Christian
Tropische Hitze schlägt mir entgegen, als ich aus dem Flugzeug steige – in der Ferne erkenne ich die weiße Schneekrone des Kilimandscharo in der Dämmerung. Vor dem flachen Flughafengebäude lungert eine Gruppe Schwarzer an ein paar schäbigen Gepäckwagen herum und raucht Zigaretten.
»Willkommen in Afrika«, sagt Vater und legt mir eine Hand auf die Schulter, als ich die Treppe hinuntergehe. Die Triebwerke des Flugzeugs sind abgeschaltet. Das einzige Geräusch kommt von den Zikaden. Der Flughafen hat lediglich eine Landebahn, außer unserer Maschine gibt es keine weiteren Flugzeuge.
Ich schaue auf die schwarzen Männer. Eine dicke schwarze Frau redet wütend in Swahili auf sie ein. Sie grinsen und ziehen langsam die rasselnden Gepäckwagen zum Bug der Maschine. Dann werden ihre Gesichter ausdruckslos.
Heute früh war der zweite Weihnachtstag und ich ein dänischer Junge, der mit seiner Mutter am Rand von Køge wohnte. Nun soll ich in Tansania leben und auf die Internationale Schule gehen. Die Familie soll bald wieder vereint sein. Vaters Zeit als Abgesandter der Reederei Mærsk in Fernost ist vorbei. Im Oktober wurde meine kleine Schwester geboren, Mutter kommt mit ihr in ein paar Monaten nach. Alles hat sich grundlegend geändert.
»Es dauert eine Weile, bis das Gepäck kommt«, sagt Vater. Wir gehen an schulterhohen Pflanzen mit gezackten, ledrigen Blättern vorbei. In dem Betongebäude ist es dunkel.
»Wieso gibt es hier kein Licht?«
»Wahrscheinlich ist der Strom ausgefallen«, antwortet Vater. »Sie werden vermutlich gleich den Generator anwerfen.« Ich halte mich neben ihm, während andere Weiße, vereinzelte Schwarze und einige Inder in die dunkle Ankunftshalle kommen. Wir sind in Amsterdam umgestiegen und in Rom und Oman zwischengelandet. Irgendwo im Flughafengebäude rumpelt ein Motor, und kurz darauf beginnen ein paar Glühbirnen an der Decke schwach zu glimmen.
»Niels, Niels«, ruft eine Frauenstimme auf Schwedisch. Vater dreht sich um.
»Hej«, ruft er und winkt. »Das ist Katriina«, sagt er zu mir und geht auf die Trennwand aus Glas zu. Er hat mir erzählt, dass ihn eine schwedische Familie zum Flughafen gebracht hat und wir von ihnen in Vaters Wagen abgeholt werden. Ich schaue mir die reglos dastehenden Polizisten mit ihren Maschinenpistolen an, die an einem Gurt schräg vor ihrer Brust hängen. Ich folge Vater.
»Ah, das ist also Christian«, sagt die Frau und nickt lächelnd. »Hej, ich heiße Katriina.« Sie trägt ein dünnes Sommerkleid und Sandalen.
»Hej«, erwidere ich und versuche zu lächeln. Vater erzählt ihr irgendetwas über die Reise; es ist eigenartig, dass er hier mit einer fremden Frau redet und Mutter in Dänemark ist.
»Und wie war es, deine kleine Tochter zu sehen?«, erkundigt sich Katriina.
»Sehr schön. Und meine Frau freut sich, hierherzukommen.« Ich höre ein Geräusch und drehe mich um. Das Gepäckband steht still, die Koffer fliegen durch ein Loch in der Mauer. Ein dünner Schwarzer in einer schmutzigen hellblauen Uniform klettert durch das Loch und wirft die Koffer anschließend auf den Boden.
Wir suchen unser Gepäck und gehen zur Passkontrolle. Der Beamte starrt lange auf die Fotografie und lange auf mich. Ich versuche, ihn anzulächeln. Plötzlich greift er nach einem Stempel, knallt ihn auf ein Stempelkissen und in den Pass – drei verschiedene Stempel; schließlich nimmt er einen Kugelschreiber und schreibt noch einiges auf die Seite. Er gibt mir den Pass zurück.
»Welcome to Tanzania«, sagt er in einem merkwürdigen Englisch und lächelt breit. An der Zollkontrolle steht ein unablässig schwitzender dicker Mann. Er gibt mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich meine Tasche öffnen soll. Mit seinen fleischigen Händen wühlt er darin herum, nimmt meinen Fußball heraus, sagt eine Menge Unverständliches und lächelt, während er den Ball auf den Boden springen lässt und wieder auffängt.
»Er meint, das sei ein guter Ball«, sagt Vater.
»Ist er ja auch«, sage ich und lächele den Mann an. Nervös. Ich weiß nicht, was sein Lächeln zu bedeuten hat. Gibt es ein Problem? Er legt den Ball zurück, malt mit einem Stück Kreide ein Kreuz auf die Tasche und schiebt sie mir mit einem Nicken zu.
»Football, very good«, sagt er. Vater ist vorausgegangen. Die schwedische Frau umarmt ihn. Mir reicht sie glücklicherweise die Hand. Sie hat große Brüste.
»Wie alt bist du?«, fragt sie mich auf Schwedisch.
»Dreizehn«, antworte ich.
»Meine Tochter ist acht. Außerdem wohnt mein Neffe bei uns, er ist fünfzehn. Solja und Mika.« Sie nimmt mir die Tasche ab. »Wir werden jetzt zu uns nach Hause fahren und etwas essen, wir veranstalten ein kleines Willkommensfest für euch. Wir haben ein neues Haus.«
»Ohne Ratten?«, erkundigt sich Vater.
»Ja«, sagt Katriina. »Und wir haben ein Kindermädchen, das Marcus heißt.«
»Einen Mann?«, fragt Vater.
»Einen Jungen«, erwidert Katriina. »Er ist Waise und war bei ein paar Deutschen, die zurückgegangen sind. Solja und Mika haben ihn gefunden. Er hat beim Pastor in Moshi gewohnt, der ihn zur Feldarbeit missbrauchte.«
Wir gehen zum Auto, einem weißen Peugeot 504 mit dem Lenkrad auf der falschen Seite. Absolute samtweiche Dunkelheit. Wir passieren einen Wachtposten mit Schlagbaum, verlassen das Flughafengelände und fahren durch die Nacht. Die Straße ist gerade, die Landschaft eben. Keine Straßenbeleuchtung, keine Gebäude. Die Lichtkegel der Frontscheinwerfer fegen über graugrünes Gebüsch am Straßenrand.
Vor drei Monaten begann Vater als Chef der Buchhaltung einer Zuckerplantage, die TPC heißt – Tanzania Planting Corporation. Sie gehörte der Reederei Mærsk, wurde aber von der tansanischen Regierung verstaatlicht. Doch für die nächsten Jahre hat Mærsk noch einen Vertrag und soll den Eingeborenen beibringen, die Plantage zu betreiben. Sie liegt ein Stück südlich der Stadt Moshi, in der auch die Schule ist. Vater dreht sich auf dem Vordersitz um.
»Bist du okay, Christian?«
»Wann fahren wir zu unserem Haus?«, möchte ich wissen.
»Später«, sagt Vater. »Es ist erst sieben.« Er hat mir erzählt, dass die Dunkelheit am Äquator früh und sehr plötzlich kommt. Mein Kopf fühlt sich leicht an. Ich könnte töten für eine Zigarette.
»Okay«, sage ich und schaue aus dem Fenster, der Himmel ist mit klaren Sternen übersät, die sich bis zum Horizont erstrecken.
Wir erreichen eine T-Kreuzung, an der Holzschuppen und kleine gemauerte Häuser ein schwaches Licht in die Dunkelheit werfen. Es sind Läden auf bloßem Erdboden. Dunkle Gestalten bewegen sich zwischen ihnen. Wir biegen rechts ab in Richtung Moshi.
»Dies ist eine der besten Straßen des Landes«, erklärt mir mein Vater. »Fast keine Schlaglöcher.« Die Dunkelheit hüllt uns völlig ein. Es gibt so gut wie keinen Verkehr, und Katriina fährt schnell. Die Straße beginnt, kurviger zu werden, und führt bergab in eine Schlucht – die vorderen Scheinwerfer erleuchten steile Felswände auf beiden Seiten.
»Was ist das denn!?«, stößt Katriina aus und tritt die Bremse durch, gleichzeitig reißt sie das Lenkrad herum, um einem großen belaubten Ast auszuweichen, der auf unserer Seite der Straße liegt. Die Bremsen blockieren, der Wagen rutscht auf den Ast und schiebt ihn vor sich her, bis wir zum Stehen kommen.
»Dort hält jemand«, sagt Vater. Ein Stück weiter vorn kann ich undeutlich einen dunklen Kasten erkennen, die Scheinwerfer liefern nur ein diffuses Licht durch das Laub des Asts.
»Straßenräuber?«, fragt Katriina.
»Glaub ich nicht«, erwidert Vater und öffnet die Tür. »Der Ast ist ein tansanisches Warndreieck.« Ich steige ebenfalls aus und helfe ihm, den Ast von der Frontpartie des Wagens zu ziehen, während Katriina zurücksetzt. Wie ich jetzt erkennen kann, handelt es sich bei dem Kasten um einen Lastwagen, der an eine der Felswände geprallt ist und quer auf der Fahrbahn steht – ein großer frischer Zweig steckt an der hinteren Stoßstange. Wir schleppen den Ast wieder an seinen Platz auf der Fahrbahn. Bei dem verunglückten Lastwagen sehe ich niemanden mehr.
»Was glaubst du, ist passiert?«
»Bremsversagen«, meint Vater. »Der Fahrer ist vermutlich gegen den Felsen gefahren, um den Laster zu stoppen.« Wir setzen uns ins Auto.
»Teufel auch!«, schimpft Katriina und schlägt aufs Lenkrad, bevor sie den Gang einlegt und langsam anfährt. Wir kommen gerade so vorbei. Vater dreht sich zu mir um, als die Straße am Fuß der Schlucht wieder flacher wird.
»Am Tag kann man hier unten eine Menge Autowracks sehen.«
Nach zwanzig Minuten erreichen wir den Stadtrand und biegen auf kleinere Straßen ab.
»Wieso riecht’s hier so nach Kuhscheiße?«, frage ich.
»Die Massais treiben ihr Vieh hier durch, wenn sie zum Schlachthof auf der anderen Seite der Stadt wollen«, erklärt Vater.
»Jetzt sind wir gleich da«, sagt Katriina und biegt auf einen mit Schlaglöchern übersäten Feldweg, an dem weiß gestrichene Häuser hinter hohen Hecken und Toren liegen.
Marcus
MARABUSTORCH
»Hej, du da?«, ruft bwana Jonas von der Veranda.
»Ja, bwana?«, rufe ich von der Hintertreppe an der Küche zurück, wo ich darauf warte, dass Katriina vom Flughafen zurückkommt.
»Bring ein paar Bier!«, befiehlt bwana Jonas.
»Sofort«, antworte ich und springe zum Kühlschrank. Die Tochter Solja kommt in die Küche.
»Ich habe Hunger«, sagt sie – in ziemlich gutem Englisch, obwohl diese schwedische Familie erst seit vier Monaten hier ist.
»Ich brate dir gleich ein bisschen Fleisch«, sage ich und laufe mit dem Bier in der Hand auf die Veranda, wo bwana Jonas mit seinem neuen Kollegen Asko und seiner Frau aus Finnland sitzt. Ich stelle die Bierdosen auf den Tisch. Asko ist sehr groß und dick, und die Frau, Tita, zwitschert wie ein kleines Vögelchen: »Vielen Dank.«
»Soll ich Solja etwas zu essen machen?«, frage ich.
»Wenn sie Hunger hat«, murmelt bwana Jonas mit dieser schwedischen Tabakerde im Mund und zuckt die Achseln, ohne mich anzusehen. Ich laufe zurück in die Küche und lege Hühnchen auf den Grill, der im Freien steht. Die Betreuung des achtjährigen Mädchens ist mein Ticket zu einem guten Leben. Ich bin erst seit zwei Wochen bei dieser Familie, und ich weiß noch nicht recht, was meine Rolle ist. Bin ich jemand, der auf die Kinder aufpasst, oder ist es eher so etwas wie eine Adoption? Das Leben ist eine harte Aufgabe, wenn du deine eigenen Eltern verlassen hast. Ich wende die Hühnchenteile über der glühenden Kohle.
»Magst du Hühnchen?«, fragt mich Solja.
»Ja, tu ich.« Ich liebe Fleisch. Seit meiner Geburt 1965 bin ich im Serengeti Nationalpark eine Art Marabustorch auf der Jagd nach Fleisch gewesen. Mein Vater arbeitete dort, obwohl wir dem Volk der Chagga an den Hängen des Kilimandscharo entstammen – aber wir besitzen kein Land. In meiner Kindheit bin ich fast wie ein wildes Tier und laufe im Staub herum, während die Touristen in kleinen Flugzeugen ankommen, um einen Tag in der Serengeti herumgefahren zu werden. Das Hotel in Nairobi hat ihnen Sandwichpakete mitgegeben – eine große weiße Schachtel aus Karton. Sie werden sich hinsetzen und essen, und wir Schwarzen werden sie dabei beobachten. Wir leben von Maisgrütze und Spinat – und diese Schachteln enthalten weißes Fleisch vom Hühnchen und dunkles Fleisch der Kuh, sie haben herrlich kräftige Brote, einen goldenen Apfel; viel Geschmack. Aber Fleisch ist das Wichtigste – wir hungern nach Fleisch an diesem Fleck der Welt, an dem das Fleisch unbesorgt auf vier Beinen herumläuft. Denn wir dürfen das Fleisch nicht töten, weil die Touristen die Tiere lebend sehen wollen. Wir verfolgen, wann diese wazungu mit dem Essen fertig sind, und sobald sie vom Tisch aufstehen, stürzen wir uns auf die Schachteln. Wenn eine Schachtel sehr schlecht ist und wenig drin ist, müssen wir sie teilen oder uns prügeln. Und die Touristen lachen über uns und feuern uns an. Manchmal werfen sie die Hühnchen auf den Boden, so dass sie staubig werden. Wir sollen dann um die Reste kämpfen. Wir können das Hühnchen abspülen, es aber auch staubig essen. Dann wiederum werfen die Touristen das gute Essen in einen Abfalleimer, zu dem die Marabustörche auf Flügeln kommen, um zu fressen. Wir bewerfen die Vögel mit Steinen. Wir kämpfen ums Essen. Die Weißen machen Bilder von uns, als wären wir seltsame Affen. Wir sind nicht seltsam. Wir sind hungrig.
