24
Einschüchterung
Er ging davon aus, dass ein zusätzlicher Tag, den er in Michael O’Connell investierte, mehr als angemessen war.
Es gab eine Reihe bedeutend schwierigerer Fälle, um die sich Matthew Murphy kümmern musste: Er hatte Fotos von heimlichen Affären zu liefern, Belege für Steuerhinterziehung zu überprüfen, Leute zu beschatten, Leute zu stellen, Leute zu befragen. Er wusste, dass Sally Freeman-Richards nicht zu den betuchteren Anwälten in der Gegend zählte; bei ihr stand keine BMW- oder Mercedes-Limousine vor dem Haus; und ihm war klar, dass seine bescheidene Rechnung einen Anstandsrabatt ausweisen würde. Vielleicht war die Gelegenheit, dem Dreckskerl einen gehörigen Denkzettel zu verpassen, zehn Prozent wert. Wann hatte er denn schon mal Gelegenheit, wie in den guten alten Zeiten einen Typen in die Mangel zu nehmen? Es ging doch nichts über das Vergnügen, den harten Burschen herauszukehren und die alte Pumpe mit einem ordentlichen Adrenalinstoß so richtig auf Trab zu bringen, dachte er.
Er stellte den Wagen zwei Häuserblocks von O’Connells Wohnung entfernt in einem Parkhaus ab, wo er mehrere Decks hochgefahren war, bis er sich unbeobachtet fühlen konnte. Dann öffnete er seinen Kofferraum. Jeweils in einem eigenen Matchbeutel hielt er eine Reihe von Waffen bereit. In der langen roten Tasche befand sich ein vollautomatisches Gewehr, ein Colt AR-15, mit einem Zweiundzwanzig-Schuss-Bananenmagazin. Das gute Stück diente ihm dazu, schnell und zügig den Rückzug anzutreten, wenn es richtig großen Ärger gab, denn die wurde mit jedem Problem fertig. In der kleineren gelben hatte er eine Automatik .380 in einem Schulterhalfter. In einer dritten, schwarzen, verbarg sich ein Revolver .357 mit fünfzehn Zentimeter langem Lauf und teflonbeschichteten Geschossen, die man Cop-Killer nannte, weil sie durch die bei den meisten Polizeieinheiten üblichen kugelsicheren Westen drangen.
Für den anstehenden Auftrag hielt er die .380 für die richtige Wahl. Er konnte noch nicht sagen, ob es genügen würde, sie O’Connell zu zeigen, wozu er nur die Anzugjacke offen zu tragen brauchte. Matthew Murphy war in allen Einschüchterungsmethoden versiert.
Er zog sich das Schulterhalfter über, schlüpfte in ein Paar dünne Lederhandschuhe und übte ein, zwei Mal das altvertraute, schnelle Ziehen der Waffe. Als Murphy sich davon überzeugt hatte, dass er noch über die alte Geschicklichkeit verfügte, machte er sich auf den Weg. Eine leichte Brise wirbelte den Dreck zu seinen Füßen auf. Es herrschte noch gerade genügend Tageslicht, um gegenüber O’Connells Gebäude die passende dunkle Stelle zu finden, und als er sich mit dem Rücken an eine Ziegelwand schmiegte, flackerten die ersten Straßenlaternen auf. Zwar hoffte er, dass es nicht zu lange dauern würde, doch er war ein geduldiger Mann und ans Warten gewöhnt.
Scott hatte das dringende Bedürfnis, sich selbst auf die Schulter zu klopfen.
Auf dem Anrufbeantworter war bereits eine Nachricht von Ashley, die seinen labyrinthischen Anweisungen gefolgt und sicher bei Catherine in Vermont gelandet war. Mit der Entwicklung der letzten Tage konnte er überaus zufrieden sein.
Die Football-Jungs waren zurückgekehrt, nachdem sie Ashleys Sachen in Medford eingelagert hatten. Dabei hatte Scott erfahren, dass wie vermutet ein Mann, dessen Beschreibung auf O’Connell passte, tatsächlich Fragen gestellt und mit einer offensichtlich erfundenen Geschichte verbrämt hatte, bevor er weitergezogen war. Doch seine Erkundigungen waren ins Leere gestoßen. Er würde einem Phantom nachjagen. Die Auskünfte würden im Sande verlaufen.
»Damit hast du wohl nicht gerechnet, Scheißkerl«, triumphierte Scott laut.
Er stand im kleinen Wohnzimmer seines Hauses und legte auf dem abgewetzten Orientteppich ein Tänzchen hin. Im nächsten Moment griff er nach der Fernbedienung seiner Stereoanlage und drückte so lange auf die Knöpfe, bis Jimi Hendrix mit Purple Haze aus den Lautsprechern donnerte.
Als Ashley klein gewesen war, hatte er ihr den altertümlichen Ausdruck beigebracht, eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen, und so kam sie damals, wenn er bei der Arbeit war, und fragte: »Können wir eine kesse Sohle aufs Parkett legen?« Dann brachte er ihr zu seiner Sechziger-Jahre-Musik die alten Modetänze The Frug, The Swim und den F. S. F. bei, die für seinen Geschmack als Erwachsener zu den lächerlichsten Bewegungen gehörten, die sich das Gehirn des Homo faber seit Menschengedenken hatte einfallen lassen. Dann kicherte sie jedes Mal und ahmte ihn nach, bis sie mit kindlichen Lachanfällen zu Boden fiel. Doch selbst dann besaß Ashley noch eine Anmut, die ihn in Erstaunen versetzte. Nie war etwas Unbeholfenes oder Holpriges an ihren Schritten; für ihn war es immer Ballett gewesen. Er wusste, dass er einfach hingerissen war, so wie es Vätern nun mal mit ihren Töchtern erging, doch er hatte seine Wahrnehmung einer kritischen, akademischen Prüfung unterzogen, die ihn darin bestärkte, dass nichts jemals so schön sein konnte wie sein Kind.
