, dass dieses Gefühl wahrscheinlich nicht von Dauer sein würde.
Nach so viel Anspannung brauchten sie alle so dringend ein bisschen Schlaf, dass sie am nächsten Tag erst spät zusammenkamen. Besonders Ashley hatte, als sie gehört hatte, wie Nameless gestorben war, im Bett noch bitter geweint, bevor sie in einen tiefen, doch wenig erholsamen Schlaf gefallen war, den Träume mit schwarzen Todesbildern quälten. Mehr als einmal schrie sie auf, so dass entweder Hope oder Sally an ihre Tür gelaufen kam, um wie nach einem kleinen Kind zu sehen.
Scott war zum College zurückgefahren. Er hatte sich anderthalb Stunden Schlaf in seinem Schreibtischsessel gegönnt, bevor er mit dem Gefühl erwachte, dass der ganze Tag missraten würde. Auf der Herrentoilette, wo er sich notdürftig wusch, brachte er ein paar Sekunden damit zu, sich im Spiegel zu mustern. Geschichte, dachte er, befasst sich mit Männern und Frauen, die sich außergewöhnlichen Ereignissen gegenübersehen. Es geht dabei letztlich um den Mut des einen, die Feigheit des anderen, die Weitsicht eines Dritten und das Versagen des Vierten. Es geht um Emotionen und Psychologie, die sich so oder so ausprägen. In ihm stieg eine kalte Übelkeit hoch, als ihn die Frage bedrängte, ob er sein ganzes Berufsleben damit zugebracht hatte zu studieren, was andere taten, ohne zu lernen, wie er selbst handeln musste.
Michael O’Connell, so glaubte er, war nichts weiter als ein kurzer Moment in seiner eigenen Lebensgeschichte. Doch seine Handlungsweise in den nächsten paar Tagen würde ihn für den Rest seiner Tage prägen.
Sally kämpfte mit der blanken Wut.
Sie hatte das Gefühl, dass alles, was sie bis jetzt versucht hatten, vergeblich gewesen war. Sie waren zunächst vernünftig, höflich gewesen. Sie hatten es mit Einschüchterung probiert. Mit Täuschung. Mit Flucht. Doch sämtliche Strategien, die sie eingesetzt hatten, waren ins Leere gelaufen. Ihr eigenes Leben war völlig durcheinandergeraten, ihre Privatsphäre empfindlich verletzt und sie alle miteinander vollkommen aus den gewohnten Gleisen geworfen.
Eine Welt aus Angst und Schrecken, dachte sie. Das erwartete sie.
Sie saß im Wohnzimmer – allein. Sie merkte, wie sie Grimassen schnitt, den Kopf schüttelte, mit den Händen die Luft zerschnitt, wie sie wütend mit dem Finger zeigte, die Stirn runzelte und bewegt gestikulierte, als sei sie mitten in einer furiosen Auseinandersetzung, obwohl niemand außer ihr selbst ihre Worte hören konnte, die in ihrem Kopf widerhallten. Oben schlief Ashley noch, doch Sally hatte vor, sie bald zu wecken. Hope und Catherine machten draußen einen Spaziergang, um irgendwo in einem Restaurant etwas zum Abendessen zu besorgen. Höchstwahrscheinlich diskutierten sie, in was sie da hineingeraten waren. Sie war als Wachposten zurückgeblieben.
Sally fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie befanden sich an einem Scheideweg, ohne dass sie deutlich sehen konnte, worin ihre Wahl bestand.
Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Ich hab alles vermasselt, dachte sie. Ich hab alles verpfuscht.
Sie seufzte und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem sie alte Sammelalben und Fotos sowie andere Andenken aufbewahrte, die zu schade zum Wegwerfen, aber nicht gut genug zum Rahmen waren. Sie öffnete eine große Schublade und wühlte in den Stapeln, bis sie fand, was sie suchte: ein Bild von ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie waren beide viel zu jung gestorben, der eine bei einem Unfall, die andere an einem Herzleiden. Sally konnte nicht sagen, wieso sie jetzt das Bedürfnis hatte, die Fotos hervorzuholen, doch sie war von dem Wunsch, ihnen in die Augen zu schauen und ihren Blick auf sich gerichtet zu sehen, beinahe überwältigt. Als könnten die beiden sie beruhigen. Sie hatten sie zurückgelassen, und sie hatte sich – trotz ihrer Zweifel darüber, wer sie war und was aus ihr einmal werden würde – an Scott geklammert, weil sie ihn für verlässlich hielt. Wahrscheinlich hatte derselbe Instinkt sie zum Jurastudium getrieben: der eiserne Wille, nie wieder Opfer der Ereignisse zu sein. Bei diesem Gedanken schüttelte sie den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, wie albern die Vorstellung war. Jeder konnte zum Opfer werden. Jederzeit.
Als dieser widerwärtige Gedanke sich bei ihr einnistete, hörte sie Ashley im oberen Stockwerk.
Sie holte tief Luft. Eines bleibt allerdings wahr: Eine Mutter tut alles, um ihr Kind zu schützen.
»Ashley, bist du das? Bist du auf?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann kam die Antwort nach einem gedehnten Stöhnen. »Ja. Hi, Mom. Ich komm runter, ich putz mir nur noch die Zähne.«
Sie wollte gerade antworten, als das Telefon klingelte.
Das Geräusch lief ihr eiskalt über den Rücken.
Sie sah auf die Anruferkennung, doch da stand nur privater Anrufer.
Sally griff nach dem Telefon und biss sich auf die Lippe.
»Ja, wer spricht da bitte?«, sagte sie und legte so viel Anwaltsfrostigkeit in ihre Stimme, wie sie konnte.