Der Geruch von gebratenem Hühnchen steigt mir in die Nase. Ich laufe zu der schwedischen Saunahütte neben dem Haus und kontrolliere, ob das Feuer im Ofen gut brennt, damit die Weißen in diesem heißen Land extra schwitzen können. Dann bereite ich Solja den Teller mit Hühnchen, Brot, Butter und Salat, den sie nie isst.
»Und Cola«, sagt sie. Ich nehme eine Cola-Flasche aus dem Kühlschrank und öffne sie für sie. Sie geht mit ihrem Essen auf die Veranda, um den Erwachsenen zuzuhören. Aber was soll ich jetzt machen? Soll ich anfangen, den Rest des Essens zu grillen, damit alles vorbereitet ist, wenn Katriina mit bwana Knudsen und seinem Sohn vom Flughafen kommt?
DER DÄNISCHE JUNGE
»Danke fürs Essen, Marcus«, sagt Solja. Als braves Mädchen kommt sie mit ihrem Teller in die Küche. Ich nage das letzte Fleisch von den Hühnchenresten – herrlich fett. Bis vor zwei Wochen habe ich bei Moshis lutheranischem Pastor gewohnt, der mich zur Arbeit auf seinem Feld zwang. Ich habe diesen Schweden erzählt, ich hätte keine Eltern – sie sind durch eine Krankheit und einen Verkehrsunfall gestorben. Es ist sicherer zu lügen; vielleicht verstehen die Weißen nicht, dass Eltern so schlecht sein können, dass es besser ist, wenn sie tot sind.
Am Tor hupt ein Auto, der Wachmann läuft hin. Katriina kommt mit bwana Knudsen und seinem Sohn. Er ist so groß wie ich und sehr still; nicht dieser wilde Blick wie bei Mika, der in die Stadt gegangen ist, angeblich, um ins Kino zu gehen. Dieser dänische Junge ähnelt meinem deutschen Freund aus der Kinderzeit in der Serengeti, Gerhard.
Ich rufe das Hausmädchen aus der Dienstbotenwohnung, dem Ghetto, das wir uns teilen. Sie soll mir in der Küche helfen, damit die Weißen essen können. Ich lege mehr Fleisch auf den Grill und trage Getränke auf die Veranda.
»Cola?«, frage ich bwana Knudsens Sohn und reiche ihm eine Flasche.
Christian
Katriinas Mann heißt Jonas. Er sitzt mit Asko, einem dicken Finnen, und seiner kleinen Frau Tita auf der Veranda. Sie unterhalten sich in einer merkwürdigen Sprache, von der ich überhaupt nichts begreife.
»Verstehst du, was wir sagen?«, fragt Katriina mich langsam auf Schwedisch. Ich schüttele den Kopf.
»Schwedisch mit finnischem Akzent«, erklärt Vater und lacht. Ein junger schwarzer Bursche taucht auf der Veranda auf, reicht mir eine Cola und geht wieder.
»Ist das euer neues Kindermädchen?«, erkundigt sich Vater.
»Keine Ahnung, was er ist«, antwortet Jonas.
»Sag doch nicht so etwas«, widerspricht Katriina. »Marcus ist sehr hilfsbereit und bekommt lediglich Kost und Logis.«
»Und Schulgeld«, murmelt Jonas.
»Das ist Kleingeld«, erwidert Katriina.
»Marcus ist mein Freund«, sagt ein kleines Mädchen, das in der Verandatür erschienen ist – Solja.
Kurz darauf bringen Marcus und ein schwarzes Mädchen das Essen. Das schwarze Mädchen ist jung und sagt kein Wort, sie hat sich ein farbenprächtiges Stück dünnen Stoff umgebunden. Wir essen auf der Veranda, mit den Tellern auf dem Schoß. Die Erwachsenen trinken Bier und rauchen Zigaretten. Die Zikaden singen, Fledermäuse fliegen durch die Luft.
»Die Sauna ist bereit«, erklärt Katriina. Alle reden und lächeln, als sie sich erheben – auch Vater. Sie gehen ins Wohnzimmer.
»Sauna?«, frage ich Vater.
»Schweden und Finnen müssen immer in die Sauna. Komm mit.«
»Ich will nicht in die Sauna«, sage ich und bleibe sitzen. Er schaut mich einen Moment an. Auf der dunklen Veranda kann ich seinen Blick nicht deuten.
»Okay«, sagt er und geht den anderen nach. Solja ist verschwunden, vielleicht hat man sie ins Bett gebracht. Ich schaue ins Wohnzimmer. Sie ziehen sich aus. Ich sehe Askos Pimmel unter dem gewaltigen Bauch und schaue weg. Bizarr. Ich sehe wieder hin. Vater bindet sich ein Handtuch um und geht zur Sauna, die an die Rückseite des Hauses gebaut ist. Was hat Vater wohl in den fünf Jahren gemacht, in denen er ohne Mutter in Fernost eingesetzt war? Ist er früh zu Bett gegangen?
Asko hat seine Zigaretten auf dem Tisch liegen lassen. Ich habe letztes Jahr angefangen zu rauchen, mit ein paar anderen, die sich vom Rest der Klasse absondern wollten. Ich schaffe es, nachts um drei aufzuwachen. Dann schleiche ich zum Kaufmann, werfe ein paar Münzen in den Automaten, der vor dem Laden hängt, und ziehe eine Zehnerpackung Prince. Wenn der Schacht offen ist, sind meine Hände gerade schmal genug, um die Finger hineinzustecken und die nächste Packung zu fassen und herauszuziehen; ich kann eine ganze Säule zum Preis von einer Schachtel bekommen. Vielmehr, ich konnte es. Ich habe keine Ahnung, wo man hier Zigaretten herbekommt. Askos Zigaretten heißen Sportsman. Es ist ruhig – alle sind in der Sauna. Soll ich mir eine nehmen? Ich traue mich nicht. Ich wünschte, Mutter wäre hier.
Vor einem Jahr waren meine Eltern kurz davor, sich scheiden zu lassen. Eines Abends kam meine Mutter noch spät in mein Zimmer, ich lag bereits im Bett. Als sie dachte, ich würde schlafen, hatte es am Telefon jede Menge Streit mit Vater in Singapur gegeben. Mutter setzte sich zu mir auf die Bettkante.
»Christian, ich muss etwas Ernstes mit dir besprechen«, hatte sie gesagt.
»Wollt ihr euch scheiden lassen?«
»Nein«, sagte Mutter und sah mich an, doch dann wandte sie den Blick ab, hielt sich eine Hand vor den Mund, schluckte. »Nein«, sagte sie noch einmal. Ich wusste, sie wollten sich scheiden lassen.
»Wo soll ich dann wohnen?«
»Wir werden uns nicht scheiden lassen – ich bin schwanger«, sagte Mutter und lächelte so eigenartig. Als mein Vater irgendwann einmal betrunken war, hatte er zu mir gesagt, bei deiner Mutter sind die Leitungen nicht in Ordnung. Sie kann nicht mehr schwanger werden.
»Schwanger?«
»Ja, du bekommst einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester.«
»Kommt Vater nach Hause? Und wohnt hier?«
»Ganz bestimmt«, versprach Mutter.
»Okay.«
»Freust du dich denn nicht?«, wollte sie wissen.
»Doch«, erwiderte ich. Vater würde zurück nach Køge kommen und für Mærsk an der Esplanade in Kopenhagen arbeiten. So war der Plan. Ich wollte es erst einmal sehen.
Mutter organisierte ein Fest für den Tag, an dem er landen sollte. Am Tag zuvor höre ich sie ins Telefon schreien: »Wir sind geschieden. Schon seit Langem. Wenn du nicht mit uns zusammen sein willst, verkaufe ich das Haus und schicke dir die Hälfte des Geldes. Ich habe einfach keine Lust mehr.« Dann eine Pause – in Singapur erwidert Vater etwas, während ich meine Tür rasch einen Spalt weit öffne. Nun redet Mutter wieder, ganz ruhig: »Entweder du erscheinst, oder ich bin fertig mit dir.« Sie legt auf und kommt zu mir herein, um Gute Nacht zu sagen. Ich frage erst, als sie das Zimmer verlässt:
»Kommt Vater nicht zu dem Fest morgen Abend?«
Sie bleibt stehen und dreht sich um.
»Ich weiß es nicht«, sagt sie und geht. Kurz darauf höre ich, wie sie das Auto anlässt. Als ich zwölf Jahre alt war, begann sie mit den Nachtwachen; ich kann durchaus allein zu Hause bleiben. Ich stehe auf, gehe vor die Tür und rauche eine Zigarette. Dann blättere ich in dem Heft am Telefon. Taste die vielen Ziffern ein.
»Knudsen speaking«, knistert es aus Singapur.
»Vater?«
»Christian! Weißt du, wie spät es hier ist?«
»Kommst du nach Hause?«
»Wo ist Mutter?«, will er wissen.
»Arbeiten«, sage ich. Er seufzt.
»Es ist etwas dazwischengekommen. Ich kann erst in ein paar Tagen fliegen. Es tut mir leid, Christian.«
»Nein«, sage ich.
»Christian. Deine Mutter ist …« Er hält inne.
»Du hast gesagt, du würdest kommen.«
»Das lässt sich nicht machen.«
»Aber …«
»Ich komme, so schnell es geht.«
»Wiedersehen«, sage ich und lege auf. Meine Hand zittert.
Am nächsten Tag veranstaltete Mutter das Fest. Sie tanzte mit einem groß gewachsenen Arzt – ich hasste sie deshalb. Vater trat in die Tür. Ich schaute ihn an, er schaute sie an. Er hatte es geschafft. Er hob die Hand und lächelte. Sie blickte ihn an und tanzte weiter. Sie war schwanger, allerdings konnte man es noch nicht sehen. Wieso tanzte sie noch immer mit diesem Arzt, obwohl Vater gekommen war? Der Arzt bemerkte meinen Vater und blieb stehen, ließ sie los. Sie schenkte dem Arzt ein Lächeln und sah Vater mit einem leeren Blick an, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er blieb an der Wohnzimmertür stehen, er hatte noch immer seinen Mantel an. Ich lief auf ihn zu.
»Vater«, rief ich.
»Christian«, sagte er und hob mich in die Höhe, obwohl ich dafür inzwischen zu alt war. Mutter kam auf uns zu.
Jetzt soll ich mit ihm einige Monate zusammenwohnen, bis meine Mutter nachkommt. Ich kenne den Mann eigentlich nicht. Und wenn Mutter mit meiner kleinen Schwester kommt, wollen wir wie eine richtige Familie leben.
Ich höre ein Juchzen von der anderen Seite des Hauses. Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte ins Wohnzimmer und schaue durch die Glasscheibe der Hintertür. Katriina hüpft auf die Rasenfläche. Ihre vollen Brüste wippen, die Warzen sind ganz dunkel. Vater tritt mit einem Gartenschlauch in der Hand aus der Sauna. Der Wasserstrahl trifft Katriina, die stehen geblieben ist, schwer ausatmet und sich ein wenig schüttelt. Sie steht ruhig da und lässt sich bespritzen – ich kann den großen dunklen Busch zwischen ihren Beinen sehen. Der Wasserstrahl trifft ihren Oberkörper, sie dreht sich darin. Ich schaue auf meinen Vater, er lächelt und hält sich den Schlauch über den Kopf, so dass das Wasser über seinen nackten Körper fließt.
Bevor sie mich entdecken, gehe ich rasch wieder auf die Veranda und bleibe dort sitzen.
»Komm raus, Christian«, ruft Vater von der anderen Seite des Hauses.
»Wieso?«, rufe ich zurück.
»Keine Angst, niemand von uns ist mehr nackt.« Ich gehe hinaus. Sie sitzen auf Bänken um einen Tisch, der auf einem kleinen eingezäunten Gelände direkt vor der Sauna steht. Die Männer haben sich Handtücher um den Leib gewickelt, die Frauen sind eingehüllt in bunte Stoffe, die aussehen wie die Kleidung des schwarzen Hausmädchens. Katriina sitzt neben Vater. Sie greift nach seiner Hand.
»Ich freue mich, dass deine Frau mit eurer kleinen Tochter kommt«, sagt sie.
»Wieso?«, fragt Vater.
»Weil ich auch schwanger bin«, antwortet Katriina. Tita seufzt und sieht traurig aus. Sie blickt zu Boden. Ich schaue ihren Mann an, Asko. Er verzieht mürrisch das Gesicht. Vielleicht wäre sie auch gern schwanger.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagt Vater. »Wann fliegst du zurück nach Schweden?«
»Ich bekomme es im KCMC«, erwidert Katriina. »Dort gibt es viele weiße Ärzte.«
Asko und Jonas unterhalten sich auf Schwedisch. Tita sagt kein Wort. Ich schaue Jonas an. Er stopft sich Snus hinter die Oberlippe, verschiebt es mit der Zunge und richtet seinen Blick auf irgendetwas in der Dunkelheit. Ich wende den Kopf und folge seinem Blick. Es ist das Hausmädchen. Sie steht vornübergebeugt an der Ecke des Hauses und scheuert einen der Grillroste; dabei streckt sie den Hintern heraus, der bei ihren Bewegungen mitwippt.
»Was schaust du dir denn da an?«, fragt Vater und grinst. »Findest du sie hübsch?«
»Ich weiß nicht.« Ich sage nicht, dass ich mir nur angesehen habe, was Jonas sich angesehen hat, sondern stehe auf und gehe in den Garten.
»Wo willst du hin?«, erkundigt sich Vater.
»Ich will mich nur ein bisschen umsehen.«
»Komm mir nicht abhanden.«
Marcus
MEIN MZUNGU
Alle wazungu sind nackt in die Sauna gegangen – ein großes Theater von rosa Fleisch. Katriina kommt ins Haus.
»Marcus, putzt du bitte Solja die Zähne?«
»Mach ich.« Katriina geht wieder zu dem Saunafest.
»Aber Mama soll das machen«, sagt Solja, die acht Jahre alt ist – eigentlich groß genug, um sich selbst die Zähne zu putzen. Hinterher geht sie in ihr Zimmer. Und ruft sofort: »Ich kann meinen Schlafanzug nicht finden.«
Ich gehe ins Zimmer. Der Schlafanzug ist im Schrank, direkt vor ihrer Nase, aber das Kind fordert Aufmerksamkeit, also muss der Neger springen. Solja zieht sich ihren Schlafanzug an.
»Gute Nacht«, wünsche ich und will gehen.
»Ich kann nicht schlafen, Marcus«, sagt sie. »Sie sind so laut.« Das stimmt, denn nun sitzen sie auf der kleinen Holzterrasse und reden, trinken, schreien. »Kann ich unten bei dir schlafen?«
»Nein, das geht nicht.« Wie wird bwana Jonas reagieren, wenn Solja in meinem Ghetto schläft? Ich glaube, er will, dass Weiße und Schwarze getrennt bleiben. Ich gehe ans Bett und hebe die Bettdecke hoch, damit sie sich hinlegt, dann streiche ich ihr übers Haar.
