Christian

Wir hatten einen guten Namen. Wir hatten eine Anlage. Im Golden Shower und im Royal Crown haben wir massenhaft Gäste angezogen. Aber die Möglichkeiten schrumpfen.

»Was ist mit Jacksons in Majengo?«, frage ich Rogarth. Er schüttelt den Kopf.

»Ich habe mit ihm geredet. Er will nicht, dass die Leute Eintritt zahlen. Er sagt, der Platz soll für Leute genutzt werden, die trinken. Wenn der Platz als Tanzfläche genutzt wird, dann tanzen die Leute. Und trinken nicht so viel.«

»Aber es kommen doch mehr Gäste, wenn sie tanzen können«, wende ich ein.

»Er sagt, es ist voll genug. Sie müssen nicht auch noch tanzen.«

»Gibt’s andere Läden mit Platz für eine Tanzfläche?«

»Amands am KCMC, die haben einen kleinen Saal.«

Wir fahren mit dem Motorrad dorthin. Eine Bar mit einem kleinen Saal, ein kleiner Garten zum Sitzen. Eigentlich ziemlich gut. Die Besitzerin ist eine Tansanianerin, die mit einem Schweden verheiratet war, der an der Krankheit gestorben ist. Er hieß Åmand, aber alle nennen den Laden Amands, ein arabischer Name. Nördlich des KCMC gibt es auch Dörfer auf dem Berg. Die zur Party herunterkommen können. Wir werden uns einig und fangen an. Niemand kommt. Niemand. Vielleicht muss sich die Nachricht erst einmal herumsprechen. Die Trockenheit ist mitverantwortlich für die Katastrophe. Die Leute haben andere Sorgen; sie wollen ihr Geld nicht für den Eintritt verschwenden, jeder Schilling soll in Alkohol umgesetzt werden.

Wir sind mehrere Wochen dort, und es kommen auch ein paar Gäste, aber meist sind sie sehr jung – es erinnert an eine Scheißlimonadendisco. Meine Tansanit-Dollar sind alle. Am frühen Freitag- und Samstagabend tauchen Internatsschüler der ISM auf. Ungezogene Jugendliche, so wie ich früher; sie trinken Bier und rauchen bhangi. Vizeschulinspekteur Thompson erscheint Sonntagvormittag bei mir.

»Wir mögen es nicht, wenn die Schüler zu dir kommen und trinken«, erklärt er. Dieser Mann war mitverantwortlich, dass Samantha die Schule zu verlassen hatte – und den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde.

»Verschwinden Sie, Thompson, oder ich hetze die Hunde auf Sie«, antworte ich ihm. Er lacht angestrengt, als würde ich scherzen. Ich will mich nicht einmal mit ihm streiten. Ich gehe ins Haus und schließe die Tür, lasse ihn in der brennenden Sonne stehen. Als ich etwas später nachsehe, ist er verschwunden.

Das Amands liegt zu abseits; es liegt nicht nur außerhalb der Stadt, es ist auch zu weit von der Hauptstraße entfernt. Das Golden Shower läuft wieder, alle gehen dorthin. Benson schaufelt das Geld. Ich verdiene zu wenig, eine Unmenge Rechnungen und eine Menge Menschen sind zu bezahlen, aber es gibt keine Einnahmen. Wenn es gut läuft, gehören alle zur Firma. Dann sagen sie: »Genauso, wie wir die Arbeit teilen, teilen wir auch den Gewinn.« Wenn es aber nicht gut läuft, ist das ganze Geschäft mein Problem. »Wir können nicht arbeiten, wenn du uns keinen Lohn bezahlen kannst.« Zweieinhalb Monate. Ich bin nahezu bankrott. Ich habe keine Verwendung mehr für Big Man Ibrahim. Was soll man mit einem Rausschmeißer, wenn man keine Gäste hat? Aber ich kann ihn nicht wegschicken. Er ist zu stark, und er ist wütend, weil seine Familie ihn bestohlen hat. Ich habe Glück im Unglück, als er krank wird; er schwitzt, hustet, scheißt – alles auf einmal. Ich stehe in seinem stinkenden Zimmer und biete ihm an, ein Taxi zu holen, um ihn ins KCMC zu bringen.

»Nicht ins KCMC«, sagt Ibrahim. »Man stirbt dort.« Es sieht nicht aus wie Malaria. Es erinnert an etwas anderes. Schlimmeres.

»Aber du musst zum Arzt. Damit du weißt, was los ist.«

»Das ist nur eine heftige Malaria«, behauptet Ibrahim.

»Okay. Was kann ich sonst für dich tun?« Ibrahim will nach Hause in sein Dorf, in die Hütte seiner Eltern. Sie wohnen an der Küste, nicht weit von dem Ort, aus dem Rachel kommt.

»Ich komme nach Moshi zurück, wenn ich wieder gesund bin«, sagt Ibrahim. Ich glaube nicht, dass er sich wieder erholt. Ich miete bei Chuni Motors ein altes Auto. Fahre Ibrahim nach Hause. Es ist schrecklich. Wir müssen unzählige Male halten, weil er nichts bei sich behalten kann. Als wir endlich ankommen, liegt er zitternd und schwitzend auf dem Rücksitz und hat sich in die Hose gekackt. Er zeigt mir das Haus seiner Eltern, und ich helfe seinem Vater, ihn hineinzuschleppen. Die Mutter jammert vor Ohnmacht, schlägt sich ins Gesicht, heult. Mit der Krankheit verbindet sich eine große Scham, aber ich sehe an dem Haus, dass die Familie nicht ganz arm ist. Der Vater sieht aus wie ein guter Kerl, vielleicht kann er Ibrahim in seiner letzten Zeit auf Erden helfen.

»Die Besitzerin des Liberty war gezwungen zu verkaufen«, erzählt Rogarth. »Es gibt da jetzt einen neuen Mann.«

»Hast du mit ihm geredet?«

»Er hat mich gefragt. Ich habe gesagt: ›Ich weiß nicht, du musst mit dem Chef reden.‹ Ich glaube, er wird herkommen.«

Im Liberty ist lange nichts mehr passiert. Die Bar mit der Veranda zur Straße lief ganz gut, aber die Diskothek im hinteren Teil ist geschlossen. Der arabische Besitzer von Faizals Anlage ist in ein Hotel nach Tanga umgezogen, und die Frau, der das Liberty gehörte, wollte uns nach dem Osterfiasko nicht mehr sehen, als wir uns Faizals Verstärker geliehen haben und er sie deshalb hat sitzen lassen.

Und ganz richtig. Ein paar Tage später kommt der neue Besitzer in einem ramponierten Auto zu mir. Lädt mich ins Liberty ein. Wir fahren hin und sehen uns den Raum an.

»Ich werde dir achtzig Prozent des Eintritts geben«, schlägt er vor.

»Hundert«, sage ich.

»Im Amands verdienst du nichts.«

»Das ist richtig. Ich bin fast pleite. Wenn ich hier nichts verdiene, muss ich den nächsten Flug nach Hause nehmen.«

»Dann würde ich gern deine Anlage kaufen.«

»Ich habe bereits einen Käufer in Arusha«, behaupte ich, obwohl es gelogen ist.

»Okay«, lenkt er ein. »Du bekommst hundert Prozent.« Außer Rogarth und mir ist niemand da, um die Anlage zu transportieren. Aber die anderen riechen das Geld wie Schakale das Aas. Sie kommen.

»Ich verlege die Kabel«, erklärt Emmanuel.

»Ich habe kein Geld, um dich zu bezahlen.«

»Geld?«, lacht er. »Wir sind Freunde. Wenn wir den Laden zum Laufen bringen, verdienen wir alle zusammen Geld.«

Und Firestone taucht auch auf, stammelnd, stotternd und hilfsbereit.

Es tut gut, wieder anzufangen. Das Liberty – die erste richtige Diskothek, in der ich als junger Bursche mit Marcus gewesen bin. Ich erinnere mich an den Abend, als ich meinen Vater mit Jonas Larsson, John von der TPC und ein paar dicken alten malaya im Kilimanjaro Hotel gegenüber gesehen habe. Marcus und ich sind über die Straße ins Liberty gegangen, wir haben uns betrunken, die Musik gehört, getanzt. Und jetzt soll ich selbst hier auflegen. Ich freue mich darauf, ich habe diesen hässlichen, heruntergekommenen Raum immer geliebt.

Der erste Abend. Ich stehe in dem Glaskasten, der unter der Decke direkt über der Bar hängt, und blicke über den dunkel wogenden Boden; die glühenden Zigaretten sehen wie unruhige Feuerfliegen aus. Die Party hat ihren Höhepunkt fast erreicht. Ich ziehe eine Liveaufnahme mit Linton Kwesi Johnson heraus und lege sie auf.

»Ah-ah-ah-ah-ah-ah …«, brüllt Firestone, der die verborgene Treppe hinaufstürmt und in den DJ-Käfig stürzt. Er bleibt vor mir stehen und hüpft beinahe auf der Stelle. »Ah-ah-ah-ah-ah …«, stottert er und sieht mich frustriert an. »Ah-ah-ah …« Er unterbricht sich wieder, ballt die Fäuste, hat Tränen in den Augen. »Ah-ah-ah …« Ich umarme ihn, drücke ihn fest an mich. »Abdullah ist hier«, stößt Firestone überrascht aus, öffnet seine Hände, schaut darauf, sieht mir ins Gesicht und lächelt, redet dann sehr schnell. »Abdullah hat viel mirungi ge-ge-gekaut. Er ist wild. A-a-a-Emmanuel ist draußen, ver-ver-versucht, ihn zu stoppen.«

Am Ende der Treppe wird die Tür aufgerissen, Abdullah ist zu erkennen. Er nimmt zwei Stufen der schmalen Treppe auf einmal, durch den dunklen Treppenschacht stürzen weiße Augen und gebleckte Zähne auf mich zu. Firestone tritt zur Seite, drückt sich gegen die Wand, die Luft zittert, ich trete zurück, hebe meine Hände – es gibt keine Möglichkeit auszuweichen. Jetzt werde ich verprügelt. Ich treffe auf Abdullahs Faust wie auf einen fahrenden Zug, mein Hinterkopf knallt an die Wand hinter mir – dann bricht er zusammen. Firestone springt ihm in die Seite, und Abdullah fällt in einer Art Zeitlupe, über die Plattenspieler, auf die Platte, die sich auf dem Teller dreht, die Musik bricht ab, ich höre die Nadel, den Arm, die Platte zerbrechen; der Tisch, auf dem die Anlage steht, bricht unter dem Gewicht Abdullahs zusammen, dann splittert das Glas des kleinen DJ-Käfigs – die kleine Kommandobrücke, die über der Bar hängt, wird von Abdullahs Schulter durchstoßen, und Abdullah fällt lautlos in einem Regen glitzernder Glasscherben nach unten. An der Bar starren die Leute hinauf zum DJ-Käfig, in dem die Musik still geworden ist, sie hören, wie das Glas splittert, sie sehen den fallenden Körper. Springen hektisch zur Seite. DUFF – Abdullahs Körper schafft sich Platz. BAM – Abdullah trifft auf den Boden, um ihn herum klirren Glasscherben. Mädchen schreien, die Leute sammeln sich um den Körper, er stöhnt vor Schmerz, ich schaue auf ihn herab. Registriere, dass Emmanuel neben mir steht – er ist im Augenblick der Rausschmeißer. Er blutet an der Lippe.

»Ich konnte ihn nicht stoppen«, sagt Emmanuel. Ich renne die Treppe hinunter und schiebe mich durch die Menge. Abdullah hat sich aufgesetzt, versucht aufzustehen. Ich stehe vor ihm und zittere innerlich.

»Pass auf«, erkläre ich. »Du verhältst dich jetzt ganz ruhig.«

»Bleib sitzen«, fährt Emmanuel Abdullah an. »Oder ich trete dich.«

»Ich bin ruhig«, antwortet Abdullah tränenerstickt und hält die Hände vor sich.

»Was willst du hier?«, frage ich ihn. Er sieht total mies aus.

»Stell mich wieder an.«

»Du hast mich bestohlen.«

»Ja, aber ich habe alles verloren«, jammert er. »Sie haben das Material für mein Haus genommen. Die Familie meiner Freundin. Sie haben …« Er bricht ab. Ich könnte ihm die Aufsicht über den Parkplatz übertragen. Ich würde es tun, aber die anderen wollen nicht mit ihm arbeiten. Er hat sie eine Menge Geld gekostet, und er ist unzuverlässig. Es geht ausschließlich ums Geschäft. »Sonst muss ich Träger auf dem Berg werden«, sagt er.

»Ich will dich nicht wiederhaben«, antworte ich. Abdullah springt auf, ein Schlag mit der Handwurzel landet in meinem Gesicht; ich spüre aufplatzende Haut, ein Knacken im Nasenbein. Ich taumele zurück. Metallischer Geschmack fließt mir über die Zunge, heiß und klebrig, kurz bevor sein Fuß hochfliegt, mich an der Schulter trifft und ich rücklings zu Boden falle. Emmanuel springt auf Abdullahs Rücken, packt und schubst ihn, bis beide zu Boden gehen. Firestone wirft sich auf sie. Blut läuft mir übers Kinn, als ich mich zwinge aufzustehen. Emmanuel liegt auf dem Rücken, mit den Armen hat er Abdullahs Brustkasten umschlungen. Er versucht, ihn festzuhalten, während Abdullah mit den Armen ausschlägt und Firestone zur Seite fliegt. Ich bin an der Bar, greife nach einer Bierflasche und zerschlage sie am Rand der Theke, dann gehe ich vor den kämpfenden Leibern in die Knie und halte die zerbrochene Flasche vor Abdullahs Gesicht.

»Stopp!«, brülle ich. Er erstarrt, glotzt ängstlich auf die scharfen Zacken der Flasche. »Jetzt verschwindest du, und zwar in aller Ruhe«, zische ich durch die Schmerzen in meinem Mund. Meine Oberschenkel zittern. Plötzlich höre ich die Leute – sie johlen und lachen um uns herum.

Abdullah beginnt zu flennen.

»Ich werde dich vernichten, du Scheißmzungu. Ich komme mit meinen Freunden. Warte nur.«

»Das hast du auch beim letzten Mal gesagt«, erwidere ich. »Ich warte immer noch.« Wie in einem schlechten Film. Emmanuel, Firestone und ich führen ihn aus dem Raum in den Flur, vorbei an Rogarth, der auf seinem Posten an der Eintrittskasse sitzt. Wir treten auf die Verandabar, und Abdullah trottet die Stufen zu dem staubigen Parkplatz vor dem Liberty hinunter – hinaus in die Dunkelheit, wo er stehen bleibt und zu reden beginnt.

»Ich werde mit meinen Leuten wiederkommen, und dann werden deine Sachen zerstört – und du wirst mit deiner Farbe wie verdreckte Milch im Land der Schwarzen herumlaufen und arm sein, ohne irgendetwas zu besitzen. Du wirst es kennenlernen, und ich werde dich betteln sehen.«

»Christian.« Emmanuel kommt auf mich zu. »Ich gehe zurück zur TPC

»Jetzt? Wieso?«

»Mir gefällt die Discobranche nicht … es sind alles Hyänen.«

»Warte noch einen Moment.« Ich fasse nach seinem Arm. Er bleibt stehen und sieht mich an.

»Nach Hause ins Dorf auf der TPC, Christian. Ich hatte ein Mädchen dort, ein süßes Mädchen. Gut. Fleißig. Tüchtig. Aber ich dachte an Moshi, die Discobranche, feine Sounds, wildes Licht, viele chiki-chiki Mädchen zum Probieren. Aber die Mädchen hier sind schmutzig, es sind malaya. Und die Kerle sind Diebe, Hyänen.« Emmanuel reißt sich los und geht in die Nacht hinaus.

Allmählich geht die Party ihrem Ende zu. Die Leute haben eine Prügelei gesehen, es ist ein zufriedenstellender Abend gewesen. Aber was ist mit Abdullah?

»Glaubst du, Abdullah wird irgendetwas unternehmen?«, frage ich Rogarth.

»Ja, sicher. Wir müssen hierbleiben.«

»Aber wir müssen die Anlage nach Hause bringen.«

»Was ist mit den Lautsprechern?«, will er wissen.

»Die bleiben hängen. Das dauert eine Stunde, um sie herunterzuholen.«

»Dann wird er sie kaputt machen.«

»Wie ist die Nachtwache vom Liberty?«

»Schlecht«, erwidert Rogarth. Wir können die Lautsprecher nicht abmontieren, wir haben kein Werkzeug.

»Ich fahre mit den anderen Sachen im Taxi nach Hause. Wenn du mit Firestone hierbleibst, komme ich zurück, und wir bleiben, bis es hell wird.«

»Ich besorge ein Taxi.« Rogarth geht vor die Tür. Ich stehe mit Firestone in dem leeren Raum. Es gibt einen Wachmann, der nachts kontrolliert, aber es ist ein alter Mann. Rogarth kommt zurück. Wir tragen die Anlage ins Taxi: einen der Plattenspieler, den Kassettenrekorder, den Verstärker und die Platten.

Ich fahre nach Hause, alles ist ruhig. Trage die Anlage ins Haus und lasse das Taxi warten. Ich wünschte, ich hätte Ibrahim dabei, damit er im Haus bleiben könnte. Die Hunde taugen nicht viel, wenn es wirklich darauf ankommt. Ich öffne die alte Ostermann-Transportkiste, in der meine Sachen sind. Suche unter Kabeln und Kassetten. Finde den Revolver, überprüfe die Sicherung, stopfe ihn in den Hosenbund und ziehe das Hemd darüber. Rachel wacht auf.

»Was ist denn?«, murmelt sie.

»Ich muss zurück ins Liberty.«

»Wieso?«, fragt sie schlaftrunken aus dem Kopfkissen.

»Es gab ein paar Probleme. Ich muss dort bis morgen bleiben.« Rachel setzt sich auf – wach.

