Marcus

BESCHLAGNAHMT

Eines Tages komme ich von der Arbeit, und Katriina sitzt auf der Veranda und trinkt Gin Tonic. Ich begrüße sie.

»Nimm dir einen Drink«, sagt sie – ich höre, dass sie schon einige hatte.

»Wo sind die Mädchen?«, frage ich, und kalter Schweiß bricht mir aus. Hat Katriina sie in Schweden gelassen?

»Bis morgen bei ihren Freundinnen.«

»Wann werdet ihr zurück nach Schweden fliegen?«

»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Von der SIDA habe ich Jonas’ Lohn für ein halbes Jahr bekommen, ich muss mich entscheiden.«

»Es ist sicher schön für euch, nach Schweden zurückzukehren«, sage ich. Sie schüttelt den Kopf.

»Selbst, wenn ich mir einen Job besorge, was soll ich dann mit Rebekka machen? Sie ist so klein und spricht so schlecht Schwedisch. Ihr gefällt Schweden nicht. Zwei Kinder, kein Geld, keine Wohnung.«

»Kannst du nicht das große Schiff verkaufen und ein kleines Haus dafür kaufen?«

»Das Boot wurde von der Polizei beschlagnahmt, weil Jonas das Geld der SIDA gestohlen hat«, sagt sie und sieht mich fragend an.

»Ja?«

»Hast du etwas bhangi?« Ich schüttele den Kopf. »Dann hol noch etwas Tonic«, sagt sie und greift nach der Ginflasche auf dem Tisch.

Christian

Die Zeit der Examina rückt näher. Im nächsten Jahr gehört meine Klasse zu den Alterspräsidenten. Ich nehme es gelassen, mir ist es egal, in der Schule zu stranden. Es gibt nicht so viele Prüfungen am Ende der elften Klasse, und die Noten – wen interessiert das? Ich muss nur dafür sorgen, nicht rausgeschmissen zu werden. Vielleicht wäre es gut, hier wegzukommen, zurück nach Dänemark. Mein eigenes Leben zu leben.

Ich bin in das Haus der ältesten Internatsschüler gezogen, Kishari. Panos kommt vorbei, und wir gehen zum Fenster von Jarnos und Salomons Zimmer, um zu fragen, ob sie zum Fußball mitkommen.

»Was macht ihr?«, frage ich.

»Wir wollen erst noch rauchen«, antwortet Salomon, ein Äthiopier, Sohn des Botschafters, Rasta, ständig total stoned. Er geht in die Zwölfte und soll bald nach Daressalaam, um sich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. Salomon hat eine große Wasserpfeife auf dem Zimmer und eine braune Papiertüte voller Arusha-bhangi.

»Könnt ihr das nicht hinterher machen?«, fragt Panos durch die Gitterstäbe und das Moskitonetz. Sie sind so leicht zu besiegen, wenn sie bedröhnt sind.

»Nein, der Rastafari muss Jahs Kraut rauchen, um Ball im Natty-Dread-Stil spielen zu können«, erwidert Salomon und zündet die Pfeife an. Er kann nicht den Mund aufmachen, ohne dass so etwas herauskommt. Der Rauch quillt aus dem Fenster. Es knistert, blubbert und brodelt in der Wasserpfeife, sie haben die Samenkerne des bhangi nicht herausgenommen. Es klopft an der Tür. Panos und ich treten zur Seite, als die Tür geöffnet wird. Wir stehen mit dem Rücken an der Hauswand, jeder an einer Seite des Fensters.

»Wozu braucht ihr eine Wasserpfeife, Jungs?«, fragt Atkinson, ein Lehrer, der nicht warten kann, bis er hereingebeten wird, wenn er an eine Tür geklopft hat. Er träumt wahrscheinlich davon, jemanden bei ein bisschen rekreativer Onanie zu erwischen. Den tiefen Teller hat er nicht erfunden.

Salomon antwortet: »Es macht den Rauch kühler für die Lungen, außerdem filtert das Wasser die Giftstoffe ein wenig, so können wir auch den billigen Tabak vom Markt rauchen.« Salomon erklärt zu viel. Wenn Atkinson nicht riecht, dass es sich um bhangi handelt, gibt es keinen Grund, irgendetwas zu erklären.

»Was ist das?«, will Atkinson jetzt wissen. Ich höre das Rascheln der braunen Papiertüte.

»Das ist noch Tabak«, sagt Salomon. Atkinson fummelt an der Tüte herum.

»Ich nehme die Tüte mit«, erklärt er im Zimmer.

»Sie können doch nicht meinen Tabak mitnehmen«, protestiert Salomon. »Das ist Diebstahl.«

»Ich weiß nicht, ob es sich hier um Tabak handelt«, sagt Atkinson. »Ich konfisziere ihn, um es analysieren zu lassen.«

Zum ersten Mal sagt Jarno etwas: »Versuchen Sie doch, ihn zu rauchen.«

»Ich rauche nicht.«

»Das gibt’s doch nicht«, sagt Jarno.

»Wie wollen Sie ihn denn analysieren lassen?«, erkundigt sich Salomon.

