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Eine junge Frau von gewöhnlicher Unwissenheit

 

Zwei Tische entfernt von Ashley Freeman und ihren Freunden saß ein halbes Dutzend Mitglieder einer Baseball-Mannschaft der Northeastern University und diskutierte hitzig über die Stärken und Schwächen der Yankees und der Red Sox, wobei die Urteile jeweils laut und teilweise derb ausfielen. Hätte Ashley nicht in ihren vier Studienjahren in Boston viele Stunden in Studentenkneipen zugebracht, hätte sie die Lautstärke vielleicht irritiert, doch so war sie mit dieser und ganz ähnlichen Debatten hinlänglich vertraut. Gelegentlich kam es dabei zu Schubsereien oder Handgreiflichkeiten, meistens ließen es die Kontrahenten jedoch beim verbalen Schlagabtausch bewenden. Oft wurden phantasievolle Spekulationen darüber ausgetauscht, welche bizarren sexuellen Praktiken die Spieler der einen oder der anderen Mannschaft in ihrer Freizeit pflegten. Tiere vom Bauernhof spielten dabei eine zentrale Rolle.

Ihr gegenüber waren ihre Freunde in eine eigene leidenschaftliche Diskussion vertieft. Es ging um eine Ausstellung von Goyas berühmten Skizzen Die Schrecken des Krieges, die an der Harvard University zu sehen war. Sie waren mit der U-Bahn quer durch die Stadt zur Ausstellung gefahren und dann verstört zwischen den schwarzweißen Zeichnungen von Verstümmelung, Folter, Meuchelmord und Todesqual umhergewandert. Dabei war Ashley aufgefallen, dass man zwar die Zivilbevölkerung immer klar von den Soldaten unterscheiden konnte, diese Einteilung den Menschen aber keine Anonymität gewährte. Und genauso wenig Sicherheit. Der Tod, musste sie denken, ist ein Gleichmacher. Er bricht den menschlichen Geist, ungeachtet der politischen Überzeugungen. Er ist unerbittlich. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. Bilder, besonders von Gewalt, setzten ihr sehr zu, daran hatte sich seit ihrer Kindheit nichts geändert. Sie blieben ihr hartnäckig im Gedächtnis haften, sei es nun Salome, die in einer Renaissance-Version den Kopf des Johannes bewundert, oder Bambis Mutter, die versucht, den Jägern zu entkommen. Selbst das thea tralische Morden in Quentin Tarantinos Kill Bill fand sie irritierend.

Ihr Date aus Fleisch und Blut war an diesem Abend ein schlaksiger, langhaariger Psychologie-Absolvent vom Boston College namens Will, der sich über den Tisch beugte und, während er ein Argument vorbrachte, versuchte, den Abstand zwischen seiner Schulter und ihrem Arm zu reduzieren.

Zarte Berührungen waren, fand sie, wichtiger Bestandteil der Werbung. Jede noch so kleine geteilte Empfindung konnte zu etwas Intensiverem führen. Sie wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Ganz offensichtlich war er intelligent und nachdenklich. Er war mit einem halben Dutzend Rosen an ihrer Wohnungstür erschienen, der psychologischen Entsprechung einer »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte beim Monopoly, wie er sagte. Das heißt, er konnte etwas Beleidigendes oder Dämliches tun oder sagen, und sie sah es ihm zumindest einmal nach. Ein Dutzend Rosen, sagte er, wären zu viel gewesen, allzu offensichtlich, wohingegen die Hälfte zugleich vielversprechend wie unverbindlich war. Ihr war das witzig und nachvollziehbar erschienen, und so fand sie ihn anfänglich nett, doch es dauerte nicht lange, bis sie das Gefühl bekam, dass er ein wenig zu sehr von sich eingenommen war und sich gerne selbst reden hörte, was sie enttäuschend fand.

Ashley strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte zuzuhören.