»Was für Probleme?«

»Abdullah ist gekommen und hat Ärger gemacht. Wir müssen dort bleiben, damit er nicht die Lautsprecher klaut. Oder sie zerschlägt.« Rachel schaut hinüber zu Halima, die ruhig schläft.

»Aber was ist mit mir? Abdullah weiß, wo du wohnst. Wenn du im Liberty bist und er gesehen hat, wie du die Anlage nach Hause gefahren hast, kann er hierherkommen und sie mitnehmen.«

»Die Nachtwache ist hier.« Früher gab es hier nur die Hunde, aber Moshi ist seit der Trockenheit gefährlicher geworden, daher hat Göstas Frau einen Nachtwächter eingestellt.

»Der Nachtwächter läuft nur davon«, erwidert Rachel. Das ist wahr. Wenn er Angst bekommt, verschwindet er.

»Die Hunde sind hier.«

»Diese Hunde taugen überhaupt nichts«, sagt Rachel. Mist. Ich habe versprochen, ins Liberty zurückzukommen.

»Ich fahre runter und komme sofort mit dem Motorrad zurück.« In der Küche packe ich Lebensmittel und Getränke in einen geflochtenen Korb und nehme ihn mit. Mit dem Taxi zurück ins Liberty. Den Fahrer kenne ich.

»Vielleicht gibt es Diebe im Liberty«, erkläre ich ihm. »Ich will es herausfinden.« Er nickt.

Nur durch ihre Zigaretten entdecke ich sie: Drei oder vier Typen stehen in der Dunkelheit unter einer Ladenmarkise direkt hinter der Tankstelle, ein Stück vom Liberty entfernt. Es könnten noch mehr sein, wenn nicht alle rauchen. Auf meinem Rücken breitet sich Schweiß aus.

»Lass den Motor an und stell den Wagen so, dass die Scheinwerfer den Eingang des Liberty beleuchten«, bitte ich den Fahrer und stopfe das Hemd hinter den Revolver. Jetzt kann man sehen, dass er vor meinem Bauch im Hosenbund steckt. Er hält. »Hup vier Mal«, bitte ich ihn und greife nach dem Schalter für das Innenlicht. »Lässt sich das ausschalten?«

»Was?«, fragt er, während er die Hupe betätigt.

»Das Licht hier im Wagen. Es soll nicht eingeschaltet sein, wenn ich die Tür aufmache.«

»Es funktioniert nicht«, sagt er.

»Bleib hier, bis ich im Liberty bin«, verlange ich und bezahle das doppelte Fahrgeld, bevor ich die Tür öffne. Steige aus dem Auto und stehe den Männern mit den Zigaretten gegenüber, die in der Dunkelheit für mich vollkommen unsichtbar sind. Aber ich bleibe einen Moment stehen, damit sie im Licht der Scheinwerfer den Revolver sehen können. Ich nehme die Waffe in die Hand, schließe die Wagentür und ziehe den Korb mit den Sprite und dem kalten samosa durch das offene Autofenster. Lasse den Revolver in der rechten Hand am Oberschenkel liegen, als ich auf die Tür des Liberty zugehe. Der Nachtwächter ist nirgends zu entdecken. Ich höre eine Bewegung, sehe aber außerhalb der Lichtkegel des Wagens nichts. Der Griff des Revolvers liegt glatt in meiner Handfläche, ich habe den Zeigefinger nicht am Abzug, als ich mit dem Griff gegen die Tür poche und mich dabei umsehe.

»Wir kriegen dich schon, mzungu«, wird irgendwo auf der Straße gerufen. Es ist nicht Abdullah, aber ich habe die Stimme schon mal gehört, obwohl ich kein Gesicht damit verbinde.

»Was?«, wird von innen gefragt. Rogarth.

»Ich bin’s.« Er schließt auf, und ich schlüpfe hinein.

»War da jemand?«, will Rogarth wissen.

»An der Straße stehen ein paar Typen.«

»We-we-we-we-wer …?«, ruft Firestone aus dem Tanzsaal.

»Es ist Christian!«, ruft Rogarth zurück. Im Flur steht eine Petroleumlampe. Ich entdecke den Nachtwächter, der gegen die Wand gelehnt auf einem Metallstuhl sitzt.

»Wieso bist du nicht draußen?« Er sieht mich mit einem leeren Blick an.

»Ich habe keine Waffe«, sagt er.

»Tsk«, schnalzt Rogarth. Dem Nachtwächter ist das egal. Er hat ein panga und einen Stock, und er hat meinen Revolver gesehen: Ihm ist der Ernst der Situation klar geworden.

»Ich habe Angst, dass sie zu Rachel fahren.«

»Gibt’s keine Nachtwache dort?«, fragt Rogarth. Ich zeige mit der Hand auf den Nachtwächter des Liberty.

»Das ist nicht gut«, sagt Rogarth.

»Es gibt noch Hunde.«

»Das ist nicht gut genug.«

»Ich weiß. Vielleicht sollten wir Firestone dorthin schicken – auf dem Motorrad. Er könnte den Weg durch Majengo nehmen, denn die Typen stehen oben an der Straße.«

»Firestone schafft das nicht«, erwidert Rogarth gedämpft. »Er hat jetzt große Angst vor Abdullah, er hört überhaupt nicht mehr auf zu zittern.«

»Vielleicht sollte ich zurückfahren«, überlege ich. »Verflucht, was für eine Scheiße!«

»Diese Typen da draußen … haben die den Revolver gesehen?«

»Ja.«

»Ich könnte mit dem Motorrad zu Rachel fahren. Dann wüssten sie nicht, ob du den Revolver hast oder ich«, schlägt Rogarth vor.

»Und wer soll ihn bekommen?« Rogarth sagt nichts. Ich ziehe den Revolver aus dem Hosenbund. Strecke ihm die Waffe hin. Er blickt in der Dunkelheit darauf. »Nein«, sagt er dann. »Ich kenn mich mit so was nicht aus.« Ich stecke den Revolver wieder ein. Ich kenne mich auch nicht damit aus. Ich schließe das Motorrad auf und ziehe es aus dem Gang, in den ich es gestellt hatte, bevor ich anfing aufzulegen. Ich fordere den Nachtwächter auf, die Tür aufzumachen und nachzusehen, ob draußen jemand ist.

»Ich gehe da nicht raus«, erklärt er.

»Das ist dein Job, du bist der Nachtwächter.«

»Dann bin ich lieber ohne Job«, erwidert er. Rogarth öffnet die Tür, ich stehe hinter ihm und halte den Revolver mit angewinkeltem Arm in der Hand, sodass er direkt auf die Decke zielt. Rogarth geht hinaus, schaut sich nach beiden Seiten um. Es gibt noch immer keinen Strom im Zentrum. Er kommt zu mir zurück, zuckt die Achseln.

»Ich stelle mich an die Tür und passe auf, bis du außer Sichtweite bist«, flüstere ich. Dann gehe ich zu Firestone. Er ist sehr still.

Wir rauchen und trinken Sprite, bis es draußen hell wird.

»Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um deinen Vater zu besuchen«, sage ich zu Rachel. »Zumindest, bis die Sache mit Abdullah geklärt ist.«

»Aber vielleicht ist es besser, wir reden mit deinem Vater. Vielleicht kann er uns ein Ticket nach Dänemark besorgen, damit wir aus diesem Chaos herauskommen.« Dänemark.

»Nein, verflucht. Wir werden nicht weglaufen.« Ich kann ihr nicht erklären, dass mein Vater uns keine Tickets nach Dänemark kaufen wird und wir dort nicht klarkommen würden. Ich könnte, ja, denn ich habe die Staatsbürgerschaft, aber sie nicht.

»Okay, ich besuche ihn eine Woche, dann komme ich zurück.«

»Besuchst du Ibrahim, wenn du schon da bist?« Denn wenn es wirklich nur eine schwere Malaria gewesen sein sollte und nicht … tja, dann hätte ich ihn jetzt verdammt gern hier in Moshi.

»Ich werd ihn sicher sehen.«

»Dann grüß ihn herzlich. Und wenn er gesund ist, sag ihm, er soll zurückkommen. Ich habe einen Job für ihn.«

Als Rachel fort ist, überdenke ich die Situation. Meine Aufenthaltsgenehmigung ist in Ordnung – für teures Geld gekauft und bezahlt auf der Dachterrasse des New Castle Hotels. Die Arbeitserlaubnis – fuck off; Rogarth ist der offizielle Discobetreiber. Aber Abdullah, wie löse ich dieses Problem? Ich fahre zum Polizeirevier. Gehe zu dem Chef, der gesagt hat, ich stamme aus einer Familie von Mördern. Ich werfe es ihm direkt auf den Tisch. »Dieser Abdullah bereitet mir gewaltige Probleme. Er bedroht mich. Würden Sie mit ihm reden?«

»Abdullah? Ich kenne ihn nicht, aber er ist Tansanier, also hat er größere Rechte als du«, sagt der Polizeibeamte und lächelt. »Du bist nur ein Tourist. Es kostet tausend Dollar, wenn ich dich auch nur ein wenig beschützen soll.« Jetzt grinst er: »Du wirst im Leben immer Probleme haben, weil du aus einer Familie von Mördern stammst. Deine Hände sind mit dem Blut des toten Mannes gefärbt.«

Ich habe keine tausend Dollar.

Ich habe Rogarth im Haus einquartiert. Den defekten Plattenspieler repariert ein Radiomann in der Stadt. Vor dem nächsten Wochenende, an dem wir wieder im Liberty sind, kann man nichts tun. Ich ziehe mir wärmere Sachen an, ziehe den Pass aus meinem gebrauchten Hemd und stecke ihn in die Tasche der Jacke, die ich mir anziehe. Ich habe mir angewöhnt, meinen Pass immer bei mir zu tragen.

Ich fahre nach Arusha zur Mountain Lodge, um zu sehen, ob Mick zu Hause ist. Ich muss mal wieder mit einem weißen Mann reden. Es ist halb fünf Uhr nachmittags, als ich ankomme, aber er ist noch bei der Arbeit. Ich setze mich auf die Veranda und unterhalte mich mit der Halbgrönländerin Sofie. Es ist angenehm, Dänisch zu reden. Ich frage nach Mick.

»Läuft’s gut mit seiner Autowerkstatt?«

»Na ja, so einigermaßen. Er arbeitet ständig, und es ist nicht mal sicher, ob er heute nicht erst spätabends nach Hause kommt.«

»Wohnt er denn noch hier in der Lodge?« Es überrascht mich, dass er noch bei seiner Familie wohnt.

»Ja, natürlich. Also, bis er heiratet; dann wird er sich bestimmt ein Haus in Arusha kaufen.«

»Will er denn heiraten?«

»Ich weiß nicht, vielleicht irgendwann einmal. Soweit ich weiß, hat er keine Freundin.«

»Ja, wenn er schwarze Mädchen nicht mag, dann könnte es ein Problem geben.« Sofie lacht.

»Er hat nichts gegen die Farbe. Es ist die Trägheit, dieses Laissez-faire. Hier muss man hart arbeiten, wenn die Dinge funktionieren sollen. Wenn man Kinder bekommt, müssen sie in Arusha zur Schule gehen, und das ist teuer. Es gibt keine Krankenversicherung und so etwas. Wir müssen in der Familie einfach zusammenhalten.«

Ich schaue mich um. Die Lodge in dem schönen alten Gebäude mit den Bungalows dahinter, die Land Rover für die Safaritouren, das gut geschulte Personal. Ich beneide sie um ihren Erfolg, aber sie arbeiten auch hart. Ich habe nicht hart genug gearbeitet, das ist mir schon klar. Meine Projekte sind so fadenscheinig – die Dinge gehen kaputt. Löchrige Klamotten, mürbe Schuhe, zerkratzte Sonnenbrille, die Tonköpfe des Kassettenrekorders sind abgenutzt, die Platten knacken. Ist das normal bei Menschen? So zu sein wie die Dinge, die wir besitzen? Ich bin die Abtastnadel – wenn sie nicht funktioniert, funktioniere ich auch nicht. Ich baue ein Leben auf leicht verderbliche Elektronik. Unhaltbar. Und leicht verderbliche Beziehungen zu Menschen, für die ich die Verantwortung trage. Ich schaue auf. Sterne zeigen sich an der schwarzen Kuppel. Samantha – wolltest du auf diese Weise nicht leben – so wie ich? Aber du hättest wie Sofie leben können.

Sofie fährt fort: »Aber ich bin auch eine Art Neger. Ich bin halbe Grönländerin, daher verstehe ich die Tansanier genau. Es ist doch verrückt, wie sie erst von den Kolonialherren herumgeschubst wurden, um dann allein gelassen zu werden und in der Sonne zu braten.«

Ich schaue zum Himmel. Es wird dunkel.

»Ich fahre noch mal zur Werkstatt«, sage ich und verabschiede mich von Sofie.

Mick liegt mit dem Oberkörper unter der Kühlerhaube eines Safari-Lasters. Neben ihm steht ein alter zerfurchter Tansanier.

»Trinken wir ein Bier«, sagt Mick. Wir setzen uns auf ein paar Autoreifen im Hof der Werkstatt. Es ist jetzt dunkel, aber sternenklar, der Mond scheint.

»Was treibst du eigentlich hier, Christian?«

»Ich … ich lebe hier.«

»Wirklich?« Er sieht sich in der Werkstatt um. »Ich lebe hier. Du bist ein Flüchtling. Du versuchst, irgendeinen Teenagertraum zu leben.«

»Scheiße, Mick, ich arbeite. Ich habe Leute zu ernähren.«

»Ja, aber was ich aus Moshi höre, versuchst du, dich so durchzumogeln. Mann, auf Dauer funktioniert das nicht.«

Er sieht mich an. Ich möchte wissen, mit wem er in Moshi redet. Er kann offenbar meinen Gesichtsausdruck lesen. Mick grinst: »Christian, Moshi ist sehr klein. Deinen alten Partner Marcus kenne ich seit Jahren. Immer, wenn ich in Moshi war, habe ich bei ihm Kassetten gekauft. Marcus hat die gute Musik.«

»Du kommst nach Moshi?« Ich habe ihn nie dort gesehen.

»Das kommt vor«, erwidert Mick, zündet sich eine Zigarette an und raucht schweigend. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hatte gedacht, ihn zu fragen, ob er mir ein bisschen Geld leihen könnte, aber ich bringe es nicht fertig. Er durchschaut mich. Jetzt spricht er wieder, ruhig. Aber seine Worte haben nichts Beruhigendes: »Du bist genau wie Samantha – du versuchst, die lästigen Dinge zu vermeiden. Du glaubst, das wäre möglich, aber du wirst ständig von ihnen eingeholt.«

»Ich hab’s in mir«, widerspreche ich. »Es hätte klappen können.«

»Wenn’s nicht geklappt hat, hast du es auch nicht in dir.«

»Das sind nur ein paar kleine Probleme, die regeln sich«, behaupte ich, obwohl ich selbst nicht daran glaube.

»Ja, natürlich. Die Situation wird sich klären. Die Dinge werden sich wieder beruhigen. Aber es ist bei Weitem nicht sicher, ob du die Spitze erreichst, denn für mich sieht es aus, als wärst du am Boden.«

»Ich muss nur ein bisschen Geld beschaffen, dann läuft’s.«

»Du musst sie dir als wilde Hunde vorstellen«, sagt Mick.

»Wen?«

»Die Leute, mit denen du zusammenarbeitest, und die Leute, die deine Geschäfte übernehmen wollen.«

»Das mach ich doch bereits.«

»Nein, das tust du nicht. Hunde. Es geht um Territorien. Wenn du nachts an einem bissigen Hund vorbeigehst, dann greift er dich nur an, wenn du in sein Territorium eindringst. Wenn ihr euch auf neutralem Grund begegnet, dann wird er nur angreifen, wenn du Furcht zeigst, Unterwürfigkeit.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Du bist auf ihrem Territorium. Sie sind eine Horde. Du stinkst nach Angst. Sie haben gesehen, dass du verletzlich bist. Du bist isoliert von deiner weißen Horde, du blutest bereits. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann bist du verblutet. Es sei denn natürlich, du kehrst zu deiner Horde in Europa zurück.«

»Aber Dänemark ist nicht meine Horde.«

»Nein, ich verstehe, dass du das glaubst. Aber die Dänen wissen das nicht.« Mick lacht. »Sie werden sich deiner annehmen.«

»Du bist doch auch weiß«, wende ich ein.

»Ja, aber ich gehöre hierher. Mein System ist hier. Ich habe hier eine Familie und eine Gesellschaft, ich bin ein Teil davon.«

»Du bist kein Tansanier.« Mick weist auf einen großen Schrotthaufen, der in einer Ecke unter einem Halbdach liegt.

»Weißt du, was das ist?«

»Schrott von alten Autos.«

»Ja. Das ist mein Reservelager.«

»Das da?«

»Ja. Es geht um die Frage, ob du dich selbst versorgen kannst. Du musst dir Dinge besorgen, um hier zurechtzukommen. Du bist mit Geld gekommen, das du investiert hast – okay. Jetzt hast du deine Investitionen verplempert. Du hast nicht genug Gewinn erwirtschaftet, um dein Geschäft in schlechten Zeiten durchzubringen. Du bist dabei zu verbluten. Ich bin hier aufgewachsen. Ich verstehe das System. All deine Probleme werde ich nie haben.«

»Ich muss nur das eine oder andere regeln. Dann bin ich okay.«

»Mir hat ein Typ beigebracht, einen Land Rover mit Teilen von einem Peugeot zu reparieren«, erzählt Mick. »Ein Typ, der es sich selbst beigebracht hat. Er kann kaum lesen.«

»Okay.«

»Er ist weitaus tüchtiger als ich.« Mick zeigt auf den alten zerfurchten Mann, dessen Blaumann vor Motoröl schwarz glänzt. »Dort steht er. Er ist mein Idol.«

»Ich verstehe, was du meinst.«

»Nein, das tust du nicht«, erwidert Mick. Wir sind still. Rauchen. »Kannst du dich an Panos erinnern?«, fragt er mich.

