25
Sicherheit
Die Kanzleiassistentin klopfte an Sallys offene Tür und hielt ihr einen Eilbrief entgegen.
»Der ist gerade für Sie gekommen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, von wem. Soll ich mich darum kümmern?«
»Nein, ich mach das schon. Ich weiß, was es ist.« Sally dankte ihrer Mitarbeiterin, nahm den Umschlag und schloss die Tür hinter sich.
Sie lächelte. Murphy war ein übertrieben vorsichtiger Mann, dachte sie. Sie nahm an, dass er für die etwas heiklere Korrespondenz eine Reihe Postfächer unterhielt. Deutlich sichtbare Briefköpfe und Absender waren für jemanden in seinem Gewerbe nicht unbedingt hilfreich.
Er hatte sie vor einigen Tagen während seiner Rückkehr aus Boston von unterwegs aus angerufen. »Ich denke, Ihr Problem lässt sich nie wieder blicken, Ms. Freeman-Richards.«
Sie war zu Hause gewesen und hatte Hope gegenübergesessen. Beide hatten sie gelesen: Hope war in Dickens’ Geschichte zweier Städte versunken, während sie selbst liegengebliebene Teile der letzten Sonntagsausgabe der New York Times überflogen hatte.
»Das sind gute Neuigkeiten, Mr. Murphy. Ich bin hocherfreut, das zu hören.
Was genau führt Sie zu diesem Schluss?« Es fiel ihr leicht, in ihren gewohnten, vernünftigen Anwaltston zu wechseln.
»Nun ja, ich weiß nicht, wie genau Sie das wissen wollen. Jedenfalls ist unser gemeinsamer Freund …« Er lachte bei dem Wort. »Na, jedenfalls haben wir uns unterhalten. Es war ein gutes Gespräch. Eine ausführliche Diskussion über das Für und Wider seiner, sagen wir mal, Verhaltensweise. Und am Ende des vorhersehbaren Gesprächsverlaufs räumte Mr. O’Connell ein, dass es in der Tat ein erhebliches Problem darstellen könnte, Ashley weiter nachzustellen. Ihm wurde zur entsprechenden Einsicht verholfen, und er hat sich unzweideutig dahingehend geäußert, sich unverzüglich aus ihrem Leben zu entfernen.«
»Und Sie haben es ihm abgenommen?«
»Ich hatte guten Grund, ihm zu glauben, Ms. Freeman-Richards. Seine Aufrichtigkeit war offensichtlich.«
Sally hatte geschwiegen, um zwischen den Zeilen von Murphys Ausführungen zu lesen.
»Und niemand wurde verletzt?«, hatte sie sich erkundigt.
»Nicht dauerhaft, wenn man davon absieht, dass Mr. O’Connell jetzt vielleicht an gebrochenem Herzen leidet, aber das bezweifle ich. Allerdings hat sich ihm die Erkenntnis tief eingegraben, dass es äußerst leichtsinnig wäre, mit seinem Verhalten fortzufahren, und nachdem ich ihm einige harte Fakten vor Augen geführt beziehungsweise unter die Nase gerieben oder in sonstiger Form nahegebracht habe, hat er sich zwar erst einmal ein bisschen die Zähne daran ausgebissen, sie aber am Ende geschluckt. Notgedrungen. Ich denke nicht, dass Sie weitere Einzelheiten zu hören wünschen, Ms. Freeman-Richards. Möglicherweise würden sie Ihnen ein bisschen Unbehagen bereiten.«
Sally fand, dass ihr Gespräch von einer erlesenen Höflichkeit war, so als müssten die zarten Ohren einer Dame der viktorianischen Gesellschaft geschont werden, damit sie nicht erbleichte und ihr in einem Anfall von Melancholie die Sinne schwanden.
»Nein, vermutlich nicht.«
»Dachte ich mir. Ich schicke Ihnen morgen oder übermorgen einen detaillierten Bericht. Und sollte Ihnen irgendetwas Verdächtiges auffallen, rufen Sie mich bitte an, Tag und Nacht, und ich werde mich darum kümmern. Ich meine, es ist nie vollkommen auszuschließen, dass Mr. O’Connell es sich noch einmal anders überlegt. Aber ich wage es zu bezweifeln. Er scheint mir ein schwacher Mensch zu sein, Ms. Freeman-Richards. Ein ganz kleiner Mann, und damit meine ich nicht seine Körpergröße. Aber ich glaube, der ist jetzt hundertprozentig aus Ihrem Leben verschwunden. Sollten Sie in Zukunft einmal investigativen Bedarf haben, hoffe ich, dass Sie auf mich zurückkommen …«
Sally war ein wenig erstaunt darüber, wie Murphy O’Connell sah. Seine Beschreibung deckte sich nicht ganz mit ihren eigenen Schlussfolgerungen. Doch es war beruhigend zu hören, und so schob sie etwaige Ungereimtheiten nur allzu gerne beiseite.