»Im KCMC, ich fahre dorthin und lasse es untersuchen.«

»Keine gute Idee«, meint Salomon.

»Willst du mir damit etwa sagen, dass es sich nicht um Tabak handelt?«

»Es ist ein Krankenhaus, um schwarze Neger zu retten, und Sie wollen die Zeit der Ärzte damit vergeuden, meinen billigen Tabak zu analysieren? Tsk. Am besten, Sie reden erst einmal mit Thompson. Er ist der Chef der Internatsschüler – nicht Sie.«

»Ihr werdet von mir hören«, erklärt Atkinson und verlässt das Zimmer.

»Verdammt«, sagt Jarno.

»Ihr steckt in der Scheiße«, meint Panos. In diesem Moment kommt Atkinson um die Ecke.

»Ich habe euch gesehen.«

»Wir genießen nur die frische Luft«, sage ich.

»Ihr seid Zeugen«, erklärt Atkinson.

»Wir haben nichts gesehen«, sagt Panos.

»Doch, habt ihr«, behauptet Atkinson und geht. Salomon und Jarno kommen heraus, und wir gehen Fußball spielen.

Am nächsten Vormittag werden Salomon, Jarno, Panos und ich zu Thompson ins Büro gerufen. Langsam klärt sich das Problem: Atkinson hat sich nicht an Thompson oder Owen gewandt. Er ist direkt zu einem einheimischen Arzt ins KCMC gefahren. Das bedeutet, dass die Angelegenheit nun zu einem Fall für die Polizei werden kann, denn nun ist das bhangi öffentlich, außerhalb des Schulgeländes registriert und vermerkt. Die tansanischen Zeitungen drucken regelmäßig groß aufgemachte Aufrufe an die Jugend, kein bhangi zu rauchen. Laut den Gesetzen des Landes ist es zudem illegal. Wenn es herauskommt … Ausweisung von Salomon und Jarno, irgendetwas in dieser Richtung. Aber was ist mit Salomon, dem Sohn eines Botschafters? Kann man ihn überhaupt rausschmeißen? Welche Reaktionen wird es geben? Es gibt andere Eltern, auf die Rücksicht zu nehmen ist. In die Klasse des Äthiopiers gehen die Tochter des Innenministers und einige andere Kinder von mabwana makubwa.

»So, nun lasst uns in aller Ruhe darüber reden«, sagt Thompson.

»In Ruhe?«, erwidert Salomon. »Sie reden davon, dass wir des Landes verwiesen werden können. Und das sollen wir ruhig aufnehmen? Ich vermisse Zeugen. Über was für einen Tabak reden Sie? Ich weiß von keinem Tabak.«

»Beruhige dich«, sagt Thompson.

»Was sagt Atkinson?«, will Jarno wissen.

»Ich habe den Fall übernommen«, erklärt Thompson und sieht uns an.

»Wir standen draußen und genossen das Summen der Insekten«, sagt Panos. »Christian und ich. Ich verstehe nicht, was wir hier sollen.«

»Ich möchte euch alle nur darum bitten, vorläufig den Mund zu halten.« Als wüsste es nicht längst die ganze Schule.

»Was geschieht denn jetzt?«, frage ich.

»Der Verwaltungsrat trifft sich am Nachmittag, und morgen bekommt ihr Bescheid.«

Okay. Wir gehen hinaus in den Flur. Schauen uns an. Morgen. Schüler kommen auf uns zu: »Was hat er gesagt? Seid ihr draußen?«

»Wir erfahren morgen etwas.« Alle Weißen sind außer sich: »Wir streiken, wenn sie euch rausschmeißen. Wir boykottieren die Examina.«

Nicht aber die Inder. Die sähen es gern, wenn wir gefeuert würden. Für die Inder bedeuten die Examen Leben oder Tod. Entweder müssen sie den Rest ihres Lebens hinter einem kleinen Ladentisch in Daressalaam, Mbeya oder irgendeinem anderen gottverlassenen Loch stehen. Oder sie können reisen. Mit einem guten Examen können sie ein Stipendium in England, den USA, Kanada oder Australien bekommen. In ihren Augen sind wir ein Haufen verzogener Bengel.

Am nächsten Morgen werden wir wieder ins Büro gerufen. Thompson erklärt: »Wir werden es folgendermaßen machen: Salomon darf zum Examen antreten, aber er darf nicht an der Abschlussfeier teilnehmen. Jarno, du bekommst einen vierzehntägigen Schulverweis, und wenn noch einmal irgendetwas vorfällt, bist du ganz draußen. Und ihr zwei Paviane …« Er zeigt auf Panos und mich. »Panos, du erhältst einen Schulverweis, wenn auch nur das Geringste passiert, und Christian, du fliegst beim nächsten Mal endgültig.«

Gut. Wir haben’s überstanden. Alles in Ordnung. Aber Salomons Klassenkameraden – mit Ausnahme der Inder – flippen aus. Die Heuchelei ist zu offensichtlich. Keine weichen Landungen. Revolution.