Scott atmete aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Michael O’Connell sie jemals in Vermont vermuten sollte. Jetzt, dachte Scott, mussten sie nur noch einige Zeit verstreichen lassen, in einer anderen Stadt ihr weiteres Studium neu organisieren und Ashley einfach da anknüpfen lassen, wo sie aufgehört hatte. Ein kleiner Rückschlag, vielleicht ein verlorenes halbes Jahr, um größere Probleme abzuwenden.
Scott hob den Kopf und sah sich im Wohnzimmer um.
Er fühlte sich plötzlich allein und wünschte sich, es wäre jemand bei ihm, mit dem er seine Hochstimmung hätte teilen können. Keine seiner Eroberungen aus jüngster Zeit, mit denen er essen und auch schon mal ins Bett ging, erfüllte diesen Zweck. Seine eigentlichen Freunde am College waren eingefleischte Akademiker, und er glaubte nicht, dass auch nur einer von ihnen ihm hätte nachempfinden können, was er durchlebte. Nicht eine Sekunde.
Er runzelte die Stirn. Der einzige Mensch, dem er sich wirklich mitgeteilt hatte, war Sally gewesen. Und sie würde er jetzt nicht anrufen. Gerade jetzt nicht.
Tiefste Verbitterung wallte einen Moment lang in ihm auf.
Sie hatte ihn verlassen, um mit Hope zusammenzuziehen. Es war ein klarer Schnitt gewesen. Von einem Augenblick auf den anderen. Taschen und Koffer, die gepackt in der Diele standen, während er um die richtigen Worte rang, obwohl er wusste, dass es die nicht gab. Er hatte gewusst, dass sie unglücklich war. Er hatte gewusst, dass sie sich unerfüllt fühlte und dass Zweifel an ihr nagten. Doch er hatte angenommen, das hinge mit ihrer Karriere zusammen oder mit einer Art Midlife-Crisis oder auch nur mit der Langeweile der selbstgenügsamen liberalen, akademischen Welt, in der sie sich zusammen eingerichtet hatten. Das alles war nachvollziehbar, man konnte darüber diskutieren, es einordnen und begreifen. Völlig unbegreiflich war ihm dagegen, dass alles, was einmal gegolten hatte, mit einem Mal eine Lüge sein sollte.
Einen Moment lang stellte er sich Sally mit Hope im Bett vor. Was kann sie ihr geben, das ich ihr nicht geben konnte?, fragte er sich und merkte im selben Augenblick, dass dies eine überaus gefährliche Frage war und er die Antwort darauf lieber nicht wissen wollte.
Er schüttelte den Kopf. Die Ehe war eine Lüge gewesen, dachte er. Sämtliche Liebesbeteuerungen und der Wunsch, fürs Leben zusammenzubleiben, waren gelogen. Das einzig Wahre, das aus alledem hervorgegangen war, das war Ashley, und selbst da war er sich letztlich nicht sicher. Hat sie mich geliebt, als wir sie empfangen haben? Hat sie mich geliebt, als sie mit ihr schwanger war? Wusste Sally bei Ashleys Geburt, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte? Oder kam das ganz plötzlich? Oder hat sie es die ganze Zeit gewusst und es nur nicht wahrhaben wollen? Er senkte den Kopf und überließ sich der Flut von Bildern, die ihn bedrängten. Wie Ashley am Strand spielt. Wie Ashley in den Kindergarten geht. Wie Ashley ihm zum Vatertag eine Karte über und über mit Blumen bemalt. Die klebte immer noch an der Wand in seinem Büro. Wusste es Sally während all dieser Momente? Zu Weihnachten und an Geburtstagen? Bei Halloween-Kinderfesten und beim Ostereiersuchen? Er wusste es nicht, doch er wusste, dass der Waffenstillstand, der nach der Scheidung zwischen ihnen herrschte, ebenfalls eine Lüge war, wenn auch eine wichtige, um Ashley zu schützen. Sie hatten von Anfang an erkannt, dass sie die Verletzlichste von ihnen war, dass sie am meisten zu verlieren hatte. Scott und Sally war in all den Tagen, Monaten und Jahren das, was auf dem Spiel stand, längst abhanden gekommen. Er wiederholte in Gedanken den Satz: Sie ist jetzt in Sicherheit.
Scott ging zu einem Schränkchen und holte ein Flasche Scotch heraus. Er goss sich etwas davon in ein Glas, nahm einen Schluck, ließ die bittere, bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam die Kehle hinunterlaufen und erhob das Glas zu einem spöttischen, einsamen Trinkspruch: »Auf uns«, sagte er. »Auf uns alle. Was immer das bedeuten mag.«
Auch Michael O’Connell dachte an Liebe. Er stand an einem Tresen und hatte ein Gläschen Schnaps in einen Krug Bier gekippt und leerte ihn in einem Zug, um die Sinne abzustumpfen. Er merkte, wie er innerlich kochte, und ihm wurde klar, dass keine Droge und kein Drink die Spannung dämpfen konnten, die sich in ihm staute. So viel er auch trinken mochte, war er zu einer widerwärtigen Nüchternheit verdammt.
