18
Als sich die Dinge zuspitzten
Michael O’Connell stellte fest, dass sein größtes Talent die Fähigkeit zu warten war. Dabei ging es nicht einfach nur darum, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten oder geduldig herumzusitzen. Richtiges Warten erforderte Planung und gezielte Vorbereitungen, so dass er in dem Moment, auf den er hingearbeitet hatte, den anderen Akteuren einen entscheidenden Schritt voraus war. Er betrachtete sich als eine Art Regisseur, als jemand, der den gesamten Handlungsverlauf Akt für Akt und Szene für Szene bis zum Ende vor sich sah. Er war ein Mann, der jeden erdenkbaren Schluss im Voraus kannte, da er alles ausnahmslos entwickelt hatte.
O’Connell hatte sich bis auf die Boxershorts ausgezogen, und sein Körper glänzte. Vor einigen Jahren hatte er in einem modernen Antiquariat ein Fitness-Übungsbuch erstanden, das sich Mitte der sechziger Jahre großer Popularität erfreut hatte. Dieses Programm stammte aus einem Lehrbuch der Royal Canadian Air Force über physische Gesundheit und war mit antiquierten Abbildungen von Männern in Shorts illustriert, welche Brücken, einarmigen Liegestütz und Rückenstrecker absolvierten. Es waren auch seltsame Verrenkungen dabei, die er gewissenhaft exerzierte, wie zum Beispiel in die Luft zu springen und die Knie dabei anzuziehen, so dass er seine Zehen berühren konnte. Es war das Gegenteil zu Pilates, Billy Blank, Body by Jake oder Sechs-Minuten-Bauchübungstraining und wie sie nicht alle hießen, die im Tagesprogramm sämtlicher Fernsehkanäle liefen. Er war im Air-Force-Training inzwischen ziemlich gut und hatte sich unter seiner lose sitzenden, abgetragenen Studentenkluft den Körperbau eines Ringkämpfers antrainiert. Er hatte es ebenso wenig nötig, in irgendeinen Schickimicki-Fitness-Club einzutreten, wie Leib und Seele mit Langläufen am Ufer des Charles zu beleben. Er zog es vor, seine Muskeln daheim in seinem Zimmer zu modellieren und dazu gelegentlich über Kopfhörer eine vermeintlich satanische Rockgruppe wie Black Sabbath oder AC/DC zu hören.
Er legte sich hin, hob die Beine über den Kopf und ließ sie langsam wieder sinken. Dabei hielt er drei Mal die Position etwa zehn Zentimeter über dem Dielenboden, bevor er die Beine fallen ließ. Die Übung wiederholte er fünfundzwanzig Mal. Beim letzten Durchgang blieb er, die Arme seitlich ausgestreckt, in der Stellung und rührte sich eine Minute lang nicht; dann noch einmal eine Minute. Er wusste, dass er sich nach etwa drei weiteren Minuten allmählich etwas unbehaglich und nach noch einmal zwei Minuten völlig erschöpft fühlen würde. Nach sechs hatte er akute Schmerzen.
O’Connell sagte sich, dass es längst nicht mehr darum ging, Muskeln aufzubauen.
Inzwischen ging es um Selbstüberwindung.
Er schloss die Augen und verdrängte das Brennen in seinem Bauch durch das Bild von Ashley in seiner Phantasie.
Langsam zeichnete er sämtliche Einzelheiten mit der ganzen Geduld eines Künstlers, der jede charakteristische Kurve, jeden verschatteten Winkel wiedergab. Fang mit ihren Füßen an, der Form ihrer gespreizten Zehen, dem Spann, ihrer straffen Ferse. Dann langsam das Bein hoch, die Muskeln ihrer Wade, ihr Knie und ihren Oberschenkel.
