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Nameless

 

Als Hope zur Tür ihres Hauses hereinkam, klatschte sie instinktiv zwei Mal in die Hände. Prompt hörte sie das leise Tapsen von Pfoten aus dem Wohnzimmer, wo ihr Hund viel Zeit damit verbrachte, aus dem Panoramafenster zu starren, um auf ihre Heimkehr zu warten. Diese Geräusche waren ihr nur allzu vertraut: zuerst der dumpfe Plumps, wenn er von dem Sofa sprang, auf dem er sich in ihrer Gegenwart nicht erwischen lassen durfte, dann das leise Ratschen seiner Krallen auf dem Parkett, wo er bei seinem Ansturm jedes Mal den Orientteppich verrutschte, und schließlich der freudig erregte Sprint zur Eingangsdiele. Sie kannte die stürmische Begrüßung gut genug, um vorsorglich Zeitungen und Einkäufe abzustellen.

Was sonst ist so vorbehaltlos gefühlvoll wie die stürmische Begrüßung eines Hundes?, musste Hope unwillkürlich denken. Sie kniete sich hin und ließ sich von ihm das Gesicht abschlecken, während er mit dem Schwanz gegen die Wand trommelte. Und wenn die Welt untergeht, dachte sie, so weiß doch jeder Besitzer eines Hundes, dass der vor Glück wedeln wird, sobald man zur Tür hereinkommt. Ihrer war von seltsam gemischter Abstammung. Ein Tierarzt hatte gemeint, er sei der offensichtlich illegitime Spross eines Pitbulls und eines Golden Retrievers, was das eher kurze, blonde Fell zu der stupsigen Schnauze erklären würde, außerdem die unerschütterliche Treue ohne die hinterhältige Aggressivität und eine Intelligenz, die selbst sie zuweilen überraschte. Sie hatte ihn aus einem Tierheim geholt, wohin man ihn bereits als Welpen abgeschoben hatte, und als sie den Leiter nach seinem Namen fragte, erklärte der ihr nur, der Kleine sei sozusagen noch nicht getauft. So hatte sie ihn in einem Anfall übermütiger Kreativität Nameless genannt.

Als er noch jung war, hatte sie ihm beigebracht, am Ende einer Trainingseinheit aus der Schusslinie geratene Fußbälle zu apportieren, was bei den Mädchen unfehlbar für Heiterkeit sorgte, egal welche Mannschaft sie gerade trainierte. Nameless wartete dann geduldig und mit einem albernen Grinsen im Gesicht an der Bank, bis sie ihm Handzeichen gab. Dann flitzte er quer übers Feld, trieb jeden Ball einzeln auf, indem er ihn temporeich mit Schnauze und Vorderpfoten vor sich her rollte und zu ihr brachte, damit sie ihn in das große Netz stecken konnte. Sie erklärte den Mädchen, wenn sie lernten, so schnell wie Nameless zu sein, ohne den Ball zu verlieren, dann würden sie alle in der ersten Liga spielen.

Dafür war er inzwischen viel zu alt, er sah und hörte auch nicht mehr so gut und litt an einer milden Form von Arthritis. Ein Dutzend Bälle einzusammeln überstieg vermutlich seine Kräfte, und so kam er seltener zum Training mit. Sie mochte nicht an sein Ende denken; sie hatte ihn schon so lange, wie sie mit Sally Freeman zusammen war.

Sie musste oft denken, dass ohne den Welpen Nameless ihre Partnerschaft mit Sally vielleicht in die Brüche gegangen wäre. Der Hund hatte Ashley und sie gezwungen, sich irgendwie zu arrangieren. Für Hunde war so etwas offensichtlich ein Kinderspiel. Als Sally kurz nach der Scheidung bei ihr einzog, hatte die schmollende Ashley sie mit der ganzen Nichtachtung gestraft, zu der eine Siebenjährige fähig war. Nameless hatte die Wut und die verletzten Gefühle des Mädchens schlichtweg ignoriert und die Ankunft eines Kindes, besonders eines mit Ashleys Energie, freudig begrüßt. Also hatte Hope Ashley eingespannt, ihr beim Abrichten des Welpen zu helfen, was ihnen nur zum Teil gelang. So gelehrig er sich beim Apportieren zeigte, so begriffsstutzig gab er sich im Umgang mit dem Mobiliar. Und so hatten sie, indem sie über die Erfolge und Misserfolge des Hundes sprachen, ihr Verhältnis zunächst entkrampft, dann langsam eine Verständigungsbasis und schließlich so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit entwickelt, das ihnen dabei half, die anderen Barrieren zu durchbrechen, denen sie sich gegenübersahen.