»Du musst mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen.«
»Okay.« Ich lege mich neben sie ins Bett, und sie legt ihren Kopf an meine Schulter. Was kann ich erzählen? Vom Marabustorch in der Serengeti? Von der Sklavenarbeit für den Pastor? Vom Stock des Lehrers in der Schule? Nein, ich muss mir eine andere Geschichte ausdenken.
»Erzähl schon«, sagt Solja neben mir im Bett. Also erzähle ich ihr von Bob Marley: dass sein Vater ein Weißer war, der sich ziemlich schnell aus dem Staub gemacht hat, dass die Mutter schwarz war und Bob in Armut aufwuchs, nach Kingston in Jamaica kam und über die Freiheit gesungen hat. Leise singe ich: »Won’t you help to sing, these songs of freedom, ’cause all I ever had, redemption songs.«
»Das ist ein schönes Lied«, murmelt Solja. Ich erzähle ihr von den Nachkommen der afrikanischen Sklaven auf Jamaica und deren Rastafari-Religion. Gott nennen sie Jah, eine Abkürzung von Jehova aus der Bibel. Die Religion wurde nach dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie benannt, dessen Taufname Ras Tafari war. Sie betrachten den Kaiser als Gottes Inkarnation auf Erden, weil Haile Selassie das Oberhaupt des einzigen afrikanischen Staats gewesen ist, der vollkommen unabhängig von den Weißen war. Die Rastafari akzeptieren den Tod von Haile Selassie nicht.
Solja atmet ruhig, aber noch ist es zu früh, sich zu bewegen, sie könnte aufwachen. Dieses kleine Mädchen ist sehr wichtig, ich muss auf sie aufpassen.
Mein erster mzungu ist Gerhard aus Deutschland gewesen, seine Eltern erforschten Wildtiere. Wir wohnten in Seronera, und alle Kinder spielten zusammen, schwarze und weiße. Gerhard ist wie ich, bis auf die Haut. Seine Haut ist hinter Turnschuhen, blauen Jeans und einer Jeansjacke so gut wie unsichtbar. Meine Haut ist draußen. Ich habe nur alte Schulshorts und ein zerschlissenes T-Shirt, das ich von Gerhard geerbt habe und das BAYER heißt. Wir Kinder langweilen uns, denn Seronera besteht nur aus einer kleinen Ansammlung von Gebäuden, die vom Serengeti Nationalpark umringt werden.
»Was wollen wir machen?«, fragt Gerhard.
»Wir können Fußball spielen«, schlage ich vor.
»Na ja, aber wir sind nicht genug für zwei Mannschaften«, sagt er. Ein englischer Junge hat einen Vorschlag:
»Wir gehen einfach rüber ins Dorf, da sind jede Menge Kinder.« Er meint das Dorf, in dem die Parkwächter mit ihren Familien wohnen. Aber zuerst muss man über ein Stück Grasland.
»Das dürfen wir nicht, es ist gefährlich«, sagt Gerhard.
»Ich habe keine Angst vor den Tieren«, erklärt der Engländer. »Eher machen sich die Tiere Sorgen, wenn sie so viele auf zwei Beinen sehen.«
»Was sagst du, Marcus?«, fragt Gerhard.
»Ich bin die Tiere gewohnt«, sage ich. Sieben Kinder gehen los, waafrika, deutscher mzungu, englischer mzungu, wir fragen die Erwachsenen nicht, wir beeilen uns. Dann bebt die Erde – es ist das dumpfe Donnern von Hufen. Gerhard ist neben mir.
»Nashorn!«, schreit er. Das Vieh ist in voller Fahrt. Wir rennen in alle Richtungen, Gerhard auf die eine Seite, ich auf die andere. Bei einem Nashorn soll man stehen bleiben, das wissen wir. Ein Nashorn hat schlechte Augen, es kann nur Bewegungen sehen. Wenn wir still stehen, können wir zu einem Baum werden. Wenn es auf mich zustürmt, werde ich im letzten Moment springen, kurz vor dem glühenden Horn. Das Nashorn wird weiterlaufen und nicht verstehen, wieso die Bahn frei ist. Wenn ich zu früh springe, kann es noch die Richtung ändern. Aber kannst du still stehen bleiben, wenn die Erde bebt und du ins Angesicht des Todes starrst? Wir verteilen uns, das Nashorn schwenkt mit gesenktem Kopf um; es ist Gerhard – aufgespießt. Das Biest wirft ihn in die Luft, er fliegt und landet wie ein Sack Reis auf der Erde. Das Nashorn trottet davon. Wir laufen zu Gerhard, ein großes Loch ist in seinem Bauch, blutig, mit weißen Dingen, die herausquellen – vielleicht von dem Hühnchen, das er heute in der Schachtel bekam, als er so tat, als hätte er Hunger.
»Tragt ihn zurück, ich hole Hilfe!«, ruft der Engländer und rennt durch das Gras davon. Zusammen mit den anderen waafrika trage ich Gerhard zurück, er ist jetzt noch weißer geworden.
»Marcus«, sagt er. »Du musst mich hier sterben lassen.«
»Nur ruhig … das ist nur ein kleines Loch«, sage ich. Aber das Loch ist groß.
Die Erwachsenen kommen mit dem Land Rover, aber das Auto macht es auf der löchrigen Piste noch schlimmer, Gerhard wird ohnmächtig. Glücklicherweise gibt es ein Touristenflugzeug, ein kleines. Sie tragen ihn hinein, es hebt ab. In der Luft über Arusha ist er tot. Wer bekommt nun Gerhards besondere Schuhe mit Stollen, um Fußball zu spielen? Ich. Gerhards Vater und Mutter wollen Besuch, sie haben zwei kleine Mädchen, doch ich kann die Rolle des Jungen spielen, obwohl der tot in der Erde liegt.
Schon bald trage ich Gerhards Sachen, und mein Vater wird wütend. Er meint, ich lasse meine eigene Familie im Stich, um für immer bei den Weißen zu wohnen. Mein Vater schlägt mich so hart, dass ich sicherheitshalber zu Gerhards Mutter laufe und adoptiert werde, in ein weißes Leben in der Familie meines toten Freundes.
Gerhards Eltern sind merkwürdig, finde ich. Alle Früchte müssen mit Sulfonamid abgebürstet werden, und alles Gemüse muss in Chlorwasser gespült werden, das ekelhaft stinkt, sonst ist es zu gefährlich für den weißen Magen. Die Frau trinkt den ganzen Tag Kaffee und liest Bücher. Sie hat waafrika für alles: zum Wäschewaschen, Saubermachen, Essenkochen. Aber sie bezahlt einen viel zu hohen Lohn und merkt nicht, dass sie Zucker und Mehl stehlen. Abends sitzt die weiße Frau auf dem Sofa und trinkt Alkohol und raucht Zigaretten wie der Mann, und manchmal spricht sie hässlich mit dem Mann, aber er schlägt sie nie, soweit ich sehe. Er verzieht höchstens das Gesicht wie ein gereizter Affe. Manchmal küsst der Mann sie direkt vor mir – was kommt als Nächstes?
Dann fahren die Deutschen in einen anderen Nationalpark, um die Hyänen zu studieren. Sie zählen gern Tiere. Ich fahre im Auto mit, wie ein Stück Gepäck. Sie sind gut zu mir. Ich bekomme gutes Essen, freue mich, fahre Fahrrad. Es überschwemmt mein Gehirn, ich komme vorwärts im Leben.
Sie sind glücklich, Hauptsache, ich spiele mit ihren Kindern. Ich lerne sogar Auto fahren, damit ich im Nationalpark am Steuer sitzen kann, wenn der deutsche Mann sein Fernglas benutzt. Aber nach einem Jahr sind die Forschungen beendet, und sie wollen zurück in das weiße Land. Ich bin schockiert. Was nun? Ich dachte, sie würden mich nach Europa mitnehmen. Aber der Mann schickt mich in einem Auto nach Seronera wie einen Touristen; ich habe Geld bekommen, ich trage Turnschuhe, Jeans und eine Jeansjacke, in meiner Proviantbox liegt weißes Fleisch.
In Seronera sind meine Eltern fort; die Arbeit ist vorbei, sie sind zurück nach Moshi gefahren. Sie konnten mich nicht mitnehmen, wo hätten sie mich finden sollen? Ich bin vierzehn Jahre alt. Ich nehme den Bus nach Moshi, viele hundert Kilometer allein auf der Welt. Ich finde das Haus, das meine Eltern in Soweto gemietet haben. Die Mauern bestehen aus Rohr und Lehm, der Boden ist Erde, und das Dach besteht aus großen Blechdosen für Speiseöl, die aufgeschnitten und gerade gehämmert wurden – durchlöchert vom Rost. Meine kleinen Geschwister laufen dreckig und halb nackt herum; sie sind in einem Jahr gewachsen wie Unkraut. Im Haus ist es dunkel und riecht schmutzig. Meine Mutter sieht fast wie eine Fremde aus.
»Die Deutschen sind nach Europa gefahren«, sage ich.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sagt sie. »Du musst gehen, bevor dein Vater kommt. Er schlägt dich tot.«
»Warum? Er ist mein Vater.«
»Du gehorchst nicht, Marcus. Du bist der Älteste, es ist wichtig für die ganze Familie, dass du gut bist. Sonst werden die anderen Kinder auch schlecht.«
»Ich kann mich ordentlich benehmen.«
»Nein«, sagt sie. »Du bist wie die wazungu-Kinder, kein Respekt vor deinen Eltern. Du kannst hier nicht wohnen.«
»Aber wo soll ich hin?«
»Geh zu meiner Schwester in Majengo«, sagt Mutter. »Dort kannst du wohnen, dort gibt es keinen Mann im Haus.«
Seit diesem Tag gehe ich allein durchs Leben und suche mein Glück – am liebsten bei den weißen Menschen.
»W-w-w-w-wie heißt d-d-d-du?«, fragt Mika draußen; er ist aus dem Kino zurück und redet mit bwana Knudsens Jungen.
»Christian«, antwortet der Junge. Ich steige vorsichtig aus Soljas Bett und gehe zu ihnen hinaus.
Christian
»Tr-tr-tr-traust du d-d-d-dich?«, werde ich von einem jungen Burschen gefragt, bei dem es sich um Katriinas Neffen Mika handeln muss. Er reicht mir eine selbst gedrehte Zigarette. Er ist aus der Dunkelheit des Gartens aufgetaucht und riecht nach Bier, obwohl er nur ein paar Jahre älter ist als ich. Ich will kein Schlappschwanz sein. Ich werfe einen raschen Blick ins Wohnzimmer, um zu sehen, ob irgendwelche Erwachsenen da sind. Nein. Ich nehme die Zigarette. Mika hält mir ein Streichholz hin und lächelt. Der Tabak schmeckt eigenartig.
Der schwarze Bursche, Marcus, kommt aus dem Wohnzimmer.
»Tsk, Mika«, sagt er und nimmt mir die Zigarette aus der Hand, schnüffelt daran und reicht sie Mika, wobei er den Kopf schüttelt. »Das ist bhangi«, sagt er zu mir. »Du wirst verrückt davon.« Er gräbt eine Packung Filterzigaretten aus der Hosentasche. Sportsman. Reicht mir die Packung. Ich nehme eine. Ich habe soeben meinen ersten Zug Pot genommen, irre.
»Danke«, sage ich.
»Geh’n wir in mein Ghetto, damit dein Vater dich nicht sieht«, sagt Marcus. Er ist schwer zu verstehen, denn er spricht Englisch mit einem starken afrikanischen Akzent. Ich hatte zweieinhalb Jahre Englisch auf der Schule. Und ich habe mit Mutter geübt und Kassetten aus der Bibliothek nachgesprochen. Außerdem hat sie mir Platten von Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beatles vorgespielt und versucht, mir die Wörter beizubringen. Mika ist im Haus verschwunden.
»Okay«, sage ich zu Marcus und begleite ihn zu einem kleinen gemauerten Gebäude, das ganz hinten im Garten steht. »Wohnst du hier?« Mir ist ein wenig schwindlig, und meine Füße schweben über der Erde.
»Ja«, antwortet er. »Es ist die Dienstbotenwohnung, für mich und das Hausmädchen. Das schwarze Ghetto.« Er lächelt mich in der Dunkelheit an, öffnet die Tür und geht hinein. Der Raum ist vollkommen dunkel. Ich warte draußen. Er zündet eine Sturmlaterne an, offenbar gibt es keinen Strom.
»Magst du Musik?«, will er wissen.
»Ja«, antworte ich, »Bob.«
»Du kennst Bob Marley?«, fragt er erstaunt.
»Bob Dylan«, sage ich.
»Den kenn ich nicht. Du musst dir Bob Marley anhören.«
Marcus stellt einen kleinen batteriebetriebenen Kassettenrekorder an. Die Musik hat einen langsam pumpenden Rhythmus, der in den Körper geht. Ich zünde die Zigarette an und muss mich am Schreibtisch festhalten.
»Wow«, sage ich.
»Spürst du das bhangi?«
»Ich spüre die Erde nicht mehr«, antworte ich. Marcus grinst. Ich höre ein Geräusch und drehe mich nervös um, wobei ich versuche, die Zigarette zu verbergen.
»Es ist Mika«, sagt Marcus. Der finnische Bursche kommt mit einer Dose Carlsberg in der Hand in den Raum.
»Pr-pr-pr-prost«, sagt er und grinst.
»Du darfst kein Bier nehmen«, sagt Marcus. Mika reicht mir die Dose, während er mich kühl betrachtet. Was soll ich machen? Ich nehme einen Schluck. Rauche meine Zigarette. Mika nimmt mir die Dose aus der Hand und geht hinaus. Ich richte mich unsicher auf. Drücke die Zigarette in einem Aschenbecher aus.
»Ich gehe raus«, sage ich.
»Ist dir übel?«
»Ich gehe raus«, sage ich noch einmal und schwanke durch die Tür, über den Boden und die Schwelle. Meine Beine sind aus Gummi, und der Kopf will nicht oben bleiben. Ich lehne mich an den Zaun, der das Gelände umgibt, und flechte meine Finger in die Maschen. Atme tief durch, lasse die Luft durch meine Eingeweide fließen und erbreche mich auf den Rasen. Marcus kommt heraus.
»Bist du okay?«, erkundigt er sich.
»Ja.«
»Warte hier«, sagt er.