»Goya wollte schockieren. Er wollte den Politikern und Aristokraten, die den Krieg verherrlichten, die Realität vor Augen halten, so dass sie nicht wegsehen konnten …«

Die letzten Worte seiner Bemerkung gingen wegen des Gebrülls zwei Tische weiter unter. »Ich sag dir, worin Derek Jeter gut ist. Er beugt sich vornüber und …«

Sie musste innerlich grinsen. Es kam ihr plötzlich vor, als sei sie in eine Bostoner Variante von Twilight Zone geraten, mitten zwischen Schnösel und Pöbel.

Sie wechselte die Stellung und hielt eine neutrale Distanz, die Will weder er- noch entmutigte, und dachte unwillkürlich daran, wie viel Pech sie bis dahin in der Liebe gehabt hatte. Sie fragte sich, ob das einfach nur eine vorübergehende Phase war, wie das Erwachsenwerden, oder die Aussicht auf ihre Zukunft. Sie hatte das Gefühl, dass ihr irgendetwas kurz bevorstand, doch sie wusste nicht, was.

»Sicher, nur hat die Kunst schon immer mit dem Dilemma gekämpft, dass sie – auch wenn sie den Krieg zeigt, wie er ist – ihn noch nie verhindern konnte, sondern immer nur als Kunst gefeiert wird. Wir fühlen uns von Guernica magisch angezogen und sind ungemein beeindruckt von Picassos tiefer Vision, aber empfinden wir deshalb mit den Bauern, die im Bombenhagel gestorben sind, so etwas wie Mitgefühl? Sie waren mal Menschen aus Fleisch und Blut. Ihr Tod war real. Doch er wird dem Kunstwerk untergeordnet.«

Das wiederum sagte Will, ihr Rendezvous. Ashley räumte ein, dass es eine kluge Bemerkung war, andererseits aber auch etwas, das jeder x-beliebige, politisch korrekt denkende College-Student hätte sagen können. Sie warf einen Blick zu den lauten Baseballspielern hinüber. Auch wenn der Alkohol eine Rolle spielte, gefiel ihr der Überschwang an ihrer Kabbelei. Sie liebte es, mit einem Bier im Fenway-Park-Stadion zu sitzen, aber auch, durchs Museum of Fine Art zu schlendern. Sie war sich nicht sicher, in welche Diskussionsrunde sie besser passte.

Ashley warf Will einen verstohlenen Blick zu. Wahrscheinlich glaubte er, dass er ein Mädchen mit intellektueller Protzerei am schnellsten ins Bett bekam. Das war typisch für ältere Semester. Sie beschloss, ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen.

Ashley schob abrupt ihren Stuhl zurück und stand auf. »He!«, brüllte sie. »Ihr da drüben, seid ihr vom BC? Von der BU? Der Northeastern?«

Der Tisch der Baseballspieler verstummte augenblicklich. Wenn ein schönes Mädchen jungen Männern etwas zuruft, kann sie sich sicher sein, volles Gehör zu finden.

»Northeastern«, erwiderte einer von ihnen und erhob sich halb, um ihr mit fernöstlicher Höflichkeit zuzunicken, was zur Etikette der Rowdy-Bar allerdings in krassem Gegensatz stand.

»Na ja, wer Lobeshymnen auf die Yankees singt, der kann sie gleich auf General Motors oder IBM singen oder auf die Republikaner. Ein Red-Sox-Fan zu sein hat was mit Poesie zu tun. Jeder kommt einmal an einen Scheideweg im Leben, an dem er Farbe bekennen muss. Genug der Worte.«

Die anderen Jungs am Tisch brachen in schallendes Gelächter und gespielte Empörung aus.

Will lehnte sich grinsend zurück. »Das«, sagte er, »nenne ich knapp und bündig geantwortet.«

Ashley lächelte und fragte sich, ob er am Ende doch ganz nett war.

 

In früheren Jahren hatte sie manchmal gedacht, dass es wohl im Grunde leichter war, unscheinbar zu sein. Unscheinbare Mädchen konnten sich verstecken.