»Ja, klar.«

»Panos arbeitet auf dem Flughafen Heathrow in London. Er transportiert Gepäck in Doppelschicht. Und er ist zusammen mit Parminder, die hinter einem Schalter von British Airways steht.«

»Die hübsche Parminder?«

»Ja, genau die. Sie hat in Nairobi einen Sikh geheiratet, der sie geschlagen hat. Also hat Parminder mit ihrer ganzen Familie gebrochen und sich mit Panos zusammengetan. Und jetzt schuften sie wie die Tiere, um Geld zu verdienen und sich ein Safarilager in Ruaha aufzubauen.«

»Und was ist mit Stefano und seiner Familie?«, erkundige ich mich, denn nachdem, was ich gehört habe, war Stefano bereit, Panos umzubringen. Panos hatte Stefano verprügelt, weil er Samantha vergewaltigen wollte.

»Stefanos ganze Familie ist nach China gezogen und betreibt dort ein paar große Tabakfarmen. Der Witz ist, dass Panos sich vorbereitet. Er arbeitet hart, um Geld für seine Investition zu verdienen. Und er findet die richtige Frau, die ihm dabei hilft. Er fasst die Dinge auf die richtige Art und Weise an, und es gibt eine reelle Chance, dass es ihm gelingen wird. Du machst das nicht.«

»Ich verstehe, was du meinst.«

»Ich kann dir zweihundert Dollar geben«, sagt Mick.

»Wirklich?« Ich habe nicht einmal gefragt. »Ich bin froh …« Mick hebt eine Hand und gibt mir zu verstehen, dass ich den Mund halten soll. Er wühlt in einer Tasche, als er aufsteht. Gibt mir die zweihundert Dollar.

»Und komm nicht wieder«, sagt er und verschwindet mit dem Oberkörper unter der Motorhaube.

Nach ein paar Tagen kommen Rachel und Halima nach Hause.

»Was ist mit Ibrahim? Hast du ihn gesehen?«, frage ich Rachel.

»Tsk«, gibt sie zur Antwort und schüttelt missbilligend den Kopf. »Ibrahim ist so gut wie tot.«

»Was hat er denn?«

»Er hat die Krankheit. Und im Dorf haben sie ihn gesteinigt.«

»Ihn gesteinigt?«

»Ja. Das ganze Dorf – die Männer. Weil Ibrahim mit der Frau eines anderen Mannes geschlafen hat. Also haben sie ihn gesteinigt. Hart, fast bis zum Tod. Und jetzt stirbt er im Krankenhaus.«

»Aber … die Krankheit. Ist er dünn?«

»Ja, er ist nicht mehr Big Man Ibrahim. Er sieht aus wie ein Skelett.«

»Aber wie konnte er denn mit der Frau eines anderen Mannes schlafen? Er war doch bereits krank.«

»Eine kurze Zeit ging es ihm etwas besser, und er konnte aufstehen. Und Ibrahim kann die Mädchen beschwatzen. Er besitzt einen kleinen Laden, er hat zwei matatu, er hat eine Bar.«

»Wenn er so dünn ist, dann weiß man doch, dass er die Krankheit hat«, wende ich ein.

»Es ist ein Dorf, Christian. Sie wissen nichts von der Krankheit. Sie glauben, es sei nur eine hartnäckige Malaria.«

»Und ich dachte, seine Frau hätte seine Geschäfte übernommen?«

»Ja, aber Ibrahims Name steht auf den Geschäften, deshalb glauben die Leute, er sei ein großer Mann. Ibrahims Frau hat die Krankheit auch.«

»Und ihr Kind?«

»Das Kind ist okay. Die Eltern der Frau kümmern sich darum.«

In der Innenstadt werden die Probleme größer; unsere Aktivitäten im Liberty sind für sämtliche Amtspersonen offensichtlich. Rogarth wird von der Polizei auf der Straße angehalten. Alle wollen etwas von uns. Die Stadt ist zu klein, und wir haben Erfolg – so sieht es jedenfalls aus. »Komm schon, wir wissen, dass du Geld hast. Gib uns ein bisschen.« Alles wird teurer, wenn man weiß ist und Geld hat. Jedes Mal, wenn wir etwas einkaufen, werden überhöhte Preise gefordert. Wenn Rachel auf den Markt geht, wirft man ihr die weißen Preise an den Kopf. Ich fange an, so zu leben wie die Weißen, die ich vor sieben Jahren verachtet habe, als ich mit Vater von der TPC nach Moshi zog. Ich hielt sie für paranoid, weil sie Angst vor den Negern hatten. Ich fand es widerlich, wie sie aus dem Haus gingen, sich ins Auto setzten und zur Arbeit, zur Schule oder in den Club fuhren. Sie nahmen den Gärtner mit zum Markt, damit er die Körbe trug, und bekamen das Fleisch vom Metzger an die Tür gebracht. Sie wussten allenfalls, dass der Koch eine Familie in einem Dorf hat, aber sie haben sie nie kennengelernt oder sein Haus und seine Felder gesehen. Sie trafen sich nie mit den Einheimischen. Sie haben niemals versucht, an einem rauchenden Feuer zu hocken und Maisgrütze oder Fisch zu essen. Sich den Hintern mit Wasser abzuwischen. In Zeitungspapier gerollten Tabak zu rauchen. Im Kino auf den billigen Plätzen mit den harten Holzsitzen gegrillte Manioks mit Senf- und Chilidressing zu essen. An den kleinen Schuppen auf dem Land mbege zu trinken. Sich frei zu bewegen ist unmöglich.

Ich lasse Rogarth mit dem Motorrad in die Stadt fahren, um die Geschäfte zu erledigen: Plakate bestellen, Tapetenkleister, Eimer und Quaste organisieren und ein paar zwielichtige Typen vom Markt anheuern, um die Plakate überall aufzuhängen. Elektrische Glühbirnen fürs Liberty besorgen, damit es nicht vollkommen stockfinster ist.

Ich gehe wieder zu Fuß. Auf der festgebackenen Erde. Staub steigt in kleinen Wolken von meinen Füßen auf. Es geht nicht. Ich bin auf dem Weg zur Uru Road, um mit Marcus zu reden. Aber ich will nicht, es ist peinlich. Ich schäme mich – als wäre alles meine Schuld. Aber das stimmt nicht. Soll ich es lassen? Ich drehe um. Ich sehe die Lichter vor dem YMCA, dort halten Taxen. Ich kaufe einen gegrillten Maiskolben bei dem Burschen, der neben der Containerbar vor dem YMCA steht. Er will einen Wucherpreis. Ich gebe ihm den korrekten Betrag, rede mit ihm in Straßen-Swahili: »Mimi sitake kuchuma mboga« – ich werde mich nicht bücken, um Gemüse zu lesen. Mit anderen Worten: Er soll mich nicht verarschen. Alle halten mich für eine wandelnde Brieftasche, in die sie ihre Finger tief hineinstecken können. Ich gehe zu den Taxifahrern, und alle bestürmen mich mit ihrem holprigen Englisch: »Komm her. Hier. Taxi. Gutes Auto. Mit Musik.« Es ist irritierend, dass sie es nicht sehen; vor neuneinhalb Jahren bin ich nach Tansania gekommen – ich spreche ihre Sprache fließend.

Ich gebe dem ältesten Fahrer ein Zeichen, einem grauhaarigen Mann mit zerfurchten Wangen, der an den Kühler seines Autos gelehnt steht und nichts gesagt hat. Er richtet sich auf und öffnet mir die Tür. Die anderen maulen, aber ich habe keine Lust, mir all ihren Mist anzuhören und ihre Versuche abzuwehren, einen Wucherpreis zu nehmen.

Marcus

ENTSPANNUNG

Ja, ein Mann braucht Entspannung nach einem langen Arbeitstag. Ein Drink oder zwei, obwohl Claire eine Feindin dieses Systems ist. Sie will, dass ich zu Hause esse und schlafe. Fertig. Keine Lebensfreude. Und das Pumpen: Früher war es saftig. Jetzt erledigt sie diese Arbeit wie ein Baumstamm, der gefällt auf der Erde liegt. Ich kann in keine Bar in der Umgebung mehr gehen, meine Rechnungen sind so lang wie der Weg nach Dar. Also klopfe ich an den Kiosk und wecke den Jungen, der sich tagsüber darum kümmert und nachts darin schläft, damit nichts gestohlen wird.

»Gib mir etwas Geld«, sage ich.

»Aber mama Claire hat die Tageseinnahmen bereits geholt«, sagt er schläfrig.

»Tsk.« Eigentlich ist es so, dass Claire sich in der Stadt um Princess kümmert und ich mich um den Kiosk. Sie hat sich bei meinem Kiosk nicht einzumischen. Und wenn ich ein wenig von dem Verdienst zur Entspannung am Abend brauche, dann nur, um den Willen zu einer großen Arbeit am nächsten Tag wieder aufzubauen. Ich gehe nach Haus und rüttele Claire wach.

»Wo ist mein Geld?«

»Welches Geld?«, murmelt sie und schaut mich erschrocken an, weil ich sie so brutal geweckt habe.

»Mein Geld vom Kiosk«, sage ich so laut, dass das Baby aufwacht und zu schreien beginnt.

»Du weckst Redemption. Das Geld habe ich für Maismehl, Speiseöl und Limonade ausgegeben, für ein Warenlager, damit der Kiosk mehr verkaufen kann.«

Tsk, Claire ist mit einem Taxi herumgefahren, hat das Lager aufgefüllt und das ganze Geld verbraucht.

»Und wo ist der Rest des Geldes?« Jetzt heult Redemption wie ein Krankenwagen.

»Tsk. Sieh in meiner Tasche nach.«

»Wieso bist du so böse?«, sage ich. »Hat ein Mann nicht das Recht, es sich mal einen Abend gemütlich zu machen, ohne dass seine Frau ihn zur Hölle schickt?«

»Es ist nicht ein Abend. Du gehst jeden Abend in die Bar, als ob es deine Kirche ist.«

»Ich brauche lediglich ein wenig Entspannung, damit ich schlafen kann.«

»Andere Menschen können schlafen, ohne in die Bar zu gehen.« Claire tröstet den kleinen Redemption, indem sie ihm die Brust gibt.

»Vielleicht sind deren Frauen ja anders. Wenn sie Lust haben, mit ihnen zu schlafen, stoßen sie vielleicht nicht nur auf einen kalten Rücken.«

»Ich will kein Spektakel, wenn ich noch Milch habe, das ist falsch. Und ich bin müde, weil ich den ganzen Tag arbeite.«

»Du bist immer müde. Aber ich bin nicht müde, ich muss mit den Leuten reden, arbeiten und ein paar Geschäfte anleiern.«

»Du bist morgens müde.«

»Tsk.« Ich gehe an ihre Tasche. Raus, weg, auf die Uru Road zum YMCA, wo es jetzt eine große Containerbar mit Kiosk gibt; Gateway heißt sie. In meinem Kopf nenne ich sie Get Away.

Christian

»Ist Marcus zu Hause?«, frage ich das Hausmädchen an der Tür.

»Er ruht sich aus«, antwortet sie. »Ich darf ihn nicht wecken.«

Ich schaue an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Haile Selassie hängt in einem Rahmen hinter Glas an der Wand. Auch Bob Marley. Außerdem gibt es Familienbilder. Claires kleine Rebekka, die gestorben ist; Marcus mit dem kleinen Steven, der ertrunken ist; der kleine lebendige Redemption. Ein verblichenes Foto von Katriina und den Mädchen. Früher hatte er auch ein Bild von uns beiden vor dem Roots Rock: mit gegenseitig über die Schultern gelegten Armen, Sonnenbrillen und Zigaretten, die uns von den Lippen hingen – jung, frisch, cool, optimistisch. Dieses Foto fehlt. Es gibt auch kein Bild von Stevens Mutter und kein Foto von Tita und ihrer schokoladenbraunen Tochter. Wenn er eins besitzt, hängt es zumindest nicht an der Wand. Ebenso wenig wie Bilder von Marcus’ Eltern und Geschwistern. Ich weiß, dass er Fotos von ihnen besitzt, die Deutsche in Seronera geschossen haben, als Marcus dort als Kind lebte. Er hat sie nicht aufgehängt, er redet nie von ihnen. Die Eltern waren schlecht. Er brach mit ihnen und wollte seine eigene Familie gründen, von Anfang an. Das hat er getan, und es ist ein ziemliches Chaos geworden, denn Marcus ist auch schlecht. Wird der kleine Redemption ein Foto von Marcus in einem Rahmen unter Glas auf seinem Regal stehen haben, wenn er erwachsen ist? Solja? Rebekka? Ich glaub’s nicht. All diese Bilder werden verblassen, verbrennen, verdrecken, verloren gehen, verwittern.

»Sag Marcus bitte, Christian ist hier gewesen«, sage ich zu dem Hausmädchen, die an den Türrahmen gelehnt steht.

»Ich sage es«, erwidert sie und schließt die Tür. Ich fahre nach Hause, um Rachel zu holen. Wir wollen auf dem Markt einkaufen. Ich habe Rogarth und Firestone zum Abendessen eingeladen. Wir sind nur noch zu dritt, seit Emmanuel abgehauen ist. Drei Hyänen. Ich habe Rogarth gebeten, einen neuen Rausschmeißer zu besorgen, aber noch hat er niemanden gefunden, auf den er sich verlassen kann.

»Der Rüde ist krank«, sagt Rachel, als ich nach Hause komme. Sie zeigt mir den Hund, der unter einem Busch im Garten liegt. Er winselt, als wir näher kommen. Die Hündin sitzt ein Stück abseits und hält Wache.

»Hast du oben im Haus Bescheid gesagt?«

»Ja. Sie sagen, es würde sich geben.«

»Das ist nicht unser Problem«, sage ich, denn ich habe kein Geld für einen Tierarzt. Aber es ist ein Problem, nur einen Hund zu haben, es sollten zwei sein. Ein einzelner Hund kann rasch getötet werden, und dann gibt es keinen Alarm, der den Wachmann wecken könnte.

Wir fahren in die Innenstadt. Ich meide den Clocktower-Kreisel, das Zentrum der Innenstadt, denn ich habe keine Lust, dem Besitzer des Liberty, dem Polizisten, Benson oder David, Claire oder Marcus zu begegnen. Wir fahren vom Arusha-Kreisel in die Arusha Road und biegen rechts in die Einbahnstraße Kawawa Street ab – wo Marcus von Asko gerammt wurde. Und dann über die Chagga Street zum Markt, der ganz in der Nähe von Swahilitown liegt. Meine Augen sind hinter einer verkratzten Sonnenbrille verborgen, dahinter sucht mein Blick die Umgebung nach Abdullah und Tariq ab, den Feinden. Ich schwitze. Ich trinke eine Cola im Schatten, während Rachel sich auf dem Gemüsemarkt mit den Händlern streitet – die wissen, dass sie mit einem weißen Mann zusammen ist, und sie werden niemals glauben, dass ein weißer Mann am Arsch sein kann.

Zu Hause räume ich auf, spiele mit Halima, helfe Rachel ein bisschen in der Küche. Rogarth und Firestone kommen. Ich hole ihnen ein Bier und stelle gesalzene Cashewnüsse und Bombay-Mix auf den Tisch. Wir hören den Soundtrack von Shaft. Es klopft an der Verandatür. Ein kleines Mädchen aus dem Haupthaus. Die Tränen laufen ihr über die Wangen.

»Aber was ist denn los?«

»Der Hund ist tot«, sagt sie.

»War er krank?«, erkundigt sich Rogarth.

»Ja, seit gestern«, sage ich. Das kleine Mädchen bleibt in der Tür stehen. »Sollst du noch mehr sagen?«, frage ich sie vorsichtig, damit sie sich nicht erschrickt.

»Meine Mutter sagt, der mzungu soll den Hund begraben«, antwortet sie. Ich richte mich auf.

»Ist keiner der Männer im Haus?« Das Mädchen schüttelt den Kopf. »Willst du eine Cola?« Sie nickt und kommt zu mir, nimmt meine Hand. Wir gehen in die Küche, Halima folgt uns. Ich gebe dem Mädchen eine Cola und sage Rachel Bescheid, die Auberginen in Öl brät.

Dann zünde ich eine Petroleumlampe an und trete mit Rogarth und Firestone vor die Tür. Rogarth stupst den Hund mit dem Fuß an und zieht ein besorgtes Gesicht.

»Was ist denn?«, will ich wissen.

»Vielleicht hat man ihn vergiftet.«

»Wie?«

»Du brauchst nur vergiftetes Fleisch über den Zaun zu werfen.«

»Dann wäre die Hündin doch auch krank«, wende ich ein.

»Nicht, wenn der Rüde so gierig war und alles allein gefressen hat.«

»Ich hole einen Spaten«, sage ich und gehe zur Garage. Firestone verschwindet im Haus. Als ich den Spaten bringe, kommt Firestone mit einem Messer in der Hand aus dem Haus.

»Was hast du vor?«, frage ich ihn.

»De-de-de-den Hu-Hu-Hu-Hund aufmachen.«

»Ich dachte, du wärst Moslem. Und gegen Hunde?«

»Ja, aber der Hund ist jetzt gut, er ist tot«, erklärt Rogarth. Firestone nickt lächelnd, kniet neben dem Hund und schneidet ihm den Rumpf auf, sodass die Eingeweide sich blutig über den Boden ergießen. Rogarth leuchtet mit der Petroleumlampe, als Firestone die Eingeweide des Tieres herauszieht. Galle steigt mir in den Hals, ich wende den Kopf ab und schlucke. Zünde Zigaretten an – eine für jeden.