»Du sollst niemanden holen.«
»Ich hole dir eine Cola«, erwidert er. Ich bin okay, nur sehr müde. Was soll ich machen? Er kommt mit der Cola zurück. Ich nicke und trinke. Ich will niemandem etwas erklären. Ich hebe zum Abschied die Hand und gehe in Richtung von Vaters Peugeot, der weiß in der Dunkelheit aufleuchtet. Die Erwachsenen sind noch immer bei der Sauna auf der Rückseite des Hauses. Glücklicherweise ist der Wagen offen. Ich krieche auf den Rücksitz und schließe die Tür.
Es änderte sich nicht viel, als Vater aus Singapur zurückkam. Er arbeitete noch immer für Mærsk, jetzt allerdings an der Esplanade in Kopenhagen. Er stand auf, bevor ich aufwachte, und kam nach Hause, wenn ich ins Bett musste. Eines Abends hörte ich Mutter: »Aber er braucht dich hier. Ich kann nicht sein Vater sein. Ich habe keine Ahnung, wo er sich herumtreibt und was er tut.«
»Stellt er irgendetwas Verbotenes an?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube schon. Ich bin sicher, dass er angefangen hat zu rauchen, und manchmal riechen seine Sachen nach Benzin. Ich weiß weder, ob es ihm gut geht, noch, was in der Schule läuft. Er redet nicht darüber. Ich fürchte, er wird zum Außenseiter.«
»Er wird schon klarkommen«, erwidert Vater. Ich weiß nicht recht. Ein paar von uns sind durchaus Außenseiter. Wir tragen keine Polohemden, wir laufen in Arbeitsstiefeln mit Stahlkappen herum. Wir basteln an einer alten Puch Maxi.
Und obwohl John Travolta in Saturday Night Fever eine coole Nummer abliefert, können wir den Kastratengesang der Bee Gees nicht leiden und ziehen Pink Floyd vor.
»Was nützt uns deine Rückkehr, wenn du doch die ganze Zeit nur arbeitest?«, ruft Mutter aus der Küche. Ich stehe auf und gehe zu ihnen ins Wohnzimmer. Sie sind ruhig – und tun so, als wäre nichts gewesen.
»Schläfst du noch nicht?«, fragt Mutter.
»Ihr macht so’n Krach«, antworte ich und gehe auf die Toilette.
»Entschuldigung«, sagt Vater.
»Du bist zu laut, Niels«, sagt Mutter zu ihm.
»Ich bin auch nicht zufrieden in der Zentrale«, erklärt Vater. »Die ganze Zeit dieser Leistungs- und Anpassungsdruck.«
»Dann such dir doch Arbeit in einer kleineren Firma. Wir bekommen ein Kind, Niels. Endlich. Dafür haben die bei Mærsk überhaupt kein Verständnis. Wir Frauen haben zu gehorchen, hübsch auszusehen und die Hemden ihrer Männer faltenfrei zu bügeln.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagt Vater. Ich gehe zurück in mein Zimmer.
»Gute Nacht«, sagt Mutter.
Und so ging es weiter. Eines Abends hatte Mutter Nachtwache, und Vater war bei einem Meeting in Los Angeles. Ich stand um ein Uhr nachts mit einem Freund an einer Texaco-Tankstelle. Er hielt die Tankpistole an eine leere Limonadenflasche, und ich sprang auf dem Benzinschlauch herum; durch den geringen Unterdruck, den mein Gewicht erzeugte, wurde Benzin aus dem Schlauch gepumpt, mit dem wir die Flasche füllen konnten. An der nächsten Kreuzung schütteten wir das Benzin auf die Fahrbahn und warteten einen Augenblick. Sobald sich Autoscheinwerfer näherten, zündeten wir das Benzin an – blockierende Bremsen, kreischende Reifen, seitlicher Aufprall auf eine Straßenlaterne. Wir rannten davon. Am nächsten Tag ist in den Nachrichten von einem üblen Dummejungenstreich in Køge die Rede. Mutter schaut mich mit einem merkwürdigen Blick an.
»Deine Schuhe riechen nach Benzin«, stellt sie fest.
»Ist Mopedbenzin.«
»Du darfst noch nicht Moped fahren.«
»Ich sitze hinten«, behaupte ich.
»Das darfst du auch nicht«, erklärt sie und streicht mein Taschengeld.
Vater ist zurück. Abends streiten sich meine Eltern. Mutter weint.
»Setzt euch«, fordert Vater uns eines Tages auf, als er von der Arbeit nach Hause kommt. Wir folgen seiner Aufforderung. Er stützt sich mit beiden Handflächen auf die Platte des Esstischs.
»Afrika«, sagt er.
»Wie bitte?«, fragt meine Mutter nach.
»Mærsk betreibt in Tansania eine Zuckerplantage. Und der Leiter der Buchhaltung ist ernsthaft an Malaria erkrankt. Sie brauchen sofort einen Ersatz. Zwei Jahre.« Er schaut Mutter an. Sie sieht mich an. Ich zucke die Achseln.
»Gibt es dort eine Schule?«, erkundigt sich Mutter.
»Ja. Eine große internationale Schule. Jede Menge Skandinavier. Ein ausgezeichneter Platz.«
»Und wo wohnt man?« Wiederum stellt Mutter die Frage.
»Na ja, die Zuckerplantage hat ihre eigenen Häuser – so eine Art Reihenhaus mit Garten.«
»Ich möchte hier niederkommen«, sagt Mutter. »Christian kann fliegen, sobald du dich dort unten eingerichtet hast.«
»Was sagst du dazu, Christian? Dann wären wir alle zusammen«, sagte Vater zu mir in einer Küche in Køge. Was sollte ich dazu sagen? Ich hatte keine Ahnung.
»Okay«, habe ich gesagt.
Und jetzt liege ich in einem Peugeot auf dem Rücken, und über mir erstreckt sich der Sternenhimmel Afrikas. Die Cola tut meinem Magen gut. Ich schließe die Augen.
Marcus
KNETEN
»Hallo?«, ruft bwana Knudsen und klopft an meine Ghetto-Tür. »Hast du meinen Sohn gesehen, Christian?«
»Er liegt auf dem Rücksitz Ihres Autos, er war müde.«
»Na, das ist doch praktisch«, sagt bwana Knudsen und wünscht mir eine Gute Nacht.
»Gutnacht«, sage ich. Bwana Knudsen fährt los. Aus dem Haus höre ich diese schwedische ABBA-Musik. Ich gehe in den Garten, um durch die Fenster zu sehen. Ich habe es schon mal gesehen. Bwana Jonas ist niemals nett, aber wenn er getrunken hat, schiebt er die Möbel zur Seite, nimmt Katriina in den Arm, und sie fliegen in einem sehr europäischen Stil über den Boden. Katriinas Augen laufen über vor Honig, wenn sie mit diesem merkwürdigen Mann tanzt.
Kurz drauf setzt die Musik aus. Das Fest ist vorbei. Ich muss ins Bett, denn der Sklave ist der Letzte, der ins Bett geht, und der Erste, der aufzustehen hat, wenn die Herrschaften Kopfschmerzen haben. Ja, die Situation ist unsicher, aber ich muss springen, um mich um das Aufblühen der weißen Lebensfreude zu kümmern, die auch für mein Fortkommen sorgt.
Ich wache mit dem Gedanken an Gottes weiße Füße auf, die mich in meinen schwarzen Arsch treten. Ich springe in die Küche und röste: einen Toast für Solja, koche ein Ei und presse Orangenjuice für meine weiße Tochter.
»Mama und Papa haben Kopfschmerzen«, sagt sie. Ja, das ist wunderbar. Sie brauchen einen Helfer, und Solja mag mich. Sie isst ihr Frühstück, und bwana Jonas steht mit einer Säge im Kopf auf. Soll ich gehen oder stehen bleiben?
»Los, verschwinde«, sagt er, ohne mich anzusehen, also sehe ich zu, dass ich außer Sichtweite bin, bis Katriina zu meinem Ghetto kommt.
»Wir fahren Solja zu ihren Freundinnen, dann hole ich dich ab. Wir gehen zusammen mit Tita einkaufen.«
»Okay.« Die Autos fahren los. Das Hausmädchen macht nach den nächtlichen Festlichkeiten im ersten Stock sauber. Jetzt hat der Marabustorch Marcus endlich ein bisschen Zeit, sich um seine eigene Atzung zu kümmern. Ich laufe zur Küchentür und höre ein Kichern des Hausmädchens. Was passiert in der Küche? Ich schaue durch den Lattenrost der Tür. Bwana Jonas steht neben ihr – und knetet das Hinterteil des Hausmädchens wie einen Teig. Erschrocken drehe ich mich um und will lautlos verschwinden, doch ich bin nervös, und mein Fuß stößt gegen einen Korb mit Wäscheklammern, der auf der Hintertreppe steht. Eeehhh, es rasselt.
»Marcus!«, ruft bwana Jonas hinter mir. Ich bleibe stehen und drehe mich mit einem total ahnungslosen Gesichtsausdruck um.
»Ja?«, sage ich. Bwana Jonas öffnet die Tür und hält den Finger in die Luft.
»Du sagst kein Wort.«
»Ja, ich bin ganz still«, sage ich und nicke sehr energisch.
»Sonst fliegst du.«
»Ich sage niemals irgendetwas zu irgendjemandem.« Ich nicke noch immer mit großer Energie. Was habe ich zu bieten? Ich bin nicht so interessant wie das Hausmädchen. Auf dem Weg in mein Ghetto sehe ich Jonas’ große Yamaha 350cc in der Garage. Eeehhh, ich bin aber auch zu blöd. Bevor ich das Haus betrete, ist es wichtig, dass ich weiß, wer noch zu Hause sein könnte.
Ich setze mich vor mein Ghetto, um das Kneten des schwarzen Teigs nicht weiter zu stören. Als das Hausmädchen zum Ghetto kommt, zieht sie ein sehr stolzes und abweisendes Gesicht. Sie will direkt in ihr Zimmer gehen, ohne mit mir zu reden.
»Er ist schon verheiratet. Wieso lässt du ihn deinen Hintern kneten?«
»Tsk«, schnalzt sie. »Der Mann mag mich. Bald wird er mir etwas schenken.«
Christian
Ich schlage die Augen unter einem weißen Moskitonetz auf. Liege im Bett. Es ist Tag. Ein helles Zimmer mit einem Terrazzofußboden. Ein Schreibtisch und ein Stuhl. Vor dem Schrank stehen meine Diadora-Tasche und der Koffer. Es ist sauber hier, frisch gestrichen. Vater muss mich letzte Nacht hineingetragen haben. Ich stehe auf. Der Boden unter meinen Füßen ist kühl. Ich sehe in den Garten: gepflegter Rasen, sehr grün, begrenzt von Blumenbeeten. Ich spüre ein merkwürdiges Gefühl im Kopf. Ziehe meine Jeans an. Vater muss sie mir ausgezogen haben. Öffne vorsichtig die Tür, höre Küchengeräusche, gehe über den Flur bis zu einem Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch liegt ein Zettel. »Hej, Christian. Ich bin im Büro. Komme um zwei nach Hause. Der Koch macht dir Frühstück. Liebe Grüße, Vater.« Der Koch? Ich höre Schritte und drehe mich um. Ein schwarzer Mann mit einer Schürze und bloßen Zehen. Er lächelt und sagt irgendetwas. Ich hebe die Hand zu einem Gruß. Er gibt mir ein Zeichen, dass ich ihm folgen soll. In die Küche. Dort zieht er einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und rückt ihn für mich zurecht. Ich setze mich. Er öffnet den Kühlschrank, hält ein Ei hoch und sieht mich fragend an, wobei er in einer Sprache redet, bei der es sich um Swahili handeln muss. Ich nicke. Er hält einen Finger hoch, dann zwei und noch einen – noch immer dieses fragende Gesicht. Ich halte zwei Finger hoch. Zwei Eier. Er zeigt mir einen Topf und eine Pfanne. Ich wähle die Pfanne. Er lächelt, nickt und serviert Toast, Juice und eine Tasse Kaffee. Mutter meint, ich sei noch zu jung für Kaffee. Ich trinke den Kaffee, wobei der Koch mich genau beobachtet und nickt. Er ist stark. Ich trinke einen Schluck Juice. Die Eier sind gut. Ich nicke und lächele ihm zu. Er lächelt zurück.
Marcus
KLEINER SCHWARZER HELFER
Katriina holt mich in ihrem roten Peugeot-Kombi ab, wir fahren zum YMCA, wo Asko und Tita wohnen, solange sie auf ein Haus warten. Wir fahren zum Markt am Rand von Swahilitown. Sind irgendwelche Sachen im Auto, bleibe ich darin sitzen, damit der Wagen nicht leer geräumt wird, denn der Schneider, der unter dem Halbdach gegenüber des Haupteingangs näht, hat nie etwas gesehen, selbst wenn man zurückkommt und das Auto ohne Reifen wiederfindet.
Zuerst wollen sich die weißen Damen die bunten Kleider des Schneiders ansehen, also laufe ich zu Phantom, dem Rasta-Mann, der am Eingang des Marktes einen kleinen Kiosk besitzt – nicht viel mehr als eine Kiste –, in dem er Zigaretten, Creme, Seife, Kugelschreiber, Toilettenpapier, Batterien, Haarspangen, Kaugummi, Rasierklingen und andere Kleinigkeiten verkauft. Irgendwann ist ein bisschen Geld aus dem Haus der Schweden verschwunden – könnte ja sein, dass Mika oder das Hausmädchen es gestohlen hat. Ich kaufe eine Kassette mit Bob Marleys Musik, fünf Big-G-Kaugummi für Solja und Zigaretten, die ich Mika geben kann.
Ich verabschiede mich von Phantom und gehe zum Schneider, um meine weißen Damen zu finden. Aber was ist das? Vor mir auf der Erde sitzt meine Mutter zusammen mit den zwei kleinsten Kindern. Ihre Nasen laufen, und die Klamotten sind voller Löcher. Mutter verkauft vor dem Markt, direkt auf der Straße, wo der Platz nichts kostet und die Polizei dich mit Füßen tritt und alles konfiszieren kann. Sie hat ein Stück Sackleinen auf dem Boden ausgebreitet und darauf ein paar Tomaten, Zwiebeln und Bananen gelegt, alles von dem Feld, das meine Eltern in den North Pare Montains besitzen; denn obwohl wir vom Stamm der Chagga stammen, hat unsere Familie ihr ganzes Land an den Hängen des Kilimandscharo verloren.