Er starrte auf den Krug, der vor ihm auf dem Tresen stand, schloss die Augen und ließ die blanke Wut an seinen Herzwänden und seinen Phantasien scheppernd widerhallen. Er hasste es, ausmanövriert, kaltgestellt oder für dumm verkauft zu werden. Folglich stand die Bestrafung der Menschen, die ihm das angetan hatten, auf seiner Tagesordnung ganz oben. Wie hatte er nur glauben können, die bescheidenen Internetprobleme, die er ihnen bereitet hatte, würden genügen. Ashleys Familie, das wusste er jetzt, brauchte wohl eine Reihe weitaus ernsterer Lektionen. Sie hatten ihn um etwas betrogen, das sie ihm schuldig waren.
Je mehr O’Connell innerlich kochte, wenn er an die Beleidigung dachte, die sie ihm zugefügt hatten, desto mehr malte er sich Ashley aus. Er dachte an ihr rotblondes Haar, das ihr weich und vollkommen um die Schultern fiel. In seiner Vorstellung konnte er jede Einzelheit ihres Gesichts nachzeichnen und wie ein Künstler mit allen Schatten modellieren, besonders das Lächeln, das sie ihm schenkte, und die Augen mit diesem einladenden Blick. Seine Gedanken glitten ihren Körper hinab, verweilten an jeder Kurve, der Sinnlichkeit ihrer Brüste, dem sanften Schwung ihrer Hüfte. Er sah im Geist ihre Beine neben sich ausgestreckt, und während er in das schummrige Licht der Bar starrte, merkte er, wie ihn seine Phantasien erregten. Er rutschte auf seinem Barhocker hin und her und dachte daran, was für eine ideale Frau Ashley war – aber andererseits auch wieder nicht, weil sie diesen Schlag ins Gesicht gegen ihn ausgeheckt hatte. Diesen Hieb gegen sein Herz. Während der Alkohol seine Emotionen entfesselte, spürte er, wie die Antwort lauten musste; keine Zärtlichkeiten, kein tastendes Erkunden, dachte er kalt. Tu ihr weh, so wie sie dir weh getan hat. Nur so konnte er ihr ganz und gar begreiflich machen, wie sehr er sie liebte.
Wieder rückte er sich auf seinem Sitz zurecht. Er war jetzt vollends entbrannt.
Einmal hatte er in einem Roman gelesen, dass die Krieger gewisser afrikanischer Stämme sexuell erregt in die Schlacht gezogen waren, um sich – den Schild in der einen Hand, den Speer in der anderen und eine Erektion zwischen den Beinen – auf den Feind zu stürzen.
Das gefiel ihm.
Er gab sich keine Mühe, die Wölbung in seiner Hose zu kaschieren, als er sein leeres Glas wegschob und von seinem Hocker aufstand. Einen Moment lang hoffte er sogar, dass jemand hinstarren und eine Bemerkung fallenlassen würde. Er wünschte sich in dieser Sekunde nichts so sehr wie eine Prügelei.
Doch niemand beachtete ihn. Ein wenig enttäuscht durchquerte er den Raum und trat auf die Straße. Es war Nacht geworden, und eine eisige Kälte schlug ihm ins Gesicht. Das bewirkte allerdings wenig, um seine Phantasie abzukühlen. Er stellte sich vor, wie er sich über Ashley beugte, in sie hineinstieß und jede Höhlung, jede Spalte, jeden Zentimeter ihres Körpers für seine eigene Lust ausschöpfte. Er hörte die Laute, die sie von sich gab, und ihm war es gleich, ob sie dabei vor Begierde stöhnte und schrie oder ob sie vor Schmerz zu schluchzen begann. Liebe und Verletzung, dachte er, eine Zärtlichkeit und eine Ohrfeige waren letztlich dasselbe.
Trotz der Kälte öffnete er die Jacke und knöpfte sich das Hemd auf, um sich die kühle Luft über den Körper streichen zu lassen, während er im Gehen den Kopf zurückwarf und gierig Atem holte. Die Kälte richtete gegen das brennende Verlangen nichts aus. Liebe ist wie eine Krankheit, dachte er. Ashley war wie ein Virus, der sich ungehemmt in seiner Blutbahn ausbreitete. In dieser Sekunde begriff er, dass er nie wieder ohne sie sein würde. Nicht für eine Sekunde seines Lebens. Während er weiterlief, wurde ihm klar, dass er seine Liebe zu Ashley nur unter Kontrolle bringen konnte, indem er Ashley unter seine Kontrolle brachte. Noch nie war ihm etwas so klar gewesen.
Michael O’Connell bog um die Ecke in die Straße ein, in der seine Wohnung lag, während in seinem Kopf die Bilder aus Lust und Gewalt in einer gefährlichen Mischung aus Blut und Begierde brodelten, und so war er nicht so aufmerksam wie sonst, als er hinter sich eine leise Stimme hörte.
»Komm mit, O’Connell, reden wir ein paar Takte.« Er fühlte einen eisernen Griff an seinem Oberarm.
