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Ein Anflug von Panik

 

Ashley beugte sich zum Monitor vor und versuchte, jedes Wort, das vor ihr aufflimmerte, richtig einzuschätzen. Seit über einer Stunde hatte sie unverändert in dieser Haltung dagesessen, so dass sich allmählich ihr Rücken verspannte. Sie merkte, wie ihre Muskeln in den Waden zu zittern begannen, als hätte sie an diesem Tag ihr übliches Jogging-Pensum überzogen.

Die E-Mail-Botschaften waren eine schwindelerregende Phalanx an Liebesbekundungen, elektronisch geschaffene Herzen, Ballons, schlechte Poesie von O’Connells eigener Hand, entschieden bessere Verse, die er bei Shakespeare oder Andrew Marvell oder sogar Rod McKuen zusammengeklaubt hatte. Es wirkte alles unglaublich kindisch und billig und doch ganz und gar furchterregend.

Sie versuchte, einzelne Wortkombinationen und Phrasen aus den E-Mails herauszuschreiben und eine verschlüsselte Botschaft darin zu erkennen.

Er hatte ihr die Aufgabe nicht erleichtert und zum Beispiel ein Wort kursiv oder fett gesetzt. Als sie nahezu zwei Stunden darüber gebrütet hatte, warf sie genervt den Bleistift in die Ecke. Sie kam sich so dämlich vor, weil ihr offensichtlich etwas entging, das jeder Fan von Kreuzworträtseln oder Akrosticha herausbekommen hätte.

»Was soll das Ganze?«, herrschte sie den Monitor an. »Was willst du mir sagen?«

Sie erschrak darüber, wie ungewohnt schrill ihre Stimme klang. Sie scrollte zurück, begann noch mal von vorne und ging jede Nachricht erneut durch, von der ersten bis zur letzten. Eine Mail nach der anderen leuchtete auf dem Bildschirm auf und verschwand, ohne dass sie weiterkam.

»Was? Was? Was?«, schrie sie bei jeder neuen Nachricht.

Und in dieser Sekunde wurde es ihr klar.

Michael O’Connells Nachricht war nicht in den E-Mails versteckt, die er ihr geschickt hatte. Die Nachricht war die Tatsache, dass er sie hatte schicken können.

Jede verzeichnete als Absender eine der Adressen, die sie auf ihrem PC gespeichert hatte. Und jede kam von ihm. Die Tatsache, dass sie Liebesbeteuerungen auf Grundschulniveau enthielten, war ohne jeden Belang. Der springende Punkt war, dass er in der Lage gewesen war, sich in ihren Computer einzuhacken, und dass er sie durch eine geschickte Wortwahl dazu gebracht hatte, jede einzelne Nachricht zu lesen. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie ihm durch das Öffnen seiner Nachrichten wahrscheinlich irgendeinen elektronischen Zugang verschafft hatte. Michael O’Connell war wie ein Virus, und jetzt war er ihr fast so nahe, als säße er neben ihr.

Ashley atmete heftig ein und verlor fast das Gleichgewicht, als sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und merkte, wie sich das Zimmer um sie zu drehen begann. Sie hielt sich mit beiden Händen an den Lehnen fest und holte ein paar Mal tief Luft, um ihren jagenden Herzschlag in den Griff zu bekommen.

Langsam wendete sie sich um und ließ den Blick über die kleine Welt ihrer Wohnung schweifen. Michael O’Connell hatte genau eine Nacht hier verbracht, noch dazu eine verkürzte. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sie beide ein bisschen betrunken waren, als sie ihn eingeladen hatte, mit hochzukommen. In ihrer jetzigen verängstigten, stocknüchternen Verfassung versuchte sie, im Geist noch einmal durchzuspielen, was geschehen war. Sie war wütend auf sich, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie viel er tatsächlich getrunken hatte. Ein Bier? Zwei? Hatte er sich zurückgehalten, während sie weitere Drinks bestellte? Ihre Panik hatte die Erinnerung daran erschüttert. Was in der Nacht passiert war, ließ sich am besten als eine abstoßende Form von Kontrollverlust beschreiben, eine Stimmung, die sie an sich nicht kannte und die ihr wesensfremd war. Sie hatten etwas unbeholfen die Kleider abgestreift und dann wie wild auf ihrem Bett kopuliert. Es war ein hektischer, gereizter Akt gewesen, ohne viel Zärtlichkeit: Nach wenigen Sekunden war es vorbei. Sollten tatsächlich irgendwelche Gefühle im Spiel gewesen sein, so konnte sie sich nicht daran erinnern. Für sie war es eine explosive, rebellische Entladung gewesen, zu einem Zeitpunkt, als sie nach einem lautstarken, unschönen Bruch mit ihrem Freund aus dem vorletzten Studienjahr, an dem sie trotz einiger Auseinandersetzungen und trotz ihrer wachsenden Unzufriedenheit bis ins letzte Jahr festgehalten hatte, nicht eben wählerisch war. Ihre Unsicherheit wegen des bevorstehenden Abschlussexamens, des weiterführenden Studiums und ihrer Berufswahl belastete sie auf Schritt und Tritt. Sie hatte sich von ihren Eltern, ihren Freunden isoliert gefühlt. Alles in ihrem Leben war ihr als Zwang erschienen, in Schieflage geraten, als fehlte der rote Faden. Inmitten dieser Turbulenzen kam es zu der einen miesen Nacht mit O’Connell. Er war gutaussehend, verführerisch, anders als all die Studenten, mit denen sie in ihrer College-Zeit ausgegangen war, und sie hatte einfach übersehen, auf welch eigenartige Art und Weise er sie über den Tisch hinweg angesehen hatte, als wollte er sich jeden Zentimeter ihrer Haut ins Gedächtnis einprägen, und zwar nicht unbedingt aus romantischen Motiven.