»Marcus, du musst uns helfen«, sagt meine Mutter. »Dein Vater hat seinen guten Job als Fahrer verloren. Jetzt haben wir kein Geld für Essen.«
»Nur weil dein Mann das gesamte Geld fürs Saufen ausgibt.«
»Es liegt an seinen Sorgen. Bei so vielen Kindern, die er zu ernähren hat. Du hast jetzt ein gutes Leben, du musst uns helfen, genau wie wir dir geholfen haben.«
»Es ist keine Hilfe, wenn ich euch mit einem Stock verprügele, so wie ihr mich verprügelt habt, und ihr am ganzen Körper blutet.«
PRÜGEL
Während meiner Kindheit in der Serengeti verwaltete mein Vater in Seronera die Jugendherberge für Studenten. Dort wohnten sowohl wazungu wie waafrika. Mein Vater war gleichzeitig ihr Guide, er zeigte ihnen, wo der Elefant war, der Löwe oder eine Hyäne. Hinterher zeigte er ihnen Filme, die Leute wie Michael Grzimek und die anderen wazungu gedreht hatten, die den Park gegründet haben, europäische Forscher der wilden Tiere. Ich bin in die Schule für die Kinder der Angestellten gegangen, Schwarze und Weiße waren dort gemischt. Und die weißen Hausfrauen unterrichteten uns in Englisch.
»Wir bestimmen jetzt alles selbst«, hat mein Vater einmal zu mir gesagt. »Denn bevor du geboren wurdest, hat unser Präsident, der Lehrer Nyerere, das Land von den Engländern zurückbekommen und uns uhuru gebracht.« Die Freiheit. Aber das ist falsch. Der Chef von Seronera war zwar mwafrika, aber wer bestimmt tatsächlich die Qualität unseres Lebens?
In der Schule habe ich mit den weißen Kindern geredet, und mich zog ihre ausländische Lebensweise an. Ihre Eltern sagten: »Es ist schön, dass ihr zusammen spielt.« Ich dachte damals, ich sei glücklich, denn ich wusste nicht, was hinterher kommen würde. Ich lernte neue Dinge. Fahrrad fahren. Besonderes Essen aus der Dose essen. Kakao trinken. Kekse essen. Die weißen Kinder hatten Geld für Brause beim Kaufmann, einem mürrischen mhindi. Kam ich allein in den Laden, hatte er einen Stock bereit, der sich direkt mit meiner Haut unterhielt.
Mein Vater wechselte die Arbeit und wurde Parkaufseher. Er ging auf einen Kriegszug, um Wilderer zu fangen. Wir Kinder blieben allein mit unserer Mutter. Ich war der Erstgeborene und sehr beschäftigt mit der Schule und meinen weißen deutschen Freunden. Ich fand es falsch, dass meine Mutter immer nur mich zum Kaufmann schickte. Und immer musste ich Wasser und Brennholz holen und auf die schreienden, kackenden Kleinen aufpassen – ich bin kein Mädchen.
Wenn Vater nach Hause kam, hatte er wunderbare Fleischstücke von den Wilderern konfisziert, aber ich bekam nicht eine Portion. Mutter erzählte ihm sogar, ich würde mich weigern, meine Pflichten zu erfüllen, und er forderte mich auf, ins Schlafzimmer zu kommen, wo ich mich mit dem Stock unterhalten sollte.
Mutter blieb mit den kleinen Geschwistern zu Hause. Und abends stank das ganze Haus nach der Pfeife meines Vaters, und er bekam so einen seltsamen Blick.
»Was rauchst du da?«, fragte ich ihn.
»Getrocknete Elefantenscheiße«, sagte er und lachte laut, wobei er nach mir ausholte. Paff – ein Schlag in den Nacken.
Bei den weißen Menschen war das anders. Keine stinkende Elefantenscheiße, sondern feine weiße Zigaretten. Keine Schläge, dafür aber Limonade und Kekse.
»Räum dein Zimmer auf«, sagt die weiße Dame zu ihrem Sohn, Gerhard.
»Nein, ich hab keine Lust!«, sagt Gerhard. Also wird es vom Hausmädchen erledigt, während Gerhard und ich Limonade trinken.
Ich beginne, meine Eltern total zu ignorieren, weil sie meiner Ansicht nach die falschen Dinge tun. Sie haben keine Limonade.
»Marcus, feg vor der Tür und pass auf deine kleine Schwester auf, ich gehe jetzt einkaufen«, sagt Mutter.
»Nein.«
»Du bist hoffnungslos, wie ein wazungu-Kind.« Aber ich bleibe hart. Bis Vater nach Hause kommt und gegessen hat, dann hat er neue Kraft. Er fordert mich auf, in das Zimmer zu kommen, in dem wir alle zusammen schlafen; die anderen Kinder bleiben in dem anderen Raum. Prügel, bis die Haut sich vom Fleisch löst, wie bei einem geschlachteten Tier. Ich laufe davon. Schlafe in einem Lagerraum in der Umgebung. Ich bin hungrig und zittere vor Fieber, schließlich gehe ich zu meinen Eltern nach Hause.
»Wo bist du gewesen?«, fragt Mutter.
»Bei meinen Freunden.«
»Raus!« Vater tritt nach mir. »Du kannst bei deinen wazungu-Freunden bleiben.«
Ich gehe zu der deutschen Familie. Das T-Shirt klebt an dem blutigen Fleisch meines Rückens. Ich werde gewaschen. Die Frau schmiert mir weiße Salbe auf den Rücken und gibt mir für viele Tage Tabletten gegen das Fieber. Ich erkläre, was mir passiert ist. Sie sagen: »Nein, das kann doch nicht wahr sein. Bleib bei uns.« Also schlafe ich irgendwo im Haus, wie eine Art Haustier.
Die Grundschule habe ich nach der siebten Klasse beendet, ich war damals dreizehn Jahre alt. Es gab keine Secondary School in Seronera, außerdem hatte meine Familie kein Geld, und ich war ihr egal. Meine weißen Freunde kamen aufs internationale Internat in Nairobi. Meine Zukunft sah anders aus. Ich fuhr mit Gerhards deutschen Eltern zu einem neuen Nationalpark, um mit ihren kleinen Kindern zu spielen. Aber diese deutsche Familie ist verschwunden und hat mich auf einem steinigen Lebensweg zurückgelassen. Damals. Nun kämpfe ich darum, ein Mitglied der Larsson-Familie aus Schweden zu werden.
PROTEINE
Nach den Einkäufen fahren wir zum Kibo Coffee House am Clock-Tower-Kreisel, dem Ort, an dem man sich in der Stadt trifft. Es ist herrlich, mit den weißen Menschen zusammen zu sein. Ich trinke feinen Kaffee und esse feine Snacks. Doughnuts – das ist Leben. Erwisch eine Welle und reite auf ihr. Es gibt richtig gutes Sahneeis, es gibt heißen Kaffee und Eiskaffee mit Milch und Rohrzucker von der TPC und einen Löffel Sahneeis obendrauf. Das Auto steht direkt unter uns, so dass ich es im Blick behalten kann; und die Einkaufskörbe sind voller Proteine, der besten Ernährung, wie ich gelernt habe.
Als Gerhards Eltern damals abflogen, suchte ich den Schuppen meiner Eltern in Moshis Slumviertel Soweto, aber Mutter schickte mich zu ihrer Tante, damit Vater mich nicht mit dem Stock umbrachte. Die Tante hatte kein Geld, aber sie ist gläubige Christin und kennt die Menschen. Sie schickt mich ins KCMC – dem Kilimanjaro Christian Medical Center –, um mir dort eine Arbeit zu suchen. Ich gehe den ganzen Weg auf meinen dünnen Beinen. Das große weiße Gebäude ist Tansanias bestes Krankenhaus, mit Gottes Geld von den Israelis gebaut.
Ich bekomme einen Job im NURU, der Nutrition Rehabilitation Unit. NURU bedeutet Licht auf Swahili. Die Chefs sind aus England und bringen den Müttern bei, ihren Kindern ordentliches Essen zu geben. Mehrere Wochen wohnen sie in Baracken und werden unterrichtet: Tier- oder Menschenkacke darf nicht zu dicht an einem Topf mit Grütze liegen. Wir haben Krankenschwestern, die zeigen, wie man sich auf die Geburt eines Kindes vorbereitet, und die ihnen von Krankheiten wie Würmern und Bilharziose erzählen. Und die Väter müssen kommen, um zu lernen, wie man ein sicheres Feuer zum Kochen einrichtet, damit nicht die Kinder gebraten werden.
Ich arbeite für George, der im Küchengarten Nahrungsmittel für die Kinder anbaut. Die Krankenschwester zeigt den Müttern, welches Essen zusammenpasst, damit der Magen sich nicht verkrampft, die Haut rot und die Arme und Beine dünn wie Streichhölzer werden. Ich erzähle ihr von damals, als ich hungrig auf Fleisch gewesen bin.
»Dir fehlen Proteine, und die müssen nicht unbedingt vom Fleisch sein«, sagt sie. »Du kannst Eier, Bohnen oder Fleisch essen, um deine Muskeln aufzubauen. Und du brauchst Kaninchenfutter, das ist gut fürs Gehirn, Milch für die Knochen und Maisgrütze für die Energie, damit du laufen kannst wie eine Gazelle.«
Jeden Tag gehe ich dorthin. So lerne ich auch, wie die Dinge im Leben verteilt sind. In Majengo haben wir Feldwege, schlechte Häuser ohne Wasser und Strom und viele Bars, in denen die Männer mbege trinken und Frauen kaufen. Doch nach dem Kreisel am YMCA kommt Shanty Town mit großen Häusern, gutem Asphalt und vornehmen Autos. Meine Tante sagt, Shanty Town sei eine Stadt aus Blechhütten gewesen, als ihr Vater jung war, aber dann kamen die Deutschen mit der Eisenbahn, und Moshi wuchs. Und wichtige Menschen ließen die Schuppenstadt abreißen, um selbst dort wohnen zu können.
Jetzt leben in dem Stadtteil viele Weiße, die hier sind, um dem Neger zu helfen, aber auch reiche Schwarze mit guter Kleidung und satten Mägen.
Ich spiele gern mit den Kindern im NURU. Und ich helfe George, einem Eingeborenen, der sich um den Bauernhof des Krankenhauses kümmert. Er bringt es mir bei. Ich versorge die Kaninchen, die Hühner und passe aufs Gemüse auf. Das Geld gebe ich meiner Tante, die eigentlich in ihrem Haus keinen Platz für mich hat, denn es gibt nur ein Zimmer, und sie hat bereits zwei Töchter ohne einen Mann. Meine Aufgabe ist es, mich nach einer neuen Unterkunft umzusehen, in der ich mich nützlich machen kann, um mir zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Und nun sitze ich mit zwei weißen Damen im Kibo Coffee House. Tita schaut mich ständig an. Ihr Mann Asko ist fett und rosa wie ein Schwein mit Sonnenbrand. Vielleicht studiert sie gerade die schwarze Haut?
Christian
Ich gehe in den Garten. Die Sonne schlägt mir auf den Kopf. Es riecht schwach nach gebranntem Zucker. Am Ende der Einfahrt bleibe ich stehen. Ein Kiesweg mit Reihenhäusern hinter einer mannshohen, gepflegten Hecke. Ich weiß nicht, wo ich bin. In der Ferne sehe ich einen hohen silberfarbenen Schornstein, auf dem untereinander die Buchstaben T P C stehen. Es muss die Zuckerfabrik sein. Ich gehe zurück ins Haus. Mein Koffer ist leer. Ich öffne den Schrank: Meine gesamte Kleidung liegt frisch gebügelt und gestapelt in den Fächern; der Koch hat es erledigt. Was soll ich unternehmen? Eine Tür geht auf.
»Willkommen bei der TPC«, sagt Vater.
»Hej«, antworte ich und lächele.
»Hast du gefrühstückt?«
»Ja.«
»Dann komm mit.« Wir gehen durch die Reihenhaussiedlung auf den Schornstein zu. »Hier wohnen die Angestellten«, erklärt Vater. »Ja, ich habe das Haus des Buchhaltungschefs übernommen, aber er hatte seine Familie nicht dabei, deshalb hat das Haus keinen Swimmingpool. Aber zwei Häuser weiter«, sagt Vater und zeigt dorthin, »wohnen Rasmussens, ihre Tochter Nanna ist in deinem Alter. Sie sind im Moment im Urlaub, aber du darfst dort gern baden gehen.« Wir verlassen das Reihenhausgebiet.
»Das sind die Arbeiterwohnungen.« Vater weist auf eine Reihe kleiner gelber Häuser mit Dächern aus Blech. »Auf jeder Seite wohnt eine Familie.« Die Häuschen haben Nummern, wie Zellen. Das Mauerwerk über den Türen ist verrußt von dem Holzkohlerauch, der hinaustreibt. Schmutzige Kinder laufen zwischen frei laufenden Ziegen und Hühnern herum. »Es ist ein guter Ort, um als ungelernter Arbeiter zu leben und zu arbeiten.«
Wir kommen zum eigentlichen Fabrikgelände, und Vater grüßt die Torwache. Auf Englisch sagt er: »Das ist mein Sohn.«
»Oh«, sagt der Posten und lächelt. »Willkommen bei der TPC.«
»Danke«, antworte ich. Hier riecht es stark nach gebranntem Zucker. Die Fabrik macht einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck. Drinnen treffen wir auf den Leiter der Fabrik, Mister Makundi, der seit 1954 hier arbeitet, als die TPC gegründet wurde. »Du musst ihn mzee Makundi nennen, da er ein alter Mann ist«, erklärt mir Vater.
»Ja, der alte Herr Møller war klug«, sagt Makundi. »Er kam zur Jagd hierher, und dann hatte er die Idee, die trockene Erde mit dem Flusswasser künstlich zu bewässern und Zuckerrohr anzubauen. Die TPC war zunächst nur ein kleiner Garten, in dem Herr Møller seine Ferien verbrachte.« Makundi erzählt auch von einem Sohn in meinem Alter, er heißt Rogarth. Er geht auch auf die Schule in Moshi.
»Ich muss heute etwas länger arbeiten. Findest du allein zurück?«, fragt Vater.
»Ja. Sicher.« Er gibt mir ein bisschen Geld. »Was soll ich damit?«, frage ich ihn.
»Drüben bei den Arbeiterwohnungen gibt’s ein paar Kioske, wo man Limonade kaufen kann. Auch an der Kantine der Arbeiter, gleich gegenüber der Fabrik. Ich komme in zwei Stunden.«
»Okay«, sage ich und gehe an der Kantine der Arbeiter vorbei, ohne sie zu betreten. Zurück zum Haus. Was soll ich machen? Lust auf eine Zigarette. Im Wohnzimmer finde ich eine offene Packung und Streichhölzer. Der Koch ist in der Küche. Ich gehe hinters Haus, aber man kann mich vom Nachbarhaus aus sehen. Ich gehe zur Hecke im Garten, dort finde ich ein Loch, durch das ich mich quetsche. Ein Golfplatz. Vater hat ihn erwähnt. Mutter würde gern spielen. Kein Mensch zu sehen. Das Gras ist knöchelhoch – gibt es hier Schlangen? Ich gehe in die Hocke und rauche.