»Scheiß drauf«, sagen sie. »Salomon ist unser Freund. Wenn er nicht an der Abschlussfeier teilnehmen darf, gehen wir nicht zum Examen.«

Das Problem ist enorm, denn Salomons Unterstützer sind Söhne und Töchter von einflussreichen tansanischen Herrschaften, die ihre Kinder ordentlich angezogen und mit einem guten Zeugnis in der Hand auf der Abschlussfeier sehen wollen. Und wenn die Kinder nicht zum Examen gehen … die Geschichte kann sich herumsprechen, und dann sind die Behörden gezwungen, etwas zu unternehmen.

Für mich liegen die Dinge einfach. Ich bin noch einmal davongekommen und hänge nun an einem ganz dünnen Faden. Aber der Botschafter Äthiopiens ist wütend auf seinen Sohn, wütend auf Atkinson, wütend auf die Schule. Jarnos Vater ist es egal, aber die Mutter setzt sich in Morogoro in den Bus.

Salomons Klasse hat eine Versammlung der beiden obersten Klassenstufen einberufen. Die indischen Schüler kommen nicht; sie gehen in den Unterricht, sie wollen das Examen, die Abschlussfeier und dann auf zu einem neuen Leben in der westlichen Welt. Fuck Afrika, fuck den Äthiopier und fuck Bob Marley. Jarno befindet sich noch immer in der Gefahrenzone – wenn die Polizei ins Spiel kommt, fliegt er. Aus dem Land. Seine Mutter steht auf.

»Ich bin Jarnos Mutter«, sagt sie. »Guten Tag.«

»Guten Tag«, murmeln die Anwesenden.

»Ich wusste nicht, dass Jarno eine Mutter hat«, sagt Salomon.

»Was ist eine Abschlussfeier?«, beginnt sie. »Hinterher trefft ihr euch zu einer Fete. Das Wichtigste ist doch, dass ihr euer Examen besteht. Versteht ihr, es ist gut, Kameradschaft zu beweisen. Aber was ihr hier tut, ist gegen das Gesetz, und wenn ihr es zum Skandal kommen lasst und das Examen boykottiert, dann werden eure Eltern euch Fragen stellen. Und eure Freunde hier werden Probleme bekommen.« Sie weist mit einer Handbewegung auf Jarno und Salomon. »Ihr werdet ein Fest weniger erleben, aber sie landen möglicherweise im Gefängnis oder werden des Landes verwiesen.« Okay, die Leute murmeln und nicken. Ich schaue auf Jarnos Mutter. Sie beeindruckt mich. Shakila erhebt sich.

»Was sagt ihr? Sollen wir darüber abstimmen? Wer dafür ist, dass wir zum Examen gehen und an der Abschlussfeier teilnehmen, wenn Salomon sein Examen auch bekommt, hebt den Arm.« Niemand hebt einen Arm. Es ist komischer zu protestieren, aber nun ist es auch ein bisschen heikel. »Kommt schon«, fordert Shakila sie auf. »Wir haben unsere Unzufriedenheit bewiesen, und Jarnos Mutter möchte ihren Sohn gern im Land behalten. Außerdem hat die Schule keinen ordentlichen DJ mehr, wenn er verschwindet.« Die Leute grinsen dämlich und strecken die Arme in die Luft. Überwältigende Mehrzahl. Jarno, gerettet von Reggae und Discomusik. Shakila geht auf Jarno zu und sagt: »Deine Mutter ist ziemlich taff.«

Dann geht sie. Sie ist auch taff.

Am Samstagnachmittag sehe ich Juliaz auf dem Fahrrad am Clocktower-Kreisel.

»Juliaz!«, rufe ich. Er hält.

»Ahhh, Christian. Habari sa siku nyingi?« – wie es mir ergangen ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben?

»Gut.«

»Mzee geht es auch gut«, sagt er.

»Sorgst du ordentlich für ihn, wenn er zu Hause ist?«

»Ja«, antwortet Juliaz. »Kein Problem. Die vergangenen beiden Wochen hat er bei der Genossenschaftsbewegung in Moshi gearbeitet, und ich habe sein Mittagessen immer fertig, wenn er nach Hause kommt.« Juliaz lächelt.

»Kommt er jeden Tag zum Essen nach Hause?«

»Ja, jeden Tag warmes Essen.«

»Und pombe?«, frage ich nach,

»Nein, nein«, wehrt Juliaz ab. »Mzee hat aufgehört, so viel pombe zu trinken, seit er sich mit der guten schwedischen mama angefreundet hat, die allein mit ihren Töchtern ist.«

»Das ist gut«, sage ich, und wir verabschieden uns. Katriina und Vater. Zwei Wochen ist er zu Hause gewesen. Dieses Arschloch. Nicht ein Wort habe ich gehört. Ich hätte am Wochenende zu Hause sein können. Wäre ganz legal mit Marcus in die Stadt gegangen, ohne Probleme. Aber nein, nein – er will von seinem scheißirritierenden Sohn nicht gestört werden. Annemette ist tot, und er und Mutter wurden geschieden. Jonas starb unter mysteriösen Umständen. Und jetzt hat Vater etwas mit der Frau des toten Mannes angefangen. Vielleicht will er sie übernehmen. Es ist wirklich abgefuckt.