Er biss die Zähne zusammen und lächelte. Normalerweise konnte er, nachdem er lange bei ihrem Unterleib verweilt war, seine Position bis über ihre Brüste hinaus halten und von dort bis hinauf zu der geschwungenen Kurve ihres langen, geschmeidigen Halses, bevor er sich gezwungen sah, die Hacken auf den Boden fallen zu lassen. Doch mit zunehmender Kraft würde er früher oder später auch noch ihre Gesichtszüge sowie ihre Haare nachzeichnen können. Er freute sich schon darauf, so stark zu sein.
Mit einem Keuchen entspannte er sich, und seine Füße prallten auf den harten Boden.
Sie wird anrufen, dachte er. Heute. Vielleicht morgen. Das war unausweichlich.
Er hatte Kräfte in Bewegung gesetzt, denen sie ausgeliefert war. Die Schlinge würde sich immer enger ziehen. Sie wird sich aufregen, sagte er sich. Sie wird wütend sein, fordernd, was ihm nicht das Geringste bedeutete. Was dagegen zählte, war die Tatsache, dass sie diesmal allein sein würde. Verzweifelt und verletzlich.
Er holte tief Luft. Einen Moment lang glaubte er, Ashley an seiner Seite zu fühlen, weich und warm. Er schloss die Augen und genoss eine Weile das Gefühl. Als es vorüber war, lächelte er.
Michael O’Connell legte sich auf den Rücken und starrte zur weißgetünchten Decke mit der nackten 110-Watt-Glühbirne. Er hatte einmal gelesen, dass in längst vergessenen Orden des elften und zwölften Jahrhunderts die Mönche trotz Hitze, Kälte, Hunger, Durst und Schmerzen stundenlang in dieser Position verweilten und halluzinierten, Visionen hatten, den unveränderlichen Himmel schauten und das unerbittliche Wort Gottes hörten. Das war für ihn hundertprozentig nachzuvollziehen.
Was Sally zu schaffen machte, war ein einziges Offshore-Bankkonto auf das mehrere Transaktionen von ihrem Klientenkonto gegangen waren. Die fragliche Summe belief sich auf etwa fünfzigtausend Dollar – verglichen mit der gestohlenen Gesamtsumme nicht viel. Doch es war der einzige Betrag, zu dessen Banksystem sie keinen Zugang bekam.
Als sie die Bank in Grand Bahama angerufen hatte, hatte man sich nicht kooperativ gezeigt und ihr klargemacht, dass sie von ihrer eigenen Bankenaufsicht autorisiert sein müsse, was jedoch selbst für Ermittler der SEC, der Börsenaufsichtsbehörde, oder der IRS, der obersten amerikanischen Steuerbehörde, kein Leichtes und für eine Anwältin, die ohne richterliche Verfügung oder Drohungen des Außenministeriums arbeitete, praktisch unmöglich sei.
Sally blieb es rätselhaft, wieso jemand pfiffig genug war, ihr Klientenkonto zu plündern, sich aber mit nur einem Fünftel der Summe zufriedengab. Die anderen Transaktionen ließen sich über schwindelerregend viele Zwischenstationen quer durchs Land letztlich doch zurückverfolgen und höchstwahrscheinlich auch zurückbekommen. Es war ihr immerhin gelungen, die Gelder an fast einem Dutzend verschiedenen Instituten einzufrieren, so dass sie dort unter verschiedenen, offensichtlich falschen Namen auf Abruf lagen. Wieso, fragte sie sich, hatte derjenige nicht einfach das ganze Geld in die Offshore-Konten eingezahlt, auf denen es höchstwahrscheinlich ganz und gar unerreichbar war? Der größere Teil des Geldes lag dort einfach auf Eis, und es würde sie immense Mühe kosten, es zurückzuholen. Das machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was für einer Straftat sie zum Opfer gefallen war. Fest stand, dass ihr Ruf als Anwältin Schaden nehmen, wenn nicht gar einen ernsten Riss bekommen würde.
Ebenso wenig konnte sie sich denken, wer ihr den schweren Schlag versetzt hatte.