Hinterher mache ich mich auf Entdeckungsreise. Ich bin kreideweiß. Einige schwarze Männer sind zu Fuß unterwegs. Die meisten beachten mich nicht sonderlich. Andere nicken und lächeln. Ich lächele zurück. Ihre Zähne sind perlweiß. Ich gehe zur Kantine der Arbeiter. Es gibt einen Tresen.
»Hej«, grüße ich auf Englisch die Schwarze, die hinter dem Tresen steht. »Ich hätte gern eine Fanta.« Ich reiche ihr das Geld. Sie nimmt etwas davon und nickt, gibt mir eine Flasche und das Wechselgeld. Ich sehe einen Platz, auf dem ein paar Jungs mit einer Art Ball spielen. Ich trinke aus und gehe hinüber. Der Ball besteht aus Plastik und Stoffresten, die mit Bindfäden und Gummibändern zu einer Kugel geschnürt sind. Die Jungs sind in meinem Alter beziehungsweise etwas jünger. Ich nehme den Ball mit dem Fuß auf und jongliere: Fuß, Oberschenkel, Fuß, Kopf, Oberschenkel, Fuß, dann schieße ich ihn zurück. Sie lachen, reden Swahili, zeigen auf mich. Ich lache. Einer von ihnen teilt uns in zwei Mannschaften, indem er uns zu zwei Gruppen zusammenschiebt. Meine Mannschaft spielt mit nacktem Bauch. Die Tore werden mit den T-Shirts markiert. Wir spielen – man merkt nicht, dass sie keine Schuhe anhaben. Ihre Fußsohlen bestehen aus harter Hornhaut. Ein Junge in meiner Größe zeigt auf sich.
»Emmanuel«, sagt er, dann zeigt er auf mich.
»Christian.«
»Huyo jina ni Christian«, erklärt er den anderen, die nun alle ihren Namen nennen.
»Ich reden Englisch fast«, sagt Emmanuel.
»Ich auch«, antworte ich, und wir lachen und spielen weiter. Ein Bursche in Hemd, Gabardinehosen und frisch geputzten Schuhen nähert sich dem Platz.
»Hej«, grüßt er. »Ich heiße Rogarth. Du hast meinen Vater kennengelernt, Mister Makundi.«
»Hej«, erwidere ich, strecke meine Hand aus und nenne meinen Namen. Die anderen Jungs halten Abstand und reden nicht mit ihm.
»Vielleicht kommst du auf der Internationalen Schule in meine Klasse.«
»Okay«, sage ich und nicke.
»Pass bei diesen Burschen auf.« Rogarth zeigt mit einer Handbewegung auf die Fußballspieler.
»Wieso?«
»Es sind Diebe«, behauptet er. Ich sage nichts. »Ich kann dir beibringen, Golf zu spielen.«
»Ja, gern.«
»Christian«, höre ich die Stimme meines Vaters – er steht gegenüber auf der Straße. »Na, hast du ein paar Jungs getroffen?«
»Be back tomorrow«, ruft Emmanuel.
»Yes«, rufe ich zurück. Wir gehen zu unserem Haus, um Mittag zu essen.
»Vater, dieser Rogarth hat mir gesagt, ich soll mit den Jungs aufpassen, mit denen ich Fußball gespielt habe; er behauptet, sie seien Diebe.« Vater grinst.
»Vielleicht stimmt es sogar. Aber Rogarths Vater ist ein noch größerer Dieb. Sonst könnte Rogarth nicht auf die Internationale Schule gehen.«
Wir essen eine Art Currygericht mit Reis, es schmeckt gut.
»Ich dachte, wir fahren mal in die Stadt und sehen uns die Schule an«, schlägt Vater vor. »Und heute Abend sind wir von ein paar Engländern hier in der TPC eingeladen.«
»Okay.« Wir fahren an der Fabrik vorbei. Vater erklärt mir die verschiedenen Bereiche. Die Verwaltungsgebäude, in denen sein Büro liegt. Die Krankenstation und die Kantine der Arbeiter. Die Maschinenwerkstätten. Weil die Plantage von der Reederei Mærsk aufgebaut wurde, wird das Restaurant der Angestellten Messe genannt. Wir fahren auf einer asphaltierten Straße zwischen Feldern und Zuckerrohr. Die Bäume an der Straße sind voller violetter Blüten. Am Straßenrand ziehen sich tiefe Betonkanäle für die künstliche Bewässerung, mehrfach überqueren wir Eisenbahnschienen. Wir fahren parallel zu den Schienen, darauf ein langer Zug mit offenen Waggons, die mit Zuckerrohr beladen sind.
»Die Züge fahren die Fabrik rund um die Uhr an«, erklärt Vater. An anderen Stellen spritzt Wasser aus Sprinkleranlagen, die auf den Feldern stehen, auf die Fahrbahn. Wir kommen an einem Feld vorbei, auf dem schweißglänzende schlanke Männer Zuckerrohr mit einem langen Messer schneiden, das ein breites Blatt hat. »Das Messer heißt panga.«
»Haben sie keine Erntemaschine?«
»Die ist schon lange kaputt, und das Land hat keine ausländische Valuta, um Reserveteile zu kaufen. Ein panga und Handarbeit sind billiger.« Die Kleidung der Männer ist total verdreckt und zerschlissen.
»Kommen sie jeden Morgen, um Arbeit zu suchen?«
»Nein, sie wohnen auf der Plantage in Dörfern. Viertausend Männer mit ihren Familien, mit Schulen, Läden, allem.« Wir nähern uns einer Straßensperre und werden durchgewunken. Das Zuckerrohr wird von trockenem Buschland abgelöst. »Hier endet die TPC«, sagt Vater. Entlang der Straße tauchen kleine Backsteingebäude auf. Wir fahren auf einen Kreisel zu. »Der TPC-Kreisel«, erklärt Vater. Die Bebauung wird dichter. Überall schwarze Menschen. Die meisten Männer tragen weiße Hemden und Gabardinehosen, die Frauen geblümte Kleider; manche haben ein Kind auf dem Rücken. Eine Reihe Inder. »In Moshi leben ungefähr achthunderttausend Menschen«, sagt Vater. Ein großer Markt, Kreisel mit Blumenbeeten, wir fahren aus der Innenstadt durch ein altes Villenviertel und erreichen die Schule auf einem breiten ungepflasterten Weg. Die ISM, die International School Moshi. Das Schulgelände sieht einladend und grün aus. Etwas zurückgesetzt liegen die Klassenräume, die Sporthalle, der Speisesaal für die Internatsschüler und die Wohngebäude. Ein Spielplatz für die Kleinen, ein Swimmingpool, Plätze zum Ballspielen. Die Weihnachtsferien enden erst in einigen Tagen, hier ist noch keine Menschenseele. Ich bekomme Bauchschmerzen.
»Und alles auf Englisch?«
»Ja. Aber keine Uniformen oder Ohrfeigen. Zu Beginn bekommst du Förderunterricht, damit du die Sprache schnell lernst. Es wird schon gehen.« Vater legt mir einen Arm um die Schulter.
Abends gehen wir zum Essen zu John und Miriam, den Engländern.
»Sie sind beide in Kenia geboren. John ist für den Betrieb der Plantage verantwortlich«, erklärt Vater. Die Erwachsenen trinken Gin-Tonic, ich bekomme Cola. Das Essen wird serviert. Kartoffeln und Blumenkohl zu Matsch verkocht und ein sehr totes Lamm.
»Die britische Tradition der höheren Esskultur hat dieses Tier der Leichenschändung ausgesetzt«, sagt Vater auf Dänisch zu mir.
»Schmeckt’s dir?«, erkundigt sich Miriam.
»Oh ja, sehr«, antwortet Vater. Nach dem Abendessen schwenkt John Cognac in seinem Glas. Er holt Zigarren und bietet Vater eine an. Vater nimmt sich eine Zigarre und zieht ein Feuerzeug aus der Hosentasche.
»Augenblick«, sagt John und hebt die Hand.
»Hör schon auf«, mischt Miriam sich ein und kichert albern, sie wirkt angetrunken. John greift nach einer Glocke, die auf dem Couchtisch steht, und klingelt. Der Koch erscheint im Wohnzimmer und geht rasch ein paar Schritte auf John zu, bevor er sich auf die Knie fallen lässt und die letzten drei Meter über den gebohnerten Fußboden rutscht. Gleichzeitig hebt er eine Hand mit einem Feuerzeug, entzündet es, als er unmittelbar vor Johns Armlehne zum Stehen kommt, und brennt Johns Zigarre an. Vater steckt seine Zigarre in die Hemdtasche.
»Ich rauche meine ein bisschen später«, entschuldigt er sich. »Wir müssen nach Hause und Christians Mutter anrufen.« Wir stehen auf und verabschieden uns. Vater legt mir auf dem Heimweg einen Arm um die Schulter. Wir bekommen keine Verbindung zu Mutter. Vater setzt sich und holt die Zigarre heraus. »Die spinnen, die Engländer«, sagt er.
»Augenblick!« Ich schnappe mir sein Feuerzeug, nehme Anlauf, rutsche über den Fußboden und zünde die Zigarre an. Wir grinsen.
Marcus
GOTTES STRENGE
Kolonialistisch. Der weiße Mann hat Strom im Haus und kann sich entspannt hinsetzen, wenn er sich entleert; er benutzt weiches weißes Papier, um sich die Scheiße abzuwischen. Der schwarze Mann muss sich in der Dunkelheit des Ghettoklos hinhocken, wobei ihm Kakerlaken über die Füße laufen, er muss seinen Arsch mit Wasser und der Hand waschen, und er bekommt Scheiße unter die Fingernägel. Und mein Kassettengerät wird ständig müde – Batterien sind teuer. Also nutze ich eine Leitung aus der Küche und verlege sie über das Dach des Hauptgebäudes und einen Baum bis unter mein Dach. Doch das Licht in meinem Zimmer schafft ein neues Problem.
»Wieso habe ich keine Elektrizität?«, fragt das Hausmädchen. Erst, seit sie mich als Elektriker erlebt hat, redet sie überhaupt mit mir.
»Ich will eine ordentliche Zimmerdecke«, sagt sie. »Ich kann so nicht wohnen, du guckst über die Wand, wenn ich mich umziehe.«
»Ich sehe dich nicht an.«
Sie verzieht das Gesicht.
»Sag ihnen, du willst eine Decke.«
»Du kennst doch die wazungu«, sagt sie. Nein, ich kenne sie nicht. Ich hoffe nur, dass sie besser sind als die waafrika. Nach meinem Aufenthalt bei der Tante in Majengo bin ich direkt wieder in der schwarzen Hölle gelandet. Ich habe auf der NURU-Farm des Hospitals gearbeitet, und dabei hat mich viele Monate der tansanische Pastor beobachtet. Er hat mit den kranken Lutheranern im KCMC geredet und meine Arbeit gesehen. Er hat sich mit George, dem Leiter der Farm, unterhalten. George sagt, ich bin gut. Also beschließt der Pastor, mich zu nehmen. Er wohnt in einem Missionarsstadtteil nahe dem Uhuru Hostel in Shanty Town. Er zieht von Schule zu Schule und predigt, besucht die Kranken und betet für sie.
Der Pastor bringt mich auf seine private Farm in Kahe in der Nähe der Zuckerplantage TPC. Es ist hart, er will die Arbeitskraft, einen Sklaven. Er gibt mir dreieckige Milchkartons und Brot. Ich soll aufpassen, dass die Menschen, die Mais und Bohnen anbauen, es ordentlich machen.
»Es muss gewässert werden. Das Unkraut muss weg«, sage ich zu einem Mann, der mein Vater sein könnte. Nur die Strenge Gottes, die der Pastor verkörpert, hält ihn davon ab, mich zu verprügeln. Fünfzehn Jahre alt. Du kannst dir vorstellen, wie populär ich bin, wenn ich die Faulheit verpetze. Mein Essen besteht aus Weißbrot und saurer Milch. Ich schlafe in einem Schuppen. In Tansania kannst du die Handlungen großer Männer eigentlich nicht infrage stellen, aber ich habe Erfahrung durch die Methoden der Weißen. Also frage ich den Pastor ganz offen.
»Bis wann? Ich will zurück in die Schule.« Und meine Arbeit ist gut, daher meldet der Pastor mich auf der Kibo Secondary School in Moshi an und bezahlt für das erste Jahr. Der Pastor zeigt mir die Dienstbotenwohnung hinter dem Haus, ein kleines Gebäude mit zwei Räumen, in einem wohnt bereits das Hausmädchen. Am Ende des Hauses gibt es einen Zugang zu einer Dusche und einem Loch in der Erde; aber mit Abzug und Papier. Ich habe mein eigenes Zimmer, das besser ist als unser Haus in Seronera. Ich betrachte es in meinem Leben als einen Schritt nach vorn, denn ich bin weg von der Überbevölkerung im Zimmer der Tante.
»Okay«, sagt der Pastor. »Du kannst hier wohnen, während du zur Schule gehst und etwas lernst. Aber wenn du Ferien hast, musst du mir auf der Farm helfen.«
»Gut, das werde ich tun.«
Doch die Schule ist eine Überraschung für mich. In Seronera hatten wir mit dem Lehrer wie mit einem Menschen zu reden. Doch auf der Kibo Secondary School bin ich eine Kuh: Wenn ich einen falschen Schritt mache, justiert der Lehrer meine Richtung mit seinem Stock, eeehhh.
In dieser Zeit ergeben sich auch Probleme mit meiner Position, zumindest ist der Pastor ein großer Mann. »Ich bin Experte für die Feldarbeit, darum hat er mich aufgenommen und bezahlt mir die Schule. Ich soll seinen Arbeitern beibringen, wie man die Dinge anbaut.« Ich habe in der Schule geprahlt. Aber die Prahlerei war bei Weitem nicht so schön, wenn die anderen nach der Schule nach Hause gehen konnten, wo eine Mutter Tee mit Milch und Zucker und einen Snack für sie bereithielt. Meine Mitschüler hatten Zeit zum Spielen und eine Familie. Ich ging nach Hause zur Arbeit. Ich wollte weg. Aus meiner Zeit bei den Deutschen im Nationalpark war ich an ein weißes Leben ohne Staub und Armut gewöhnt. Der Pastor war schwarz, aber er betete zu dem weißen Gott; und bei seinen Nachbarn handelte es sich um weiße Missionare, einige von ihnen kamen sogar aus Deutschland.