»Hier, Firestone.« Ich halte den Atem an, als ich einen Schritt auf ihn zugehe und ihm die Zigarette in den Mund stecke. Er nimmt den Filter zwischen die Zähne und zerschneidet ein großes Organ, das mit dem Darm zusammengewachsen ist. Den Magensack. Der Inhalt fließt über den Boden, eine breiige Masse, die Firestone zwischen die Hände nimmt und vorsichtig befühlt.

»Findest du was?«, fragt Rogarth.

»Eeehhh!«, stößt Firestone aus. »Gla-Gla-Gla-Glasscherben.«

»Tsk«, schnalzt Rogarth.

»Was ist?«

»Du kaufst Fleisch und vermischt es mit kleinen Glassplittern. Der Hund merkt nichts, denn er kaut sein Fleisch nicht, er schluckt es einfach. Das Glas schneidet den Magen und den Darm in Stücke, so dass er innerlich verblutet und stirbt«, erläutert Rogarth.

»Also hat ihn jemand getötet«, stelle ich mit einem Kloß im Hals fest.

»Ja«, sagt Rogarth. Samantha erscheint vor meinem geistigen Auge. Sie steht ganz still – tot – und sieht mich an. Ihr Blick ist unleserlich. Die Augäpfel sind voller geronnenem Blut. Ich drehe mich zum Licht, damit die anderen die Tränen nicht sehen, die in mir aufsteigen. Ich beginne, das Loch auszuheben. Das Grab.

Marcus

ROMANTISCHE KRANKHEIT

Eines Tages kommt Rachel zu mir – eeehhh. Christians malaya.

»Ich bin mwafrika wie du. Ich bin deine Schwester. Und du verstehst die wazungu besser als ich. Du kannst mir einen Rat geben«, sagt sie. Aber ich verstehe die weißen Menschen nicht mehr, vielleicht habe ich sie noch nie verstanden.

»Wieso soll ich dir helfen?«

»Du warst es, der mir den mzungu vorgestellt hat. Und jetzt macht er mir nur noch Probleme. Es ist richtig, wenn du hilfst.«

»Was für Probleme?«

»Er verdient nicht genug Geld. Ich habe Angst, dass er plötzlich verschwindet, und dann ist er fort, und ich bin allein mit meinem kleinen Mädchen. Ohne Haus, ohne Arbeit. Was soll ich machen?«

»Gibst du ihm gute Liebe?« Eeehhh, sie wird wütend: »Tsk, immer wunderbar, aber er kann die Liebesarbeit nicht verrichten, wenn er ständig mirungi kaut und zu viel trinkt. Meine Liebe ist nur noch eine weitere Störung bei all seinen Problemen.«

»Du musst dir irgendetwas einfallen lassen, um den Haken ganz tief in diesem Fisch zu versenken.«

»Du musst helfen«, sagt Rachel. Ich schüttele den Kopf.

»Wenn man gut zu diesem mzungu ist, wird man von ihm misshandelt. Ich habe aufgehört zu helfen.« Sie dreht sich um und geht – hinüber zur Containerbar. Ich schaue ihr nach. Kurz darauf geht sie mit einem jungen Mann die Uru Road hinunter. Rogarth. Er läuft mit der malaya des Chefs herum, während sie nach einer Methode zur Manipulation des Chefs sucht. Dieser Sohn eines reichen Mannes von der TPC ist ein gelehriger Schüler, er hat die Methoden der Armen studiert, seit sein Vater ins Karanga Prison gezogen ist. Aber Rogarth ist noch immer wie ein Weißer, er glaubt an romantische Liebe. Wieso ist er so interessiert an Rachel, die zuerst von Faizal gepumpt wurde, der seinen Samen in ihr säte, und dann malaya für mabwana makubwa und Christian wurde? Wenn Rogarth seine Arbeit als Dieb und Betrüger ordentlich erledigen würde, könnte er blitzschnell eine sehr viel bessere Frau finden. Rachel ist in der Lage, die romantische Krankheit in den Burschen zu wecken.

Christian

Ich habe den Inhaber des Liberty überredet, für einen Rausschmeißer zu sorgen, bis ich einen neuen gefunden habe. Firestone geht mir zur Hand und übernimmt wie gewöhnlich die Aufsicht des Parkplatzes. Ich bin den weiten Weg zur TPC herausgefahren und habe Emmanuel geholt. Ich habe ihn überredet, am Eingang zu sitzen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich trage ein T-Shirt. Kein gelbes Hemd mehr. Ich überlasse Rogarth die Plattenspieler und versuche, selbst unsichtbar zu sein. Ich brauche dringend Geld, um Rogarths und Firestones Lohn zu zahlen und die zwei Monatsmieten zu begleichen, die ich Göstas Familie für das Gästehaus schulde. Ich will nicht hinausgeworfen werden.

Alles, was ich für die Tansanit-Steine bekommen habe, ist verbraucht. Auch das Geld von Mick ist weg.

Ich sitze an einem Tisch und trinke Konyagi, um zur Ruhe zu kommen. Ein Mann im Anzug setzt sich zu mir an den Tisch.

»Wie geht’s dir, Christian Knudsen?«, fragt er.

»Oh, so weit okay. Wer sind Sie?«

»Ich bin von der Einwanderungsbehörde«, sagt er. »Du hast ein großes Problem.«

»Meine Papiere sind in Ordnung.« Er schüttelt langsam den Kopf.

»Nein, deine Aufenthaltsgenehmigung wurde zurückgezogen. Bei der Bearbeitung deines Falles wurde ein großer Fehler gemacht. Du musst einen neuen Antrag stellen.«

»Und was kostet das?«

»Kostet?«, fragt der Mann zurück. »Eine Aufenthaltsgenehmigung in Tansania kostet nichts, wenn sie genehmigt wird. Aber das hängt vom Zweck deines Aufenthalts ab – ist es gut für Tansania oder nicht.«

»Und was genau muss ich tun?«

»Du hast Montagmorgen ins Einwanderungsbüro zu kommen«, erklärt er, steht auf und geht.

Montagmorgen sitze ich im Büro der Einwanderungsbehörde und fülle Formulare aus. Ich habe vor dem Anzugträger zu erscheinen. Er überfliegt die Formulare, dann schaut er mich an.

»Jetzt werden wir den Fall beurteilen«, sagt er. »Das wird ungefähr eine Woche dauern, du kannst am nächsten Montag wiederkommen, dann bekommst du Bescheid.«

»Und was passiert, wenn ihr mir keine Aufenthaltserlaubnis erteilt?«

»Dann hast du innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Land zu verlassen.« Sowjetische Methoden. Was glauben die, wo wir hier sind? In einem Spionagefilm?

»Ich bin dick«, verkündet Rachel, als ich eintrete. Sie sitzt auf dem Sofa und hält Halima im Arm.

»Was? Du bist doch nicht dick. Du siehst gut aus.«

»Dick«, beharrt sie. »Du hast mich dick gepumpt.«

»Bist du schwanger?« Ich bleibe mitten im Zimmer stehen.

»Ich glaub schon. Ich habe nicht pünktlich geblutet.« Sie sieht mich an, mit einem unergründlichen Blick.

»Aber wir haben doch aufgepasst«, sage ich, seit … seit damals unser Blut kontrolliert wurde, habe ich nicht ohne Kondom mit ihr geschlafen. Fast nicht.

»Auch wenn man mit einer Socke pumpt, ist es nicht hundert Prozent sicher. Und hin und wieder haben wir die Socke auch vergessen.«

»Okay, du glaubst, du bist schwanger. Was bedeutet das? Bist du es, oder bist du es nicht?«

»Eine Frau weiß so etwas«, sagt sie. Die Menstruation – Eier und Blut, aber um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wie der Zyklus verläuft.

»Bist du sicher?«

»Fast«, erwidert sie. »Verlässt du mich?«

»Nein, nein.«

»Aber du bist nicht glücklich.«

»Tsk. Im Augenblick gibt’s eine Menge Probleme. Alle versuchen, mich wie ein Hühnchen zu rupfen.«

»Ich versuche nicht, dich zu rupfen.«

»Das weiß ich doch.« Weiß ich es wirklich?

»Was willst du machen?«, fragt sie und sieht wütend aus. Die tansanische Methode – die Versorgung ist Aufgabe des Mannes.

»Wir müssen abwarten, ob das Liberty so gut funktioniert, wie ich es mir vorstelle. Wenn es nicht klappt, dann müssen wir für eine Weile zu meinem Vater fahren.« Ich kann die Anlage in Arusha verkaufen, dann hätte ich etwas Geld in der Tasche. Dann muss er uns mit dem Rest aushelfen, um Flugtickets zu kaufen.

»Was sollen wir bei deinem Vater? Wird er uns nach Dänemark schicken?«

»Jetzt warten wir erst einmal ab, ob das Liberty funktioniert, bevor wir über Dänemark reden.« Natürlich, mein Vater wird mich nach Dänemark schicken. Ich weiß nicht, was er mit Rachel und Halima machen wird. Ich habe keine Ahnung. Und Rachel weiß noch nichts von dem neuen Vorstoß der Einwanderungsbehörde. Sie weiß nicht, dass ich Göstas Familie die Miete schulde. Sie weiß nicht, dass wir am Rand des Abgrunds stehen.

Ich bin vollkommen am Ende.

Marcus

DIE ABMACHUNG

Rogarth kommt mit Firestone an meine Tür. Rogarth ist in all den problematischen Jahren nach der Verhaftung seines Vaters ein harter Bursche geworden. Und die Discobranche ist inzwischen auch ein ziemliches Chaos. Erst starb Khalid auf dem Berg, dann wurde Abdullah in den Hintern getreten. Big Man Ibrahim ist dünn geworden und starb. Jetzt befiehlt Rogarth über Christians Sklavenheer, aber dieses Heer hat keine Soldaten.

»Ach, e-e-e-er be-be-be-trügt alle, ni-ni-ni-nicht gut, dieser mzungu«, sagt Firestone. Vor zwei Jahren haben sie mich hinausgedrängt. Jetzt stehen sie wie zwei Bettler vor mir.

»Er bezahlt keinen Lohn mehr«, sagt Rogarth. »Wir wussten nicht, dass er so ist.«

Ich habe es ihnen gesagt, aber für den Afrikaner kann der weiße Mann nicht falsch sein. Erst muss der Afrikaner den Betrug selbst spüren und es mit eigenen Augen sehen. Doch Rogarth kennt beide Seiten; er ist Tansanier, aber er ist auch auf die ISM gegangen: Er müsste mehr verstehen. Vielleicht ist er von der romantischen Vorstellung über die menschliche Nächstenliebe infiziert, oder er empfindet diese weiße Form von Liebe und ist außerstande, seine Gefühle gegenüber Christians malaya aufzugeben. Dann wird sein Weg über die Hose gesteuert.

»Jetzt wisst ihr, dass Christian schlecht ist«, sage ich. »Pole

»Wir würden gern mit dir reden«, sagt Rogarth.

»Das Haus gehört meiner Familie. Hier können wir nicht reden«, sage ich und bleibe in der Tür stehen – sehr unhöflich.

»Gehen wir zur Containerbar«, sagt Rogarth.

»Ich habe kein Geld für den Container.«

»Wir laden dich ein.«

»Gut.« Wir gehen hinüber und setzen uns an einen Tisch unter dem Halbdach hinter der Bar, um allein zu sein. Der Kellner bringt uns Bier.

»D-d-d-dein mzungu hat uns to-to-to-total be-be-be-beschissen«, sagt Firestone.

Ich sage nichts.

»Ja, und deshalb … vielleicht können wir uns gegenseitig helfen«, sagt Rogarth.

»Womit?« Ich frage nicht, weil ich mich dumm stellen will, aber wenn Rogarth etwas will, dann soll er es sagen.

»Wir wollen bezahlt werden, weil er uns beschissen hat.«

»Das ist mir egal, das ist euer Problem.«

»Aber er hat dich doch auch betrogen. Mit der Discoanlage und dem Geld damals«, sagt Rogarth – derselbe Mann, der Christian dabei geholfen hat.

»Ja. Und als er mit mir fertig war, seid ihr zu ihm gegangen und habt euch vor ihm gebückt. Glückwunsch.«

»Zusammen kriegen wir ihn klein. Wir bieten dir die Möglichkeit, Rache zu nehmen.«

»Ihr könnt eure Rache gern nehmen. Ich habe einen Kiosk, einen Laden, eine Hühnerfarm und eine Familie. Ich habe keine Zeit für Rache. Das Einzige, was ich brauche, ist Geld.«

»Chhhrristian hat k-k-k-keins mehr«, sagt Firestone.

»Aber vielleicht gibt’s doch noch Geld«, sagt Rogarth. »Nur haben wir keinen Überblick über die Gesamtsituation, daher bitten wir dich um Hilfe. Du würdest dein Geld dann auch bekommen.«

»Er hat seine Anlage. Ihr müsstet sie klauen und zusehen, dass die Polizei nichts davon mitbekommt.«

»Ja, aber vielleicht hat er auch Kontakte«, sagt Rogarth. Aha, jetzt kommt der Moment der Wahrheit. Ich werde gefragt, weil Rogarth ein Problem hat. Was könnte Christian tun, hat er noch irgendwelchen Einfluss über seinen Vater, der noch immer in Shinyanga ist? Kennt der Vater ein paar mabwana makubwa in Moshi, die der Polizei befehlen können, Rogarth wie einen Käfer zu zerquetschen? Rogarth weiß es nicht, er braucht mich. Ohne diese Bedenken würde Rogarth Christian zusammenschlagen, schnell und brutal. Und ich denke an meinen schlimmen kleinen Bruder: Christian steckt in der Scheiße. Ich stecke in der Scheiße. Niemand von uns beiden gehört dahin. Niemals. Aber ich würde gern … etwas erreichen. Ohne dass er dabei allzu sehr zu Schaden kommt. Ich würde ihnen gern helfen, damit Christian eine Weile von hier fortmuss. »Seine Sachen ließen sich durchaus zu Geld machen. Und ich kann euch helfen, Ärger mit der Polizei zu vermeiden.«

»Wie?«

»Wenn ich euch das erzähle, braucht ihr meine Hilfe doch nicht mehr«, sage ich und lächele. Rogarth lacht laut auf: »Na also!«

»Aber wir teilen die Ernte«, sage ich. »Sonst verkaufe ich euch für ein paar Schilling an die Polizei oder sogar gratis.«

»Ja. Abgemacht.« Rogarth gibt mir die Hand. Sie wissen nichts. Sie wissen nicht, dass bwana Benson Christian bereits die Leute von der Einwanderungsbehörde auf den Hals gehetzt hat. Sie wissen nicht, dass Christian illegal in Tansania ist. All diese Dinge: Christian hat sie nur mit mir diskutiert. Christian ist in meiner Hand. Wenn ich zudrücke, zerquetsche ich ihn.

Christian

Freitagnachmittag. Rogarth ist gerade mit einem Taxi hier gewesen und hat die Anlage geholt. Nach der durchwachten Nacht im Liberty nehmen wir auch die Lautsprecher jeden Abend wieder mit nach Hause. Am Montag fällt das Urteil der Einwanderungsbehörde. Rachel ist im Bad, nachdem sie zu Fuß aus der Stadt gekommen ist. Sie hat mich nicht gebeten, sie abzuholen. Die Badezimmertür klappt, und ich höre sie ins Schlafzimmer gehen. Halima spielt draußen. Ich schiebe die Tür auf und umarme Rachel von hinten, so dass mein steifer Schwanz zwischen ihren Hinterbacken liegt. Ich habe das Bedürfnis nach Befriedigung.

»Hör auf mit dem Spektakel«, sagt sie.

»Nein. Ich will dich jetzt.« Sie seufzt, zieht sich das kanga vom Körper und legt sich aufs Bett.

»Dann komm.« Ich lasse meine Shorts auf den Boden fallen, ziehe mein T-Shirt aus, klettere aufs Bett und drücke ein Bein zur Seite.

»Eine Socke brauchst du nicht.«

»Wieso nicht? Noch mehr Kinder wollen wir nicht.«

»Du weißt doch, ich bin bereits schwanger. Ich habe in diesem Monat nicht geblutet.«

Meine Erektion fällt zusammen. Ich drehe mich auf den Rücken. Sie berührt mein Glied. »Ist er jetzt müde?«

»Er ist überrascht, aber vor allem glücklich«, erwidere ich.

»Das wird sich gleich zeigen.«

Sie legt ihr Gesicht auf meinen Bauch und streichelt mein Glied und die Hoden. Dann setzt sie sich auf meine Beine und lässt ihre weichen Brüste über mein Glied streichen. Er wächst wieder, und sie nimmt mich in sich auf.

Der Freitagabend im Liberty ist in Ordnung, aber ich bin gestresst und müde, als ich Samstag erwache. Rachel besucht mit Halima eine Freundin. In der Küche stinkt es nach Abfall. Ich sehe mir den Abfalleimer an. Der Deckel ist kaputt, und Rachel hat den Eimer nicht geleert; er steht in der Hitze und dampft. Ich trage ihn hinaus zu dem Abfallloch am Ende des Gartens und schütte ihn aus. Ich starre auf den Müll. Zwischen Gemüseschalen, Resten von Grütze und Brotkrusten liegen blutige Lappen – tansanische Binden. Also hatte Rachel ihre Menstruation: Das unbefruchtete Ei wurde mit ihrem Blut ausgeschieden. Ich schlucke. Es ist traurig, dass sie mich anlügt – dass sie es für notwendig hält, um mich festzuhalten. Traurig, dass sie möglicherweise sogar recht hat. Das Traurigste aber ist, dass ich sie nicht geschwängert habe. Ich habe Kopfschmerzen.

Mitten am Tag fahre ich zum Markt von Kiborloni, um nur niemandem über den Weg zu laufen. Ich kaufe khat und fahre an den Fluss. Die Schmerzen in meinem Kopf pressen mir das Gehirn zusammen. An einem Kiosk trinke ich eine Cola. Stecke ein paar Kaugummis in den Klumpen und kaue weiter. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Rogarth kommt am Nachmittag, um den Rest der Anlage zu holen.