Hope kraulte Nameless hinter den Ohren. Sie verdankte ihm viel mehr als er ihr. »Hunger?«, fragte sie. »Ein bisschen Hundefutter?«

Nameless bejahte mit einem Bellen. Blöde Frage an einen Hund, dachte Hope, die er aber zweifellos gerne hörte. Sie ging in die Küche und hob den Fressnapf vom Boden auf, während sie überlegte, was sie für Sally und sich zum Abendessen machen könnte. Etwas Interessantes, beschloss sie. Ein Stück wilden Lachs mit einer Fenchelcremesoße und Risotto. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und stolz darauf. Nameless saß da und fegte in freudiger Erwartung den Boden mit dem Schwanz. »Es geht mir nicht anders als dir«, sagte sie zu dem Hund. »Wir warten beide. Nur mit dem Unterschied, dass es bei dir eindeutig ums Fressen geht und ich nicht weiß, was auf mich zukommt.«

 

Scott Freeman sah sich um und dachte an die Momente im Leben, in denen die Einsamkeit einen vollkommen unerwartet traf.

Er war in einen etwas altersschwachen Queen-Anne-Lehnstuhl gesunken und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die durch die letzten herbstlichen Blätter an den Bäumen kroch. Er hatte ein paar Referate zu korrigieren, eine Vorlesung zu schreiben, einige Pflichtlektüren zu erledigen – das Manuskript eines Kollegen war von der University Press mit der Post gekommen, und er saß im Gutachtergremium; außerdem lagen ein gutes halbes Dutzend Anfragen von Hauptfachstudenten vor, die ihn bei der Wahl ihrer Kurse um Rat ersuchten.

Darüber hinaus steckte er bei einem eigenen Aufsatz fest, der sich mit einem seltsamen Kampfverhalten im amerikanischen Revolutionskrieg beschäftigte. Äußerste Brutalität wechselte dabei abrupt mit fast mittelalterlicher Ritterlichkeit, etwa als Washington mitten im Schlachtgetümmel von Princeton einem britischen General den verirrten Hund zurückgab.

Jede Menge Arbeit, dachte er. »Packen wir’s an«, sagte er laut, wenn auch nur zu sich selbst.

Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass es ihm nicht das Geringste bedeutete.

Er dachte darüber nach und korrigierte sich: Möglicherweise hatte es keine Bedeutung.

Das hing ganz davon ab, was er als Nächstes tat.

Er wandte den Blick vom schwindenden Tageslicht ab und las erneut den Brief, den er in Ashleys Kommode gefunden hatte. Er las jedes Wort zum hundertsten Mal und fühlte sich nicht minder in der Klemme als bei seiner Entdeckung. Dann ging er im Geist noch einmal sein Telefonat mit Ashley durch – jedes Wort, jede Nuance im Tonfall, jede kleinste Äußerung.

Scott lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er musste sich in Ashley hineinversetzen. Du wirst doch wohl deine eigene Tochter kennen, sagte er sich. Was geht hier bloß vor?

Die Frage hallte in seinen Gedanken nach.

Als Erstes, meldete sich beharrlich eine innere Stimme, musste er herausfinden, wer den Brief geschrieben hatte. War das geschafft, konnte er sich ein Bild von dem Menschen machen, ohne sich in das Leben seiner Tochter einzumischen. Wenn er geschickt vorging, dachte er, konnte er zu einem Ergebnis kommen, ohne jemand anderen mit einzubeziehen, das heißt, ohne sich an jemanden zu wenden, der Ashley verraten würde, dass er seine Nase in ihre Angelegenheiten steckte. Fand er, wie er hoffte, heraus, dass der Brief lediglich irritierend und unangemessen war, konnte er sich entspannen und es Ashley selbst überlassen, den lästigen Verehrer aus ihrem Leben zu verbannen.

Vermutlich, sagte er sich, brauchte er nicht einmal Ashleys Mutter und ihre Lebenspartnerin einzuschalten, was eindeutig seinen Wünschen entsprach.