Matthew Murphy hatte O’Connell mühelos erkannt, als er durch den Lichtkegel einer Straßenlaterne lief. Er war aus dem Schatten gehuscht und im nächsten Moment hinter ihm gewesen. Murphy war in diesen Methoden versiert, und sein in fünfundzwanzig Jahren Polizeidienst geschulter Instinkt sagte ihm, dass O’Connell ein Neuling war, wenn es um schwere Delikte ging.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, stammelte O’Connell.
»Ich bin dein beschissenster Alptraum, du Arschloch. Und jetzt mach schon die Tür auf und lass uns hübsch still und leise in deine Bruchbude raufgehen, damit ich dir auf halbwegs manierliche Art stecken kann, was Sache ist und wo’s für dich langgeht, ohne dass ich gleich Hackfleisch oder Schlimmeres aus dir mache. Und das willst du doch nicht, O’Connell, oder? Wie nennen dich deine Freunde? OC? Oder vielleicht einfach nur Mike, hey?«
O’Connell wollte sich aus dem Schraubstock winden, doch das verstärkte nur den Druck, und so gab er auf. Bevor er antworten konnte, ließ Murphy eine zweite Kanonade Fragen los.
»Vielleicht hat Michael O’Connell ja keine Freunde, folglich auch keinen Spitznamen. Weißt du was, Mikeyboy, ich lass mir selbst was einfallen, während wir hochgehen. Denn, glaub mir, du wirst dir wünschen, mich zum Freund zu haben, und zwar mehr, als du dir jemals irgendetwas auf der Welt gewünscht hast. Im Moment, Mikeyboy, gibt es absolut nichts Wichtigeres für dich, als dafür zu sorgen, dass ich dein Freund bleibe. Geht das in deinen Schädel?«
O’Connell stöhnte vor Schmerz, als er versuchte, sich weit genug umzudrehen, um Murphy ins Blickfeld zu bekommen, doch der ehemalige Bulle hielt sich genau hinter ihm und flüsterte ihm ins Ohr, ohne den Druck auf seinen Arm und in den unteren Rücken auch nur einen Moment zu lockern, während er ihn vorwärtsschob.
»Rein mit dir. Die Treppe hoch. Ab in deine Wohnung, Mikeyboy. Damit wir in aller Ruhe reden können.«
Und so stolperte O’Connell im unnachgiebigen Griff von Matthew Murphy durch die Haustür und zum zweiten Stock hinauf, ohne dass der beißende Spott an seinem Ohr auch nur einen Moment verstummte.
Als sie O’Connells Tür erreichten, packte Murphy noch fester zu, und der alte Hase spürte, wie sein Opfer vor Schmerz zusammenzuckte.
»Und noch was, Mikeyboy. Wenn wir Freunde sein sollen, dann darfst du mich nicht wütend machen. Dann solltest du alles daransetzen, dass ich nicht die Beherrschung verliere. Sonst zwingst du mich vielleicht, etwas zu tun, das du hinterher bereust, wenn du noch Gelegenheit hast, etwas zu bereuen, was ich sehr bezweifeln möchte. Verstehst du? Und jetzt hübsch langsam die Tür auf, wenn ich bitten darf.«
Als O’Connell es geschafft hatte, den Schlüssel aus seiner Tasche zu holen und ins Schloss zu stecken, warf Murphy einen Blick in den Flur und sah die nachbarliche Katzenmenagerie in die Ecken flitzen. Eine buckelte sogar und fauchte in O’Connells Richtung.
»Nicht allzu beliebt hier in der Gegend, was, Mikeyboy?«, stellte Murphy fest und verdrehte dem jungen Mann erneut den Arm. »Hast du was gegen Katzen? Haben die was gegen dich?«
»Wir verstehen uns nicht besonders«, stöhnte O’Connell.
»Ich bin nicht überrascht«, sagte Murphy und schubste den Jüngeren hinterhältig, so dass er in die Wohnung taumelte. O’Connell stolperte über einen fadenscheinigen Teppich am Boden. Stürzte nach vorn und schlug unsanft gegen eine Wand. Er wollte sich umdrehen und endlich den ersten Blick auf Murphy werfen.
Doch der Detektiv war für einen Mann im mittleren Alter erstaunlich agil; er beugte sich wie ein spöttisch grinsendes mittelalterliches Fabelwesen an einer Kirche über ihn und durchbohrte ihn mit seinem bösen Blick. O’Connell strampelte, um sich wenigstens in eine halb sitzende Position aufzurichten, und starrte den ehemaligen Kripobeamten an.
»Das gefällt dir nicht besonders, wie, Mikeyboy? Bist es nicht gewöhnt, dich rumschubsen zu lassen, was?«
O’Connell sagte nichts. Er versuchte immer noch, die Situation richtig einzuschätzen, und er wusste genug, um den Mund zu halten.
Murphy nutzte diesen Moment, um langsam das Jackett zurückzuziehen, so dass die .380er im Schulterhalfter zum Vorschein kam. »Ich hab einen Freund mitgebracht, Mikeyboy. Wie du siehst.«
Der junge Mann stöhnte wieder auf und blickte abwechselnd von der Waffe zu ihrem Besitzer. Murphy griff rasch in seine Jacke und zog die Automatik. Das war zwar nicht geplant, doch etwas in O’Connells trotzigem Blick sagte ihm, dass er die Sache beschleunigen sollte. Mit einer raschen Bewegung schob er eine Ladung in die Kammer und legte den Daumen an den Sicherungshebel. Langsam senkte er die Pistole, bis sich die Mündung in O’Connells Stirn zwischen den Augen drückte.