Es kam keine Antwort.
»Wer ist da!«, fragte sie in scharfem Ton.
Es blieb still in der Leitung. Sie hörte nicht einmal jemanden atmen.
»Verflucht noch mal, lassen Sie uns in Frieden!«, flüsterte sie. Ihre Worte drangen wie Nägel in die Stille, und sie knallte das Telefon auf den Sockel.
»Mom? Wer war das?«, rief Ashley von oben. Sally hörte, wie die Stimme ihrer Tochter einen Moment lang zitterte.
»Ach, nichts«, rief sie. »Nur so ein blöder Werbeanruf, für Zeitschriftenabos.« Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, fragte sie sich, wieso sie es nicht fertiggebracht hatte, die Wahrheit zu sagen. »Kommst du runter?«
»Ja, gleich.« Sally hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer zufiel. Sie nahm das Telefon und wählte die 69. Augenblicklich ertönte eine Ansage: »Die Nummer 413-555-0987 gehört zu einem Münztelefon in Greenfield, Massachusetts.«
Dicht dran, dachte sie. Keine Stunde Fahrt.
Als Michael O’Connell das Münztelefon einhängte, war sein erster Impuls, Richtung Süden zu fahren, wo Ashley, wie er wusste, auf ihn wartete, und die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Jedes Wort, das er von Sally gehört hatte, sagte ihm, wie geschwächt sie war. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und stellte sich Ashley vor. Er fühlte, wie ihm das Blut in Wallung kam, als stünde jede Ader und jede Vene unter Strom. Er atmete in flachen Zügen ein, wie ein Schwimmer, der hyperventiliert, bevor er ins Wasser springt. Sie rechnen damit, sagte er sich, dass er ihnen nach Hause folgte.
Sie werden vorbereitet sein, überlegte er. Einen Plan aushecken, damit er nicht nahe an sie herankam. Verteidigungs linien, Mauern aufrichten. Sie können mich nicht schlagen.
Das war die einfachste, offensichtlichste, unbestreitbare Wahrheit.
Wieder atmete er ein. Sie werden denken, ich wäre zu ihnen unterwegs.
Aber wozu die Eile?
Sollen sie sich Sorgen machen. Sollen sie sich schlaflose Nächte bereiten. Lass sie bei jedem Geräusch im Dunkeln zusammenzucken.
Wenn sie ihm dann vor Anspannung und Erschöpfung und Zweifeln nur noch wenig entgegenzusetzen hatten, dann würde er kommen. Wenn sie am wenigsten damit rechneten.
O’Connell steppte mit den Füßen auf dem Bürgersteig wie ein Tänzer, der seinen Rhythmus findet.
Ich bin selbst dann bei ihnen, an ihrer Seite, wenn ich nicht da bin.
Michael O’Connell kam zu dem Schluss, dass er es an diesem Tag nicht eilig hatte. Die Liebe, die er zu Ashley empfand, konnte mit der größten Geduld einhergehen.
Diesmal verabredete sie sich mit mir um Mitternacht vor der Notaufnahme eines Krankenhauses in Springfield. Als ich sie fragte, wieso um Mitternacht, ließ sie mich wissen, dass sie zwei Nächte die Woche ehrenamtlichen Dienst im Krankenhaus leistete und dass sie gewöhnlich ihre Pause in der Geisterstunde einlegte.
»Was für eine ehrenamtliche Tätigkeit?«, erkundigte ich mich.
»Beratung. Misshandelte Ehefrauen. Geschlagene Kinder. Vernachlässigte ältere Menschen. Die kommen alle ins Krankenhaus, und jemand muss da sein, um sie an die richtigen staatlichen Stellen weiterzuvermitteln, damit sie Hilfe bekommen.« Trotz der Bilder, die sie heraufbeschwor, wirkte ihr Ton kühl und gefasst. »Meine Aufgabe besteht darin, für die herausgebrochenen Zähne, blauen Augen, Rasiermesserschnittwunden und gebrochenen Rippen den richtigen Papierkram einzuleiten.«
Sie wartete auf mich, während sie eine Zigarette bis zum Filter herunterrauchte und dabei tief inhalierte. Als ich aus dem Schatten des Parkplatzes auf sie zukam, deutete ich auf die Zigarette.
»Wusste gar nicht, dass Sie rauchen.«
»Tu ich auch nicht.« Sie nahm einen weiteren langen Zug. »Nur hier. Zwei Nächte die Woche. Eine Zigarette zur Pause um Mitternacht. Nicht mehr. Wenn ich später heimkomme, werfe ich die restliche Packung weg. Kaufe jede Woche eine neue.«
Sie lächelte, auch wenn ihr Gesicht teilweise im Schatten lag. »Rauchen ist im Vergleich zu dem, was ich hier zu sehen bekomme, eine lässliche Sünde. Zum Beispiel ein Kind, dem der durchgeknallte Stiefvater systematisch sämtliche Finger gebrochen hat. Oder eine Mutter im achten Monat, die mit einem Metallkleiderbügel geschlagen worden ist. So was in der Art. Ganz alltäglich. Ganz normal. Überaus brutal. Einfach die übliche Gemeinheit, die als Leben durchgeht. Schon bemerkenswert, nicht wahr, wie grausam wir zueinander sein können?«
»Ja.«
»Also, was wollen Sie als Nächstes wissen?«, fragte sie.
»Scott, Sally und Hope waren nicht bereit, sich auf eine ungewisse Lage einzulassen, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf. Eine schrill heulende Krankenwagensirene drang durch die Nacht. Notfälle kündigen sich durch die unterschiedlichsten Geräusche an.