Christian
Rogarth holt mich morgens mit einer Golftasche ab, die er sich über die Schulter gehängt hat. Ich habe eine Golftasche, die irgendjemand im Haus vergessen hat, als Vater einzog. Wir gehen zum Platz. Auf dem Fairway grasen Ziegen und Kühe, denen ein kleiner Hirte hinterherläuft.
»Es ist keine besonders gute Bahn«, sagt Rogarth.
»Alles vollgeschissen.«
»Ja«, bestätigt Rogarth. »Es gibt spezielle afrikanische Regeln beim Golf. Man darf keine Tiere treffen, und man muss seinen Ball schnell wiederfinden, sonst riskiert man, dass er in einen Kuhfladen getreten wird.« Zerlumpte Jungen laufen auf uns zu. »Die Caddies«, sagt Rogarth.
»Können wir unsere Taschen nicht selbst tragen?«
»Nein, das können wir nicht«, erwidert Rogarth. Ich erkenne Emmanuel wieder und nehme ihn. Die Caddies schleppen die Taschen, behalten den Ball im Auge und stehen jederzeit mit dem Schläger bereit, den man benutzen will. Ich gerate mitten in eine Herde träger Zebu-Rinder, die um meinen Ball grasen. Ich muss ihn vorsichtig herausrollen.
»Schwierige Verhältnisse«, sage ich.
»Man bekommt einen Freischlag, wenn der Ball von einer Schlange verschluckt wird, die ihn für ein Vogelei gehalten hat«, antwortet Rogarth.
»Spielst du?«, frage ich Emmanuel.
»Ja«, sagt er und grinst, »aber ich habe nur einen Schläger.«
Rogarth redet nicht mit seinem Caddie. Wenn er schlagen will, streckt er lediglich den Arm mit geöffneter Hand nach hinten, und der Caddie legt ihm den richtigen Schläger mit dem Griff in die Handfläche. Plötzlich rennt Emmanuel mit fuchtelnden Armen davon, er schreit und brüllt.
»Affen«, sagt Rogarth, und jetzt sehe ich sie auch. »Sie stehlen die Bälle.« Rogarth hilft mir bei der Handhaltung. Er spielt gut. Ich spiele miserabel.
Nach dem Mittagessen langweile ich mich. Vater muss arbeiten, er hat keine Zeit für mich. Ich stecke Zigaretten und Feuerzeug ein, nehme meinen Lederfußball und gehe hinüber zu den Jungs, um zu spielen. Ich fange an, ein paar Brocken Swahili auszuschnappen.
Am nächsten Morgen gehe ich zu Rogarth, aber seine Mutter sagt, er sei nicht zu Hause. Ich gehe auf den Platz, und Emmanuel läuft mir entgegen. Ich gebe ihm die Golftasche. Wir gehen zum ersten Loch.
»Willst du spielen?«, frage ich ihn.
»Ja, sehr gern.« Also wechseln wir uns ab. Er reicht mir den Schläger, und ich gebe ihn ihm zurück, damit er schlagen kann. Allerdings ist es eigenartig, dass er die ganze Zeit die Tasche tragen und auf seinen nackten Füßen unter ihrem Gewicht dahinschlurfen soll. Damit wird der Wettkampf ungerecht. Während er schlägt, werfe ich mir die Tasche über die Schulter.
»Nein, lass sie mich tragen«, sagt Emmanuel.
»Ich kann sie auch mal eine Weile nehmen.«
»Es ist besser, wenn ich sie trage«, entgegnet er mit einem besorgten Blick. Okay. Wir spielen weiter. Ein Stück hinter uns tauchen zwei weiße Damen auf, bei einer von ihnen handelt es sich um Miriam aus dem Haus mit dem rutschenden Koch und der Zigarre. Emmanuel will nicht schlagen, als er dran ist. »Es ist nicht gut, wenn sie sieht, dass ich spiele.«
»Wieso nicht?«
»Es ist nicht gut. Sie mag das nicht.«
»Das ist doch vollkommen egal«, sage ich. Er schüttelt den Kopf.
»Sie hat ein Jagdgewehr in ihrer Tasche«, flüstert er mir zu, als die Frauen sich nähern. »Schau mal zwischen ihre Schläger.« Ich sehe hin: ein bläuliches Metallrohr.
»Glaubst du, sie erschießt dich, wenn du spielst?«
»Nein, nein«, erwidert Emmanuel und grinst. »Das ist dazu da, falls ein wütender Büffel oder ein Löwe kommt.«
Ich spiele den ganzen Vormittag Golf, und nach dem Mittagessen spiele ich Fußball. Am Abend ist mein Gesicht rot, und ich habe große nässende Blasen auf Schulter und Rücken – die Haut lässt sich in großen Fetzen abziehen.
Wir rufen Mutter an.
»Erzähl nicht, dass du dich verbrannt hast«, sagt Vater. »Sonst beschimpft sie mich nur.«
»Ich werde nichts sagen.« Hinterher gehen wir zum Abendessen in die Messe.
»Wir müssen Rasmussens begrüßen«, sagt Vater. »Sie sind aus Dänemark zurück.« Nanna erinnert mich an die Mädchen, die auf der Schule in Køge nicht mit mir reden wollten – hübsch und hochnäsig.
»Hej«, sage ich.
»Hej.« Sie überlässt ihrer Mutter das Reden.
»Du kannst einfach rüberkommen und den Swimmingpool benutzen, wenn du Lust hast.«
»Danke«, sage ich, während Nanna bedrückt aussieht. Ihre Mutter fährt fort: »Nanna, du kannst Christian ein bisschen über die Schule erzählen.« Nanna schaut sie unwillig an.
»Was soll ich denn erzählen? Es ist einfach eine Schule.«
»Rogarth hat mir schon von der Schule erzählt.«
John und Miriam kommen auf die Terrasse der Messe. Setzen sich an den Nebentisch. Miriam wendet sich an Vater.
»Es ist nicht gut, dass dein Sohn die Caddies auf dem Golfplatz mitspielen lässt. Das ist überhaupt nicht gut.«
»Wieso nicht?«, will Vater wissen.
»Weil sie ihren Platz kennen müssen. Wenn wir ihnen nicht ihren Platz zeigen, sind sie verstört. Sie glauben dann, unser Platz wäre ihr Platz. Als wären wir dasselbe. Und das sind wir nun wirklich nicht«, erklärt Miriam.
»Aha«, sagt Vater und sieht mich an. »Verstehst du, was sie sagt?«, fragt er mich auf Dänisch.
»Na ja, ja und nein.«
Vater lacht.
»Was ist denn daran so komisch?«, erkundigt sich Miriam auf Englisch.
»Christian entscheidet selbst, mit wem er Golf spielt«, antwortet Vater.
»Du wirst sehen, dass ich recht habe«, sagt Miriam und blickt in die andere Richtung.
Am nächsten Morgen erscheint Rogarth wieder.
»Du kannst den Caddie nicht spielen lassen«, sagt er, als wir durch das Loch in der Hecke schlüpfen.
»Wieso denn nicht?« Ich bleibe stehen.
»Er kommt auf falsche Gedanken«, erklärt Rogarth. »Jetzt glaubt der Caddie, dass er wie du ist. Er kennt seinen Platz nicht mehr.«
»Er ist so wie ich«, erwidere ich.
»Nein«, sagt Rogarth. »Der Caddie wird für seine Arbeit bezahlt – das ist alles; er ist nicht dein Freund. Er ist nur ein Neger aus dem Busch.« Rogarth ist auch ein Neger. Soll ich ihn daran erinnern?
»Und wenn er aus dem Busch ist, na und?«
»Er weiß nichts. Er wird dich bestehlen, sobald du ihm den Rücken zuwendest.«
»Ich bin nicht deiner Ansicht.«
»Du wirst es merken«, behauptet Rogarth. Ich diskutiere nicht weiter. Ich brauche eine Zigarette. Vielleicht wird Rogarth petzen, wenn er mich rauchen sieht. Ich riskiere es, hole die Zigaretten heraus und reiche ihm das Päckchen. Er sieht sich um und nimmt eine. Wir zünden die Zigaretten an, rauchen schweigend und gehen auf den Platz. Die Caddies kommen uns entgegengelaufen. Emmanuel trägt die Tasche. Rogarth und ich spielen, es fällt so gut wie kein Wort. Der Kilimandscharo ist klar und deutlich zu sehen. Am sechzehnten Loch schlägt man direkt auf den Berg zu – es sieht jeden Tag anders aus, es hängt ab vom Licht und den Wolken.
Am Nachmittag gehe ich mit etwas Herzklopfen rüber zu Rasmussens. Mädchen sind unbegreiflich. Die Mutter öffnet mir.
»Ah, du bist es. Nanna ist am Pool.« Ich gehe durchs Haus. Nanna nimmt in Bikini und Sonnenbrille ein Sonnenbad. Sie fängt an, Brüste zu bekommen, und ich konzentriere mich darauf, sie nicht anzustarren.
»Hej«, sage ich.
»Hej.« Sie regt keinen Muskel.
»Ich habe mir gedacht, ein Bad zu nehmen.«
»Tja, okay«, erwidert sie. Nichts weiter. Ich lasse mein Handtuch auf einen Stuhl fallen und springe hinein. Schwimme Bahnen. Sie bleibt liegen. Ihre Mutter bringt uns Cola. Ich trinke eine. Brauche eine Zigarette. Die Mutter ist nirgendwo zu sehen.
»Rauchst du Zigaretten?«, frage ich Nanna.
»Nein, igitt.«
»Na ja, danke, dass ich … ins Wasser durfte«, sage ich mit einer Handbewegung in Richtung Pool. Ich gehe nach Hause und schlüpfe durch das Loch in der Hecke. Afrikanische Frauen gehen über den Golfplatz, auf dem Kopf tragen sie große, mehrere Meter lange Stapel Brennholz und gefüllte Wasserkrüge. Leise und gemächlich gehen sie auf den Wegen, die sich über den Fairway ziehen.
Marcus
FALSCHER MENSCH
Solja und Mika sagen zu mir: »Bist du okay? Hast du gegessen? Du darfst gern auf meinem Fahrrad fahren.« Und bwana Jonas sitzt auf der Veranda und sagt: »Hört auf, dem Jungen das Fahrrad zu geben, er macht es nur kaputt.«
Und Jonas hat Mika eine 80ccm Yamaha gekauft. Ich darf nicht darauf fahren, denn sie wurde von Jonas’ Geld gekauft. Mika will mich darauf fahren lassen, aber nicht, wenn Jonas zu Hause ist. Wenn Jonas kommt, muss ich abspringen.
Mika ist nicht in Afrika, um auf einer 80ccm zu sitzen, wenn es 350ccm’er gibt – Yamaha, rot wie Blut. Niemand ist sonst zu Hause, und Mika will damit fahren. Man muss erst einmal essen, um sie antreten zu können. Und wenn sie anspringt, dann fährt sie nicht – sie fliegt wie eine Feder, sie geht in die Höhe, und Mika liegt in der Einfahrt auf dem Rücken, die Yamaha hat Schrammen.
»Was denkst du dir eigentlich!«, brüllt Jonas; die Erde aus seinem Mund spritzt mir auf die Haut – ich werde zum Aschenbecher. »Du hättest ihn aufhalten müssen!«
Erst bin ich ein Negerjunge, der sich kein Fahrrad leihen darf, und nun bin ich ein König, der dem weißen Jungen erzählen soll, was er zu tun und zu lassen hat. Ich werde Jonas nie verstehen.
»Wenn ich nicht hier gewesen wäre, würdet ihr tot sein!«, schreit er in die Nacht hinaus, betrunken auf der Veranda. Sonst höre ich nichts. Welche Aufgaben soll ich erledigen? Ich muss raten. Das ist das Schlimmste, was mir passieren kann: eine Person zu haben, die mein Leben kontrolliert, aber nicht steuert. Es klopft an meiner Tür zum Ghetto. Ich öffne. Das Hausmädchen mit Wäsche im Arm. Ich hatte sie in den Waschkorb im Haus gelegt. Sie lässt die Wäsche los, sie fällt auf den Boden. »Ich bin nicht dein Hausmädchen«, sagt sie, »du kannst deine Wäsche selber waschen.«
»Du hast es zu waschen. Die Weißen sagen, dass du es zu machen hast.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann frag sie.«
»Das werde ich nicht tun.«
»Willst du, dass ich hochgehe und sie hole, damit sie hierherkommen und dir erzählen, dass du – ja, dass du meine Sachen auch zu waschen hast?« Sie verzieht das Gesicht, sammelt die Wäsche aber wieder auf. Wäscht sie.
WODKALUFT
Am Abend sind Katriina und Jonas bei irgendjemandem zum Essen eingeladen, sie nehmen Solja mit.
»Ich habe B-B-B-Bauchschmerzen«, sagt Mika, denn er will zu Hause bleiben. Sobald sie gefahren sind, feuert er die Sauna an. »Du kommst mit«, sagt er zu mir.
»Ich friere nicht«, sage ich. Aber ich gehe mit in den Schuppen, um diesen fremden Brauch auszuprobieren. Es gibt zwei Holzbänke – eine auf dem Boden und eine unter der Decke. In der Ecke steht ein Ofen, auf dem Steine liegen. Eine Höllenhitze. Schweiß bricht aus. Mika schüttet Wasser auf die Steine, der Dampf kratzt in den Lungen.
»Warte«, sagt er und geht hinaus. Kurz darauf kommt er mit einem Glas Wasser zurück. »Wenn ich das auf die Steine gieße, dann atme tief ein.« Ich mache es. Es brennt in meinen Lungen, ich bin sofort high. Er hat Wodka auf die Steine gegossen. »Es geht durch die Blutbahn der Lungen direkt ins System«, sagt Mika. Er kennt alle Tricks. Hinterher müssen wir uns unter die kalte Dusche stellen – der Körper wird sehr frisch und gleichzeitig müde. Und als wir uns unter den Himmel auf die Bank vor der Sauna gesetzt haben, läuft Mika ins Haus und kommt mit Carlsberg-Bier in diesen besonderen Dosen.
»Hier«, sagt er.
»Wir dürfen Jonas’ Bier nicht trinken«, sage ich. »Das ist sehr teuer.«
»Er merkt es nie«, sagt Mika und öffnet die Dose. Er fragt, ob ich schon mal mit einem Mädchen zusammen war.
»Nein.«
»Ich schon«, sagt Mika. »Es hat ihr wehgetan, und sie hat das ganze Bett vollgeblutet. Ihre Eltern wurden total sauer auf mich.« Er schüttelt den Kopf. »Aber verflucht, es war verdammt gut«, sagt er und macht die Pumpbewegung. Ich denke daran, dass die Schulferien bald vorbei sind und ich Rosie wiedersehen werde. Sie ist das hübscheste Mädchen in der Klasse, und jetzt träume ich davon, ihr Hinterteil zu kneten.
