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Eine schnelle Fahrt

 

Hope stand auf dem kurzen ziegelsteingepflasterten Gehweg zu ihrer Haustür, als die Scheinwerfer von Sallys Auto über den Rasen glitten. Unschlüssig, was sie tun sollte, wartete sie. Früher einmal wäre sie zu Sallys Wagen gegangen, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen, doch jetzt war sie sich nicht einmal sicher, ob sie stehenbleiben sollte, um mit ihr zusammen ins Haus zu gehen. Sie schob ihre Füße unentschlossen über den Boden und starrte in die Dunkelheit über dem Viertel. Hope hatte das Gefühl, dass sie beide sich angewöhnt hatten, immer später nach Hause zu kommen, so dass das Schweigen, das sie im Lauf des Abends erwartete, weniger Zeit hatte, sie niederzudrücken.

»Hey«, sagte sie, als sie hörte, wie Sally die Wagentür zuschlug.

»Hey«, grüßte Sally mit einer erschöpften Stimme zurück.

»Harter Tag?«

Sally kam langsam über den Rasen zu ihr herüber. »Ja«, bemerkte sie kryptisch. »Lass uns drinnen drüber reden.«

Hope nickte und ging die Eingangsstufen hoch. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür weit. Im Haus war es pechschwarz, und sie hatte das Gefühl, als strömte die Nacht wie ein dunkler, gefährlicher Sog direkt an ihr vorbei ins Haus. Hope blieb in der Eingangsdiele stehen und wusste schlagartig, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie schnappte nach Luft.

»Nameless!«, rief sie.

Die Deckenlampe ging an, und Sally stand neben ihr.

»Nameless!«, rief Hope ihr noch einmal zu.

Dann: »Oh mein Gott …«

Hope ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen und trat vor. Die Angst hatte alle anderen Emotionen überwältigt, und in ihrem Körper überschlugen sich Frieren, Hitzewallungen und kalte Schweißausbrüche. »Nameless!«, brüllte sie wieder. Sie hörte die Panik in ihrer eigenen Stimme. Hinter ihr machte Sally die Lampen an, so dass Wohnzimmer, Flur und das Fernsehzimmer im Erdgeschoss in hellem Licht erstrahlten. Und zuletzt die Küche.

Der Hund lag reglos auf dem Boden ausgestreckt.

Hope gab ein Stöhnen von sich, das aus einem tiefen Winkel ihres Bewusstseins kam, den sie nicht kannte. Sie warf sich auf Nameless’ Körper. Sie grub die Hände in sein Fell, versuchte, irgendwo Wärme zu spüren, und drückte ihr Ohr an seine Brust, um auf seinen Herzschlag zu hören. Hinter ihr stand Sally wie erstarrt in der Tür. »Ist er …«

Hope stöhnte, inzwischen blind vor Tränen, noch einmal auf. Doch im selben Moment fasste sie unter den Körper des Hundes und hob ihn mit einer einzigen Bewegung auf. Sie drehte sich zu Sally um, und ohne ein Wort zu sagen, rannten sie beide zurück durch die Dunkelheit.

Sally fuhr schnell, schneller als je zuvor, um über den Highway die Tierklinik in Springfield zu erreichen. Bei ihrem Slalom durch den Verkehr erreichte die Tachonadel beinah hundertsechzig Stundenkilometer, und sie hörte, wie Hope sagte: »Schon gut, du kannst langsamer fahren.«

Hope hätte genauso etwas anderes sagen können, doch Sally verstand nur, dass sie den Kopf tief über die Schnauze des Hundes gesenkt hatte, so dass sie schwer zu hören war. Für die letzten Kilometer brauchten sie nur wenige Minuten, und als sie durch die trüben Straßen der Innenstadt fuhren, sah sich Sally außerstande, etwas zu sagen, sondern horchte nur gebannt auf das untröstliche Schluchzen vom Rücksitz, das ihr wie Messerschnitte in die Eingeweide fuhr.

Sie sah das rotweiße Notaufnahmeschild und hielt vor dem Eingang. Das Quietschen der Reifen schreckte die diensthabende Schwester an der Pforte hinter der Schiebetür auf. Hope hatte Nameless noch keine ein, zwei Meter weit gebracht, da hatte die Schwester ihn schon auf eine Trage gelegt.

Bis Sally den Wagen geparkt hatte und hereingekommen war, saß Hope schon zusammengekauert, den Kopf in die Hände gestützt, im Wartezimmer. Als Sally sich neben sie setzte, sah sie kaum auf.

»Ich hoffe, es ist …«, fing Sally an, ohne weiterzusprechen.

»Er ist tot. Ich weiß es«, sagte Hope. »Ich habe keinen Herzschlag gehört. Keinen Puls gefühlt. Er hat nicht geatmet. Er war alt, aber … Wir hätten nicht hierherrasen sollen. Es passiert einfach. Man wird alt, und es passiert.«

Sally saß da und sah zur Wand ihr gegenüber hoch. Sie rechnete jeden Moment damit, dass der Tierarzt herauskam und Hope mitteilte, was sie bereits wusste. Doch zu Sallys Überraschung vergingen fünf Minuten, dann zehn. Nach zwanzig Minuten warteten sie immer noch. Nach einer halben Stunde kam ein großer junger Mann in weißem Laborkittel über der blassgrünen Krankenhauskleidung. »Miss Frazier?«, sagte er in einem ruhigen, wohlgesetzten Ton, der, wie Sally augenblicklich erkannte, von der Übung im Überbringen schlechter Nachrichten kam. Er sah Hope an.

»Ja.« Ihre Stimme zitterte.