Mit dreizehn oder vierzehn hatte sie eine radikale Phase durchgemacht, in der sie so ziemlich gegen alles war: Sie führte lautstarke, fußstampfende Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Lehrern, ihren Freunden, trug schlabberige, sackartige, erdfarbene Klamotten, setzte eine leuchtend rote Strähne in ihrem Haar direkt neben eine tintenschwarze, hörte Grunge-Rock, trank starken, schwarzen Kaffee, probierte es mit Rauchen und sehnte sich nach Tattoos und Body-Piercings. Diese Phase hatte ein paar Monate angehalten, lange genug, um sich mit so ziemlich allem, was sie an der Schule machte, sowohl im Unterricht als auch beim Sport, Ärger einzuhandeln. Es kostete sie ein paar Freundschaften, und diejenigen, die ihr die Stange hielten, runzelten ein wenig besorgt die Stirn.

Zu Ashleys Überraschung war in diesem Lebensabschnitt die einzige Erwachsene, mit der sie in halbwegs zivilisierter Weise reden konnte, Hope, die Gefährtin ihrer Mutter. Das war wirklich erstaunlich, da ein Teil von ihr Hope für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich machte und sie ihren Freunden oft erzählt hatte, wie sehr sie die Frau dafür hasste. Diese Unwahrheit hatte ihr zu schaffen gemacht, schon weil es das war, was ihre Freunde von ihr hören wollten, und es sie beunruhigte, dass sie ihnen nach dem Munde redete. Nach Grunge und Gothic hatte sie sich eine Zeitlang in der Rolle der Musterschülerin im Schottenröckchen gefallen, danach dann als Sportfanatikerin, worauf sie sich einige Wochen lang dem Veganertum verschrieb und nur noch Tofu und Veggie-Burger aß. Sie hatte sich im Theaterspielen versucht und ganz passabel die Bibliothekarin Marian in dem Musical The Music Man hingelegt, hatte sich in seitenlangen Ergüssen ihrem Tagebuch anvertraut, sich zeitweise als Emily Dickinson, Eleanor Roosevelt und Carrie Nation stilisiert – mit einem Touch von Gloria Steinem und Mia Hamm. Sie hatte für Habitat for Humanity an einem Haus mitgebaut und war mit dem größten Drogendealer ihrer Highschool zu einem furchterregenden Trip in eine nahe gelegene Stadt mitgefahren, um eine gewisse Menge Crack abzuholen – ein Abenteuer, das auf einer Überwachungskamera der Polizei festgehalten wurde und den Anruf eines Kriminalbeamten bei ihrer Mutter nach sich zog. Sally Freeman-Richards war außer sich vor Wut gewesen, hatte ihrwochenlang Hausarrest erteilt, sie angeschnauzt und ihr klargemacht, dass sie weiß Gott von Glück sagen konnte, nicht hinter Gittern gelandet zu sein, und dass sie es schwer haben würde, das Vertrauen ihrer Mutter wiederzuerlangen. Hope und ihr Vater waren jeweils zu nachsichtigeren Schlüssen gekommen und hatten von jugendlicher Rebellion geredet, wobei Scott sich an ein paar Dummheiten erinnerte, die er sich in ihrem Alter geleistet hatte, über die sie lachen konnte und die sie trösteten. Sie glaubte nicht, dass sie bewusst auf Gefahr aus war, doch Ashley wusste auch, dass sie es ab und zu darauf ankommen ließ, und sie hielt sich für einen Glückspilz, wenn sie daran dachte, dass sie bis jetzt ungeschoren davongekommen war. Ashley kam sich oft vor wie Ton auf einer Töpferscheibe, die sich so lange dreht, bis die Masse Gestalt annimmt, und sie rechnete jeden Moment mit dem Hitzeschwall des Schmelzofens, um gebrannt zu werden.