»Natürlich, Mr. Murphy. Wie’s aussieht, haben Sie die Dinge genau so geregelt, wie ich gehofft hatte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, das zu hören.«
»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Ma’am.«
Sie legte auf und sagte zu Hope: »Also, das war’s.«
»Was war was?«
»Ich hab dem Mistkerl einen Privatdetektiv rübergeschickt, den ich kenne. Und wie vermutet, ist er gegenüber einem erheblich stärkeren und bedeutend härteren und erfahreneren Mann ganz schnell eingeknickt. Typen wie der sind von Grund auf feige. Man braucht ihnen nur klarzumachen, dass man sich nichts gefallen lässt, und schon ziehen sie den Schwanz ein und verschwinden.«
»Meinst du?«, zögerte Hope. »Ich weiß nicht. Ich habe eher den Eindruck, dass der Kerl dafür zu entschlossen ist, auch wenn ich verflucht noch mal nicht weiß, wieso. Und ich halte ihn auch für ein bisschen fähiger als du. Vergiss nicht, in was für einen Ärger er uns alle allein mit seinem simplen Computerzugang hineingeritten hat.«
»Hör mal, Hope«, hatte Sally entgegnet. »Wir haben versucht, fair mit ihm zu verhandeln. Wir haben ihm die Chance gegeben abzuhauen, oder? Wir haben ihm sogar eine stattliche Summe dafür bezahlt. Hätten wir noch fairer sein können? Hätten wir noch direkter sein können?«
»Ich weiß nicht.«
»Wir haben doch die ganze Zeit mit offenen Karten gespielt, oder?«
»Ja, nehme ich an.«
»Und er hat es nicht kapiert, oder? Er wollte uns allen Schwierigkeiten machen. Diese kleine Lektion hat ihm nun gezeigt, dass mit uns nicht zu spaßen ist. So oder so, es ist vorbei.«
Äußerlich schüttelte Hope zwar nicht den Kopf, doch sie hegte ihre Zweifel. Sally hatte das in ihren Augen gesehen und wollte ansetzen, etwas zu sagen, überlegte es sich aber und schwieg.
»Nun ja, das war’s jedenfalls«, meinte sie nach einer Weile, und es klang wie ein abschließendes Urteil, wenn auch ein wenig irritiert, dass Hope sie nicht stärker unterstützte.
Sally nahm den Brief von Murphy und setzte sich an ihren Schreibtisch, um noch einmal die Unterhaltung mit Hope Revue passieren zu lassen. Ihr kam der seltsame Gedanke, dass sie mit vertauschten Rollen spielten: Hope, die jünger und oft auch eigensinniger war, hätte zufrieden sein müssen und nicht Sally.
Sally riss die Lasche auf und ließ den Inhalt auf den Schreibtisch fallen.
Es handelte sich um ein Begleitschreiben, einen Stapel zusammengehefteter Papiere, einige Fotos und eine Reihe Computerdisketten.
Bei den Fotos handelte es sich um Aufnahmen, die von Michael O’Connell vor seinem Wohnhaus gemacht worden waren. Unter den Papieren befand sich sein bescheidenes Vorstrafenregister und das wenige, was Murphy hinsichtlich seiner Arbeitsverhältnisse und schulischen Laufbahn hatte ausgraben können; außerdem ein paar Informationen über seine Familie einschließlich der Anschrift seiner Mutter und seines Vaters. Einem Vermerk zufolge war die Mutter verstorben. An den Computerdisketten klebte ein gelber Zettel, auf dem stand: Sie sind verschlüsselt. Wahrscheinlich kann sie ein Experte ohne Probleme öffnen. Vermutlich enthalten sie Informationen über Ihre Tochter. Vielleicht Fotos. Ich habe sie aus OCs Wohnung mitgenommen, aber ich nehme an, dass er davon noch Kopien hat. Ich wusste nicht, ob Sie zusätzliches Geld investieren wollten, um sie professionell untersuchen zu lassen. Der Computer, den er benutzt, wurde während unseres Treffens versehentlich zerstört, so dass sämtliche Informationen auf der Festplatte höchstwahrscheinlich vernichtet sind.
In seinem Begleitbrief beschrieb Murphy kurz, wie er vor seinem Wohnhaus auf O’Connell gewartet hatte, ohne jedoch Einzelheiten über ihr Gespräch preiszugeben. Außerdem war die Rechnung für seine Dienste beigelegt, die einen kleinen Nachlass enthielt.
Sally griff augenblicklich zu ihrem Scheckbuch, um zu begleichen, was sie Murphy schuldig war. Zusammen mit einer Notiz, auf der nur stand, Danke für Ihre Hilfe! Wir melden uns bei Ihnen, falls weitere Maßnahmen erforderlich sind, steckte sie beides in ein unbeschriftetes Kuvert.
Das gesamte Material einschließlich der Computerdisketten packte sie in einen braunen Umschlag, auf den sie in großen Lettern Ashleys Mistkerl schrieb. Mit einem Gefühl der Erleichterung ging sie zu ihrem Aktenschrank und schob den Umschlag ganz hinten in die unterste Schublade, wo er hoffentlich in ein paar Jahren in Vergessenheit geraten würde.