Sie schüttelte den Kopf.

Hinterher waren sie einfach auf die Laken gesackt. Sie hatte das Gefühl gehabt, als schwankte das Zimmer ein wenig, und einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge gespürt. Sie hatte sich ein Kissen geschnappt und war in einen bleischweren Schlaf gesunken. Was hatte er getan?, überlegte sie. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Am Morgen war sie aufgestanden, ohne ihn noch einmal an sich heranzulassen. Sie hatte sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, sie müsse pünktlich zu einem Termin, hatte ihm kein Frühstück angeboten oder auch nur einen Kuss gegeben, sondern war augenblicklich in die Dusche verschwunden, wo sie jeden Zentimeter ihres Körpers gründlich eingeseift und unter dampfend heißem Wasser abgespült hatte, als haftete ein ungewohnter Geruch an ihr. Sie hatte gehofft, er würde gehen, doch er war geblieben.

Ashley versuchte, sich an die kurze Unterhaltung am Morgen danach zu erinnern. Es hatte ein unaufrichtiger Ton geherrscht, nachdem sie auf Distanz gegangen war, ihm die kalte Schulter zeigte und sich mit anderen Dingen beschäftigte, bis er sie schließlich unbehaglich lange schweigend angesehen, dann gelächelt und genickt hatte und nach einem wortkargen Abschied gegangen war.

Und jetzt phantasierte er von Liebe, dachte sie. Wieso auf einmal?

Sie sah ihn vor sich, wie er mit einem kalten Ausdruck im Gesicht durch die Tür verschwand.

Bei dieser Erinnerung rutschte sie unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.

Die anderen Männer, die sie, wie kurz auch immer, gekannt hatte, waren entweder beleidigt, zuversichtlich oder auch mit einem unbeholfenen Macho-Gehabe nach einem One-Night-Stand von dannen gezogen. Er hatte einfach eiskalt geschwiegen und sich entfernt. Es schien, kam ihr jetzt in den Sinn, als hätte er gewusst, dass es nicht für lange war.

Sie überlegte. Schlaf. Dusche. Viel Zeit, in der sie ihm den Rücken zugekehrt hatte. War der Computer an gewesen? Was hatte auf ihrem Schreibtisch herumgelegen? Ihre Kontoauszüge? Welche Nummern? Welche Passwörter? Was hatte er in dieser Zeit finden und stehlen können?

Was hatte er sonst noch an sich genommen?

Es war die nächstliegende Frage, die sie sich aber nicht ernsthaft zu stellen wagte.

Einen Moment lang drehte sich wieder das Zimmer um sie. Dann stand Ashley auf und lief, so schnell sie konnte, in das kleine Badezimmer, wo sie sich über die Kloschüssel beugte und heftig erbrach.

 

Nachdem sie Gesicht und Mund gespült hatte, zog sich Ashley eine Decke um die Schulter und setzte sich auf die Bettkante, um zu überlegen, was sie machen sollte. Sie fühlte sich wie ein gestrandeter Flüchtling, der tagelang auf rauer See umhergetrieben war.

Doch je länger sie dasaß, desto wütender wurde sie.

Wenn sie sich nicht völlig irrte, hatte Michael O’Connell nicht die geringsten Ansprüche auf sie. Er hatte kein Recht, sie zu belästigen. Seine Beteuerungen ewiger Liebe waren mehr als nur albern.