»Ich brauche etwas Geld«, sagt er.

»Klar.« Er braucht Geld für das Taxi, um zu essen und um hier und da ein paar Schillinge zu verteilen, damit nachts alles glattgeht. Und ich schulde ihm auch noch Geld. Ich gebe ihm so wenig wie möglich. Ich habe das Bedürfnis, mein letztes Geld bei mir zu haben, wenn … Vielleicht brauche ich es. Rachel ist noch immer bei ihrer Freundin. Ich nehme ein langes Bad, bevor ich saubere Sachen anziehe – mein Black-Uhuru-T-Shirt mit der Safarijacke darüber. Bevor ich losfahre, gehe ich ins Schlafzimmer und schließe mit dem Schlüssel an der Lederschnur die Transportkiste von Ostermann auf, wühle mich durch Kassetten, Fotografien und Papiere und finde die Schachtel. Öffne sie und nehme den Revolver heraus. Stecke ihn auf dem Rücken in den Hosenbund. Die Jacke verbirgt ihn. Kontrolliere, ob mein Pass in der Tasche steckt. Auf dem Weg aus dem Haus läuft es mir kalt den Rücken hinunter, ich drehe mich um. Ich nehme den unentwickelten Film aus dem Kühlschrank und stecke ihn in die Tasche. Greife ganz hinten ins Gefrierfach und ziehe eine Streichholzschachtel heraus, in der ich ein paar rohe Tansanit-Steine aufbewahre. Wieder nach draußen. In der Dämmerung fahre ich ins Liberty. Alles ist sonnenklar, alle Bewegungen sind überdeutlich, wenn ich khat geraucht habe. Ich werde die Nacht schon überstehen.

Am Clocktower-Kreisel steht Firestone und winkt. Ich fahre an den Straßenrand und halte.

»Was ist?« Er springt hintendrauf und wedelt mit dem Arm vor meinem Gesicht, während er stottert: »Fa-fa-fa-fahr …«

Ich fahre. Halte vor dem Shukran Hotel. Firestone steigt ab und stellt sich neben mich. Sein Atem geht stoßweise, hoch oben im Hals, er hüpft mehr oder weniger auf der Stelle. Er muss den Revolver gespürt haben, als er hinter mir saß. Absolut keine Chance, dass er jetzt einen zusammenhängenden Satz herausbringt. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. Gebe ihm eine Zigarette. Lasse ihn rauchen, versuche, mich zu beherrschen.

»Po-Po-Po-Po …«, stammelt er.

»Polizei?« Er nickt.

»Sie sind pbbbbbuffhh …« Er schluckt.

»Sind sie im Liberty?« Er nickt.

»Sie suchen nach mir?« Er nickt und lächelt.

»Ich mu-mu-mu-muss zurück …«, sagt er und macht eine Handbewegung.

»Du musst zurück und Rogarth helfen.« Er nickt erleichtert. »Okay. Sag Rogarth, er soll, so schnell er kann, zum Jacksons in Majengo kommen und mich dort treffen.« Rogarth kann dorthin laufen. Majengo untersteht einem anderen Polizeirevier, sie wissen sicher nicht, worum es geht. Aber worum geht es denn überhaupt? Der Termin bei der Einwanderungsbehörde ist doch erst Montag – was könnte heute nicht in Ordnung sein? Ich fahre zum Jacksons. Bestelle Bier und Konyagi. Trinke. Sehe mich um. Es ist ein ruhiger Abend. Ich habe heute noch nichts gegessen. Nur eine Mango zum Frühstück. Habe keinen Appetit. Es liegt am khat. Trinke einen doppelten Konyagi. Eine große Frau setzt sich an die Bar. Chantelle. Ich gehe zu ihr und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

»Chantelle«, beginne ich. »Es tut mir leid, was … damals passiert ist.« Sie schaut mich an und wendet den Blick ab. Zuckt die Achseln. Ihre Hand unter meiner Handfläche fühlt sich warm an. Ich rutsche auf den Barhocker neben ihr. Unsere Oberschenkel stoßen aneinander. Sie ist brandheiß. Aus dem Nichts wird mein Schwanz steinhart. Ich will zwischen ihre Schenkel – sie pumpen, an ihren Titten ziehen, an ihrem Mund saugen. »Chantelle«, sage ich noch einmal mit rauer Stimme. »Lass uns irgendwo hingehen.«

»Was?« Sie sieht mich an. Ich zeige irgendwo nach draußen.

»Lass uns zusammen irgendwo hingehen.«

»Geh nach Hause«, sagt sie.

»Ich will dich«, erwidere ich gedämpft, damit niemand es durch das schnarrende Radio der Bar hört.

»Geh zurück in dein Land.«

»Ich habe Geld.«

»Tsk.« Sie wendet ihr Gesicht ab. Ich habe eine Hand auf ihren prallen Schenkel gelegt, streichele ihn. Sie schiebt sie weg. »Hör auf mit dem Spektakel«, sagt sie.

»Aber ich habe Geld.« Ein dicker Mann steht von einem Tisch auf und kommt auf mich zu. Was will er? Er lehnt sich an der anderen Seite von Chantelle auf die Bar und sieht mich an.

»Wenn die Dame nicht mit dir reden will, dann will sie nicht mit dir reden«, sagt er. Ich nicke, stehe unsicher auf, gehe hinaus und lasse das Motorrad an. Rogarth sollte ins Jacksons kommen, um mir zu berichten, was im Liberty vor sich geht. Was macht es noch für einen Unterschied? Ich werde es morgen herausfinden. Fahre um die Ecke zu einer der heruntergekommenen Bars. Drei junge malaya sitzen an einem Tisch unter einer Markise. Sie sehen Rachel ähnlich. Ja, Rachel muss dort gesessen haben, sie hat hier gefickt und jedem Idioten einen geblasen, der ihr ein paar Schillinge auf die Hand gegeben hat. Ich setze mich an einen Tisch. Die Barmama kommt. Ich muss etwas essen, sonst breche ich zusammen. Ich bestelle Fleisch und Bier.

»Willst du Gesellschaft?«, erkundigt sie sich. »Heute Abend sind ein paar sehr süße Mädchen hier«, sagt sie mit einer kleinen Drehung ihres Körpers zu dem Tisch mit den malaya. Ich schaue sie mir näher an. Eine von ihnen ist klein und gut gebaut. Es sieht aus, als würde sich eine eckige violette Schlange quer durch ihr Gesicht winden. Eine Narbe – möglicherweise eine zerbrochene Flasche.

»Die Kleine.« Ich ziehe mit einem Finger einen Strich über meine Wange. »Und Bier für sie.« Die mama geht zum Tisch der Mädchen, sagt etwas und holt das Bier. Das Mädchen kommt an meinen Tisch und gibt mir die Hand.

»Deborah«, stellt sie sich vor. Das Bier kommt. Ich sage, sie hätte einen hübschen Pullover an, und mir würde ihr Haar gefallen – ich will nicht hören, wer sie ist und woher sie kommt. Wir plaudern, trinken Bier; tun wir so, als wären wir befreundet? Es ist die Narbe, die mir gefällt. Aber ich muss für das Bier bezahlen. Das gebratene Fleisch kommt. Ich muss dafür bezahlen. Als wären wir verliebt. Träumt sie davon? Weiß sie, wer ich bin? Oder spielt sie das Spiel nur wegen des Kunden? Wegen mir.

»Seifengeld«, frage ich. »Wie viel?« Sie nennt eine Summe. Zu hoch. »So weiß bin ich nicht.«

»Tsk.« Sie geht mit dem Preis ein wenig herunter.

»Fahren wir.« Ich starte das Motorrad, sie setzt sich hinter mich, legt die Hände um meine Hüften.

»Das Erste ist das Beste«, erklärt sie. Ich halte vor dem Stundenhotel. Es gibt eine Öffnung mitten in dem schäbigen Steingebäude. Dragonfly Guesthouse. Ich gehe hinein. Ein kleiner Büroraum an der Öffnung, darin ein hagerer Mann. An der Rückseite des Gebäudes sehe ich einen überdachten Laubengang aus Beton, von dem die Zimmer abgehen. Fühle mich sonderbar leicht.

»Ein Zimmer bis morgen«, sage ich zu dem Mann.

»Die ganze Nacht?«

»Ja.«

»Okay.« Er zuckt die Achseln. Ich bezahle, obwohl er zu viel verlangt. Er reicht mir den Schlüssel.

»Mein Motorrad, kannst du darauf aufpassen?«

»Nein, ich bin nicht die Nachtwache.«

»Dann nehme ich es mit ins Zimmer.«

»Was immer du mit aufs Zimmer nimmst … mir ist das egal.«

Ich schiebe die Maschine die beiden Stufen hoch auf den Gang. Deborah schließt auf und geht hinein. Ich stelle das Motorrad ins Zimmer und schließe die Tür. Es gibt eine Bettlampe mit einer Vierzig-Watt-Birne. Die Wände des Zimmers sind weiß gekalkt, allerdings blättert der Putz ab. Der Fußbodenbeton verwittert bereits. Das Holzbett mit den Schaumgummimatratzen – ausgeleiert und fleckig. Deborah nimmt das Laken, das am Fußende der Matratze zusammengefaltet liegt, und schlägt es aus, lässt es über die Matratzen und das Kopfkissen sinken. Dann zieht sie rasch ihr Zeug aus und legt sich aufs Bett.

»Komm«, sagt sie zu mir. Ich ziehe mich ebenfalls aus und lege mich neben sie, berühre sie. Sie ist sehr schlank, beinahe dünn, mit kleinen, harten Muskeln direkt unter der Haut, die fest, glatt und gespannt ist. Meine Hände gleiten über sie, über die Schenkel, die Wellen ihrer Bauchmuskulatur, die kleinen harten Brüste, die ich lecke. Sie riecht nach künstlichen Blumen – ein billiges Parfüm. Darunter: ein Hauch von Trockenhefe und altem Schweiß. Ihre Hand berührt meine Hoden, streichelt sie und den Schwanz. Aber es geht nicht. Mir wird schwindlig. Zu viel mirungi. Mit meiner Zunge folge ich der violetten Schlange in ihrem Gesicht. Der Narbe.

»Nein.« Sie nimmt mein Gesicht in die Hände, zieht es von ihrer Wange und steckt mir ihre Zunge in den Mund. Ich habe das Gefühl zu ersticken und ziehe den Kopf zurück. Sie zupft an meinem Schwanz. »Du sollst deine Arbeit erledigen«, sagt sie.

»Ich kann nicht.« Ich schiebe ihre Hand weg.

»Ich bekomme trotzdem mein Seifengeld!« Ich führe einen Finger über die Narbe an ihrer Nase und der Wange, sie wurde schief zusammengenäht.

»Was ist passiert?«, will ich wissen.

»Hunde«, erwidert sie.

»Hunde?«

»Männer. Wie du.« Ich setze mich auf die Bettkante, damit sie nicht mein Gesicht sehen kann. Starre in die Luft. Schaue sie wieder an. Deborah. Ich mag diese Narbe, sie passt zu mir. Sie sieht mich mit einem leeren Blick an. Ich greife nach meiner Hose, die ich aufs Motorrad gelegt habe. Ziehe sie zu mir. Klonk – der Revolver lag darunter und ist auf den Boden gefallen. Ich hebe ihn auf und lege ihn auf den Sattel. Höre ein Keuchen. Ich sehe Deborah an. Ihre Augen sind aufgerissen. Ich schüttele den Kopf und hole das Geld heraus. Gebe es ihr. Sie zählt es, bleibt gespannt wie eine Feder liegen und verfolgt meine Bewegungen, als ich nackt aufstehe. Ich zünde mir eine Zigarette an, nehme den Revolver in die Hand, setze mich breitbeinig aufs Motorrad. Wechsele den Revolver in die linke Hand. Das Metall des Benzintanks ist kühl an meinen Hoden, meinem schlaffen Glied. Haut kratzt an meiner Wade, als ich den Kickstarter trete und den Gashebel aufdrehe. Deborah ist aus dem Bett gestiegen, steht auf der anderen Seite und drückt sich ihren Pullover an die Brust. Ich ziele mit dem Revolver auf die Decke und schieße. Putz rieselt herunter, staubt in den schlecht erleuchteten Raum. Mir läuft der Schweiß. Schweiß? Es sind Tränen. Ich lasse den Revolver sinken. Schalte das Motorrad aus. Blicke zu Boden.

»Du kannst jetzt gehen«, sage ich. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Deborah hastig ihre Kleider zusammenrafft, die Sandalen in die Hand nimmt und sich aus der Tür drückt. Der Staub rieselt auf mich herab. Warum ist Samantha nicht hier? Ich würde jetzt gern mit ihr reden. Ich brauche sie. Vielleicht weiß sie, was passieren wird, sie hat Erfahrung in diesen Dingen. Ich vermisse sie. Jetzt bin ich beinahe so, wie sie gewesen ist – bin ich am Ziel?

Ich sitze auf dem Motorrad. Rauche. Die Zigarette wird nass von den laufenden Tränen. Ich werfe sie fort, zünde mir eine neue an. Versuche, ruhig zu atmen. Ich muss etwas … unternehmen. Fange an, mich anzuziehen. Höre in der Ferne ein hupendes Auto. Es nähert sich, ununterbrochen hupend. Dann hält es, nicht sehr weit entfernt. Es hupt noch immer. Rufe. Was? Ich öffne die Tür einen Spalt.

»Ein Brand, ein Brand, im Liberty brennt es …«, höre ich die Stimme, weitere Stimmen mischen sich ein. Fuck. Ich sammele hektisch den Revolver auf und stecke ihn in die Hose, dann die Zigaretten; ich schiebe das Motorrad aus der Tür, trete den Kickstarter und rolle durch den Laubengang, um die Ecke an der Rezeption vorbei, die Stufen hinunter und los. Autos und Menschen auf Fahrrädern mit Beifahrern auf den Gepäckträgern – alle bewegen sich in Richtung Zentrum. Niemand will sich den Brand entgehen lassen. Ich rase durch Wellen aus Staub und Abgaswolken, schlängele mich zwischen Fahrradfahrern und Fußgängern hindurch, und sehe in der Ferne den Lichtschein am Himmel. Über die Eisenbahngleise in Richtung Innenstadt. Der Rauch brennt in der Nase. Das Liberty steht in Flammen. Ich muss mitten auf der Straße halten, weil eine Menschenmenge die Weiterfahrt unmöglich werden lässt. Die Flammen sind von der Holzhalle in den Hof des Gebäudes gesprungen, und von dort auf das Dach des Backsteingebäudes. Dort hat sich das Feuer festgesetzt und erleuchtet die Nacht– wie Feuerfliegen steigt die Glut in die Luft. Die Feuerwehr ist gekommen, aber nur mit einem Fahrzeug, und der Wasserstrahl aus dem Schlauch ist so schwach, dass er das Dach nicht erreicht. Ich schiebe das Motorrad durch die Zuschauer und sehe den Schlauch, der sich über die feuchte Erde schlängelt. Der Schlauch ist mürbe und hat eine Unzahl von Flicken: Aus Schläuchen von Autoreifen geschnittene Streifen sind darum gewickelt. Über die gesamte Länge spritzen feine Wasserstrahlen heraus, das Wasser läuft über die steinharte Erde, ohne einzusickern.

Ich sehe den Polizisten. Er sieht mich. Ich bleibe mit dem Motorrad stehen. Er kann ruhig kommen. Ich habe nichts mehr, was mir jemand noch nehmen könnte. Aber er kommt nicht. Er schaut wieder auf die Flammen. Ich klappe den Stützfuß aus, ziehe den Schlüssel aus der Zündung, gehe auf ihn zu.

»Shikamoo mzee«, grüße ich. »Was wollen Sie von mir?«

»Von dir? Ich will nichts von dir.«

»Ich habe gehört, dass Sie nach mir suchen.« Er lacht laut auf.

»Eeehhh, du bist voller Lügen. Deinen eigenen und denen anderer Leute. Und deine Freunde haben dich satt. Das ist sehr gefährlich.« Er wendet sich von mir ab und redet mit ein paar Feuerwehrleuten, die sich den Scheiterhaufen ansehen. Ich ziehe mein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Der alte Nachtwächter des Liberty kommt auf mich zugeschlurft.

»Bwana Christian«, sagt er lächelnd. Gibt es etwas zu lächeln? Ich gebe ihm eine Zigarette. Das war seine Absicht. Zum Teufel. Ich gebe ihm Feuer. Er zieht gierig.

»Meine ganze Ausrüstung«, murmele ich. »Verbrannt.« Der alte Wachmann sieht mich überrascht an: »Nein, sie sind vor dem Brand mit der Anlage weggefahren.«

»Was?«

»Der Brand fing in den Zimmern an, also schrien sie, es würde brennen. Alle Menschen laufen raus, und dann haben sie schnell deine Anlage aus der Hintertür in ein Taxi auf der Kaunda Street geschafft«, erzählt er und lächelt mich an. »Du hast viel Glück gehabt.«

»Ja«, antworte ich. Gehe zum Motorrad und werfe es an. Fahre auf den dunklen Straßen nach Hause. In allen Fenstern ist Licht. In der Einfahrt hält ein Taxi. Was habe ich zu erwarten? Ich stoppe die Maschine ein paar Meter von der Veranda entfernt. Dort sitzen Rogarth und Firestone auf den Stühlen, während Tariq an der Wand lehnt. Ich schalte den Motor ab.

»Christian, Christian«, ruft Halima aus dem Wohnzimmer. Ich höre Rachels gedämpfte Stimme, Halima beginnt zu weinen, dann werden die Geräusche leiser. Rachel ist mit dem Mädchen ins Schlafzimmer gegangen und hat die Tür hinter sich geschlossen.