Im Spätherbst ist nachmittags das Licht am Rande der Green Mountains von einer Klarheit, in der alle Gegenstände schärfere Konturen annehmen, bevor der Tag zunehmend früher verblasst. Catherine stand am Fenster vor ihrem Küchenspülstein und beobachtete Ashley links von ihr. Das Mädchen saß draußen hinter dem Haus, gehüllt in eine leuchtend gelbe Fleecejacke, am Rande einer gepflasterten Veranda. Hinter ihr erstreckte sich eine Weide, die bis zum Waldrand führte. Am Vortag waren sie nach Brattleboro gefahren und hatten Papier, eine Staffelei sowie Pinsel und Wasserfarben besorgt, und Ashley war jetzt in ein eigenes Gemälde vertieft, auf dem sie die letzten Lichtstrahlen einzufangen versuchte, die langsam über die Hügelketten wanderten und in den Kiefernzweigen verweilten. Catherine versuchte, Ashleys Körpersprache zu deuten; sie signalisierte sowohl freudige Erregung wie auch Frustration. Sie war entspannt, sie genoss den Moment, in dem sie den Pinsel in der Hand hielt und sah, wie sich die Farben vor ihren Augen entfalteten. Catherine kam plötzlich der Gedanke, dass die junge Frau und ihr Gemälde den gleichen Vorgang durchmachten: Sie nahmen Gestalt an.
Nachdem Ashley mit dem Bus eingetroffen war, hatten sie den größten Teil des Abends damit verbracht, zusammen Tee zu trinken und darüber zu reden, was passiert war. Catherine hatte mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und wachsendem Unbehagen zugehört.
Sie blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Ashley einen langen blassblauen Streifen Wasserfarbenhimmel auftrug. »Es ist nicht richtig«, sagte sie laut.
Sie merkte, wie ihr die Angst hochkroch, Ashley könnte sich – so ihr diffuses Gefühl – von O’Connell irgendwie infizieren lassen. Sie fürchtete, das Mädchen könnte sich am Ende wegen der Verhaltensweise eines einzigen Mannes gegen alle Männer wenden.
Catherine hielt sich am Rand des Spülsteins fest. Sie sah sich außerstande, die düstere Vorstellung ganz zu Ende zu denken. Sie wollte sich den Wunsch nicht eingestehen: Möge Ashley nicht werden wie Hope. Als sie merkte, wie sich diese Wolke über ihre Stimmung legte, war sie wütend auf sich, denn sie liebte ihre Tochter. Hope war intelligent. Hope war schön. Hope hatte Charme. Hope war für andere eine Quelle der Inspiration. Hope holte aus den jungen Leuten, mit denen sie arbeitete und die sie trainierte, das Beste heraus. Hope hatte alles, was sich eine Mutter an ihrer Tochter nur wünschen konnte, mit einer einzigen Ausnahme, und die türmte sich wie ein Berg vor Catherine auf, den sie nicht überwinden konnte. Während sie durchs Fenster ihre – ja, was? Nichte? Adoptivenkelin? – betrachtete, kam sie über ihre Ängste nicht hinweg. Was Catherine in diesem Moment nicht erkannte, war die Tatsache, dass sie sich mit den vollkommen falschen Ängsten plagte.
»Wie ist Murphy gestorben?«, wollte ich wissen.
»Wie? Das ist doch wohl nicht schwer zu erraten. Eine Kugel. Vielleicht ein Kandelaber wie in Alle Mörder sind schon da. Was weiß ich«, erwiderte sie.
»Nein, wie tatsächlich …«
»Die Frage sollte besser lauten, warum?«, meinte sie. »Eines wüsste ich gerne«, fuhr sie plötzlich fort. »Hat man wegen des Mords an Murphy überhaupt irgendjemanden verhaftet?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.«
»Also, ich habe das Gefühl, dass Sie an der falschen Stelle nach Antworten suchen. Niemand wurde verhaftet. Das spricht Bände, oder? Sie wollen, dass ich, irgendein Kripobeamter oder auch ein Staatsanwalt, dass einer von uns Ihnen sagt: ›Also, Murphy wurde von, Sie wissen schon, ermordet, aber für einen Haftbefehl hatten wir nicht genügend Beweise gegen ihn in der Hand.‹ Das wäre natürlich sehr angenehm und einfach, ein sauberer Schnitt.« Sie hielt inne. »Aber ich habe Ihnen nie eine einfache Geschichte versprochen.«
Das stimmte.
»Können Sie so kreativ denken wie Scott, Sally, Hope und Ashley?«
»Ja«, antwortete ich ein wenig vorschnell.
»Gut«, sagte sie etwas verächtlich. »Leichter gesagt als getan.« Ich ersparte mir eine Entgegnung.
»Aber verraten Sie mir eins: Gilt das auch im Vergleich zu Michael O’Connell?«