Natürlich fiel ihr erster Verdacht auf die gegnerische Seite in dem Scheidungsverfahren. Doch sie konnte beim besten Willen keinen Sinn darin erkennen, dass ihr der Mann so viele Schwierigkeiten bereiten sollte, die schließlich nur zu einer Verschleppung des Verfahrens führen und damit beide Seiten Geld kosten würden. Bei Scheidungsfällen war sie natürlich an irrationales Verhalten gewöhnt, das hier aber stellte sie vor ein Rätsel. Normalerweise benahmen sich die Leute demonstrativ kleinlich und unausstehlich, wenn sie versuchten, Ärger zu machen. Die dezente Vorgehensweise in diesem Fall passte nicht dazu.
Ihr zweiter Verdacht kreiste um die Möglichkeit, dass ein Gegner in einem ganz anderen Verfahren dahintersteckte. Vielleicht jemand, gegen den sie in der Vergangenheit gewonnen hatte?
Das beunruhigte sie noch mehr. Die Vorstellung, dass jemand über einen längeren Zeitraum Rachegelüste hegte, dass er monatelang, wenn nicht gar Jahre damit wartete, zuzuschlagen, hätte aus Der Pate stammen können.
Sally hatte die Kanzlei früher als sonst verlassen und war durch das Altstadtzentrum zu einem Restaurant gegangen, das sich mit einem pseudoirischen Namen schmückte und über eine ruhige, dunkle Bar verfügte, in der sie ihren zweiten Scotch mit Soda vor sich stehen hatte. Im Hintergrund hörte sie Friend of the Devil von The Grateful Dead.
Wer hasst mich?, fragte sie sich.
Wer immer hinter der Sache stecken mochte – eines war Sally sonnenklar: Sie musste es Hope erzählen. Das stand ihr vor Augen. Bei ihrem ohnehin gespannten Verhältnis war das so ziemlich das Letzte, was sie brauchen konnten. Sally nahm einen ausgiebigen Schluck von ihrem bitteren Drink. Irgendjemand da draußen hasst mich, und ich bin ein Feigling, dachte sie. Ein Freund des Teufels ist auch mein Freund. Sie betrachtete das Glas, kam zu dem Schluss, dass es auf der ganzen Welt nicht genug Alkohol gab, um ihr Unglück zu ertränken, schob es von sich und machte sich mit dem bisschen, was sie an aufrechtem Gang noch zustande brachte, nach Hause auf.
Scott beendete seinen Brief an Professor Burris und las ihn noch einmal sorgfältig durch. Das Wort, das er gewählt hatte, um zu beschreiben, worum es hier ging, war Schwindel – er stellte den ganzen Vorgang so dar, als seien sie alle einem raffinierten, wenn auch rätselhaften Studentenstreich zum Opfer gefallen.
Nur dass Scott darüber nicht lachen konnte.
Der einzige Teil des sorgfältig aufgesetzten Briefs, der ihm leichtgefallen war, bestand in dem Abschnitt, in dem er Burris empfahl, sich die akademische Leistung von Louis Smith genauer anzusehen. Damit hoffte Scott der Karriere des jungen Mannes Auftrieb zu geben.
Er unterschrieb die E-Mail und verschickte sie. Dann ging er nach Hause zurück und setzte sich in seinen alten, ramponierten Ohrensessel, um in Ruhe darüber nachzudenken, was da mit ihm geschehen war. Er wollte sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass ein einziger Brief, selbst wenn er so klar formuliert war wie der, den er gerade abgeschickt hatte, ihn aus seiner misslichen Lage befreite. Ende der Woche stand ihm immer noch der herumschnüffelnde Reporter der Uni-Zeitung ins Haus. Mit zunehmender Dämmerung wurde es dunkel im Zimmer, und Scott wusste, dass er sich früher oder später würde verteidigen müssen. Die Tatsache, dass der Vorwurf jeder Grundlage entbehrte, war dabei nur wenig von Belang und Überzeugungskraft. Irgendwo würde irgendjemand ihn für schuldig halten.