Marcus

WARTESAAL

»Die Polizei hat angerufen«, sagt Katriina nervös. »Sie wollen mich morgen auf dem Revier sehen. Du musst mitkommen.«

»Kannst du nicht D’Souza fragen? Ich komme mit dieser Art von Manipulation nicht klar«, sage ich. Kalter Schweiß bricht aus, denn mein Körper hat noch immer Schmerzen nach der Folter.

»Bitte«, sagt Katriina. Die Frau ist hilflos.

»Ja, ich mach’s«, sage ich.

Am nächsten Tag sitzen wir bei dem guten Polizeibeamten im Büro.

»Ist alles in Ordnung mit dem toten Mann? Liegt er in schwedischer Erde?«, fragt er auf Englisch.

»Ja, danke«, sagt Katriina. »Es gab keine Probleme.« Der Mann mustert Katriina.

»Sprechen Sie Swahili?«, fragt er auf Swahili.

»Nur wenig«, antwortet Katriina, ebenfalls auf Swahili. Der Polizist fängt an, in der Stammessprache meiner Vorfahren auf dem Berg zu reden – Kichagga. Ich spreche es nicht gut, aber ich verstehe fast alles. Er lächelt.

»Wenn ich sehe, welcher Mann die Witwe übernimmt, sehe ich gleichzeitig den Mörder.«

Ich antworte ihm in meinem schlechten Kichagga, vorsichtig, um ihn nicht zu provozieren: »Wenn es Beweise gäbe, würde der Mörder doch schon vor Gericht stehen.« Er hebt den Zeigefinger.

»Pass auf«, sagt er. »In Tansania kann ein Fall auch ohne Beweise angeklagt werden.«

»Was sagt er?«, fragt Katriina auf Schwedisch.

»Halt den Mund«, sage ich zu ihr auf Schwedisch, und der Polizeimann redet lächelnd weiter in Kichagga auf mich ein: »Du verstehst mehr, als man unmittelbar sehen kann – vielleicht weißt du ja alles.«

»Ich weiß gar nichts«, sage ich. »Ich stecke wegen des Todes des mzungu selbst in einer Lebenskrise.«

»Ich mag keinen Mord ohne Mörder. Ich werde euch alle im Auge behalten«, sagt er auf Kichagga, steht auf und streckt Katriina die Hand hin.

»Auf Wiedersehen«, sagt er auf Englisch. Sie schüttelt seine Hand und verabschiedet sich. Wir gehen hinaus in die brennende Sonne vor dem Polizeirevier.

»Was hat er gesagt?«, fragt Katriina.

»Dass wir aufpassen sollen.«

»Weshalb?«

»Weil er keinen Mord ohne Mörder mag.«

»Aber es war kein Mord«, sagt Katriina mit schriller Stimme.

»Er behält uns im Auge«, sage ich und gehe zum Auto.

»Soll ich ihm Geld geben?«

»Er wurde bereits bezahlt.«

»Von wem?«

»Von Gösta und bwana Knudsen«, sage ich und öffne die Tür. Sie bleibt an der Beifahrerseite stehen.

»Aber …«, sagt sie. Ich fahre sie an: »Was glaubst du, weshalb wir noch frei auf der Straße herumlaufen?« Katriina antwortet auf die Frage nicht. Ich setze mich ans Steuer, lasse den Wagen an.

»Was bedeutet das, er behält uns im Auge?«

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

»Vielleicht sollte ich ihm noch mehr bezahlen.«

»Tsk«, sage ich. Ich, ich bin es, der nicht bezahlt wird. Die Leiche fliegt nach Europa, aber wo ist mein Ticket? Bin ich auf ewig, bis zu meinem Tod, im Wartesaal Tansania gestrandet?

DAS BETT DER WITWE

Fast jeden Abend kommt bwana Knudsen vorbei und unterhält sich mit Katriina. Er holt sie und die Mädchen zu einem Abstecher ins Hotel Tanzania ab. Er nimmt sie mit auf einen Ausflug zum Ngorongoro. Er isst im Haus und liest meiner weißen Tochter Rebekka ein Buch vor; er spielt mit Solja Frisbee auf dem Rasen. Alles Dinge, die Jonas nie getan hat – bwana Knudsen tut sie. Und plötzlich, eines Morgens, als ich aufstehe, steht sein Land Rover in der Einfahrt; und jetzt bin ich es, der auf die Kühlerhaube fasst, so wie es Katriina damals frühmorgens bei Jonas’ Auto gemacht hat, als es die Probleme gab. Sie bekam eine warme Hand, denn der Motor hatte Jonas die ganze Nacht zu seinen Pumpereien gefahren. Ich behalte eine kühle Hand, der Motor hat sich nicht bewegt, aber was ist mit Knudsen? Hat er sich ins Bett der Witwe bewegt?

Es weckt in mir eine Hoffnung. Wenn Katriina den Fisch bwana Knudsen fangen kann, dann können meine weißen Mädchen in meiner Nähe leben, dann werde ich sie auch weiterhin sehen. Das hoffe ich.

Christian kommt Freitagabend zu meinem Ghetto; am Wochenende wohnt er im Haus seines Vaters.

»Ich will ins Liberty. Kommst du mit? Ich habe Geld«, sagt er.