Die Frage war nur, wo er anfangen sollte.

Für ihn lag ein großer Vorzug des Geschichtsstudiums darin, die Handlungsmuster herauszuarbeiten, denen große Männer im Lauf der Jahrhunderte gefolgt waren. Scott war sich seiner stillen romantischen Ader bewusst, der Vorstellung etwa, in einer scheinbar hoffnungslosen Lage nicht aufzugeben, sondern zu kämpfen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Das spiegelte sich auch in seinen Lieblingsfilmen und -romanen. Diese Geschichten waren von einem gewissen kindlichen Zauber, der über die Brutalität der tatsächlichen historischen Ereignisse triumphierte. Historiker sind Pragmatiker. Kaltblütig berechnend. Die Ardennenschlacht war für sie der reine Irrsinn, mochten Schriftsteller und Filmemacher sie noch so verklären. Historiker hatten einen schärferen Blick für die Frostbeulen, die Blutlachen, die am Boden gefrieren, die Hilflosigkeit und dumpfe Verzweiflung der Beteiligten.

Er war davon überzeugt, dass er einiges von dieser hochfliegenden romantischen Ader an Ashley weitergegeben hatte. Jedenfalls hatte sie die Begeisterung für Geschichten mit ihm geteilt und sich stundenlang in Unsere kleine Farm oder in die Romane von Jane Austen vertieft. Möglicherweise rührte ihre Zutraulichkeit zumindest teilweise daher.

Mit einem Mal hatte er einen beißenden Geschmack auf der Zunge, als hätte er etwas Bitteres getrunken. Er hasste den Gedanken, dass er ebenso zu ihrer Vertrauensseligkeit wie ihrer Unabhängigkeit beigetragen hatte, denn genau diese Eigenschaften an ihr machten ihm jetzt schwer zu schaffen.

Scott schüttelte den Kopf und wies sich laut zurecht: »Du greifst den Dingen mächtig vor. Bis jetzt weißt du noch herzlich wenig, so gut wie nichts, um genau zu sein …«

Fang mit den einfachen Dingen an, befahl er sich. Sieh zu, dass du den Namen herausfindest.

Die Frage war nur, wie er das schaffen konnte, ohne dass seine Tochter etwas bemerkte. Er musste sich einmischen, durfte sich aber nicht erwischen lassen.

Ein bisschen fühlte er sich wie ein Krimineller, als er sich umdrehte und die Treppe des kleinen Holzständerhauses zu Ashleys altem Zimmer hochstieg. Ihm schwebte eine gründlichere Suche vor, bei der er – wie er hoffte – auf verräterische Details stoßen würde, die ihn über den Brief hinaus Stück für Stück weiterführten. Er hatte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er durch die Tür ins Zimmer trat und sich fragte, wieso er die Privatsphäre seiner Tochter verletzen musste, um mehr über sie zu erfahren.

 

Sally Freeman-Richards sah beim Abendessen von ihrem Teller auf und sagte träge: »Ich hab heute Nachmittag einen ziemlich seltsamen Anruf von Scott bekommen.«

Hope brummte etwas und griff nach dem Sauerteigbrot. Sie kannte Sallys Gewohnheit, ihr etwas auf umständlichem Weg zu erzählen. Manchmal hatte Hope das Gefühl, dass Sally ihr selbst nach so vielen Jahren ein Rätsel blieb. Bei Gericht konnte sie so kraftvoll und aggressiv sein, in der Privatsphäre des Hauses dagegen geradezu schüchtern. Hope sah eine Reihe von Widersprüchlichkeiten in ihrer beider Leben, und Widersprüchlichkeiten sorgen im Allgemeinen für Spannungen.

»Er scheint beunruhigt …«, setzte Sally an.