Das Ganze machte Scott wütend, und er ballte die Hände zu Fäusten, dabei ahnte er nicht, dass Sally und Hope sich zur gleichen Zeit mit denselben Fragen quälten und dass ihnen allen sehr viel klarer gewesen wäre, woher ihre Probleme rührten, hätten sie nur gegenseitig von ihrem jeweiligen Missgeschick gewusst.
Doch durch die Umstände und durch unglückliche Fügung kreiste jeder um sich selbst.
Ashley wollte im Museum gerade Feierabend machen und packte ihre Sachen zusammen, als sie von ihrem Schreibtisch aufschaute und den stellvertretenden Direktor wenige Meter von ihr entfernt unbehaglich herumstehen sah.
»Ashley«, sagte er gestelzt, während er den Blick über den Raum schweifen ließ, »ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
Sie legte ihre kleine Mappe nieder und folgte dem Direktor pflichtbewusst in sein Büro. Das stille Museum hatte plötzlich etwas von einer Krypta, in der ihre Schritte widerhallten. Schatten schienen die Kunst an den Wänden in Mitleidenschaft zu ziehen, die Formen zu entstellen und die Farben zu verfälschen.
Der Vizedirektor deutete auf einen Stuhl, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. Er hielt inne, zupfte seine Krawatte zurecht, seufzte und sah sie direkt an. Der Mann hatte die nervöse Eigenart, sich im unpassenden Moment die Hände zu reiben. »Ashley, es hat Beschwerden über Sie gegeben.«
»Beschwerden? Was für Beschwerden?«
Er antwortete nicht direkt. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Probleme?«
Sie wusste zwar, dass die Antwort ja lautete, doch sie wollte dem Direktor nicht mehr als nötig Auskunft über ihr Privatleben geben. Sie hielt ihn für einen Schmeichler und Hohlkopf. Sie wusste, dass er daheim in Somerville zwei kleine Kinder hatte, ein Umstand, der ihn nicht davon abhalten konnte, jede neue junge Mitarbeiterin anzumachen. »Nein. Nichts von Bedeutung«, log sie. »Wieso fragen Sie?«
»Sie würden also sagen, dass bei Ihnen alles normal verläuft? Nichts Neues?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen?«
»Ihre Ansichten, Ihre, ähm, Weltanschauung hat sich nicht in letzter Zeit in eine radikale Richtung bewegt?«
»Ich habe dieselben Ansichten wie immer«, erklärte sie gedehnt.
Er zögerte wieder, bevor er sagte: »Das hatte ich befürchtet. Ich kenne Sie nicht besonders gut, Ashley. Also nehme ich an, dass ich keinen Grund habe, mich über irgendetwas zu wundern. Aber ich muss schon sagen …« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Ich möchte es einmal so formulieren: Wissen Sie, in diesem Museum versuchen wir, den Ansichten und Meinungen und, nun ja, der Lebensweise anderer Menschen gegenüber tolerant zu sein. Wir hüten uns vor kritischen Urteilen. Aber es gibt gewisse Grenzen, die gewahrt werden müssen, finden Sie nicht auch?«
Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon die Rede war, doch sie nickte. »Gewisse Grenzen, ja.«
Der stellvertretende Direktor sah zugleich traurig und verärgert aus. Er beugte sich vor.
»Meinen Sie wirklich, es hätte den Holocaust nie gegeben?« Ashley fuhr auf ihrem Stuhl zurück.
»Die Ermordung von sechs Millionen Juden sei nur Propaganda und nie wirklich geschehen?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen …«
»Sind Schwarze wirklich eine minderwertige Rasse? Submongoloid? Kaum höherstehend als wilde Tiere?«
Vor lauter Schock blieb ihr die Stimme weg.