»Leck mich«, schnaubte der Jüngere.
Murphy presste ihm das Eisen an die Nasenwurzel, fest genug, dass es weh tat, aber nicht so fest, dass sie brach. »Falsche Wortwahl«, erklärte er. Dann beugte er sich hinunter, packte mit der Linken O’Connells Wangen und drückte sie fest zwischen den Fingern. »Und ich dachte, wir würden Freunde werden.«
O’Connell starrte den ehemaligen Kripomann weiter unverwandt an, und Murphy schlug seinen Kopf mit einer abrupten Bewegung gegen die Wand. »Ein bisschen mehr Höflichkeit, wenn ich bitten darf«, sagte er kalt. »Ein wenig kultiviertes Benehmen. Macht alles entschieden leichter.« Dann packte er O’Connell an der Jacke und zog ihn hoch, ohne die Handfeuerwaffe von ihrem Platz zu nehmen. Murphy manövrierte den Jüngeren rückwärts und stieß ihn so heftig auf einen Stuhl, dass er damit beinahe umgekippt wäre und sich nur knapp halten konnte. »Dabei bin ich noch nicht mal richtig ungemütlich geworden, Mikeyboy. Keineswegs. Wir sind gerade erst dabei, uns ein bisschen kennenzulernen.«
»Sie sind kein Cop, oder?«, fragte O’Connell.
»Du hast mit Cops Bekanntschaft gemacht, nicht wahr, Mikeyboy? Du hast nicht nur einmal einem Cop gegenübergesessen, hab ich recht?«
O’Connell nickte.
»Also, da sagst du hundertprozentig die Scheißwahrheit«, sagte Murphy lächelnd. Er hatte mit der Frage gerechnet. »Du solltest dir wünschen, ich wäre ein Cop. Ich meine, du solltest zu dem Gott, von dem du vielleicht annimmst, er würde dich hören, in diesem Moment ein Stoßgebet schicken, ›Bitte, mach, dass er ein Cop ist …‹, denn Cops, na ja, die haben Vorschriften, Mikeyboy. Vorschriften und Regeln. Aber ich nicht. Ich mach dir entschieden mehr Ärger. Ganz entschieden mehr. Ich bin Privatdetektiv.«
O’Connell schnaubte verächtlich, und Murphy schlug ihm ins Gesicht. Das Geräusch seiner flachen Hand auf O’Connells Wange hallte in der Wohnung wider.
Murphy lächelte. »Dir müsste ich das doch eigentlich nicht erklären, dir doch nicht, jemandem mit deinem Durchblick, Mikeyboy. Aber okay, ein kleiner Diskussionsbeitrag, lass dir ein paar Sachen erklären. Erstens, ich war mal Cop. Hab mehr als zwanzig Jahre damit zugebracht, Leute zusammenzuscheißen, die um einiges taffer waren als du. Die meisten von den taffen Jungs sitzen jetzt im Knast und verfluchen mich. Oder aber sie sind tot und verschwenden nicht mehr allzu viele Gedanken an meine Wenigkeit, weil sie im Jenseits mit größeren Problemen zu kämpfen haben. Zweitens habe ich eine ordentliche, uneingeschränkte Befugnis vom Bundesstaat Massachusetts wie auch der Regierung der Vereinigten Staaten, diese Waffe zu tragen. Und weißt du, worauf diese beiden Kleinigkeiten hinauslaufen?«
O’Connell antwortete nicht, und Murphy schlug ihm wieder ins Gesicht.
»Scheiße!«, rutschte es O’Connell heraus.
»Wenn ich dir eine Frage stelle, Mikeyboy, dann hab doch bitte die Güte, mir zu antworten.«
Er zog die Hand zurück, und O’Connell sagte: »Ich weiß nicht. Worauf laufen sie hinaus?«
Murphy grinste. »Ich meine, ich habe Freunde – richtig gute Freunde, nicht so wie unser kleines Freundschaftsspielchen hier, sondern echte Kumpel, die mir mehr als einen Gefallen schulden, weil ich ihnen in all den Jahren mehr als einmal den Arsch gerettet habe. Die sind jederzeit bereit, ihn sich für mich aufzureißen, und die glauben mir alles, was ich ihnen über unser kleines Treffen heute Abend erzähle. Egal was passiert, geben die keinen Pfifferling für einen Dreckskerl wie dich. Und wenn ich denen erzähle, dass du mit einem Messer oder mit sonst einer Waffe auf mich losgegangen bist, die ich dir in die leblose Hand stecke, und wenn ich denen sage, es sei einfach dein verdammtes Pech gewesen, dass ich dir deinen armen kleinen Hintern wegpusten musste, dann glauben die mir aufs Wort. Die werden mich sogar dazu beglückwünschen, dass ich ein bisschen aufgeräumt habe, bevor du noch mehr Ärger machen konntest. Die werden das unter Verbrechensvorbeugung abbuchen. Also, das ist so ungefähr die Situation, in der du dich im Moment befindest, Mikeyboy. Mit anderen Worten: Ich kann so ziemlich alles tun, was ich verdammt noch mal will, und du bist absolut machtlos dagegen. Ist das klar?«
O’Connell zögerte, nickte aber, als er sah, wie Murphy zum nächsten Schlag ausholte.