»Beunruhigt wegen was?«

»Wegen Ashley.«

Hope legte das Messer neben ihren Teller. »Ashley? Warum das?«

Sally zögerte einen Moment. »Offenbar hat er in ihren Sachen gekramt und ist dabei auf einen Brief gestoßen, der ihm Sorgen macht.«

»Was hat er in ihren Sachen zu kramen?«

»Das wollte ich auch als Erstes wissen. Ich sehe, wir verstehen uns.«

»Und?«

»Na ja, er hat ausweichend geantwortet. Er wollte mit mir über den Brief reden.«

Hope zuckte die Achseln. »Na schön, was ist mit dem Brief?« Sally überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Also, hast du schon mal, ich meine, an der Highschool oder am College oder sonst irgendwann, einen Liebesbrief bekommen, du weißt schon, so ein Bekenntnis tiefster Hingabe, Liebe und ewiger Leidenschaft, so im Stil von: Ich kann nicht leben ohne dich?«

»Hm, nein, so etwas hab ich nie bekommen. Allerdings gab es vielleicht besondere Gründe, weshalb ich leer ausgegangen bin. So etwas hat er also gefunden?«

»Ja. Eine Liebesbeteuerung.«

»Klingt doch ziemlich harmlos. Und was hat ihn deiner Meinung nach daran so irritiert?«

»Etwas im Ton, denke ich.«

»Geht’s ein bisschen genauer?«, hakte Hope nach, einen Hauch gereizt.

Sally überlegte sich gut, was sie darauf antwortete – die Umsicht einer Rechtsanwältin. »Es wirkte wohl, ich weiß nicht, besitzergreifend. Und vielleicht ein bisschen manisch. So etwas wie: Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich auch kein anderer kriegen. Vermutlich hört er das Gras wachsen.«

Hope nickte. Auch sie wog ihre Worte ab. »Vermutlich, ja«, sagte sie. »Andererseits«, fügte sie zögernd hinzu, »wäre es wohl ein fatalerer Fehler, einen solchen Brief zu unterschätzen, oder?«

»Du meinst, Scott ist zu Recht beunruhigt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich denke nur, dass es sich selten auszahlt, etwas zu ignorieren.«

Sally lächelte. »Jetzt klingst du wie die Schulpsychologin.«

»Ich bin Schulpsychologin. Es ist demnach nicht allzu abwegig, wenn ich ab und zu auch so klinge.«

Sally schwieg. »Ich wollte nicht, dass wir uns darüber streiten.«

Hope nickte. »Natürlich.« Sie war nicht sicher, ob sie es auch so meinte, aber es war die klügste Reaktion.

»Immer wieder habe ich das Gefühl, dass jedes Gespräch, in dem Scotts Name fällt, zu einem läppischen Streit ausartet«, sagte Sally. »Selbst nach all den Jahren noch.«

Hope schüttelte den Kopf. »Also, reden wir einfach nicht über Scott. Schließlich geht er uns nicht mehr viel an, nicht wahr? Aber er geht Ashley eine Menge an, wir sollten ihn folglich in diesem Zusammenhang sehen. Und selbst wenn Scott und ich uns nicht allzu gut verstehen, heißt das noch lange nicht, dass ich ihn automatisch für übergeschnappt halte.«

»Okay«, sagte Sally, »logisch. Aber der Brief …«

»Hattest du in letzter Zeit das Gefühl, dass Ashley geistesabwesend oder distanziert wirkte oder sonst irgendwie anders?«, fragte Hope.

»Du weißt so gut wie ich, dass die Antwort nein lautet. Es sei denn, mir wäre was entgangen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so gut darin bin, bei jungen Frauen unterschwellige Gefühlsregungen aufzuspüren.« Hope stellte die Bemerkung in den Raum, obwohl sie wusste, dass das Gegenteil der Fall war.

»Wieso traust du es mir dann zu?«

Hope zuckte die Achseln. Das ganze Gespräch nahm einen falschen Verlauf, und sie konnte nicht sagen, ob sie schuld daran war. Sie betrachtete Sally über den Esstisch hinweg und stellte fest, dass zwischen ihnen eine Spannung herrschte, die sie nicht recht benennen konnte. Es war, als betrachtete sie in Stein gemeißelte Hieroglyphen. Sie vermittelten eine klare Bedeutung, aber Hope konnte sie nicht entziffern.

»Hast du bei Ashley irgendeine Veränderung bemerkt, als sie das letzte Mal da war?«

Während Hope auf eine Antwort wartete, ließ sie Ashleys letzten Besuch noch einmal Revue passieren. Ashley war mit dem üblichen Wirbel, Selbstvertrauen und vollem Terminkalender hereingeschneit. Manchmal fühlte man sich in ihrer Nähe, als müsste man sich im Zentrum eines Hurrikans am Stamm einer Palme festhalten. Tempo gehörte zu ihrem Wesen.