Sie fühlte sich orientierungslos. Ihren Job beim Museum, wo sie beim Katalogisieren der Exponate half, machte ihr wenig Spaß. Es war ein Job, bei dem man in einem Hinterzimmer hockte und auf einen Computerbildschirm starrte. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob das Graduierten-Programm in Kunstgeschichte, für das sie sich beworben hatte, das Richtige für sie war, denn manchmal dachte sie, dass sie nur deshalb auf dieses Fach verfallen war, weil sie geschickt mit Stift, Tinte und Pinsel umgehen konnte. Das machte ihr schwer zu schaffen, denn wie so viele junge Menschen glaubte sie, dass sie nur das tun sollte, was sie wirklich liebte. Und noch hatte sie nicht herausgefunden, was es war.

Sie hatten die Bar verlassen, und Ashley zog gegen die abendliche Kälte den Mantel enger um sich. Ihr war bewusst, dass Will ein bisschen Beachtung verdiente. Er sah gut aus, war aufmerksam und hatte möglicherweise Sinn für Humor. Er hatte einen seltsamen, etwas hoppelnden, irgendwie drolligen Gang und war im Großen und Ganzen jemand, der bei ihr durchaus Chancen besaß. Zugleich wurde ihr allerdings bewusst, dass sie bereits fast zwei Häuserblocks gelaufen waren und nur noch etwa fünfzig Meter bis zu ihrer Haustür hatten, und bis jetzt hatte er ihr noch keine richtige Frage gestellt.

Ihr fiel ein kleines Spielchen ein. Falls er ihr eine Frage stellte, die sie interessant fand, hatte er sich ein zweites Date verdient. Fragte er sie dagegen nur, ob er mit raufkommen könnte, war es das gewesen.

»Was meinst du?«, fragte er plötzlich. »Wenn Typen in einer Bar sich wegen Baseball in die Haare kriegen, geht es ihnen dabei um den Sport oder um den Streit? Ich meine, schließlich gibt es letztlich keine richtigen Antworten, sondern nur die Loyalität gegenüber einer Mannschaft. Und über blinde Treue lässt sich eigentlich nicht streiten, oder?«

Ashley lächelte. Das war sein zweites Date.

»Natürlich«, fügte er hinzu, »ist Liebe zu den Red Sox etwas für mein Oberseminar in ›Die Psychologie des Abnormen‹.«

Sie lachte. Eindeutig ein zweites Date.

»Da wären wir«, sagte sie. »War ein netter Abend.«

Will sah sie an. »Sehen wir uns wieder? Das nächste Mal vielleicht in einer etwas ruhigeren Umgebung?«, schlug er vor.

»Vielleicht können wir uns besser kennenlernen, wenn wir nicht gegen das Gebrüll und die wilden Spekulationen über Derek Jeters Vorlieben für Lederpeitschen und Sexspielzeuge in Überlebensgröße und die Körperöffnungen, in die sie eingeführt werden, ankämpfen müssen.«

»Das fände ich schön«, sagte Ashley. »Rufst du mich an?«

»Ganz bestimmt«, antwortete Will.

Sie stieg die erste Stufe zum Eingang ihres Wohnblocks hoch, als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch seine Hand hielt. Sie drehte sich um und gab ihm einen langen Kuss. Einen relativ keuschen Kuss, bei dem ihre Zunge nur so eben zwischen seine Lippen drang. Ein verheißungsvoller Kuss, der für die folgenden Tage mehr versprach, wenn auch nicht für diese Nacht. Er schien die Botschaft zu verstehen, was sie zu schätzen wusste, denn er trat einen halben Schritt zurück, verbeugte sich galant wie ein Höfling aus dem 18. Jahrhundert und verabschiedete sich mit einem Handkuss.