»Gut. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, wie es so schön heißt.«
O’Connell schmeckte etwas Blut auf seinen Lippen.
»Ich will es besser noch mal wiederholen, damit es keine Missverständnisse gibt: Mir steht es frei zu tun, was ich für richtig halte, einschließlich der Möglichkeit, dich auf dem direktesten Weg ins Jenseits zu befördern, oder genauer gesagt, in die Hölle. Hast du das kapiert, Mikeyboy?«
»Ich denke schon«, erwiderte O’Connell.
Murphy fing an, um den Stuhl herumzuwandern. Dabei berührte der Lauf seiner Waffe die ganze Zeit O’Connell an irgendeiner Stelle, klopfte ihm schmerzhaft auf den Kopf oder drückte in die Höhlung zwischen seinem Hals und der Schulter.
»Ziemlich schäbige Bleibe, muss ich sagen, Mikeyboy. Ziemlich runtergekommen. Drecksloch …« Murphy starrte quer durch den Raum und sah einen Laptop auf dem Tisch. Er nahm sich vor, ein paar von O’Connells Sicherungsdisketten mitzunehmen. Bis dahin lief es mehr oder weniger so, wie Murphy es vorausgesehen hatte. O’Connell war so berechenbar, wie er vermutet hatte. Er spürte das Unbehagen des jungen Mannes, er wusste, dass er Unschlüssigkeit und Zweifel auslöste, indem er ihm mit der Waffe auf dem Kopf herumpochte. In allen Konfrontationen, dachte Murphy, gelangt man bei der Befragung an einen Punkt, an dem man die Identität der Zielperson schlichtweg unter die eigene Kontrolle bekommt und sie sich gefügig macht. Wir sind auf dem richtigen Weg, dachte Murphy. Wir machen eindeutig Fortschritte.
»Kein tolles Leben, was, Mikeyboy? Ich meine, sieht mir nicht gerade nach einer rosigen Zukunft aus.«
»Mir genügt’s.«
»Na schön. Aber wie kommst du auch nur für einen Moment auf die Idee, Ashley Freeman würde sie gerne mit dir teilen?«
O’Connell schwieg, und Murphy versetzte ihm mit der freien Hand von hinten einen Hieb. »Beantworte gefälligst meine Frage, Arschloch.«
»Ich liebe sie«, sagte O’Connell. »Und sie liebt mich.«
Murphy schlug ihn wieder. »Da bin ich anderer Meinung, du mieses Stück Dreck, du Abschaum aus der Gosse.«
Aus O’Connells Ohr kam ein dünnes Rinnsal Blut.
»Die Frau hat Klasse, Mikeyboy. Im Unterschied zu dir hat sie Zukunftschancen. Sie kommt aus einer gut situierten Familie, sie ist gebildet und hat Großes vor. Du dagegen kommst aus der Scheiße.« Murphy unterstrich die letzten Worte mit ein paar kräftigen Ohrfeigen. »Und du wirst in der Scheiße enden. Ja, was denn wohl? Knast? Oder glaubst du wirklich, du schaffst es, draußen zu bleiben?«
»Ich bin sauber. Ich hab kein Gesetz übertreten.«
Die wiederholten Schläge zeigten Wirkung. O’Connells Stimme kippte ein wenig, und Murphy glaubte ein gewisses Beben herauszuhören.
»Tatsächlich? Soll ich mir dich mal etwas genauer unter die Lupe nehmen?«
Murphy war wieder beim Ausgangspunkt angelangt, und noch einmal klopfte er O’Connell mit dem Pistolenlauf auf den Nasenrücken, um auf eine Antwort zu pochen.
»Dachte ich mir.«
Er packte O’Connell am Kinn und verdrehte es schmerzhaft. Er sah einen Anflug von Tränen in seinen Augenwinkeln. »Aber Mikey, meinst du nicht, du solltest mich ein bisschen höflicher bitten, mich aus deinem Leben rauszuhalten?«
»Bitte halten Sie sich aus meinem Leben raus«, sagte O’Connell ruhig und langsam.
»Also, das würde ich ja gerne. Wenn ich mir die ganze Sache sozusagen objektiv anschaue, meinst du nicht auch, dass es da wirklich das Allerbeste für dich wäre, absolut sicherzustellen, dass du mich nie im Leben wiedersiehst? Dass dieses kleine Plauderstündchen mit absoluter Gewissheit das letzte Mal ist, dass wir uns begegnen? Hab ich recht?«
»Ja.« O’Connell wusste nicht recht, welche Frage er eigentlich beantworten sollte, er wusste nur, dass er nicht noch einmal geschlagen werden wollte. Und obwohl er nicht glaubte, dass der Mann, der vor ihm stand, ihn erschießen würde, hätte er es nicht beschwören können.
»Du musst mich aber erst einmal davon überzeugen, nicht wahr?«
»Ja.«
Murphy lächelte. Dann klopfte er O’Connell leicht auf den Kopf.
»Damit wir uns auch richtig verstehen«, sagte Murphy. »Wir sind hier so traut beisammen, um zwischen uns, von Mann zu Mann, so etwas wie eine einstweilige Verfügung auszuhandeln. Genauso, als wären wir damit vor Gericht gegangen. Nur dass unsere scheiß Abmachung für immer gilt, kapiert? Du weißt genau, worin eine Bedingung besteht. Halt dich von ihr fern. Kein Kontakt. Allerdings ist unsere Verfügung eine Art Sonderregelung, nur zwischen dir und mir, Mikeyboy, und nicht so ein windelweicher Wisch, den ein alter Furz von einem Richter ausgestellt hat und um den du dich einen Scheißdreck scherst. Unsere Abmachung ist garantiert bindend.«
Mit diesen letzten Worten rammte Murphy O’Connell die Faust in die Wange und streckte ihn zu Boden. Murphy war, die Automatik in der Hand, bereits über ihm, bevor der junge Mann auch nur einen Gedanken fassen konnte.