Sally schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat alles Mögliche gemacht, hat sich mit Leuten getroffen. Freunde von der Highschool, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Für ihre öde alte Mama blieb eigentlich kaum eine Sekunde übrig. Oder auch für die Lebensgefährtin ihrer öden alten Mama. Und für ihren öden alten Papa wohl auch nicht mehr.«

Hope nickte.

Sally schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Sehen wir einfach, was kommt. Wenn Ashley ein Problem hat, wird sie bestimmt anrufen und uns um Rat oder Hilfe bitten. Wir sollten nicht die Flöhe husten hören, einverstanden? Eigentlich bereue ich, dass ich das Thema angeschnitten habe. Ist auch bloß, weil Scott so aufgeregt war. Aufgeregt ist nicht das richtige Wort. Er war besorgt. Ich glaube, er wird mit zunehmendem Alter ein bisschen paranoid. Was sag ich, wir alle, oder etwa nicht? Und Ashley, die hat Energie für zwei. Am besten gehen wir einfach aus der Schusslinie und lassen sie ihre Dinge selbst regeln.«

Hope nickte. »Aus dir spricht mütterliche Weisheit«, sagte sie. Sie fing an, den Tisch abzuräumen, doch als sie nach einem langstieligen Weinglas griff, knickte ein Stück des Stiels ab und zerbrach auf dem Boden. Sie merkte, dass sie an der Kuppe ihres Zeigefingers blutete. Einen Moment lang sah sie zu, wie das Blut in den Handteller lief und im Takt ihres Herzschlags neue Tropfen hervorquollen.

 

Sie sahen noch ein bisschen fern, dann erklärte Sally, sie wolle ins Bett. Es war nur eine Feststellung, keine Einladung, nicht einmal begleitet von dem obligatorischen Kuss auf die Wange. Hope sah kaum von den College-Aufsätzen hoch, die sie korrigierte. Immerhin fragte sie Sally, ob sie in den kommenden Wochen Zeit hätte, sich ein, zwei Spiele anzusehen. Sally gab nur eine unverbindliche Antwort, während sie zum Schlafzimmer im zweiten Stock hochging.

Hope ließ sich aufs Sofa sinken, sah Nameless herüberschlurfen und lud ihren Hund mit einem Klaps der flachen Hand auf das Polster ein, sich neben sie zu legen. Das tat sie nur, weil Sally nicht da war, die Nameless’ nonchalante Einstellung zum Mobiliar nicht schätzte. Sally liebte klare Verhältnisse, ging es Hope durch den Kopf. Hunde auf dem Boden, Menschen auf dem Sofa. So wenig Unordnung wie möglich. Das war die Rechtsanwältin in ihr. Es war schließlich ihr Beruf, Unklarheiten zu beseitigen; Konflikte zu bereinigen und in eine Situation Vernunft einkehren zu lassen; Regeln und Richtlinien zu formulieren, Strategien zu entwickeln und Dinge unzweideutig zu definieren.

Hope war sich längst nicht so sicher, ob Organisation tatsächlich Freiheit bedeutete.

Sie liebte ein bisschen Durcheinander im Leben und hatte einen gewissen rebellischen Zug.

Gedankenverloren beugte sie sich vor und streichelte Nameless über das Fell, und er klopfte ein paar Mal mit dem Schwanz gegen das Sofa, während er die Augen verdrehte. Sie hörte Sally rumoren, dann sah sie, wie der Schatten, den das Schlafzimmerlicht auf die Treppe warf, verschwand.

Hope legte den Kopf zurück und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihre Beziehung womöglich in größeren Schwierigkeiten steckte, als sie sich vorstellen konnte, auch wenn sie nicht hätte sagen können, wieso. Fast das gesamte letzte Jahr hindurch hatte sie das Gefühl gehabt, als sei Sally innerlich woanders, und zwar die ganze Zeit.

Sie fragte sich, ob sich jemand ebenso schnell entlieben wie verlieben konnte. Sie atmete langsam aus und wechselte von ihren Ängsten bezüglich ihrer Lebensgefährtin zu ihren Ängsten um Ashley.