»Gute Nacht«, sagte sie. »Ich fand’s wirklich schön.«

Ashley drehte sich um und betrat das Gebäude. Zwischen den beiden Glastüren wandte sie sich noch einmal um. Die Glühbirne über der Haustür warf einen kleinen gelben Lichtkegel auf die Treppe, und sie konnte undeutlich erkennen, wie Will an der Grenze zwischen dem fahlen Schimmer und der tiefschwarzen Nacht verweilte. Ein Schatten streifte sein Gesicht wie ein dunkler Pfeil, der auf ihn zielte. Doch sie dachte sich nichts dabei, winkte ihm noch einmal kurz zu und ging die Treppe zu ihrer Wohnung hoch, während sie die Vorfreude genoss und darüber zufrieden war, dass sie einen One-Night-Stand, wie er gang und gäbe war in den College-Kreisen, die sie demnächst hinter sich ließ, keine Sekunde lang in Betracht gezogen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Als sie das letzte Mal dieser Versuchung nachgegeben hatte, war es schrecklich gewesen. Als ihr Vater aus heiterem Himmel bei ihr anrief, hatte er sie daran erinnert. Doch ebenso schnell, wie sie die Schlüssel zu ihrer Wohnung herausgefischt hatte, verbannte sie den Gedanken an frühere schlechte Nächte und überließ sich dem angenehmen Gefühl des ausklingenden Abends.

Sie war gespannt, wie lange Will nach dem ersten Date brauchen würde, um sie zum zweiten einzuladen.

 

Nachdem Ashley hinter der zweiten Tür verschwunden war, blieb Will Goodwin noch einen Moment lang in der Dunkelheit stehen. Er genoss die Woge der Freude, diese Hochstimmung und Leichtigkeit angesichts des zurückliegenden Abends und der rosigen Aussichten auf mehr.

Er war ein bisschen überwältigt. Von der Freundin eines Freundes, die ihm Ashleys Telefonnummer gegeben hatte, wusste er bis zu diesem Treffen nur so viel, dass Ashley schön und intelligent, wenn auch ein bisschen unergründlich sei, doch sie hatte seine kühnsten Erwartungen in jeder Hinsicht übertroffen. Er war bei ihr wohl nur knapp um das Langweiler-Etikett herumgekommen.

Gegen den zunehmend kalten Wind vorgebeugt, steckte Will die Hände tief in seine Parkataschen und machte sich auf den Weg. Die Luft hatte etwas Archaisches an sich, als würde genau dieselbe frostige Oktoberbrise seit Generationen durch Bostons Straßen fegen. Er merkte, wie sich von diesem unnachgiebigen nächtlichen Ansturm seine Wangen röteten, und er hastete zur U-Bahn-Haltestelle. Mit seinen langen Beinen kam er auf dem Bürgersteig zügig voran. Sie war auch ziemlich groß, knapp eins fünfundsiebzig, schätzte er, mit einer geschmeidigen Model-Figur, die auch Jeans und ein weites Baumwoll-Sweatshirt nicht verbergen konnten. Während er zwischen dem Verkehr hindurch auf halber Höhe des Häuserblocks die Straße überquerte, wunderte er sich darüber, dass die Kerle sie nicht belagerten; wahrscheinlich lag es an einer unglücklichen Beziehung oder anderen schlechten Erfahrungen, die sie hinter sich hatte. Er beschloss, nicht darüber zu spekulieren, sondern einfach nur seinem glücklichen Schicksal zu danken, dass er Ashley über den Weg gelaufen war. Bei seinem Studium ging es ständig um Wahrscheinlichkeit und Vorhersehbarkeit. Doch er war skeptisch, dass die statistischen Methoden, von denen er bei seiner klinischen Arbeit mit Laborratten Gebrauch machte, bei so etwas wie der Begegnung mit Ashley irgendeine Aussagekraft besaßen.

Will musste innerlich grinsen, während er in großen Sprüngen die Stufen zur U-Bahn hinunterhechtete.

Wie in den meisten Großstädten auf dem Globus hat man auch in Boston das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, wenn man durch die Drehkreuze auf die Bahnsteige gelangte. Die weiß gekachelten Wände glitzern im Neonlicht, zwischen den Stahlpfeilern sammeln sich die Schatten. Das Getöse der ein- und ausfahrenden Züge am eigenen Bahnsteig reißt ebenso wenig ab wie das dumpfe Dröhnen auf den entfernteren Gleisen. Die Außenwelt ist abgeschnitten. In diesem kleinen Paralleluniversum scheinen Wind, Regen und Schnee oder auch nur die warme Sonne Bestandteil einer anderen Welt zu sein.