»Hör mal«, sagt Rogarth und kommt auf mich zu, die Arme in einer halb resignierenden, halb erklärenden Attitude erhoben.

»Hör mal was?«, frage ich zurück. Er stellt sich direkt neben mich, sieht mich an. Ich sitze noch immer auf dem Motorrad. Er hat mich betrogen. Vielleicht hat Marcus ihm geholfen.

»Ist meine Anlage hier?« Rogarth reagiert nicht. Er schüttelt zwei Zigaretten aus seiner Packung, zündet die erste an und reicht sie mir. Ich nehme sie und stecke sie mir in den Mund. Er lässt die andere Zigarette fallen, greift hinten an meine Jacke, zieht den Revolver aus dem Hosenbund und tritt zwei Schritte zurück. Firestone erhebt sich lächelnd aus seinem Stuhl und stellt sich neben Rogarth.

»Du bist f-f-f-f-f …«, bringt er heraus, während er im Staub von einem Fuß auf den anderen tritt.

»Was spielst du hier eigentlich für ein Spiel, Rogarth?«

»Alles, was dir gehört, ist jetzt meins«, antwortet er.

»Du kannst doch nicht einfach meine Sachen klauen. Das ist gegen das Gesetz.«

»Wohin willst du gehen? Zur Polizei?«

Ich sage nichts. Rachel – die Schwangerschaft war falsch. Rachel hat die Pferde gewechselt, als sie nervös wurde, ob ich es schaffen würde. Versuchte es erst mit der Behauptung, dass sie schwanger sei. Dann sollte ich sie mit nach Europa nehmen. Das habe ich nicht getan. Sie hat kalte Füße bekommen, deshalb hat sie sich an Rogarth gewandt. Ja, sie hatte – sie hat recht. Mit mir wird das nichts. Was könnte ich ihr in Europa bieten? Es ist lediglich das Ticket, um das es ihr geht; dort oben würde sie nicht mit mir zusammen sein wollen, einem Habenichts. Hatte Rogarth die ganze Zeit, in der sie mit mir zusammen war, bei ihr einen Stein im Brett? Der Gedanke ist unangenehm.

»Was ist mit Rachel?«, will ich auf Englisch von ihm wissen. Weder Tariq noch Firestone verstehen besonders gut Englisch.

»Sie ist jetzt mit mir zusammen.«

»Was will sie denn mit dir?«

»Dasselbe, was sie mit mir getan hat, bevor du gekommen bist. Pumpen«, erwidert er und greift sich zwischen die Beine an sein Glied. Der Revolver lässt ihn stark werden. »Jetzt ist sie hier«, fügt er hinzu und zeigt mit seiner freien Hand auf mein T-Shirt.

»Was?«

»Black Uhuru«, sagt er. Ich schaue auf mein T-Shirt. Die Buchstaben auf der äthiopischen Flagge, umkränzt von weißem Stacheldraht. Rogarth lächelt und zielt mit dem Revolver auf mich. Er hebt ihn höher, zielt auf den schwarzen Himmel. PAW – die Schallwellen des Schusses wogen über mir in die Nacht.

»Wouw!«, brüllt Tariq und lacht.

»Was zum Henker machst du denn da?«, schreie ich ihn an. Rogarth sieht mich mit einem leeren Blick an und streckt die Hand mit dem Revolver nach den anderen aus.

»Möchtest du lieber, dass ich ihn Firestone gebe?«, fragt er mich auf Englisch.

»J-j-j-j-ja, gi-gi-gi-gib mir den R-R-R-R-Revolver …«, stottert Firestone.

»Wir brauchen das Motorrad«, mischt Tariq sich ein.

»Nein«, sagt Rogarth. »Christian soll sofort auf dem Motorrad verschwinden, möglichst weit weg, damit niemand von uns ins Gefängnis kommt, weil wir ihn gleich umbringen.«

Firestone lacht laut. »J-j-j-ja.«

»Der weiße Junge muss bald sterben«, meint Tariq. Rogarth lächelt ihnen zu, bevor er mich wieder ansieht. Er zieht die Augenbrauen hoch.

»Bist du immer noch hier?«, sagt er zu mir auf Englisch.

Ich antworte nicht.

»Abgang!«, befiehlt Rogarth.

Ich trete den Kickstarter und fahre.

Marcus

DER GRAUE JUNGE

Christian kommt an meine Tür, am frühen Morgen. Er riecht furchtbar und ist dreckig, sehr fahrige Bewegungen. Ich stehe auf der erhöhten Terrasse, Christian unten auf der Erde.

»Es tut mir leid, dass es so zwischen uns gelaufen ist, Marcus. Wirklich, ich brauche deine Hilfe.«

»Was ist das Problem?«

»Die Typen haben … mir meine Sachen geklaut.«

»Ich habe dir sehr oft geholfen, aber du hast mir nie geholfen.«

»Scheiße, Marcus. Wenn du für mich zur Polizei gehen würdest, dann könnten wir meine Sachen zurückbekommen. Wir könnten sie wieder zum Laufen bringen – du und ich. Zusammen. Ich könnte als Beweis einen schriftlichen Vertrag aufsetzen, dass ich dir die Anlage verkauft habe.«

»Du nennst es deine Sachen und vergisst, dass ich das Geld verdient habe, um die Frachtkosten zu bezahlen, also sind es auch meine Sachen. Du hast sie benutzt, und jetzt hast du sie verloren. Und du kannst nicht einmal zur Polizei gehen, denn du hast keine Papiere als Beweis, dass sie dir gehören. Außerdem hast du Probleme mit der Einwanderungsbehörde. Nein. Wir sind nicht zusammen. Wir sind getrennt. Und du bist im falschen Land – meinem Land.«

»Das ist doch nicht dein Land, du Halbschwede.« Er lacht.

»Doch, es ist meins. Ich dachte, ich wäre Schwede, aber das bin ich nicht. Das war nur ein Traum.«

»Verflucht. Um der alten Tage willen, Marcus? Ich bitte dich.«

»Gibst du zu, dass es sich auch um meine Dinge handelt?«

»Hej, natürlich können wir sagen, es sind auch deine Sachen, aber das hilft nichts, wenn sie geklaut sind.«

»Du würdest niemals zugeben, dass du die gesamten Einnahmen des Kopierladens genommen hast, um dafür die Ausrüstung zu kaufen. Und dann hast du mich auf der Stelle aus dem Geschäft getreten.«

»Na ja … Okay, so wie es abgelaufen ist, war es falsch«, sagt Christian.

»Falsch? Ich erinnere mich an die falschen Zöllner, die ich in Dar bezahlen sollte. Währenddessen stand die Anlage bereits bei dir hier in Moshi.«

»Ja, entschuldige.«

Claire kommt mit Redemption auf dem Arm aus dem Wohnzimmer.

»Tsk«, sagt sie, als sie Christian sieht. Sie grüßt ihn nicht.

»Hej, wer ist das?«, fragt er.

»Mein Redemption«, sage ich, als Claire wieder ins Haus geht.

»Guter Name«, sagt Christian. Ich sehe ihn an. Rauche meine Zigarette.

»Also noch mal, wo ist das Problem?«

Christian seufzt: »Die anderen haben die Ausrüstung geklaut.«

»Wer?« Nur eine Wand trennt ihn von einigen Teilen der Anlage, die unter meinem Bett stehen.

»Ich weiß es nicht …«

»Nein, du weißt es nicht. Du verstehst die Wirklichkeit um dich herum nicht. Aber du steckst mittendrin. Du bist jetzt nichts: nicht schwarz, nicht weiß, nur ein grauer Junge. Du kommst hier nur zurecht mit Geld, das du aus Dänemark hast. Und du kommst in deinem Heimatland nicht zurecht, weil dein Gehirn dumm ist wie bei einem unwissenden Neger vom Dorf. Und wenn du hier bist, dann hintergehst du die falschen Menschen, als wärst du noch blinder als der unwissende Neger.« So rede ich mit ihm, wie eine Axt der Wahrheit. Er sagt nichts. »Du hast es auf die leichte Tour probiert, aber der schnelle Weg zum Geld ist in einem Lokus aus Lügen abgesoffen.«

»Hast du irgendwas gehört, Marcus? Ich begreife nicht, was passiert ist?«

»Deine Ausrüstung ist weg«, sage ich. »Aber dich haben sie nicht totgeschlagen. Du hast Glück gehabt.«

»Hast du …?«

»Ja, ich habe dafür gesorgt, dass sie deinen Körper unversehrt gelassen haben. Das gehörte nicht zu ihrem Plan. Aber du bist noch immer ganz – du kannst flüchten.« Eeehhh, er ist schockiert. Jetzt erlebt er, wie es mir ergangen ist, als er mich hintergangen hat: Gemüse in der Sonne schleppen, scheißende Hühner mitten im Haus, und Chemikaliendämpfe von der Batikproduktion einatmen, so dass auch noch die Familie vernichtet wird.

»Ich müsste dich verprügeln, Marcus. Das sollte ich wirklich tun«, sagt er. Und er meint es tatsächlich ernst – möglicherweise macht er es wahr.

»Ja, du stammst aus einer Mörderfamilie. Dein Blut ist voller Bosheit und Hass.«

»Verdammt, wovon redest du überhaupt?«

»Wie ist Jonas gestorben? Was glaubst du wohl?«

Christian schaut mich nur an. »Was ist damals passiert?«, frage ich noch einmal.

»Er ist in der Sauna dehydriert, was hat das mit mir zu tun?«

»Du meinst, der Ofen hätte die ganze Nacht mit dem Brennholz durchgebrannt, das um zehn Uhr abends aufgelegt worden ist?«, frage ich. »Und gleichzeitig springt der Ofen auf und versetzt Jonas einen Schlag, durch den er eine Riesenbeule am Kopf bekommt?« Christian sieht mich verwirrt an.

»Ich weiß nicht, Marcus. Er hat vielleicht noch einmal Holz nachgelegt, weil er schwitzen wollte, und dann ist er über den Ofen gestolpert, weil er total besoffen war.«

»Jonas hat sich mit seiner Frau gestritten, und dein Vater wollte dazwischengehen – du erinnerst dich doch. Und dann geht Jonas – total voll und außerdem total bekifft vom bhangi – in die Sauna, um dort zu schlafen. Weg von seiner Frau, weg vom Lärm der Kinder. Um in Ruhe zu schlafen und morgens nicht den Negersklaven Marcus zu hören, der die Kinder versorgt.«

»Ja, und was dann?«, fragt Christian.

»Und dann brennt der Ofen in der Sauna die ganze Nacht bis zum frühen Morgen – bei fest geschlossener Tür? Wer legt Holz in den Ofen? Wer macht die Beule an seinem Kopf? Er lag auf der Bank, als ich ihn am nächsten Tag fand. Er fällt also und schlägt sich den Kopf, und dann fliegt er wie ein Engel auf die Bank – ist es so?«

»Ich weiß es nicht«, sagt Christian.

»Was weißt du dann?«

»Wovon, verdammt? Ich habe in deinem Ghetto geschlafen.«

»Ja, aber du weißt, dass du geweckt wurdest.«

»Ja, und da warst du schon wach.«

»Ich war wach. Ich war oben im Haus und habe Carlsberg gestohlen.«

»Also warst du es vielleicht, der das Holz nachgelegt und ihn auf den Kopf geschlagen hat. Du hast den Mann doch wie die Pest gehasst«, sagt Christian.

»Und welchen Vorteil hätte ich davon gehabt, Jonas umzubringen?«

»Er konnte dich nicht mehr ausnutzen.«

»Nein, dann ist mein Job nicht mehr sicher, dann verliere ich meine Wohnung und mein Motorrad, auf dem ich herumfahre, mein Essen und mein Carlsberg, dann verliere ich den Kontakt zu meinen schwedischen Pflegetöchtern und meine Chance auf einen Kurs in Schweden, dann verliere ich meine letzten Verbindungen zu meiner schokoladenfarbigen Tochter in Finnland. Dann verliere ich alles und bleibe zurück als ein Neger im Staub.«

»Mir ist Jonas egal, er ist tot.«

»Du machst die Augen nicht auf, Christian. Schau genau hin: Woher kommt der Regen, und auf wen fällt der Regen? Wer erntet die gute Saat?«

»Keine Ahnung.«

»Darum bist du zu dumm, um hier zu leben. Du bist kein Neger. Du bist nicht weiß. Du weißt nicht, wer du bist«, sage ich.

»Das weißt du aber auch nicht.«

»Doch, jetzt weiß ich es. Ich bin der Fremde.«

Christian schaut mich eine Weile an. »Katriina?«, sagt er.

»Sie verliert ihr Heim und ihr Geld, müsste zurück nach Schweden – als alleinstehende Mutter mit zwei Kindern. Kein Königinnenleben mehr in Afrika. Nein, ich glaube, Katriina schläft mit ihren Mädchen in dem großen Bett. Wer könnte Jonas sonst noch geschlagen haben? Wer fehlt noch in dieser Gesellschaft?«

»Ich habe geschlafen, ich weiß es nicht«, sagt Christian. »Jonas ist gestorben – kein großer Verlust. Ich war’s jedenfalls nicht.«

»Ich habe deinen Vater gesehen, wie er dich wecken ging. Was hat er gesagt?«

»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Dass wir aufbrechen sollen?«

»Um sechs Uhr morgens müsst ihr los, obwohl du schläfst. Obwohl er noch so besoffen ist, dass der Land Rover im Garten Bäume fällt, als er ihn wendet. Obwohl es im Wohnzimmer ein Sofa gibt, auf dem er schlafen kann. Was hat er noch gesagt?«, frage ich. Christian weiß es.

»Ich weiß es nicht«, antwortet er.

»Du glaubst, ich würde die dänische Sprache nicht verstehen? Rebekka hat mich in der Sprache zu einem Schweden gemacht. Ich kann mein Nachbarland verstehen, alles.«

»Was hat er denn gesagt?«

»›Wir sollten nicht hier sein, wenn es Morgen wird.‹«

»Das ist doch klar. Er wurde in die ganzen Streitereien zwischen Jonas und Katriina hineingezogen. Jonas ist sauer auf ihn. Er will nicht mit einem Kater auf ihrem Sofa aufwachen und sich wieder Jonas’ Stänkereien anhören, dass meine Mutter ihn verlassen hat.«

»Ja, dein Vater ist darin verwickelt. Katriina hat auch ihn darin verwickelt – komplett«, sage ich mit einer hässlichen Bewegung meines Arms und des Unterleibs.

Christian sagt keinen Ton.

»Noch bevor Jonas starb, gab es gewisse Aktivitäten zwischen Katriina und deinem Vater.«

Christian sagt noch immer nichts.

»Du gehst als Schlafwandler durchs Leben. Du bist ein Fremder. Du bist verkehrt hier. Und jetzt musst du von hier verschwinden.«

»Wohin?«

»Fort.«

»Ach, Mann, hör auf. Ich hab nicht mal Geld fürs Benzin«, sagt Christian. Ich stehe auf, grabe in meiner Hosentasche und ziehe ein paar Geldscheine heraus, genug für Benzin und Essen bis nach Shinyanga, lege sie auf den Sitz des Stuhls, nehme meinen Kaffeebecher, gehe ins Haus und schließe die Tür. Einen Augenblick später wird das Motorrad angelassen. Ich öffne die Tür. Der Sitz des Stuhls ist leer.

Christian

Fahre aus Moshi heraus. Die Uru Road. Weiter westlich in Richtung Arusha. Der Flughafen liegt unten in der Steppe. Ich habe kein Geld für ein Ticket. Halte an einem Kiosk am Straßenrand, trinke eine lauwarme Cola und starre auf den Berg, der klein hinter mir aussieht. Als ich mich Arusha nähere, wird mir schwindelig. Meine Glieder sind steif wie Holz. Ich drossele das Tempo. Kann nicht zur Mountain Lodge fahren. Sofie würde mir ein Bett geben, glaube ich zumindest. Aber Mick? Er will mich nicht mehr sehen, und ich ertrage es nicht, ihn zu sehen. Er hatte recht. Ich suche mir ein Guesthouse. Schiebe das Motorrad hinein. Liege auf dem Bett. Starre an die Decke. Zittere. Schlafe unruhig. Wache im Lauf des Nachmittags mehrfach auf. Als es dunkel zu werden beginnt, gehe ich hinaus. Finde eine Garküche unter einem Baum. Esse Maisgrütze und Bohnen. Muss sparen. Ich habe genügend Geld für die Fahrt, aber in der Serengeti kann das Benzin teuer werden. Trinke Tee mit Milch und Rohrzucker. Gehe zurück ins Guesthouse.

Würde gern trinken, aber das darf ich nicht. Habe Lust, einen Joint zu rauchen, kaue khat. Dieser ganze Scheiß war Teil meiner Zerstörung. Ich liege auf dem Bett. Der Brand im Liberty … ich schlucke meine schleimige Spucke. Sie haben den Nachtwächter des Liberty nicht unter Eid genommen. Versicherungsschwindel. Der Besitzer des Liberty könnte meine Anlage versichert haben, obwohl sie ihm nicht gehörte. Ein bisschen den Versicherungsvertreter bestochen, und es ist geritzt. Möglicherweise mithilfe der Unterlagen aus meiner Transportkiste – sie weisen den Wert in Dollar aus, zumindest für die Teile, die ich seinerzeit über die Kirche ins Land geholt habe; außerdem den Wert des Plattenspielers und der Lichtanlage, die ich bei meinem Besuch aus Dänemark mitgebracht hatte. Die afrikanischen Methoden des Überlebens sind vielfältig. In der Kiste liegt auch das Papier, auf dem ich die Anlage Rogarth übertragen habe. Um vorbereitet zu sein und eventuelle Angriffe der Behörden wegen der fehlenden Arbeitserlaubnis abzuwehren. Wieso habe ich Rogarths Absichten nicht durchschaut? Dass er mich im Stich lassen würde? Ich habe mir mein eigenes Grab geschaufelt. Und der Brand: ein neues Liberty statt der alten Lagerhalle. Wer hat das organisiert? Rogarth ist nicht schlau genug, sonst hätte er es längst getan. Und Abdullah besteht nur aus Muskeln. Tariq ist lediglich ein großer Junge. Nein – das war der originale Garvey Dread: Marcus Kamoti.