Sie kannte Scott nicht besonders gut und hatte in den fünfzehn Jahren vielleicht ganze sechs Mal mit ihm gesprochen, was, wie sie einräumte, schon seltsam war. Das Bild, das sie sich von ihm machte, stützte sich auf das, was Sally und Ashley über ihn sagten. Jedenfalls hielt sie ihn nicht für einen Menschen, der zu übereiltem Handeln neigte, schon gar nicht, wenn es um etwas so Banales wie einen anonymen Liebesbrief ging. Bei ihren Tätigkeiten als Trainerin wie auch als Schulpsychologin war Hope schon mit so vielen bizarren und gefährlichen Beziehungen konfrontiert worden, dass sie dazu neigte, die Sache ernst zu nehmen.

Sie klapste noch einmal einladend mit der flachen Hand auf den Platz neben ihr, doch Nameless rührte sich kaum.

Es war zu abgedroschen, musste sie unwillkürlich denken, wenn jemand mit ihrer sexuellen Ausrichtung allen Männern misstraute. Andererseits wusste sie, welchen Schaden ein Mensch anrichten konnte, der sich emotional in etwas verrannte, besonders ein junger Mensch.

Sie hob den Kopf und blickte zur Decke, als könne sie durch den Putz und die Hartfaserplatte hindurchsehen und erfahren, was Sally gerade dachte. Hope wusste, dass Sally Schlafprobleme hatte. Wenn sie endlich eingenickt war, warf sie sich hin und her und schien von lebhaften Träumen heimgesucht zu werden.

Ob auch Ashley schwer einschlafen kann?, fragte sich Hope. Es wäre wohl besser, dieser Frage nachzugehen, sie wusste nur nicht, wie.

Hope hatte keine Ahnung, dass genau zur selben Zeit auch Scott wach lag und sich mit dem gleichen Dilemma quälte.

 

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Boston hat etwas von einem Chamäleon, das unterscheidet es von anderen Städten. An einem strahlenden Sommermorgen pulsiert es vor Energie und Erfindungsreichtum. Es strotzt vor Gelehrsamkeit und Kontinuität, es atmet den Hauch der Geschichte. Es strahlt eine Heiterkeit aus, die unbegrenzte Möglichkeiten verspricht. Doch man braucht nur dieselben Häuserzeilen entlangzugehen, wenn sich die Nebelschwaden vom Hafen herüberwälzen oder wenn klirrender Frost in der Luft liegt oder wenn der schmutzige Schnee von gestern an den Straßenrändern liegt, und Boston präsentiert sich als ein unwirtlicher, kalter Ort von einer abweisenden Düsternis und Härte.

Ich betrachtete den spätnachmittäglichen Schatten, der langsam über die Dartmouth Street kroch, und fühlte, wie vom Charles River heiße Luft herüberwehte. Von meinem Standort aus konnte ich den Fluss nicht sehen, auch wenn ich wusste, dass mich nur ein paar Häuserblocks von ihm trennten. Ich hatte es nicht weit bis zur Newbury Street mit ihren modischen Geschäften und exklusiven Galerien. Auch The Berklee School of Music, um die sich ehrgeizige Musiker jedweder Richtung scharten, war ganz in der Nähe: Auf den angrenzenden Bürgersteigen begegneten sich aufstrebende Punkrocker, Folk-Sänger und Konzertpianisten. Lange Künstlermähnen, hochgegelte Stacheln, ungepflegte Strähnen. Dazwischen ein Obdachloser, im Schatten mit dem Rücken an die Wand einer schmalen Gasse gelehnt, der leise Selbstgespräche führte und unentwegt vor und zurück wippte – vor und zurück, vor und zurück. Während ich mich zum Gehen wandte, hörte er womöglich viele Stimmen, vielleicht aber auch nur die sehnsüchtigen Forderungen einer einzigen, wer konnte das sagen. Nicht weit von mir hupte ein BMW, als ein paar Studenten, von der Sonne geblendet, einfach auf die Straße liefen. Kurz darauf beschleunigte er mit quietschenden Reifen.

Für einen Moment blieb ich stehen. Das Einmalige an Boston war, dass es für die unterschiedlichsten Strömungen offenblieb und sie alle in sich vereinte. Es war, kam mir plötzlich in den Sinn, nicht verwunderlich, dass Michael O’Connell sich an einem Ort zu Hause fühlte, der einem eine solche Auswahl an Identitäten bot. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich ihn noch nicht besonders gut, aber ich hatte immerhin eine leise Ahnung, wie er tickte.

Natürlich sah sich Ashley Freeman dem gleichen Rätsel gegenüber.