»Und stehen FBI und CIA wirklich unter der Kontrolle von Juden? Und ist die Reinhaltung der Rasse wirklich die größte Herausforderung, der sich unsere Nation heute gegenübersieht?«
»Ich weiß nicht, was Sie …«
Er hob die Hand und hatte ein rotes Gesicht. Er deutete auf seinen Computer. »Kommen Sie hier herüber und loggen Sie sich mit Ihrem Benutzernamen und Ihrem Passwort ein«, wies er sie schroff an.
»Ich verstehe nicht …«
»Tun Sie mir einfach den Gefallen«, forderte er kalt.
Sie stand auf, ging zu seiner Seite herum und tat, was er verlangte. Der Computer erwachte zum Leben, ließ die vertraute kleine Fanfare ertönen, und ein Bild des Museums erfüllte den Monitor, gefolgt von einem Fenster mit »Willkommen, Ashley« und der Nachricht: »Sie haben ungelesene E-Mails.«
»Bitte«, sagte Ashley. Sie stand auf.
Der Direktor drängte sich abrupt an ihr vorbei an die Tastatur.
»Hier«, erklärte er wütend. »Kürzliche Suchergebnisse.«
Unter ihrem Namen und Passwort tippte er energisch eine Tastenfolge. Das Bild vom Museum verschwand augenblicklich und machte einem schwarzroten Bildschirm Platz. Zu Marschmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte, erschien ein großes Hakenkreuz. Auch wenn Ashley das Horst-Wessel-Lied nicht kannte, war ihr der Charakter dieser Musik sofort klar. Sie machte staunend den Mund auf und versuchte, etwas zu sagen, doch sie konnte den Blick nicht vom Monitor lassen, auf dem jetzt eine alte Wochenschau in Schwarzweiß erschien, in der eine in Reih und Glied aufgestellte Menschenschar Sieg Heil! skandierte. Sie erkannte Leni Riefenstahls Der Triumph des Willens. Dies verblasste, und eine Website erschien mit dem Gruß: »Willkommen in der arischen Nation!« Augenblicklich folgte eine zweite Seite, auf der »Willkommen, Sturmbannführerin Ashley Freeman« zu lesen war. »Bitte geben Sie Ihr Passwort ein.«
»Müssen wir das vertiefen?«, fragte der stellvertretende Direktor.
»Das ist verrückt«, brachte Ashley hervor. »Das ist nicht von mir. Ich weiß nicht, wie …«
»Nicht von Ihnen?«
»Nein, ich weiß nicht wie, aber …«
Der stellvertretende Direktor zeigte auf den Bildschirm. »Also, dann geben Sie Ihr Museumspasswort ein.«
»Aber …«
»Tun Sie mir den Gefallen«, sagte er kalt.
Sie beugte sich vor und tippte es ein. Augenblicklich wechselte der Bildschirm, und eine neue Seite erschien. Wieder ertönte eine Fanfare. Etwas von Wagner.
»Ich verstehe das nicht …«
»Aber sicher, natürlich nicht …«
»Jemand hat mir das angehängt«, beteuerte Ashley. »Ein Exfreund von mir. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber er kennt sich mit Computern gut aus, und er muss …«
Der stellvertretende Direktor hob die Hand. »Sagten Sie nicht eben noch, bei Ihnen liefe alles ganz normal? Das war das Erste, was ich Sie gefragt habe, und Sie haben nein gesagt, es gebe nichts Besonderes. Ein Exfreund, der Sie auf einer modernen Nazi-Website zum Mitglied einer von Hass getriebenen Gruppierung macht, also wirklich, ich würde das schon als ungewöhnlich bezeichnen.«
»Das ist, er ist, ich weiß nicht …«
Der stellvertretende Direktor schüttelte den Kopf. »Bitte verärgern Sie mich nicht noch mehr mit lahmen Entschuldigungen. Sie sind den letzten Tag hier gewesen, Ashley. Selbst wenn Ihre Entschuldigung der Wahrheit entsprechen sollte, nun ja, wir können hier so etwas nicht dulden, weder den widerwärtigen Freund noch die echte Überzeugung. Beides ist in einer Atmosphäre der Toleranz, wie wir sie hier zu fördern versuchen, vollkommen inakzeptabel. Das hier ist Hass-Pornographie. Ich lasse das nicht zu. Und, um ehrlich zu sein, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich Ihnen glauben kann. Wir werden Ihnen Ihren letzten Gehaltsscheck zuschicken. Gute Nacht, Miss Freeman. Bitte kommen Sie nicht wieder. Und«, fügte er hinzu, »erwarten Sie auch keine Empfehlung.«