»Es tut mir leid«, begann er langsam. »Wir haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber er war schon nicht mehr am Leben, als Sie eintrafen.«

»Ich weiß«, erklärte Hope. »Ich musste es einfach versuchen …«

»Sie haben getan, was Sie konnten«, beruhigte sie der Veterinär. »Und wir auch.«

»Ja, das weiß ich. Danke.« Es war, als müsse jedes Wort aus einer eisigen Region in ihrem Innern hervorgezogen werden.

»Er war kein junger Hund mehr«, sagte der Tierart zögernd.

»Fünfzehn«, bestätigte Hope.

Der Mann nickte. Er schien einen Moment zu zögern, bevor er fragte: »Und wie haben Sie ihn heute Abend vorgefunden?«

»Als wir nach Hause kamen, lag er in der Küche. Auf dem Boden.«

Der Tierarzt holte tief Luft. »Möchten Sie vielleicht reinkommen und sich von ihm verabschieden? Und da wäre noch etwas, das ich Ihnen gerne zeigen würde.«

»Ja«, sagte Hope, während sie vergeblich die Tränen zurückzuhalten versuchte. »Ja, gerne. Ich möchte ihn noch einmal sehen.« Sie folgte dem Arzt durch zwei Pendeltüren, während Sally mit einem gewissen Abstand folgte.

Das Untersuchungszimmer wurde von der Deckenlampe in strahlend weißes Licht getaucht. Es war wie jede typische Notaufnahme, mit Ventilatoren an der Wand, Blutdruckmessgeräten, Sanitätsschränkchen. Mitten auf einem blankgescheuerten Stahltisch, der das Licht gnadenlos reflektierte, lag Name less mit verfilztem Fell.

Hope streckte die Hand nach ihm aus und strich ihm über die Seite. Er hatte die Augen geschlossen, und Hope fand, dass er friedlich aussah, als ob er schliefe.

Der Tierarzt schwieg eine Weile und forderte Hope auf, ihm noch einmal übers Fell zu streichen. Dann fragte er vorsichtig: »Hat es heute Abend irgendetwas Ungewöhnliches gegeben, als Sie nach Hause kamen?«

Hope sah sich um. »Wie bitte? Etwas Ungewöhnliches?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Sally.

»Gab es irgendwelche Anzeichen für einen Einbruch?«

Hope sah ihn verwirrt an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann.«

Der Tierarzt trat neben sie. »Es tut mir leid, wenn das hart für Sie ist, aber als wir Namless untersucht haben, sind uns ein paar ungewöhnliche Dinge aufgefallen.«

»Was sagen Sie da?«

Der Tierarzt griff nach Namless und zog das Fell um die Kehle des Hundes zurück. »Sehen Sie die roten Streifen? Würgemale, typisch, wenn ein Tier erstickt wird. Und hier, sehen Sie.« Behutsam zog er Nameless’ Lefzen hoch und entblößte seine Zähne. »Das scheint Fleisch zu sein. Und auch Blut. Wir haben auch so etwas wie Stofffasern und Blut an seinen Pfoten gefunden, um die Krallen.«

Hope sah zu dem Veterinär auf, als begriffe sie immer noch nicht, auf was er hinauswollte.

»Wenn Sie nach Hause kommen, sollten Sie Ihre Türen und Fenster daraufhin überprüfen, ob jemand gewaltsam eingedrungen ist.« Der Tierarzt blickte von Sally zu Hope, und ein trockenes, gequältes Lächeln huschte ihm um den Mund. »Es ist ziemlich offensichtlich, wen er beschützen wollte, egal, wie alt er war«, sagte der Arzt langsam. »Ohne Autopsie bin ich mir natürlich nicht sicher, aber es sieht ganz so aus, als wäre Nameless im Kampf gestorben.«

 

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»Wer hat Murphy ermordet?«, fragte ich. »Glauben Sie, Michael O’Connell hat ihn erschossen?«

Sie sah mich mit einem eigentümlichen Blick an, als sei die Frage irgendwie deplatziert. Wir waren bei ihr zu Hause, und da sie nicht gleich antwortete, warf ich einen Blick durchs Wohnzimmer. Plötzlich merkte ich, dass es keine Fotos gab.

Sie lächelte. »Ich denke, Sie sollten sich fragen, ob Michael O’Connell es nötig hatte, Murphy zu töten? Vielleicht wollte er es. Er hatte eine Waffe. Er hatte die Gelegenheit. Aber hatte er nicht schon genug getan, indem er all diese vertraulichen Informationen an so viele verschiedene Leute schickte, um sein Ziel zu erreichen? Konnte er nicht ziemlich zuversichtlich sein, dass einer auf dieser Liste mit Gewalt reagieren würde? War das nicht eher O’Connells Stil – indirekt vorzugehen? Ereignisse und Situationen zu schaffen? Seine Umgebung zu manipulieren? Er musste sich Murphy vom Hals schaffen. Murphy kam aus einer Welt, die Michael O’Connell kannte, und zwar nur allzu gut. Er war sich daher der Bedrohung, die er darstellte, sehr wohl bewusst. Murphy war in einem Punkt nicht so viel anders als O’Connell. Murphy musste verschwinden. Und genau das ist passiert, nicht wahr?«

Sie sah mich an und senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. »Was machen wir? Wie handeln wir? Es ist nicht schwer zu entscheiden, was man tun soll, wenn der Feind mit der Waffe auf einen zielt. Aber sind wir uns nicht oft selbst der größte Feind, weil wir unseren eigenen Augen nicht trauen? Glauben wir nicht oft, das Gewitter würde vorüberziehen, obwohl es sich deutlich zusammenbraut? Der Damm unter der Flut würde schon halten? Und so erfasst sie uns, nicht wahr?«

Sie holte noch einmal tief Luft und wandte sich wieder zum Fenster, um hinauszustarren. »Und wenn sie uns erfasst hat, werden wir dann ertrinken?«