Dunkelheit. Erwache aus meinem Halbschlaf. Mein Körper juckt. Ich kann mich selbst und die Matratze riechen, die Insekten, die ich im Schlaf zerquetscht habe. Stehe in der Dunkelheit auf. Finde den Lichtschalter. Es gibt keinen Strom. Ziehe die Gardinen zur Seite. Schwaches graues Licht dringt ins Zimmer. Montagmorgen. Ich werde von den Einwanderungsbeamten in Moshi erwartet. Rasch ziehe ich mich an, gehe hinaus, lege die Zimmerschlüssel auf den Tresen, neben den wolligen Kopf des Rezeptionisten, den er auf die Arme gelegt hat. Er schnarcht leise. Gehe zurück ins Zimmer und schiebe das Motorrad hinaus auf die Straße. Öffne den Tank und schüttele ihn. Ich muss an der letzten Tankstelle vor der Serengeti tanken. Dort wissen sie, ob man im Park Benzin bekommt. Sonst muss ich einen Kanister kaufen und hinten draufschnallen. Ich trete den Kickstarter. Fahre in das graue Licht. Friere wie ein junger Hund. Die Sonne geht auf, als ich den Stadtrand von Arusha erreiche. Halte an einem Café am Straßenrand. Esse Chapati, ein hart gekochtes Ei und trinke Tee mit Milch und Rohrzucker, bis ich das Gefühl eines vollen Magens habe. Denke an Marcus und mich auf dem Motorrad zum West-Kilimandscharo. Die gleiche Kälte, die gleiche Diät. Ich werde den Berg vermissen. Verlasse die Stadt und fahre durch Massailand zur Serengeti. Hier hat es geregnet. Die Asphaltstraße schlängelt sich durch weiche grüne, grasbedeckte Hügel. Tanke in Karatu und esse ein paar schlappe Sandwichs. Werde registriert und bezahle am Lodware Gate. Fahre direkt an Ngorongoro vorbei, ohne anzuhalten, um Seronera zu erreichen, bevor es zu spät wird. Schaffe es. Trocken und staubig. Ein deutscher Student, der an seiner Doktorarbeit werkelt, lässt mich auf dem Fußboden seines Zimmers in der Jugendherberge übernachten. Ich bekomme etwas zu essen. Ein Bad. Schüttele den Staub aus meinen Sachen und wasche das T-Shirt mit Seife, weil es stinkt. Tanke am nächsten Morgen an der Lodge. Der Fahrer einer Safarigesellschaft erzählt mir, die Straße durch den Westkorridor sei noch immer befahrbar, da es kaum geregnet hat. Fahre in aller Ruhe durch die heiße Steppe. Durch das Ndabaka Gate hinaus, Mittagessen in Lamadai. In Ngudu verbringe ich eine schlaflose Nacht in einem Guesthouse mit Wanzen. Starte früh am nächsten Morgen. Erreiche die sich weit erstreckenden Baumwollfelder um Shinyanga. Bin dehydriert. Grau. Ich halte im Stadtzentrum. Frage einen Mann nach dem Weg zum ushirika-Hauptbüro, der Baumwollunion, für die Vater arbeitet. Ich finde das Gebäude. Frage nach bwana Knudsen. Bekomme ein Büro gezeigt. Klopfe an die Tür.

»Yes, enter«, ruft er. Ich öffne die Tür.

»Hej, Vater«, sage ich.

Fast vierundzwanzig Stunden geschlafen, und die Welt sieht so aus, als wäre die Schwerkraft aufgehoben. Katriina sagt nichts. Ich lese Rebekka vor, die eine Missionsschule etwas außerhalb der Stadt besucht. Sie wird von Nonnen und Mönchen unterrichtet. Am kommenden Nachmittag holt Vater mich im Haus ab. Wir fahren aus der Stadt. Vielleicht will er mit mir reden. Aber er sagt nichts.

»Und wie läuft’s mit der Arbeit?«, frage ich ihn. Vater seufzt. Die Baumwollunion ist der wichtigste Arbeitgeber der Umgebung. Er muss deren neues Abrechnungssystem programmieren und ihnen beibringen, einen Computer zu benutzen. Aber es gibt nicht viel Unterstützung.

Wir fahren durch endlose Baumwollfelder. Vater zeigt auf drei große Lagerhäuser aus Holz, die zwischen den Feldern stehen. Zwei sind fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Die Abrechnungen belegen, dass diese beiden Lagerhäuser voller Baumwolle waren, aber man hatte alles schwarz an private Aufkäufer verkauft. Alle wussten es, aber damit die Buchhaltung stimmt, meinten die Chefs offenbar, die Gebäude niederbrennen zu müssen.«

»Damit die Baumwolle verschwunden ist?«

»Ja, angeblich aufgegangen in Flammen. Im nächsten Jahr wird es umso schwieriger; ein leeres Lager unter freiem Himmel ist nicht dasselbe wie ein Gebäude.«

Ich sage nichts.

»Die ganze Scheiße wird ohnehin pleite gehen«, fährt Vater fort. »Die kleinen Bauern verlieren ihr Geld, während die Chefs sich neue Häuser bauen.«

»Verrückt.«

»Ja, total. Ich bin jetzt zehn Jahre hier, und alles, was ich anfasse, zerfällt zu Staub.« Ich teile diese Erfahrung. Allerdings wird Vater gut dafür bezahlt, mit seiner Arbeit Staub zu produzieren. Der Ablass der westlichen Welt, aber wofür? Niemand will für den Staub bezahlen, den ich verursacht habe.

»Wieso bleibst du noch hier?«

»Ich weiß nicht«, erwidert er und lacht kurz auf. »Hier ist es schön. Und es gibt durchaus auch Einzelne, die etwas von mir lernen und so schnell wie möglich in die Privatwirtschaft wechseln, damit sie Geld verdienen.«

Vater ist etwas dicker geworden. Er wirkt entspannt. Diese lästige Frau ist weit weg – meine Mutter. Jetzt fällt der Regen auf Katriina, die einfache Frau, die dankbar ist und richtige Kinder hat – besser als seine eigenen, von denen eins tot und das andere ein noch hoffnungsloserer Fall ist.

Wir essen. Die Unterhaltung vermeidet peinlich genau sämtliche Minenfelder. Alle wissen etwas übereinander, und Schweigen ist die sicherste Strategie. Ich helfe Rebekka bei den Hausaufgaben. Katriina backt in der Küche Brot. Vater programmiert ein löchriges Buchhaltungsprogramm.

Vater geht früh zu Bett. Er muss morgen zu einer Sitzung in Mwanza und will sich nach einem Transport für mich umhören. Einem Transport nach Dänemark in irgendeiner Form. Ich sitze im Wohnzimmer und lese. Katriina kommt aus der Küche. Reicht mir einen großen Gin Tonic. Setzt sich.

»Was willst du jetzt machen?«, erkundigt sie sich. »Also in Dänemark?« Ich grinse.

»Leben und sterben.«

»Wo?«

»In meinem Fleisch. Wo sonst?«

»Ja, ja«, sagt sie. »Aber wovon willst du leben? Willst du zur Schule gehen?«

»Keine Ahnung«, antworte ich und sehe sie an. Und stelle die Frage: »Ich würde gern wissen, wie Jonas gestorben ist.«

Katriina sagt, sie hätte versucht, ihn zu wecken, sie hätte versucht, ihn auf die Beine zu stellen und ins Bett zu bringen, aber er wäre über den Saunaofen gestolpert und hätte sich den Kopf aufgeschlagen.

»Wieso wolltest du ihn ins Haus bringen?«

»Solja und Rebekka sollten ihn nicht da draußen finden, wenn sie wach würden.«

»Und das soll ich glauben?«

»Das ist die Wahrheit«, behauptet Katriina.

»Ich denke, du hast ihm eins übergezogen.«

»Nein«, widerspricht Katriina.

»Was sonst?«

»Ich habe ihn auf die Beine gestellt, und dann hat er versucht … mich zu nehmen. Ich habe ihn weggeschubst, er stolperte, fiel über den Ofen und verletzte sich am Hinterkopf.«

»Warum hast du keinen Arzt gerufen?«

»Wieso?«

»Er war schließlich dein Mann.«

»Nicht sehr lange«, sagt Katriina.

»Du hast zusätzliches Holz in den Ofen gelegt. Das hat Marcus mir erzählt.«

»Um ihn zu dehydrieren, damit er richtig krank wird.«

»Und dann ist er gestorben?«

»Er ist dehydriert.«

»Nein«, sage ich. »Das war nicht alles. Er ist mit dem Kopf aufgeschlagen.«

»Vielleicht ist er gefallen.«

»Ich möchte wissen, was passiert ist«, wiederhole ich.

»Das ist egal«, erwidert Katriina.

»Nicht für mich.«

»Es war nicht dein Vater.«

»Vielleicht war es Marcus?« Ich sehe sie einfach nur an. Sie schaut aus dem Fenster in die dunkle Nacht, ihr Blick ist fern: »Ich bin nach draußen gegangen, um nach ihm zu sehen. Nach Jonas. Er hatte sich in den Schlaf gesoffen und lag auf einer der Bänke vor der Sauna. Dann habe ich noch eine Portion Holz aufgelegt und ihn in die Sauna gezogen.«

»Hat mein Vater dabei geholfen?«

»Nein, er weiß nichts davon. Ich wollte ihn wecken, um mir helfen zu lassen. Aber ich habe es nicht getan.«

»Dir dabei zu helfen, Jonas hineinzutragen?«

»Ja.«

»Ins Haus?«

»Nein, in die Sauna.«

»Lag er denn nicht schon in der Sauna?«

»Nein«, sagt sie. »Er lag auf einer der Bänke davor.«

»Wie hast du ihn hereinbekommen?«

»Jemand anders hat mir geholfen.«

»Marcus?«

»Ja.«

»Wusste er, dass du Jonas töten könntest, wenn du ihn dehydrierst?«

»Vielleicht … ich glaube schon. Aber ich habe nur zu ihm gesagt, ich will Jonas nicht im Haus haben.«

»Und er ist nicht aufgewacht?«

»Nein.«

»Und dann habt ihr seinen Kopf an den Ofen geschlagen?«

»Nein. Wir haben ihn auf die Bank gelegt, und ich habe zu Marcus gesagt, er soll dich wecken. Und als Marcus gegangen war, habe ich Jonas mit einem Stein auf den Hinterkopf geschlagen.«

»Mit einem Stein?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich es nicht mehr mit ihm ertrug. Und weil ich davon ausging, dass die Rechtsmediziner hier unten nicht sonderlich viel können.«

»Und dann hast du meinen Vater geweckt?«

»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass ihr besser aufbrechen solltet.«

»Weiß Vater, was du getan hast?« Katriina lächelt.

»Nein«, sagt sie.

»Glaubst du, es würde ihm gefallen, wenn er erfährt, dass du deinen Mann umgebracht hast?«

»Dein Vater ist jetzt mein Mann.«

»Trotzdem.«

»Ich glaube, er ist froh darüber, obwohl er es nicht weiß.«

»Wirklich froh?«

»Ich bin schwanger«, sagt sie und lächelt.

Shinyanga ist eine große Stadt mit Einfamilienhäusern, in der nichts los ist. Kein Kino, kein Club, zwei Restaurants, keine Diskotheken. Hier gibt es so gut wie keine Weißen – weniger als zehn innerhalb der Stadtgrenzen –, sodass mich sämtliche Einwohner anstarren, wenn ich in der Stadt herumlaufe. Ich fahre Rebekka morgens auf dem Motorrad zur Missionsschule.

Ich fahre auf dem Motorrad lange Touren durch die Baumwollfelder. Bultaco 350cc. Ich liebe diese Maschine. Vater sagt, ich soll sie stehen lassen, für Solja. Das ist in Ordnung, sie wird sich darüber freuen.

Die Gegend ist unglaublich arm. Alte Menschen werden der Hexerei beschuldigt und aus ihren Dörfern vertrieben, damit ihre Familien sie nicht mehr ernähren müssen – es gibt nicht genug zu essen. Die Alten schlafen unter den Bäumen in der Landschaft, verhungern.

Samstagabend. Katriina hat ein französisches Ehepaar zum Abendessen eingeladen. Ärzte. Sie arbeiten im Krankenhaus von Shinyanga.

»Wir ertrinken in Aids-Patienten«, erzählt der Mann, Laurent.

»Und elternlosen Kindern, die bei den Großeltern leben und allesamt unterernährt sind«, ergänzt Odile. Ich habe die Kinder in den Dörfern gesehen – aufgeblähte Bäuche, graue Haut und rötliches Haar.

»Wie konnte es so schlimm kommen?«, fragt Katriina. Laurent schüttelt den Kopf.

»Wenn du dir die Landkarte ansiehst, ist es einfach. Die Krankheit beginnt irgendwo im Kongo und wird entlang der Hauptstraßen von Lastwagenfahrern verbreitet, die sich Sex kaufen. Und Lehrern, die zu Konferenzen in andere Städte reisen und sich ebenfalls Sex kaufen. Hinterher kommen sie zurück und vögeln ihre Frauen und die Schülerinnen, die gute Noten wollen. Und wenn die Lehrer das nächste Mal verreist sind, vögeln ihre Frauen mit anderen Männern, und die Schüler untereinander. Es gibt kein Fernsehen in Tansania«, sagt er und grinst resignierend.

»Aber sie könnten sich schützen«, wendet Katriina ein.

»Afrikanische Männer lehnen das Kondom ab«, sagt Odile.

»Dazu kommen die Vergewaltigungen«, ergänzt Laurent.

»Was für Vergewaltigungen?«, fragt Vater.

»Wenn ein afrikanischer Mann erfährt, dass er HIV-positiv ist, erzählt ihm der Hexendoktor, er soll mit einer Jungfrau schlafen, denn sie würde ihn von der Krankheit heilen. Ich kenne Beispiele, bei denen ein Aids-infizierter Mann nach Hause gegangen ist und seine zehn-, zwölfjährigen Töchter vergewaltigte, um gesund zu werden.«

»Jetzt haben die tansanischen Ärzte ein Verbot erlassen, den Leuten zu erzählen, dass sie positiv sind. Denn als eine der üblichen Reaktionen versuchen die Männer, mit so vielen Frauen wie möglich Sex zu haben, um sie mit ins Grab zu nehmen«, sagt Odile.

»Aber man muss es ihnen doch sagen, wenn sie … ansteckend, gefährlich sind«, meint Katriina.

»Aber die afrikanischen Ärzte haben recht«, erwidert Odile.

»Womit haben sie recht?«, fragt Katriina.

»Du erzählst einem afrikanischen Mann, er sei HIV-positiv, er werde Aids bekommen und sterben. Und bis dahin soll er ein Kondom benutzen, sonst steckt er andere an. Also geht er sofort los und vögelt mit allen, die nicht rechtzeitig auf die Bäume flüchten, um sie mit sich zu reißen. Das ist eine psychologische Reaktion, die wir nicht begreifen. Aber wir sehen, wie es ständig passiert«, berichtet Odile und schüttelt den Kopf.

»Aber sind die Leute wirklich so promisk?«, wirft Vater ein.

»Ja«, antwortet Odile. »Hier in der Gegend wird gearbeitet, wenn man sät oder erntet. Die übrige Zeit gibt es nichts zu tun.«

Ich denke an Marcus und Claire.

»Was ist, wenn du einen Säugling hast, der an Aids stirbt, und sowohl die Mutter wie der Vater sind positiv … würdest du die Todesursache vor den Eltern geheim halten, weil du damit rechnest, dass der Mann die Krankheit sofort weiterverbreiten wird?«, frage ich.

»Ich sage einem afrikanischen Mann nie, dass er HIV-positiv ist. Das Risiko würde ich nicht eingehen«, erwidert Odile.

»Ihr teilt es also niemals mit, wenn ihr einen Mann getestet habt und er positiv ist?«

»Nein«, antwortet Odile. »Denn was wäre, wenn man es ihnen sagen würde? Kondome sind nicht aufzutreiben.«

»Verzicht auf Sex«, schlägt Vater vor.

»In Afrika«, lacht sie. »Was für ein Vergnügen hätten sie dann noch?« Nicht sie. Wir. Vater schaut Katriina an. Sie hat mit Jonas geschlafen, der alles vögelte, was sich bewegte. Und Vater hat mit ihr ohne Kondom geschlafen, sonst wäre sie nicht schwanger. Ich sehe Katriina an, die wiederum Vater ansieht. Die Blicke flackern hin und her. Ich denke an Ibrahims Malaria, Marcus’ und Claires kleine ausgemergelte Rebekka, Tita, die sich von Marcus hat vögeln lassen, an meine Mutter, die auf der TPC nach dem Schlangenbiss das Blut aus der Wunde des Gärtners saugte. Aber vor allem blicke ich auf meine Hände, auf denen ein paar Blutadern hervortreten. Wir wurden getestet, Rachel und ich – und der Arzt hat gesagt, es sei alles in Ordnung. Es scheint, als würde allen rund um den Tisch der Atem stocken. Es dauert nur einen Moment, dann ist wieder alles unter Kontrolle – äußerlich. Das Blut fließt unsichtbar in den Adern, und niemand weiß, welche Geheimnisse es in sich trägt.

Vater tut, was er kann, um mir ein Flugticket zu beschaffen. Er würde mich sehr gern zurück nach Dänemark schicken. Es wird schwer sein, sich dort in einem Leben zurechtzufinden, aber hier ist es unmöglich.