»Vielleicht sollte ich nicht länger meine Zeit mit dir verplempern, sondern die Sache gleich zu Ende bringen«, sinnierte er. Es klickte, als Murphy seine Waffe mit dem Daumen entsicherte. Er hielt die Linke hoch, als wollte er sich vor der spritzenden blutigen Gehirnmasse schützen.
»Mach mir die Entscheidung leichter«, sagte Murphy. »So oder so, Mikeyboy. Aber gib mir einen triftigen Grund.«
O’Connell versuchte, sich vom Pistolenlauf wegzudrehen, doch der Expolizist drückte ihn mit seinem Gewicht zu Boden.
»Bitte«, flehte er plötzlich, »Bitte, ich lass sie in Ruhe, ich versprech’s. Ich lass sie in Ruhe …«
»Schon mal ’n Anfang, Arschloch. Und weiter?«
»Ich werde mich nie mehr bei ihr blicken lassen. Ich verschwinde aus ihrem Leben. Ich halte mich fern. Was soll ich noch sagen?«
O’Connell fing beinahe zu schluchzen an. Es klang mit jedem Wort erbärmlicher.
»Ich muss drüber nachdenken, Mikeyboy.«
Murphy senkte die vorgehaltene Hand und zog die Waffe von O’Connells Gesicht zurück. »Keine Bewegung, ich seh mich nur ein bisschen um.«
Er ging zu dem billigen Tisch hinüber, auf dem der Computer stand. Dort lagen ein paar unbeschriftete, wiederverwendbare Disketten verstreut. Murphy schnappte sie sich und steckte sie in die Jackentasche. Dann drehte er sich wieder zu dem jungen Mann um, der immer noch am Boden lag. »Hast du da deine Ashley-Datei drin? Pfuschst du damit im Leben von Leuten herum, die zehn Klassen besser sind als du?«
O’Connell nickte nur, und Murphy grinste. »Ich glaube nicht«, erklärte er energisch. »Jetzt nicht mehr.« Im selben Moment ging der Griff seiner Waffe auf die Tastatur nieder. »Ups«, sagte er, als das Plastik zersplitterte. Zwei weitere Schläge auf den Bildschirm sowie das Touchpad, und der Laptop war ein Trümmerhaufen.
O’Connell sah zu, ohne ein Wort zu sagen. Mit dem Pistolenlauf stocherte Murphy in den Bruchstücken herum. »Ich glaube, wir hätten es dann eigentlich, Mikeyboy …« Er kam zu O’Connell zurück und baute sich über ihm auf. »Ich möchte, dass du dir was merkst«, sagte er mit Nachdruck.
»Was?«, fragte O’Connell. Seine Augen waren wie erwartet tränennass.
»Ich kann dich jederzeit finden. Ich stöber dich jederzeit auf, egal, in welchem Rattenloch du dich verkriechst.«
Der Jüngere nickte nur stumm.
Murphy starrte ihn mit einem durchbohrenden Blick an, um festzustellen, ob er in seinem Gesicht noch eine Spur von Auflehnung entdecken konnte – irgendetwas anderes als Gefügigkeit. Als er sich vom Gegenteil überzeugt hatte, lächelte er.
»Gut. Du hast heute Abend eine Menge gelernt, Mikeyboy. Eine richtige Lektion. War doch gar nicht so schwer, oder? Unser kleines Plauderstündchen war mir ein echtes Vergnügen. Dir doch sicher auch? Vielleicht doch nicht. Aber da wäre noch eine Sache …«
Blitzschnell kniete er sich hin und drückte O’Connell erneut fest zu Boden. Mit derselben Bewegung stieß er ihm den Lauf der Automatik in den Mund, so dass er gegen seine Zähne knallte. Er sah den Ausdruck der Panik in den Augen des jungen Mannes – genau das, was er bezweckte.
»Peng«, machte er ruhig.
Dann zog er die Waffe langsam heraus, stand auf, grinste ihm noch einmal zu und ging.
Die kühle Nachtluft schlug Murphy entgegen, und er hätte am liebsten den Kopf zurückgelegt und laut gelacht. Er steckte die Automatik .380 wieder in sein Schulterhalfter, strich das Jackett darüber glatt, um präsentabel auszusehen, und setzte sich in Bewegung. Zügig, doch ohne Hast ging er die Straße entlang und genoss die Dunkelheit, die Stadt und das Gefühl des Erfolgs. Er überlegte, wie lange er nach Springfield zurück brauchen würde und ob es noch für ein spätes Abendessen reichte. Nach wenigen Schritten fing er an, vor sich hin zu summen. Er hatte recht behalten: Die Gelegenheit, sich einen Dreckskerl wie O’Connell vorzuknöpfen, war die zehn Prozent Nachlass wert, die er Sally Freeman-Richards gewähren wollte. Das war doch wirklich nicht schwer, sagte er in Gedanken. Es war ein befriedigendes Gefühl zu wissen, dass er noch immer die alten Tricks draufhatte, und er fühlte sich viel jünger. Gleich am Morgen würde er einen kleinen Bericht zusammenstellen, der allerdings die Teile aussparte, bei denen die Automatik eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Den würde er zusammen mit seiner Rechnung an Sally schicken und ihr seine abschließende Einschätzung mitteilen, dass sie sich um Michael O’Connell nie wieder Gedanken machen müsse. Murphy hielt sich zugute, ziemlich genau sagen zu können, was Angst bei schwachen Menschen ausrichten kann.