Im Allgemeinen war Ashley ein verständnisvoller Mensch, der fast um jeden Preis Konfrontation und Auseinandersetzungen vermied. Aber dieser Blödsinn, ihr fiel kein besseres Wort dafür ein, nach nur einer Nacht, ging wirklich zu weit.

Sie warf die Decke weg und sprang auf.

»Verdammt noch mal«, rief sie. »Schluss damit. Noch heute. Genug mit diesem Scheiß.«

Sie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm das Handy. Ohne vorher zu überlegen, was sie sagen sollte, wählte Ashley O’Connells Nummer.

Er meldete sich fast augenblicklich.

»Hallo, Liebste«, sagte er beinah beschwingt, auf jeden Fall aber in einem plump vertraulichen Ton, der sie in Rage versetzte.

»Ich bin nicht deine Liebste«, versetzte sie.

Er antwortete nicht.

»Hör zu, Michael«, begann sie. »Das muss ein Ende haben.«

Wieder sagte er nichts.

»In Ordnung?«

Schweigen.

Nach einer Weile war sie sich nicht einmal sicher, ob er noch in der Leitung war. »Michael?«

»Ich bin dran«, antwortete er kalt.

»Es ist vorbei.«

»Ich glaube dir nicht«, erwiderte er.

»Aus und vorbei.«

Wieder trat eine Pause ein, bevor er sagte: »Ich glaube, nicht.« Ashley wollte gerade einen neuen Anlauf nehmen, als sie merkte, dass er aufgelegt hatte.

Sie fluchte. »Du gottverdammter Scheißkerl!« Dann tippte sie seine Nummer noch einmal ein.

»Du willst es noch mal versuchen?«, meldete er sich diesmal. Sie holte tief Luft.

»Na schön«, antwortete Ashley steif. »Wenn du es mir unbedingt schwermachen willst, dann kann ich es auch auf die harte Tour.«

Sie hörte, wie er lachte, doch er erwiderte nichts.

»Okay«, sagte sie. »Wir treffen uns zum Lunch.«

»Wo?«, fragte er wie aus der Pistole geschossen.

Sie überlegte angestrengt, welcher Treffpunkt am besten war – ein Ort, an dem sie sich auskannte, wo reger Betrieb herrschte, wo man sie kannte und ihn nicht, ein Ort, an dem sie Heimvorteil genoss. Das alles würde ihr den nötigen Mut einflößen, ihn ein für alle Mal zum Teufel zu jagen.

»Das Restaurant im Kunstmuseum«, schlug sie vor. »Heute um eins, okay?«

Sie spürte förmlich sein Grinsen am anderen Ende der Leitung. Es jagte ihr eine Gänsehaut den Rücken herunter, als wäre durch die Ritzen im Fenster ein kalter Windzug hereingefegt. Der Vorschlag war wohl auf sein Einverständnis getroffen, denn er hatte aufgelegt.

 

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»Dann geht es, wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte ich, »wohl vor allem um die richtige Einschätzung der Situation. Jeder hätte sehen müssen, worauf es hinauslief.«

»Ja«, räumte sie ein. »Das ist aber leichter gesagt als getan.«

»Finden Sie?«

»Ja. Wir machen uns gerne weis, dass wir eine Gefahr bereits im Voraus erkennen. Kunststück, einer Gefahr auszuweichen, wenn vorher sämtliche Alarmglocken schrillen und die Sirenen heulen. Wenn man nicht weiß, womit man es zu tun hat, sieht die Sache ganz anders aus.«

Sie überlegte einen Moment, während ich schwieg. Sie trank Eistee und hob ihr Glas an die Lippen.

»Ashley hat es gewusst.«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Sicher, sie hatte Angst. Aber sie war auch so wütend, dass ihre Sicht getrübt war, sie konnte nicht erkennen, in was für einer verzweifelten Lage sie sich befand. Und mal ehrlich, was wusste sie denn schon von Michael O’Connell? Herzlich wenig. Nicht annähernd so viel wie er über sie. Seltsamerweise hatte Scott als nicht unmittelbar Beteiligter besser begriffen, womit sie konfrontiert war, da er sich weit mehr von seinem Instinkt leiten ließ, besonders am Anfang.«

»Und Sally? Und ihre Lebensgefährtin, Hope?«

»Die hatte bis dahin noch nicht die Angst gepackt. Sollte aber nicht mehr lange dauern.«

»Und O’Connell?«

Sie zögerte. »Sie wussten es noch nicht. Da jedenfalls noch nicht.«

»Was?«

»Dass die Sache anfing, ihm richtig Spaß zu machen.«