BESÄUFNIS
Mika besitzt Taschengeld aus Schweden. Er bekommt es in Dollar. Ich habe Mika auf dem Markt Phantom vorgestellt, der schwarz tauscht und Mika zu einem Millionär in Tansania macht. Und Mika ist erst fünfzehn Jahre alt, genau wie ich, aber er ist sehr groß und kräftig.
Silvester sagt er zu Katriina, dass wir ins Kino gehen. Die Idee, Mika zu einem normalen Leben zu bewegen, funktioniert nicht. Er zieht mich in die Bar des Moshi Hotel. Im ersten Stock ist es sehr privat, dort können wir uns in der großen Silvesterparty verstecken. Wir trinken bis zwei Uhr nachts. In den Taxis ist kein Benzin, also gehen wir unter den Straßenlaternen den ganzen Weg nach Hause. Der Regionalkommissar hat sämtliche Lampen an der Kilimanjaro Road reparieren lassen. Es ist die einzige Straße mit Beleuchtung, die aus der Innenstadt herausführt, denn es ist der Weg, auf dem der Regionalkommissar abends joggt. Die Leute sollen ihn sehen. Er ist der größte Dieb – großer Respekt –, er hat sich zu Hause in seinem Dorf einen eigenen Squashplatz anlegen lassen. Wenn ein Weißer sagt, der Regionalkommissar sei ein Idiot, dann sitzt der weiße Mann innerhalb von vierundzwanzig Stunden in einem Flugzeug nach Europa. Wenn der Mann schwarz ist, sitzt er unter falscher Anklage im Karanga Prison, denn der Richter ist beim Biertrinken und die Korruption der Partner des Kommissars.
Mika und ich kämpfen uns von Straßenlaterne zu Straßenlaterne und stützen uns gegenseitig, bis wir ein bisschen zu uns gekommen sind und zum nächsten Lichtschein taumeln können. Dann müssen wir eine Pause machen und kotzen. Ich warte darauf, dass der Kommissar vorüberjoggt.
»Ma-Ma-Ma-Marcus, bist du o-o-o-okay?«, stammelt Mika.
Du kannst Fragen stellen: Wieso bin ich mitgekommen? Er ist ein Europäer, und ich bin ein Afrikaner – wie könnte ich Nein sagen? Er muss doch wissen, wie man es richtig macht.
Am Haus lärmen wir, können kaum etwas sehen. Sie schleppen uns ins Badezimmer und füllen die Wanne mit kaltem Wasser, wir werden hineingestoßen. Wir sind wie Tote. Bekotzen uns selbst, ohne es zu merken. Sie haben Mika Taschengeld gegeben und uns in der Nacht herumlaufen lassen, und nun sind sie wütend.
WEISSER WAHNSINN
Die privaten Fahrräder der Schweden darf ich nie benutzen, aber mit den Motorrädern des Projekts darf ich gern fahren – Yamaha 125 ccm –, um in der Stadt Zigaretten für Katriina zu besorgen, Solja von der Schule abzuholen oder bei Karims Fleisch zu kaufen.
Ich gehe zur Schule und bekomme keinen Lohn, weder von den Larssons oder dem Projekt noch von der schwedischen Hilfsorganisation SIDA oder dem Staat. Aber ich darf auf Solja aufpassen und an bwana Jonas’ Projekt teilnehmen, das FITI heißt – Forest Industries Training Institute.
Jonas bringt den Negern bei, im Wald einen Baum zu fällen. Die Schule liegt südöstlich der Stadt, auf der anderen Seite der Eisenbahn, am Rande des Elefantenwalds. Früher war der Regenwald voller Elefanten – jetzt gibt es dort Banditen. Die Polizei traut sich nicht hinein, wenn sie nicht mindestens zu zehnt sind. Die Banditen wohnen in Hütten und produzieren gongo. An der Straße zum Wald liegt dieser wahnsinnige Ort der Hindus, an dem sie ihre Toten auf eine Plattform legen, Brennholz darunter und Brennholz darüber, und dann versammeln sie sich und sehen zu, wie ein Vater oder Freund angesteckt wird – Garden of Heaven nennen sie den Platz.
Im FITI unterrichtet eine ganze Gruppe von Schweden und Finnen: Bäume fällen, Bretter und Bauholz aus dem Stamm schneiden, Sperrholz produzieren.
Wenn Jonas und Asko Englisch reden, hört es sich an, als würde ein Gebäude einstürzen. Meine Aufgabe ist es, auf die einheimischen Handwerker aufzupassen, die für FITI einen Lagerraum für die schwedische Sägeausrüstung bauen sollen. Ich muss mich beeilen, um direkt nach der Schule zu dieser Arbeit zu fahren. Nur fünf Minuten zu spät, und bwana Jonas brüllt: »Wir arbeiten hier nicht nach afrikanischer Zeit!« Weiße Zeit, jede Sekunde zählt. Wenn du auf der Straße in der Sonne deiner Tante begegnest und sie schleppt wie ein Esel, kannst du nur hupen und weiterfahren. Du darfst nicht stehen bleiben und Guten Tag sagen. Du darfst nicht helfen. Tsk, Wahnsinn.
Ich muss die Schule schwänzen, um die schwedischen Aufgaben zu erledigen, und hinterher schlägt mich der Lehrer. Ich gebe dabei keinen einzigen Ton von mir. Ich kenne das System von meinem Vater. Wenn ich schreie, wird die Erregung größer, und es wird Schläge regnen. Wenn ich still bin, ist Verprügeln langweilig. Doch das Motorrad des Projekts hebt mich in der Schule in eine neue Kategorie. Vorher war ich ein armer Dreckfink, beinahe ein Bettler. Ich konnte überhaupt nicht mit der Prinzessin der Klasse reden, Rosie. Jetzt möchten alle mal mitfahren. Rosie so nah an meinem Rücken – die weichen titi lassen mein Herz rasen. Eeehhh. Ich halte an einem Kiosk und kaufe ihr eine Cola. Wir setzen uns auf eine Bank.
»Wie ist es, bei den wazungu zu wohnen?«, will Rosie wissen.
»Das ist ganz ausgezeichnet. Ein gutes Haus mit High-Fidelity-Musiksystem, besonderem Essen aus Europa, importiertem Bier – ein entspannter Lebensstil.«
»Das klingt schön«, sagt Rosie und rückt näher an mich heran. Eeehhh – der Traum von Europa lässt sie schmusig werden. »Haben sie diese tolle Musik von ABBA?«
»Ja, natürlich. Es sind Schweden – ABBA kommt aus ihrem Land.«
»Wirklich?«, sagt Rosie. »Ich bin verrückt nach dieser Musik, glaubst du, ich könnte mal kommen und sie mir anhören?«
»Ich schenk dir eine Kassette«, sage ich.
»Wirklich? Das würde mich echt freuen.«
Ich bin bereits glücklich, wenn ich nur daran denke, wie sie sich freuen wird, wenn sie die Kassette bekommt. Aber ich muss diese Glückseligkeit unterbrechen, Rosie nach Hause fahren und zur FITI rasen, um die Handwerker zu beaufsichtigen.
KARTOFFELMUS
Endlich ist es zu dunkel, ich kann nach Hause fahren, total müde. Ich stelle das Motorrad ab, bevor ich das Tor erreiche, damit meine Ankunft unbemerkt bleibt; ich rolle im Leerlauf. Jonas’ Yamaha steht vor dem Haus. Das Auto ist fort. Das Hausmädchen darf mich auch nicht hören, weil wir uns dann nur wieder streiten würden, warum ich Licht habe, während sie wie ein Neger im Dunkeln leben muss. Ich parke das Motorrad in der Garage und schleiche mich in mein Ghetto wie eine leise Maus. Schließe meine Tür, ziehe die Gardine vor und lege mich ins Bett. Die ganzen Zikaden und Insekten lärmen höllisch, so dass das Hausmädchen mich nicht hört und nicht mit ihrem Gerede über die Decke und den Strom anfangen kann. Ein flackerndes Licht weckt mich; die Petroleumlampe des Hausmädchens wirft Strahlen an den Dachfirst, und ich denke, wenn Jonas die Decke nicht bezahlen will, muss ich selbst das Geld beschaffen. Ich kann nicht das Leben des Hausmädchens und mein eigenes leben. Sie müssen sich getrennt abspielen.
Die Hunde in der Nachbarschaft bellen wie verrückt – es ist bereits tiefschwarze Nacht draußen, aber ich höre auch noch ein anderes Geräusch. Was macht sie da? Ist das Jonas? Die Stimme ist belegt, irgendetwas mit sawadi – ein Geschenk. Sehr leise klettere ich aus dem Bett auf den Boden und auf den Schreibtisch. Ich richte mich auf. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich über die Mauer zu ihr hinübersehen. Eeehhh, es ist Jonas, der auf ihrem Bett sitzt, aber was ist das? Trügen mich meine Augen? Er hat seine Pumpe aus der Hose geholt, und sie arbeitet mit der Hand wie ein Schneebesen, der Kartoffelmus schlägt.
»Nzuri sana«, sagt er – sehr gut. Er hat ihr T-Shirt hochgeschoben und greift nach ihren titi – sie stehen zu Berge. Jetzt versucht er, ihren Kopf auf seine Pumpe zu drücken.
»Ah-ahhhh«, sagt sie kopfschüttelnd, lässt seine Pumpe los, steht auf, geht zur Tür, bleibt dort mit der Hand auf der Klinke stehen. Wo will sie hin? Er kann so gut wie kein Swahili, also streckt er die Arme in die Luft, als würde er sich ergeben, und klopft aufs Bett, dorthin, wo sie gesessen hat. Sie kommt wieder, greift nach seiner Pumpe, macht Kartoffelmus. Jetzt will er ihre titi küssen. »Ah-ahhhh.« Er versucht, seine Hand ihr Bein hinauf unter die kanga gleiten zu lassen, aber ihre Beine sind geschlossen wie beim Gottesdienst. Sie zerrt fest an der Pumpe, schnell und mechanisch, bis sie den weißen Samen verschießt. Das ist sehr hässlich, aber meine Pumpe erhebt sich auch, wie ein Soldat steht sie direkt vor ihren titi. Jetzt ist seine Pumpe schlapp. Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt den Samen von seiner Pumpe, von seiner Hand. Er steht rasch auf – mit mürrischem Gesicht, während er mit dem Rücken zu ihr den Reißverschluss seiner Hose zuzieht. Ich habe Angst, dass er hochschaut, aber ebenso viel Angst, mich zu bewegen und ein Geräusch zu machen.
»Asante«, sagt er – danke – und geht. Sie wirft das Handtuch auf den Boden. Seine Schritte verschwinden um die Ecke. Sie lässt das missmutige Geräusch »tsk« hören, jetzt beben ihre Schultern. Sie verbirgt ihr Gesicht nicht in den Händen, denn die schwarze Hand hat Kartoffelmus geschlagen und ist befleckt von dem weißen Samen. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter dem Arm und schluchzt. Und ich denke daran, ganz ruhig zu sein, bis sie hinausgeht, denn sonst weiß sie, dass ich die ganze Zeit hier gewesen bin. Sie würde mich innerhalb von fünf Sekunden hinauswerfen lassen.
»Ahr«, knurrt sie, greift nach ihrem Handtuch und ihrer Seifendose, löscht die Petroleumlampe und geht aus der Tür. Sie läuft zur gegenüberliegenden Seite der Dienstbotenwohnung, wo unser Bad und das Loch in der Erde sind. Ich springe vom Schreibtisch. Sie weiß nicht, dass ich hier gewesen bin. Ich höre, wie Jonas sein Motorrad startet und davonfährt. Dieser Mann ist ein Jäger von Hausmädchen. Er fährt in den Moshi Club, wo die Reichen trinken. Im Moshi Club kann der weiße Mann Golf, Tennis und Squash spielen, aber vor allen Dingen kann er seine Augen von der Armut und der Dummheit ausruhen; die waafrika und wahindi, die in den Club kommen, sind alle reich und korrupt.
Ich öffne leise die Tür und schleiche mich zur Garage. Schiebe das Motorrad ein Stück auf die Straße. Starte es und fahre mit großem Lärm zurück, stelle es vor unsere Türen ab, reiße meine Tür auf und schalte mein elektrisches Licht und den Kassettenrekorder mit Bob Marley an: »Do you remember the days of slavery?«
GIRAFFENSPION
Ich setze mich vor die Tür und rauche eine Zigarette. Dieses Hausmädchen hat vorher bei wahindi gearbeitet. Inder sind hart zu einem Hausmädchen. Arbeit vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, und jedes Mal, wenn der Mann allein mit dem Mädchen ist, will er nach ihrem Hintern greifen und versucht, ihr seine Pumpe hineinzustecken. Außerdem werden die Kinder terrorisiert. Aber am schlimmsten sind waafrika – sie behandeln das Hausmädchen wie einen üblen Köter. Jetzt ist sie bei wazungu – alles ist einfach, Hauptsache, sie schlägt ein wenig Kartoffelmus. Alle sagen, die wazungu sind weich. Du kannst dir von ihnen Geld leihen, wenn du sagst, deine Mutter wäre sehr krank, und wenn du es nicht zurückzahlen kannst, dann ist das nicht schlimm.
Das Hausmädchen kommt aus dem Bad zurück, das Handtuch hat sie sich umgelegt. Ich sage: »Morgen bekommst du deine Elektrizität, ich erledige das für dich.« Sie murmelt irgendetwas Undeutliches und geht in ihr Zimmer. Kurz darauf fragt sie von innen: »Glaubst du, unser mzungu ist sehr reich?«
»Ja«, sage ich. Das sind alle wazungu. Am nächsten Tag gehe ich zu Katriina und erkläre ihr: »Das Hausmädchen will eine ordentliche Decke in dem kleinen Ghetto.«
»Wieso – hat sie Angst vor Schlangen?«
»Nein, sie hat Angst, dass ich ihr nachspioniere, wenn sie sich auszieht.«
»Machst du das denn, Marcus?«, fragt mich Katriina mit einem Lächeln.
»Ich?« Ich zeige auf mich. »Nein, sie ist eine halbe Massai – ich könnte mir ebenso gut eine Giraffe ansehen.« Aber ich habe sie gesehen. Darum ist sie ständig so mürrisch; die Massai sagen, sie ist bedrückt und niedergeschlagen, weil sie eine flache Nase hat wie ein Bantu, und wir Chagga sehen sie als eine Giraffe im Nationalpark.
»Ich werde Jonas fragen«, sagt Katriina. Bereits am folgenden Tag kommt sie zu mir und sagt: »Marcus, wir werden eure Decke bezahlen, Hauptsache, du erledigst das selbst.«
»Danke«, sage ich. »Das ist kein Problem.«