Sein Zug hielt mit lautem Kreischen, und Will stieg zügig zusammen mit einem Dutzend Fahrgästen ein. In dem kalten Licht wirkten alle kränklich bleich. Einen Moment lang spekulierte er über die Unbekannten, die sich entweder hinter einer Zeitung oder einem Buch versteckten oder mit leerem Blick geradeaus starrten. Er lehnte den Kopf zurück und genoss das Rütteln und Wiegen in seinen Gliedern wie ein Baby auf dem Arm der Mutter. Er würde sie morgen anrufen, nahm er sich vor. Sie einladen und ein wenig am Telefon mit ihr plaudern. Er ging die möglichen Themen durch und versuchte, sich eines einfallen zu lassen, das überraschend wäre. Er überlegte, wohin er sie einladen sollte. Ins Kino? Zu offensichtlich. Er hatte das Gefühl, dass Ashley zu den Frauen gehörte, für die man sich etwas Besonderes einfallen lassen musste. Vielleicht ins Theater? Kabarett? Und anschließend noch zum Essen, allerdings nicht in die übliche Bier-und-Burger-Bude. Aber auch nichts Snobistisches vermutlich. Auf jeden Fall etwas, wo sie Ruhe hatten. Also erst was zum Lachen und dann was Romantisches. Der Plan strotzte vielleicht nicht vor Originalität, aber er war plausibel.

Er hatte seine Haltestelle erreicht und sprang fast mit einem Satz von seinem Platz und aus dem Zug, um zügig, wenn auch ein bisschen gedankenverloren, zum Ausgang zu gelangen. Oben angekommen, drangen die Lichter vom Porter Square durch die Dunkelheit und suggerierten Leben, wo Menschenleere herrschte. Wieder beugte er sich gegen die Kälte vor und bog vom Platz in eine Seitenstraße ein. Er wohnte vier Häuserblocks entfernt. Er ging in Gedanken die Restaurants durch, die er kannte, um das Richtige zu finden, in das er sie einladen würde. Als er einen Hund bellen hörte, drosselte er erschrocken das Tempo. In der Ferne zerschnitt eine Krankenwagensirene die Nacht. In einigen Fenstern der Maisonettes und Wohnungen dieses Häuserblocks schimmerte das fahle Licht der Fernseher, die meisten lagen jedoch im Dunkel.

Rechts von ihm drang ein scharrendes Geräusch wie von einer Katze aus einer schmalen Gasse, und er wandte unwillkürlich den Kopf. Plötzlich sah er, wie eine schwarze Gestalt in seine Richtung stürzte. Erstaunt machte er einen Schritt zurück und hielt instinktiv einen Arm hoch, um sich zu schützen. Er dachte noch, dass er um Hilfe schreien sollte, doch dann ging alles viel zu schnell, und ihm blieb nur noch ein einziger Moment des Schocks und der panischen Angst, weil er wusste, dass etwas mit großer Geschwindigkeit auf ihn zielte. Es war ein Bleirohr, das mit einem Zischen durch die Luft schwang, als wäre es ein Schwert, und mit unerbittlicher Wucht seine Stirn traf.

 

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Ich musste mir sieben Stunden lang die Augen verderben, bis ich schließlich Will Goodwins Namen im Boston Globe entdeckte. Nur dass unter der Überschrift »Studienabsolvent niedergeschlagen – Polizei fahndet nach dem Täter« ein anderer Name stand. Der Artikel selbst war knappe vier Absätze lang und enthielt herzlich wenig Informationen, nur so viel, dass die erlittenen Verletzungen als so schwer eingestuft wurden, dass er ins Massachusetts General Hospital eingeliefert werden musste, wo man seinen Zustand weiterhin als kritisch beurteilte. Ein Passant hatte ihn am frühen Morgen blutüberströmt hinter einigen Mülleimern in einer schmalen Gasse entdeckt. Die Polizei bat um Hinweise aus der Bevölkerung des Stadtteils Somerville, falls jemand etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hatte. Die Meldung stand im Lokalteil ganz unten.