Wir gehen ins Liberty, wo Faizal auflegt. Christian trinkt Bier und guckt den jungen Mädchen nach.

»Magst du sie?«, frage ich ihn.

»Ja, hier gibt es viele hübsche Mädchen«, antwortet er. Ich nehme ihn mit nach oben, in den DJ-Käfig, der unter dem Dach über der Bar aus Glas gebaut ist. Man geht neben der Bar durch eine Tür, dann die Treppe hinauf.

»Das ist Christian«, sage ich. »Der die gute Musik hat, die ich dir überspielt habe.«

»Ahhh, Christian«, sagt Faizal. »Du bist der Experte in guter Musik. Ich bin sehr froh darüber.«

»Du spielst gut«, sagt Christian. »Alle sagen, du bist Moshis bester DJ

»Ja, ich kann eine leere Tanzfläche zu einem großen ngoma werden lassen«, sagt Faizal. Und das ist die Wahrheit, die Tanzfläche ist voll. Aber ich weiß, dass Faizals Ausrüstung einem Araber gehört, der viel Geld vom Besitzer des Liberty bekommt – und Faizal bekommt nur einen kleinen Lohn von dem Araber, und doch glauben alle, er sei der große König. Die Mädchen auf der Tanzfläche winden sich, um die Aufmerksamkeit des DJ-Käfigs zu erregen.

»Die Mädchen tanzen für dich«, sage ich.

»Ja, alle wollen meine schwarze Mamba«, sagt Faizal und guckt Christian an. »Ich habe von deinem Vater gehört. Ein sehr harter Mann. Du kommst aus einer totalen Mörderfamilie.«

»Was meinst du?«

»Hör nicht auf ihn«, sage ich zu Christian.

»Er kann sogar einen anderen Mann töten, wenn er die Frau des anderen Mannes will«, sagt Faizal grinsend.

»Wovon redest du eigentlich?«, sagt Christian.

»Du weißt doch überhaupt nichts, Faizal«, sage ich.

Faizal zuckt die Achseln: »Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Verflucht, wovon redet er?«, fragt Christian.

»Komm mit«, sage ich und schubse Christian zur Treppe. Er geht hinunter. Ich folge ihm. Unten geht er an die Verandabar.

»Erklär es mir«, sagt er.

»Ich weiß gar nichts«, sage ich.

»Doch, tust du. Du weißt, wovon er geredet hat.«

»Ja«, sage ich. »Aber das sind nur böswillige Gerüchte.«

»Und was sagen diese Gerüchte?«

»Sie sagen, dein Vater hat Jonas ermordet, um in Katriinas Bett zu kommen.«

»Und was sagst du dazu?«

»Ich sage nichts. Ich kenne die Wahrheit nicht.«

Christian ist weiß wie ein Laken.

Christian

Liege auf meinem Bett im Kishari und starre an die Decke. Das ist einfach zu abgefahren. Mörderfamilie. Wir waren bei Larssons. Ich habe einen Irish Coffee getrunken und bin in Marcus’ Bett eingeschlafen. Vater hat mich geweckt – wir sollten am Morgen nicht mehr dort sein. Er hat mit dem Land Rover die Bäume umgefahren, weil er besoffen war; ich musste das Steuer übernehmen und uns nach Hause fahren. Und am nächsten Tag schien es, als würde er neben sich stehen. Aber da hatte Gösta ihm ja auch gerade von Jonas’ Tod erzählt – was soll man glauben? Und Juliaz hat gesagt, Vater und die schwedische Frau wären jetzt gut befreundet – Katriina. Von wie guten Freunden reden wir? Das ist zu weit hergeholt. Ich mag das nicht. Vielleicht sollte ich nach Dänemark gehen und mein eigenes Leben führen.

Marcus

ERDEFRESSER

Mittwochabend kommt Christian wieder in mein Ghetto.

»Aber was ist mit der Schule?«, frage ich.

»Ich darf ein paar Tage bei meinem Vater wohnen.«

»Ich dachte, er ist auf einer Safari?«

»Er kommt früher nach Hause«, sagt Christian. Wir hängen herum. Später geht Christian heim zu seinem Vater.

Am Tag darauf zeigt sich, dass die ISM eine große Suche gestartet hat. Wen suchen sie? Christian. Bwana Knudsen ist nicht zu Hause – Christian hat einfach die Schule verlassen, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt wird er gefeuert. Er wird nie wieder willkommen sein.

Und ich, ich habe meine eigene Tagesordnung. Ich fahre zu Gösta.

»Wie sieht es mit meinen Reiseplänen nach Schweden aus?«

Gösta seufzt: »Alles ist zurückgestellt, Marcus. Die Evaluierungskommission der schwedischen Botschaft in Daressalaam hat eine Menge Unregelmäßigkeiten beim Projekt gefunden. Sie haben den Verdacht, dass Jonas Geld vom Konto des Projekts abgezweigt und Belege gefälscht hat. Nun muss alles untersucht werden, bevor irgendetwas passieren kann.« Gösta schüttelt traurig den Kopf. Wieso ist er betrübt? Er war doch selbst an dem Diebstahl beteiligt, und jetzt kann er auf Jonas als den eigentlichen Schuldigen zeigen. Tsk, hätte dieser schwedische Erdefresser mit seinem Tod nicht einen Monat warten können, dann hätte ich hoch oben in einem Flugzeug nach Europa gesessen.