Vater hat genügend Travellerschecks und Dollar, um ein Ticket der KLM von Nairobi nach Rom zu kaufen, wo die Maschine zwischenlandet. Aber er hat nicht genug, um mich bis nach Amsterdam zu schicken. Er selbst will mich die knapp fünfhundert Kilometer nach Norden bis zum Grenzübergang bei Nyabikaye östlich des Victoriasees fahren. Von dort kann ich einen Bus nach Nairobi nehmen.

»Ich komme bei der Bank in Dänemark nicht durch, um sie zu bitten, dem Reisebüro in Nairobi Geld zu überweisen; dieses Ticket ist das Beste, was das Reisebüro in Mwanza auftreiben konnte«, erklärt er nach einem langen Tag am Telefon.

»Das ist total cool. Es ist okay.«

»Gut«, erwidert Vater. »Ich habe genügend Kenia-Schillinge, damit du dir ein Busticket nach Nairobi kaufen kannst. Und noch ein bisschen mehr. Außerdem kann ich dir hundert Dollar geben. Du musst von Rom aus per Anhalter oder mit dem Zug weiterkommen. Glaubst du, du schaffst das?«

»Ja.«

»Hier«, sagt er und gibt mir einen Zettel. Ich schaue drauf. Es ist Mutters Adresse in Genf. Ich stecke ihn in die Tasche. »Sie würde dich gern sehen, wenn du dich anständig benimmst.« Ich schaue aus dem Fenster und spüre, dass er mich noch immer ansieht. »Die Dinge passieren«, sagt er. Die Weisheit tropft nur so aus ihm heraus.

Vater setzt mich zwei Tage vor dem Abflugtermin an der Grenze ab. So habe ich Zeit genug für afrikanische Komplikationen auf dem Weg nach Nairobi. Wir umarmen uns.

»Pass auf dich auf, Christian.«

»Ebenso. Viel Glück.«

»Schreib«, sagt er.

»Werde ich tun.« Ich lasse ihn los und gehe auf den Grenzposten zu, ziehe meinen Pass aus der Tasche. Alle Stempel sind in Ordnung, gekauft und bezahlt in Moshi. Es geht ein Nachtbus nach Nairobi. Ich werde morgen Vormittag im Jomo Kenyatta Flughafen sein und habe gut zweiunddreißig Stunden totzuschlagen, bevor die Maschine abhebt. Ich habe ein paar Steine im Schuh; unter den Socken, zwischen den Zehen, rohes Tansanit. Damit ich sie nicht verliere, sollte meine Tasche gestohlen werden.

Im Bus bekomme ich einen Fensterplatz und sitze eingeklemmt zwischen der Karosserie und den dicken Schenkeln einer älteren mama. Der Bus ist okay, außerdem habe ich so etwas schon mal gemacht – ich weiß also, dass man möglichst nichts trinken sollte, da keine Pinkelpausen gemacht werden. Ich nicke ein wenig ein, kann aber nicht wirklich schlafen. Rauche Zigaretten, während die mama leise neben mir schnarcht. Die Tasche steht zwischen meinen Füßen. Ich habe einen nicht entwickelten Film, auf dem Rachel lächelt und Schenkel zeigt. Und die kleine Halima Fußball spielt, auf dem Motorrad sitzt, und über das ganze Gesicht Maisgrütze verschmiert hat. Ich schaue in die Morgendämmerung, während die Reifen auf dem Asphalt singen. Die Landschaft ist verschleiert, ich habe Tränen in den Augen.

»Pole«, sagt die Mama neben mir.

»Asante«, erwidere ich.

Marcus

STAUBGEBOREN

Ich trinke meinen Morgenkaffee auf der Veranda und schaue auf das staubige Wohnquartier, mein Kiosk steht schief. Mir geht durch den Kopf, dass ich eines Tages von meinen eigenen Kindern gefragt werde: »Wieso bist du besoffen?« Ich habe immer geglaubt, sie würden Angst vor mir haben, so dass ich mich diesem miesen Gefühl total entziehen kann. Und nicht damit belästigt werde. Aber es kommt der Zeitpunkt, wo sie mich fragen werden. Es ist hart: Das Schreckenssystem wiederholt sich. Und ich bin so gut wie am Ende, ohne Benzin, ich fahre nur noch mit Dampf und folge meiner Spur durchs Leben: abwärts, denn was kann ich tun? Claire kann ich nicht im Stich lassen. Sie kommt nicht allein mit Redemption zurecht. Er soll auch mein werden. Er ist mein. Aber wird es eine Wiederauferstehung? Wird er wie ich? Eine Pflanze, die welkt, während sie wächst? Wenn er groß ist und dieses Heim verlässt, ist es Zeit für mich zu sterben – dann habe ich meine katastrophale Aufgabe auf der Erde erfüllt und kann wieder zu Staub werden.

»Komm und nimm Redemption«, ruft Claire aus dem Haus. Sie muss ihr Haar richten und sich schminken, bevor sie zur Arbeit in die Princess-Boutique geht. Und das Hausmädchen steht während meiner Kaffeepause im Kiosk. »Jetzt komm schon und nimm ihn«, ruft sie noch einmal.

»Maku, Maku«, juchzt er. Vielleicht sollte ich den zarten Sound der guten Maschine in meinem Haus anstellen. Ich suche einen Mann, der sie mir abkauft – ich bin fertig mit den Discoträumen. Aber Redemption soll tanzen. Ich lege eine LP auf. Redemption lächelt mich an, ich nehme ihn auf den Arm und gehe hinaus. Stelle ihn auf die Veranda, nehme meinen Kaffee und setze mich auf den Stuhl. Redemption hüpft auf seinen pummeligen Beinen, während Bob den Song singt: »Emancipate yourselves from mental slavery. None but ourselves can free our minds

Claire kommt heraus. »Du sollst das Kind nicht mit dieser Musik verrückt machen«, sagt sie. »Diese Musik führt nur zu Katastrophen.« Ich hebe die Hand und streichele Claires Rücken. Sie lächelt dem tanzenden Redemption zu. Es ist der Song für das Kind. Redemption wird Katastrophen verursachen. Ich hoffe, sie werden gut für ihn ausgehen.

Christian

Ich esse ein paar Chapati an der Busstation in Nairobi, trinke Tee dazu. Kaufe Bananen, geröstete Erdnüsse und eine Flasche Wasser. Esse ein hart gekochtes Ei. Nehme ein matatu zum Flughafen.

Ich gehe auf die Toilette. Öffne meine Tasche und nehme eine kleine Pappschachtel mit Muschelschalen und Korallen heraus, die ich mit Halima am Strand vor Tanga gesammelt habe. Wir haben die Schachtel meinem Vater geschenkt, ich habe sie aus dem Regal in Shinyanga mitgenommen. Die kleine Halima. Rachel. Ich muss schlucken. Rasch lege ich die Tansanit-Steine dazu, stecke die Schachtel wieder in die Tasche und ziehe den Reißverschluss zu.

Gehe umher und rauche. Bin hungrig, habe aber kaum noch Kenia-Schillinge und will meine Dollar nicht verschwenden. Nehme eine kenianische Zeitung vom Tisch. »Stammeskrieg in Europa« lautet eine der Überschriften auf den Auslandsseiten. Jugoslawien steht in Flammen – Vergewaltigungen, ethnische Säuberungen, Flüchtlingsströme –, die kenianischen Journalisten haben sich sicher amüsiert, als sie die Überschrift formulierten. Endlich konnten sie die Schaufel unter uns ansetzen – wir sind alle: Barbaren.

Ich würde gern in die Abflughalle kommen, aber bis zum Check-in des Flugs, für den ich ein Ticket habe, dauert es noch mehr als einen ganzen Tag. Aber die KLM öffnet einen Check-in-Schalter für eine frühere Maschine, die über Athen nach Amsterdam fliegt.

»Können Sie mich nicht reinlassen?« Ich halte meine abgewetzte Diadora-Tasche hoch; alles, was ich besitze. »Ich hab nur diese Tasche dabei, nur Handgepäck.« Die blasse Holländerin schaut mich an. Ich bin dreckig, rieche, und mein Magen grummelt – ein erbärmlicher Anblick. Mir ist die Situation absolut klar: Sie hält es für ungehörig, dass ein Mitglied ihrer Rasse sich in einer derartigen Verfassung befindet. Aber an genau dieses Gefühl versuche ich, bei ihr zu appellieren.

»Okay«, sagt sie und stempelt mein Ticket. Ich gehe in die Abflughalle. Ich habe zu wenig Geld. Im Flugzeug wird es etwas zu essen geben. In gut vierundzwanzig Stunden.

Die Kenianer kriegen durchaus etwas hin. Auf der Toilette gibt es Seife und Papier. Ich ziehe mein Black-Uhuru-T-Shirt aus, wasche Haar, Hals und Armbeugen im Waschbecken und trockne mich mit Toilettenpapier ab. Feuchte das T-Shirt im Waschbecken an und schmiere ein bisschen Seife an einen Zipfel. Mein Unterleib juckt. Ich gehe in eine der Kabinen, schließe die Tür und lasse die Hose herunter. Benutze den eingeseiften Zipfel des T-Shirts, um meinen Unterleib zu waschen, und die andere Hälfte des Hemdes, um die Seife wieder abzuwischen. Mir ist schwindlig vor Hunger. Bekomme nicht alle Seife ab. Ziehe die Hose hoch. Gehe mit nacktem Oberkörper zum Waschbecken und spüle das stinkende T-Shirt aus. Gehe wieder in die Kabine, lasse die Hose fallen und versuche, die restliche Seife abzuwischen. Black Uhuru ist vom Schweiß meines Hinterns verschmiert – ich denke nicht darüber nach, wie sich diese Symbolik erklären ließe. Saubere, frisch gebügelte Altmännerunterhosen mit Eingriff aus dem Schrank meines Vaters in Shinyanga. Es gibt keinen Abfalleimer, daher werfe ich das T-Shirt hinter die Toilette. Trete wieder ans Waschbecken und ziehe die Turnschuhe aus. Wasche meine Füße im Waschbecken. Ein Afrikaner in untadeligem Anzug kommt zur Tür herein. Er würdigt mich keines Blickes und geht in die Kabine, in der ich mein T-Shirt gelassen habe. Die Socken liegen auf dem Boden unter dem Waschbecken. Sie stinken. Ich trete sie in eine Ecke, lasse sie liegen. Saubere Socken, sauberes T-Shirt – beides von meinem Vater –, die letzten Klamotten, die ich besitze, denn aus Moshi habe ich nichts mitgebracht. Putze mir lange die Zähne. Es wird nicht besser. Gehe hinaus auf die langen, mit Linoleum belegten Gänge; der würzige Duft der äthiopischen, somalischen und kenianischen Frauen. Überlege, ob ich im Tax-Free-Laden ein Deodorant benutzen sollte, aber wenn sie mich erwischen, werden sie mich zwingen, es zu bezahlen. Kaufe ein Päckchen Marlboro. Fühle mich vor Hunger geradezu leicht im Kopf. Die Zigaretten schmecken unglaublich gut. Vielleicht könnte ich in einem Restaurant Teller waschen? Dann könnte ich etwas zu essen bekommen, eine warme Mahlzeit. Sind derartige Gedanken ein gutes Zeichen, oder bekomme ich allmählich einen Nervenzusammenbruch? Ich überlege, was sich innerhalb meiner Reichweite befindet. Im Bistro hinterlassen die Leute Berge von Essensresten auf ihren Tellern, aber ich bringe es nicht fertig, es mir zu nehmen und aufzuessen. Ich habe gerade noch genügend Kenia-Schillinge für eine Tasse Tee. Es ist viel los. Ich bezahle den Tee und trage ihn zu einem Tisch, auf dem zwei Plastiktabletts stehen. Auf beiden hinterlassene Fritten. Ohne mich umzusehen, ob jemand zuschaut, schütte ich die Pommes frites auf einen Teller, gieße eine Extraportion Ketchup und Salz darüber, und schaufele eine Unmenge Zucker in den Tee. Ich verzehre die Mahlzeit und kaue langsam. Die Nahrung soll vorhalten.

Ich werde fast ohnmächtig, als ich den Finger hinunter zum Flugsteig gehe. »Entschuldigung«, sage ich zu einer Stewardess mit kastanienbraunem Haar und vollen Brüsten, »ich glaube, ich werde gleich ohnmächtig. Könnte ich ein Wasser oder so etwas bekommen …?«

»Ja, natürlich«, antwortet sie und geht in die Pantry. »Leiden Sie unter Flugangst?«

»Ja«, sage ich.

»Möchten Sie ein paar Nüsse dazu?«

»Ja, danke.« Sie gibt mir eine Tüte Salzmandeln und ein 7Up. Ich gehe zu meinem Platz. Die Mandeln sind fantastisch. Ich zwinge mich, jede einzelne Mandel lange zu kauen und nur kleine Schlucke zu trinken. Die Nahrungsstoffe schießen mir in die Blutbahn.

Endlich heben wir ab. Leb wohl, Afrika. Heiß und verschlagen. Wenn ich aufhöre zu denken, wird es schon gehen. Schlafe ein. Träume …

»Stopp!« Was? Ich? Die Stewardess beugt sich zu mir hinunter und hält mich an beiden Schultern.

»Sie träumen«, sagt sie.

»Was ist?« Ich könnte heulen. In dem Traum gab es weiß, schwarz, rot und grau.

»Ich weiß es nicht«, erwidert sie mit einem kleinen Lächeln. »Sie haben geschrien.«

»Entschuldigung.« Der feine Duft, die gestärkte Uniform und die hübsche Figur richten sich wieder auf.

»Das macht nichts. Es ist vermutlich Ihre Flugangst. Möchten Sie etwas zu trinken?«

»Ja, danke.«

»7Up?« Ich nicke. Wünschte, sie würde noch immer meine Schultern halten. Was erzählen Träume? Schwarz hat eine besondere Bedeutung für mich.

Wir erreichen Italien. Ich wühle in meinen Taschen. Ich habe siebenundneunzig Dollar. Und einen Zettel. Ich falte ihn auseinander: Mutters Adresse. Stecke ihn wieder in die Tasche. Meine Tansanit-Steine in der Reisetasche. Es gibt natürlich eine dänische Botschaft in Rom, aber was nützt das schon? Wenn die mich überprüfen, werde ich möglicherweise aufgefordert, sofort nach Hause zurückzukehren, um mich dort einer Anklage wegen Sozialbetrugs zu stellen. Außerdem habe ich gehört, dass sie die Leute nicht mehr so einfach bei der Heimreise unterstützen. Kann eine Verurteilung wegen Sozialbetrugs im offenen Vollzug mit Billard, Fernsehen und Verpflegung abgesessen werden?

Es gibt etwas zu essen. Der Platz ist eng in der Holzklasse. Vorsichtig packe ich die kleinen Portionen aus. Esse jeden Krümel. Ich klingele nach der Stewardess. Es ist dieselbe.

»Könnte ich noch eine Portion bekommen? Ich habe großen Hunger.« Sie nimmt mein Tablett.

»Ich werde mal nachsehen, ob wir noch etwas haben.« Mein Nachbar tut so, als hätte er nichts bemerkt. Vor allem, als ich ein neues Tablett bekomme und mir die Sandwichs in die Tasche stopfe. Siebenundneunzig Dollar. Rom – Aalborg. Wir landen. Die Passagiere nach Rom steigen aus. Eine blonde Stewardess geht langsam durch den Mittelgang und zählt die Passagiere. Kurz darauf kommt über die Lautsprecheranlage die Ansage: »Any more passengers for Rome should please leave the aircraft.« Alle schauen sich gegenseitig an, zucken die Achseln und schütteln die Köpfe. Mein Nachbar sieht mich an.

»Rom?«, fragt er.

»Nein, ich will nicht nach Rom«, erwidere ich. Die blonde Stewardess fängt noch einmal an zu zählen, eine andere überprüft die Toilette, und gleichzeitig läuft das Reinigungspersonal durch die Kabine, sammelt den Abfall ein und saugt Staub. Meine Stewardess zählt mit dem Steward und nickt mir dann zu.

»Ein blinder Passagier«, erklärt mein Nachbar und steckt die Hand in die Innentasche seiner Jacke. »Ich habe so etwas schon mal erlebt. Jetzt werden sie uns gleich bitten, die Boardingpässe bereitzuhalten.« Meine Stewardess geht den Mittelgang wieder hinunter, sie hat aufgehört zu zählen.

»Nein«, sage ich. »Lassen Sie mich heraus.«

»Wollen Sie also doch nach Rom?«, fragt mein Nachbar. Ich gebe keine Antwort. Er steht auf, damit ich vorbeikann. Die Stewardess bleibt ein Stück vor mir stehen und wartet, bis ich meine Jeansjacke aus dem Gepäckfach geholt habe. Vertrau niemals einem weißen Menschen. Ich gehe auf sie zu.

»Was ist mit der Flugangst?«, erkundigt sie sich leise und mit einem Lächeln.

»Ich versuche, sie zu überwinden, aber dazu braucht es Training.«

»Es ist heutzutage schwierig zu trampen«, sagt sie. Ich nicke. Sie lächelt mich ganz kurz an – schelmisch, finde ich. Dann ist es vorbei, und sie zeigt wieder ihre starre Maske, als sie sich umdreht und vor mir den Mittelgang hinuntergeht, auf die offene Tür des Flugzeugs zu.

»Warten Sie«, sagt sie, als wir die kleine Küche erreichen. Sie geht an einen der Schränke, schüttet den Inhalt von zwei Frühstückstabletts in eine Tax-Free-Tüte, legt zwei 7Ups und drei Päckchen Zigaretten dazu. Reicht mir die Tüte. Ein Schwarzer wäre mit leeren Händen gegangen. Sie lächelt. Ich liebe sie. Ich werde sie den Rest meines Lebens lieben.

»Danke«, sage ich.

»Viel Glück«, erwidert sie.

»Danke.« Ich nicke, drehe mich um und gehe durch die Türöffnung die Treppe hinunter. Über den schwarzen Asphalt.