Das war alles.

Kein Folgebericht am nächsten Tag oder in den Wochen danach. Nichts weiter als ein Moment städtischer Gewalt, der gemeldet wurde, wie es sich gehörte, ebenso schnell zur Kenntnis genommen wie vergessen und von der Flut der neu hereinbrechenden Nachrichten verdrängt.

Ich musste mich weitere zwei Tage durchtelefonieren, um an eine Adresse heranzukommen. Vom Büro der Absolventen am Boston College erfuhr ich, dass er ein weiterführendes Studium, für das er sich eingeschrieben hatte, nicht hatte abschließen können; außerdem gab man mir seine Hauptadresse in Concord, einem Vorort von Boston. Eine Telefonnummer war allerdings nicht verzeichnet.

Concord ist eine schöne Wohngegend mit stattlichen Häusern, die das Flair alter Zeiten verströmen. Der Vorort schmückt sich mit einer ausgedehnten Grünfläche und einer imposanten Stadtbibliothek, einer Privatschule und einem pittoresken Stadtzentrum voll modischer Geschäfte. In jüngeren Jahren bin ich mit meinen eigenen Kindern hierhergekommen; ich habe mit ihnen die nahe gelegenen Kriegsschauplätze besucht und ihnen dabei Longfellows berühmtes Gedicht vorgetragen. Wie so viele Städte in Massachusetts hat das Städtchen bei seiner baulichen Planung die Geschichte hintangestellt. Das Haus allerdings, aus dem der Mann kam, den ich unter dem Namen Will Goodwin kannte, war ein älteres Gebäude im Stil der Farmhäuser aus frühkolonialer Zeit, ein Stück zurückgesetzt an einer Nebenstraße und über eine etwa fünfzig Meter lange Kieseinfahrt zu erreichen. Im Vorgarten hatte sich jemand offensichtlich Mühe bei der Anpflanzung der Blumen gegeben. Eine kleine Plakette auf der strahlend weiß gestrichenen Fassade datierte das Anwesen auf 1789. Zu einer Seitentür führte eine hölzerne Rollstuhlrampe. Ich näherte mich dem Haupteingang, mir schlug der Duft von Hibiskusblüten entgegen, und zögerlich klopfte ich an.

Eine zart gebaute, grauhaarige Frau mittleren Alters öffnete die Tür.

»Hallo, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie.

Ich stellte mich vor, entschuldigte mich für mein unangekündigtes Erscheinen und erklärte ihr, es sei mir nicht möglich gewesen, sie anzurufen, da ich keine Telefonnummer gefunden hätte. Ich erklärte ihr, ich sei Schriftsteller und recherchierte einige Verbrechen, die vor mehreren Jahren in der Gegend von Cambridge, Newton und Somerville verübt worden waren, und wüsste gerne, ob ich ihr ein paar Fragen zu Will stellen dürfe oder, noch besser, mit ihm selbst sprechen könne.

Sie war erschrocken, schlug mir jedoch nicht die Tür vor der Nase zu.

»Ich weiß nicht, ob wir Ihnen weiterhelfen können«, sagte sie höflich.

»Es tut mir wirklich leid, so hereinzuschneien«, erwiderte ich. »Ich habe lediglich ein paar Fragen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er will nicht …«, brachte sie heraus, doch weiter kam sie nicht. Während sie mich ansah, begann ihre Unterlippe zu zittern, und ihre Augen wurden feucht. »Es war einfach …« Doch in diesem Moment wurde sie von einer Stimme im Hintergrund unterbrochen: »Mutter, wer ist das?« Während sie zögerte, blickte ich an ihr vorbei und sah einen Mann im Rollstuhl aus einem Nebenzimmer kommen. Seine Haut war fahl, sein braunes Haar eine ungepflegte, strähnige Masse, die ihm fast bis auf die Schulter fiel. Über die obere rechte Stirnhälfte zog sich eine z-förmige, mattrote Narbe fast bis zur Augenbraue hinunter. Seine Arme schienen drahtig und muskulös, seine Brust dagegen eingefallen, beinahe ausgezehrt. Er hatte große Hände mit eleganten langen Fingern, und ich konnte mir ein vages Bild von dem Mann machen, der er einmal gewesen sein musste. Er rollte heran.