Christian

»Du hast dich selbst rausgeschmissen«, sagt Vater. »Für immer. Bist du dir darüber im Klaren?«

»Ja.«

»Hast du es mit Absicht getan?«

»Gute Frage«, sage ich.

»Wenn das so ist, bist du dümmer, als ich dachte.«

»Du bist zu dumm, um zu beurteilen, wie dumm ich bin.«

»Und was stellst du dir vor? Wie geht es jetzt weiter?«, fragt er.

»Weiß nicht.«

»Dumm!«

»Vielleicht war es ja auch dumm, mich in ein Gefängnis zu sperren.«

»Gefängnis?«

»Das Internat«, sage ich, »ist ein Scheißgefängnis. Und du wohnst hier, aber das soll ich ja nicht. Du willst ja deine Ruhe haben, wenn du’s mit Frau Witwe Larsson treibst. Was ist das eigentlich für ein Scheiß?«

»Da hast du dich überhaupt nicht einzumischen, wir sind erwachsene Menschen.«

Ich wende den Blick ab.

»Hier kannst du nicht wohnen«, sagt Vater am nächsten Morgen. »Ich werde eine feste Stellung in Shinyanga antreten.«

»Nein. Ich muss nach Dänemark.«

»Ich rede mit deiner Mutter, was wir tun können.«

»Tja, nun … red doch mit ihr«, erwidere ich und fahre in die Stadt. Rauche bhangi, trinke Bier – die gleiche Nummer, durch die ich aus der Schule geflogen bin.

Nach zwei Wochen sagt Vater zu mir: »Du kannst bei Lene und Torben in Aalborg wohnen.«

»Aalborg? Okay.«

»Sie wohnen in der Nähe des Hasseris-Gymnasiums; dort gibt es einen Kurs, der dich auf die Studienzulassung vorbereitet.«

»Ich soll in einen Vorbereitungskurs?«

»Was hast du sonst vor?«

»Nein, das ist schon in Ordnung.«

»Gut«, sagt er, gibt mir ein paar Papiere und zeigt auf eine Stelle, an der ich unterschreiben soll. Ich krakele meine Unterschrift.

Ich freue mich, nach Dänemark zu kommen. Vater findet heraus, dass ich von Mwanza einen inländischen Linienflug nehmen kann.

Am letzten Abend sitzen wir auf der Veranda und rauchen trockene Zigarren. Der Alte ist ein bisschen angeschickert. Ich sehe ihn mir in der Dämmerung an. Ist er imstande zu töten? Ich lasse es einfach mal raus: »In Moshi sagen die Leute, du hättest Jonas’ Kopf an den Saunaofen geschlagen, so dass er gestorben ist.«

»Was …?« Vater richtet sich unvermittelt in seinem Stuhl auf. »Nein!«, sagt er laut.

»Du hättest durchaus ein Motiv.«

»Was für ein Motiv?«

»Katriina.« Er sieht mich schweigend an, prüfend, denke ich, aber es ist zu dunkel, um es genau zu erkennen.

»Aber das ist doch … wahnsinnig.«

»Ist es das?«

»Ja«, sagt er und steht auf, wobei er den Kopf schüttelt. Er wirft die Zigarre auf den staubigen Hofplatz und geht ins Haus.

Vater fährt mich nach Mwanza. Die Straße ist miserabel, man müsste eigentlich mit einem Nierengurt fahren, um die Organe an ihrem Platz zu behalten.

»Christian«, sagt Vater auf dem Flugplatz. »Mach bitte keine Dummheiten.«

»Dummheiten?«

Er seufzt: »Du weißt … du kannst in den Ferien hierherkommen. In einem Jahr, nach den ersten Prüfungen – ich werde es bezahlen. Du weißt, dass ich …« Er bricht ab. Ich klopfe ihm auf die Schulter.

»Ebenfalls«, sage ich. »Bis dann.«

Ich gehe auf das alte Propellerflugzeug zu, eine DC3. Es ist ein Fehler, dass ich den Kopf wende und zum Ende der Startbahn blicke. Dort liegt zerbeultes Metall neben dem Asphalt – eine andere DC3 in drei Teilen.

»Was ist passiert?«, frage ich den Mann, der neben mir geht. Ich zeige auf das Metall.

»Ach, die ist wie ein Stein gelandet«, antwortet er und grinst.

Die Kabine ist vollgestopft mit Menschen, ganz hinten sind einige Ziegen. Das Flugzeug rappelt und bebt, als wir über die Startbahn rasen, aber wir heben vom Boden ab, bevor wir auf das Flugzeugwrack treffen. Alles ist undicht – kalte Luft dringt in die Kabine, als wir die Flughöhe erreicht haben. Unten auf der Erde kann ich bis zum Horizont Buschland sehen. Einzelne Feldwege schlängeln sich zwischen den verstreuten Bäumen und Büschen. Ich sehe einen Hirten mit einer Herde von Kühen und Ziegen. Und eine manyatta – den typischen Kreis aus Dornengebüsch, der um die Lehmhütten gezogen wird, um nachts die Raubtiere abzuhalten. Plötzlich tauchen Dar und das Meer am Horizont auf. Wir landen schmerzfrei, und vier Stunden später sitze ich in einer KLM-Maschine auf dem Weg nach Schiphol, mit Anschluss nach Kopenhagen und Aalborg.