Ashley schwankte zwischen unbändiger Wut und Tränen der Enttäuschung, als sie durch die einbrechende Nacht zurück zu ihrer Wohnung ging. Mit jedem Schritt wurde sie wütender und konnte kaum noch die Schatten und die Dunkelheit erkennen, die sie umgaben. Fast im Stechschritt lief sie durch die Straßen der Stadt und versuchte vergeblich, sich einen Aktionsplan zurechtzulegen. Vor Zorn konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, und so überließ sie sich dem Aufruhr, bis ihr ganzer Körper zitterte. Niemand, der bei Sinnen war, würde einem anderen erlauben, das Leben vollkommen zu versauen, und sie war vollkommen bei Sinnen, also musste das Ganze ein Ende haben, und zwar noch an diesem Abend.
Sie warf ihre Jacke und ihren Rucksack aufs Bett und lief schnurstracks zum Telefon. In Sekundenschnelle hatte sie Michael O’Connells Nummer gewählt. Er klang verschlafen, nicht ganz da, als er sich meldete.
»Ja, wer ist da bitte?«
»Du weißt verdammt noch mal sehr gut, wer dran ist«, schrie sie bitter.
»Ashley! Ich wusste, dass du anrufen würdest …«
»Du Scheißkerl! Du hast mir meine Arbeit an der Uni versaut. Jetzt hast du mich um meinen Job gebracht. Was für ein mieser Typ bist du eigentlich?«
Er sagte nichts.
»Lass mich in Ruhe! Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«
Er schwieg.
Sie kam in Fahrt. »Ich hasse dich! Sei verdammt, Michael! Ich hab dir gesagt, es ist vorbei, und das meine ich auch! Ich will dich nie wiedersehen. Ich kann nicht fassen, dass du mir das antust. Und du hast die Stirn zu behaupten, dass du mich liebst? Du bist krank, du bist ein schlechter Mensch, Michael, und ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest. Für immer! Verstehst du?«
Er antwortete immer noch nicht.
»Hörst du, Michael? Es ist vorbei! Finito. Endgültig und für alle Zeiten. Was immer du dir eingebildet hast, es ist aus und vorbei. Geht das in deinen Schädel?«
Sie wartete auf eine Antwort, doch die blieb aus. Das Schweigen kroch langsam wie Weinranken an ihr hoch.
»Michael?«, fragte sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass er nicht mehr dran war, dass er aufgelegt hatte, so dass ihre Worte ins Leere gingen. »Hast du das begriffen? Es ist aus …«, versuchte sie es noch einmal.
Wieder begegnete ihr nur Schweigen.
Sie glaubte, seinen Atem durchs Telefon zu hören.
»Michael, bitte. Es muss ein Ende haben.«
Als er dann doch reagierte, erschrak sie beinahe.
»Ashley«, sagte er fast beschwingt, mit einem leisen Lachen in der Stimme, als spräche er eine andere Sprache, von der sie kein Wort verstand. »Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören. Ich zähle die Tage, bis wir wieder zusammen sein können.«
Er legte eine Pause ein, bevor er hinzufügte: »Für immer.«
Dann legte er auf.
»Aber etwas ist passiert«, vermutete ich.
»Ja«, erwiderte sie. »Etwas, das heißt, einiges ist passiert.«
Ich beobachtete ihr Gesicht und sah, dass sie um Worte rang. Sie zeigte ihren Widerwillen so, wie jemand im Winter einen warmen Pullover anzieht, um gegen den Wind und einen Kälteeinbruch gefeit zu sein.