Seine Mutter sah mich an. »Es war sehr schwer«, sagte sie leise und erstaunlich offenherzig.

Die Gummireifen des Rollstuhls quietschten, als er stehenblieb. »Hallo«, sagte er nicht unfreundlich.

Ich stellte mich vor und beeilte mich, ihm zu erklären, dass ich mich für das Verbrechen interessierte, das ihn zum Krüppel gemacht hatte.

»Mein Verbrechen?« Er erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er schob augenblicklich selbst eine hinterher. »Ich glaube nicht, dass es etwas Besonderes war. Ein gewöhnlicher Überfall. Jedenfalls kann ich Ihnen nicht allzu viel darüber erzählen«, sagte er. »Zwei Monate im Koma, und dann das …« Er deutete auf den Rollstuhl.

»Hat es je Festnahmen gegeben?«

»Nein, als ich endlich erwachte, war ich, fürchte ich, keine große Hilfe mehr. Ich kann mich absolut nicht mehr an diesen Abend erinnern. An rein gar nichts. Es ist, als drückte man auf einer Computertastatur auf die Backspace-Taste und sähe zu, wie die Buchstaben eines Textes einer nach dem anderen verschwinden. Man weiß zwar, dass der Text noch irgendwo auf der Festplatte sein muss, aber man hat keine Ahnung, wo. Er ist einfach weg.«

»Sie waren auf dem Nachhauseweg von einem Date?«

»Ja. Danach hatten wir nie wieder Kontakt. Nicht weiter verwunderlich. Ich war übel zugerichtet. Bin ich immer noch.« Er lachte trocken und lächelte gequält.

Ich nickte. »Die Cops haben nicht viel rausgefunden, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Na ja, ein paar Ungereimtheiten.«

»Nämlich?«, hakte ich nach.

»In Roxbury haben sie ein paar Jugendliche dabei erwischt, wie sie versuchten, meine Visa-Karte zu verwenden. Ein paar Tage lang dachten sie, diese Jungs hätten mich zusammengeschlagen, aber das hat sich nicht bestätigt. Sie hatten die Karte offenbar nur in der Nähe eines Müllcontainers aufgelesen.«

»Ah. Aber wieso …«

»Weil jemand anders in Dorchester meine Brieftasche mit sämtlichen Ausweispapieren gefunden hat, Sie wissen schon, Mensakarte, Sozial- und Krankenversicherung – alles noch beisammen. Meilenweit von dem Müllcontainer entfernt, wo die Jugendlichen meine Kreditkarte eingesackt hatten. Die Sachen waren quer über Boston verteilt.«

Er lächelte. »Ein bisschen so wie mein Hirn.«

»Was machen Sie im Moment?«, fragte ich.

»Im Moment?« Will sah seine Mutter an. »Im Moment warte ich einfach ab.«

»Abwarten? Was?«

»Weiß nicht«, sagte er. »Reha im Kopftrauma-Zentrum. Auf den Tag, an dem ich aus diesem Stuhl komme. Viel mehr kann ich nicht machen.«

Ich trat zurück, und seine Mutter wollte die Tür schließen.

»Hören Sie!«, rief er. »Meinen Sie, der Kerl, der mir das angetan hat, wird je gefunden?«

»Kann ich nicht sagen«, antwortete ich. »Aber sollte ich etwas rausfinden, dann gebe ich Ihnen Bescheid.«

»Ich hätte nichts gegen einen Namen und eine Adresse«, sagte er leise. »Ich glaube, ein paar Dinge würde ich gerne selbst erledigen.«