Tante Lene holt mich am Flughafen ab.

»Nein, was bist du braun geworden, Christian«, sagt sie.

»Danke«, erwidere ich lächelnd.

Wir fahren nach Hasseris. Nach Tansania sieht es aus wie Legoland.

»Du wirst dort unten wohnen«, sagt Tante Lene und zeigt mir den Weg in den Keller. Das Zimmer hat ein paar kleine Fenster direkt unter der Decke. Es gibt eine Waschküche mit Dusche, zwei Kochplatten, einen kleinen Ofen. Die Toilette ist am Ende der Treppe und wird als Gästetoilette des Hauses genutzt. Perfekt – mein eigenes kleines Ghetto.

»Wir müssen einander respektieren – nicht wahr?«, sagt Torben.

»Ja, natürlich«, antworte ich. »Ihr bekommt keinerlei Schwierigkeiten mit mir.« Es ist ein geniales Gefühl, einen eigenen Raum zu haben, einen eigenen Kellereingang unter dem Dach der Doppelgarage.

In vierzehn Tagen beginnt der Vorbereitungskurs.

Die ersten Tage esse ich mit Lene und Torben.

»Aber du wirst ja für dich selbst sorgen, wenn du dich erst einmal eingelebt hast«, sagt Lene. Die Nachbarin kommt vorbei, eine kleine füllige Frau mit einem etwas eingeschüchterten Gesichtsausdruck. Sie bringt eine Rhabarbertorte mit.

»Dann mache ich mal frischen Kaffee«, sagt meine Tante. »Ja, das ist mein Neffe Christian, der aufs Hasseris-Gymnasium gehen soll.«

»Bist du das, der in Afrika gewesen ist?«, fragt die Frau verwundert und starrt mich eingehend an.

»In Tansania, ja.«

»Waren die sehr dunkel, dort, wo ihr wart?«, will sie wissen.

»Dunkel?«, frage ich zurück.

»Genauso dunkel wie Neger?«, erkundigt sie sich mit großen Augen.

»Dort waren Neger, ja«, sage ich. »Die leben dort.«

»Waren sie … freundlich?«

»Ja.«

»Hattet ihr Dienstboten?«

»Ja.«

»Musstet ihr gar nichts selber machen?«

»Nein«, sage ich und stehe auf. »Danke für den Kaffee.«

Ich laufe herum und sehe mir Aalborg an – alles ist sauber und ordentlich. Ich muss aufpassen, wenn ich über die Straße gehe, die Autos kommen von der falschen Seite. Die Geschäfte haben alles. Ich kaufe ein und versuche zu kochen. Keine Dienstboten. Aber es ist ein gutes Gefühl, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben. Ich habe entschieden, diesem Durcheinander zu entkommen. Und ich habe es getan. Ich weiß nicht, ob Vater an Jonas’ Tod beteiligt ist, doch in jedem Fall hat es nichts mit mir zu tun.

Dänische Zigaretten sind fantastisch. Der Tabak dicht gerollt und aromatisch – der Rauch gleitet sanft in die Lungen. Aber ich muss auf mein Geld aufpassen. Mutter bezahlt Tante Lene etwas für das Zimmer. Und Vater schickt mir jeden Monat Geld zum Leben; es reicht gerade für ein bisschen Essen, Zigaretten und eine einzelne LP, aber es geht.

Ich sehe mir das Hasseris-Gymnasium an. Das Gebäude ähnelt einem weißen kubistischen Nashorn.

Marcus

ZWEI GESICHTER

Ein schwedischer Mann kommt als Ersatz für Jonas. Er heißt Harri und ist der neue Chef der Sägewerke auf dem Berg, bis das kapitalistische Joint Venture eingefädelt ist. Ich muss oft zu ihm fahren und Nachrichten übermitteln, wenn die Telefone nicht funktionieren und er nicht arbeiten kann, weil die Nacht seinem Kopf wehtut.

Auf der Straße geht ein hübsches Mädchen, ich sehe sie häufig. »Hej«, sage ich. »Kann ich dich mitnehmen?«

»Ja, danke.« Sie heißt Rhema und ist die Tochter von Harris Nachbarn. »Du darfst gern hereinkommen«, sagt sie, als wir vor dem Tor halten. Ein paar Mädchen benehmen sich mir gegenüber wie Würfelzucker, weil ich mit Weißen zusammenwohne. Sie glauben, ich könnte Verbindungen schaffen.

»Ich muss zu bwana Harri«, sage ich.