»Und?«, fragte ich, von ihrer ausweichenden Art ein wenig gereizt. »Wie ist der Zusammenhang? Sie haben mein Interesse an der Geschichte geweckt, indem Sie gesagt haben, ich sollte mir einen Reim auf das Ganze machen. Bis jetzt bin ich nicht sicher, was ich davon halten soll. Ich sehe, was für Spielchen Michael O’Connell getrieben hat. Aber zu welchem Zweck? Ich sehe, wie ein Verbrechen Gestalt annimmt, aber was für eins?«
Sie hob die Hand, um mich zu unterbrechen.
»Sie wollen, dass die Dinge einfach sind, nicht wahr? Aber Verbrechen sind nicht so simpel. Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass dabei viele Kräfte mitspielen. Haben Sie sich noch nie gefragt, ob wir nicht mit dazu beitragen, dass eine psychisch oder emotional belastende Atmosphäre entsteht, in der schlechte Dinge, schreckliche Dinge einen Nährboden finden, so dass sie Wurzeln schlagen und sich irgendwann zu einem Alptraum auswachsen? Ob wir nicht eine Art Brutstätte für das Böse sind, jeder für sich? Sieht doch manchmal so aus, oder nicht?«
Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen betrachtete ich sie, wie sie in ihre Tasse starrte, als wollte sie im Kaffeesatz lesen.
»Beschleicht Sie nicht auch manchmal das Gefühl, dass wir ein unglaublich diffuses, zerrissenes Leben führen? In märchenhaften, glücklicheren Zeiten, da wurde man erwachsen und blieb, wo man hingehörte. Kaufte vermutlich ein Haus in derselben Straße, wo die Eltern wohnen. Stieg ins Familienunternehmen ein. Auf die Weise waren wir alle weiter miteinander verbunden, auf derselben Wellenlänge, in derselben Umgebung. Das waren noch naive Zeiten. Wie im Fernsehen, Die Honeymooners und Vater ist der Beste. Was für eine reizende Idee: Vater ist der Beste. Jetzt genießen wir eine gute Bildung und suchen das Weite.«
Sie schwieg, bevor sie mich fragte: »Was würden Sie denn tun, wenn Sie begreifen müssten, dass jemand Ihr Leben ruinieren will? Und«, fügte sie hinzu, »verstehen Sie denn nicht? Aus unserer Sicht, von unserer sicheren Warte aus ist es nicht schwer zu erkennen, dass da ein Mensch ist, der versucht, ihr Leben zu zerstören. Aber das konnten sie nicht sehen …«
»Und wieso nicht?«, platzte ich heraus.
»Weil das keinen Sinn ergibt. Es ist nicht plausibel. Ich meine, wieso? Wieso sollte er das machen …«
»Na schön, wieso?«
»Noch nicht«, erwiderte sie. »Das müssen Sie selbst rausfinden. Ein paar Dinge sind jedoch klar: Obwohl er nicht halb so viel Bildung, halb so viel Mittel, halb so viel Prestige besaß, verfügte Michael O’Connell über die ganze Macht. Er war doppelt so gewieft wie sie, weil sie wie alle anderen waren, er aber nicht. Da waren sie nun, gingen ihm immer tiefer in das Netz seiner tiefen Bösartigkeit, ohne dass sie es erkannten. Jedenfalls nicht als das, was es war. Was würden Sie machen? Ist das nicht die Frage? Schreckliche Dinge sind passiert, aber wo liegt die wahre Bedrohung?«
Ich antwortete nicht direkt. Stattdessen wiederholte ich meine Frage, auf die ich immer noch eine Antwort wollte. »Aber etwas änderte sich?«
»Ja, es kam ein Moment der Klarheit.«
»Wie das?«
Sie lächelte.
»Eine Glückssträhne in einer ansonsten immer unglücklicheren Situation.«