O’Connell spürte einen pochenden Schmerz im Ohr, und ihm brannte die Wange. Er rechnete damit, dass ein, zwei Zähne locker waren, da er Blut auf der Zunge schmeckte. Seine Glieder waren steif, als er sich vom Boden hochrappelte, doch er ging sofort zum Fenster und sah gerade noch, wie der ehemalige Kripomann um die Ecke lief. Michael O’Connell wischte sich mit der Hand übers Gesicht und dachte: Das war doch wirklich nicht schwer, oder? Er wusste, dass man einen Polizisten am besten dadurch überzeugte, indem man die Prügel einsteckte. Das mochte schmerzhaft oder peinlich sein, besonders, wenn es sich dabei um einen alten Knaben handelte, mit dem er spielend fertig geworden wäre, hätte der nicht eine Knarre und er selbst keine gehabt. Dann lächelte er, leckte sich die Lippen und ließ sich den salzigen Geschmack auf der Zunge zergehen. Allerdings hatte er an diesem Abend eine Menge gelernt, genau wie Matthew Murphy ihm bescheinigt hatte. Vor allem aber hatte er erfahren, dass Ashley keineswegs zu einem Graduiertenstudium im Ausland war, denn wieso sollte ihre Familie ihm dieses Großmaul von einem Ex-Cop an den Hals hetzen, um ihn einzuschüchtern, wenn ihn Tausende Meilen von Ashley trennten? Das ergab nicht den geringsten Sinn. Das machten sie nur, weil sie in der Nähe war. Viel näher, als er vermutet hatte. In Reichweite? Er schätzte, ja. O’Connell atmete einmal heftig durch die Nase ein. Er wusste zwar nicht, wo sie war, doch früher oder später würde er es herausbekommen. Die Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählte, war Ashley.
Das Gebäude der News Republican stand auf einem Grundstück, das an den Bahnhof angrenzte, mit einem deprimierenden Blick auf den Interstate Highway, Parkplätze und leere Flächen, auf denen sich der Unrat türmte. Es war nicht vollkommen verwahrlost, sondern hatte nur ausgedient – überall Maschendrahtzäune, durch die Luft wirbelnder Müll, graffitistrotzende Autobahnunterführungen. Das Gebäude der Zeitung war ein vierstöckiger, rechtwinkliger Bau, ein Klotz aus Ziegeln und Schlackenstein. Es erinnerte eher an ein Waffenarsenal oder eine Festung als eine Redaktion. Drinnen beherbergte das Gebäude mit dem kuriosen Namen The Morgue einen kleinen Raum voller Computer.
Eine hilfsbereite junge Frau hatte mir gezeigt, wie man auf die Dateien zugreifen konnte, und so brauchte ich nicht lange, bis ich die Artikel über Matthew Murphys letzten Tag, oder besser gesagt, seine letzten Minuten, fand.
Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: Exkripobeamter getötet. Es gab zwei Untertitel: Leiche in Nebenstraße gefunden und Polizei spricht von Hinrichtung.
Ich füllte mehrere Seiten in meinem Notizbuch mit Einzelheiten aus der Flut von Meldungen dieses Tages wie auch aus einigen Folgeberichten der anschließenden Ausgaben. Offenbar gab es endlos viele Tatverdächtige. Murphy war während seiner Zeit bei der Polizei an einer Reihe spektakulärer Fälle beteiligt gewesen und hatte sich auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst als Privatdetektiv mit beängstigender Regelmäßigkeit Feinde gemacht. Ich hegte wenig Zweifel daran, dass seine Ermordung ebenso bei der Kripo von Springfield wie bei der Mordkommission der State Police, die den Fall zweifellos übernommen hatte, oberste Priorität genossen hatte. Der zuständige Staatsanwalt dürfte unter enormem Druck gestanden haben, da Polizistenmorde über eine Karriere entscheiden können. Jeder bei der Polizei hat wahrscheinlich mitmischen wollen. Wenn einer von ihnen getötet wird, stirbt immer auch ein kleiner Teil von ihnen.
Allerdings erwiesen sich die Berichte, die ich las, als ziemlich dünn und endeten nicht so wie erwartet.
Irgendwann wiederholten sich die Meldungen. Es gab keine Verhaftungen, keinen Anklagebeschluss des großen Geschworenengerichts, der mit Getöse verkündet worden wäre. Kein Strafprozess wurde anberaumt.
Es war eine Geschichte, bei der das dramatische Ende sich in nichts auflöste.
Ich schob mich vom Computer zurück und starrte nach meiner letzten Suchanfrage auf ein Fenster mit der Auskunft: Keine weiteren Einträge gefunden.
Da kann etwas nicht stimmen, dachte ich. Jemand hatte Murphy brutal ermordet, und es musste eine Verbindung zu Ashley geben. Auf irgendeine Weise.
Aber ich konnte sie nicht sehen.