»Oh ja, du bist auch einer der Chefs des Sägewerks.«

»Nein, ich arbeite nur in der Einkaufsabteilung.«

»Aber du wohnst bei dem mzungu, der Projektleiter ist.«

»Ja, aber er ist tot, und ich bin nur der Babysitter der weißen Familie.«

Rhema lacht und klapst mir auf den Arm. »Nein, jetzt machst du Spaß. Du bist kein Babysitter. Ich habe dich in dem großen Wagen des Projekts gesehen.«

Sie sieht mich als Teil der reichen weißen Männer mit Geld. Sie denkt, ich werde in Europa landen. Und wenn sie mich fängt, nehme ich sie mit – Träume von Europa.

»Ich bin nur ein Sklave der mzungu«, sage ich. Sie glaubt mir nicht.

»Bwana Harri, ist er der Projektleiter?«

»Er ist der neue Chef der Sägewerke am West-Kilimandscharo.«

»Glaubst du, ich könnte dort Arbeit bekommen?«

»Willst du gern in den Sägewerken arbeiten?«

»Mein Vater ist letzten Monat gestorben. Wir brauchen Geld«, sagt sie.

»Ich werde versuchen, bwana Harri zu fragen«, sage ich. Sie umarmt mich und küsst mich auf die Wange.

»Vielen Dank«, sagt sie, und ich denke, ich sollte aufpassen, nicht zu einem Mann mit zwei Gesichtern zu werden – einem für jede Freundin, denn Claire ist noch immer bei mir, obwohl Gott mir fast immer den Weg zu ihrem Garten versperrt.

Ich erkläre Harri, dass die Nachbarfamilie als Großfamilie mit der Großmutter und allen anderen zusammenwohnt, aber der Vater jetzt gestorben ist und sie Arbeit brauchen.

»Der alte Mann da drüben? Ich habe keine Arbeit für ihn«, sagt Harri.

»Nein, der alte Mann ist tot. Es geht um die Tochter, Rhema, das junge Mädchen.«

»Die Tochter? Sie kann nicht im Wald arbeiten, aber ich will mal sehen, ob sich in der Möbelfabrik etwas findet.«

Rhema wird meine Lagerassistentin in Moshi, und sie hat ständig ein Problem. »Kannst du mir ein paar Schillinge für meine Familie leihen?«, fragt sie. »Mein kleiner Bruder kann nicht in die Schule gehen, weil seine Uniform so abgetragen ist.«

In Tansania ist die Grundschule umsonst. Das System mit der Schuluniform stammt aus der britischen Kolonialzeit. Es soll sicherstellen, dass alle gleich sind. In der Schule kann ein Kind einer reichen Familie nicht besser gekleidet sein als aus einer armen. Alle tragen weiße Hemden, Khakishorts und schwarze Schuhe. Aber wenn der Hunger nagt, kommen die Armen nicht durchs Schultor, weil sie kein Geld für die Uniform haben und nur in Lumpen herumlaufen.

Ich gebe Rhema Geld für die Schuluniform ihres kleinen Bruders, und sie verspricht mir, es zurückzuzahlen.

»Nein«, sage ich. Es ist in Ordnung, denn sie hat kein Geld, sie könnte es ohnehin nicht zurückzahlen. Ihre Familie wird vermutlich das Haus verlieren, dann müssen sie in einer Blechhütte in Soweto wohnen.

»Du kannst mich mal besuchen kommen«, sagt sie. Oh-ohhh. Sie weiß, dass ich mit Claire zusammen bin. Aber Claire und ich, wir streiten uns ständig, denn Claire kennt die absolute Wahrheit.

»Ständig führst du dich wie ein großer Mann auf, mit Sonnenbrille, Stereoanlage, Motorrad und Bier in der Bar, aber du hast kein eigenes Haus, du bist nur ein Babysitter für die mzungu. Ich will einen richtigen Mann«, sagt sie. So ist sie bisher nie gewesen. Jetzt will sie nicht mehr mit mir reden.

AUFBRUCH

Christians Reise nach Dänemark hat zu einer Veränderung geführt. Die Gefühle von bwana Knudsen für Katriina kommen aus der Dunkelheit ans Licht. Ja, Knudsen ist wegen seiner Arbeit nach Shinyanga gezogen, aber jeden Monat findet er eine Entschuldigung, um den langen Weg zu fahren und die Witwe zu pumpen. Und die Zeit vergeht. Die SIDA hat Katriina Jonas’ Lohn für sechs Monate gegeben. Jetzt gibt es keinen Lohn mehr, und sie muss das Haus der Regierung verlassen, denn es steht nur Menschen zur Verfügung, die für Tansania arbeiten. Katriina muss jetzt auf ihren eigenen Füßen stehen.

»Wir ziehen in mama Androlis Gästehaus«, sagt Katriina.

»Aber wie willst du zurechtkommen, wenn du von der SIDA kein Geld mehr bekommst?«, frage ich.

»Niels Knudsen hat es für uns gemietet«, sagt sie. Eeehhh – diese Frau ist ein tüchtiger Beifahrer, die sich für ihr Leben bereits eine neue Fahrgelegenheit beschafft hat.

»Und das Schulgeld für Solja?«, frage ich, denn ich weiß, dass die Weißen auf der ISM in ausländischer Valuta bezahlen müssen, damit die Schule die weißen Lehrer bezahlen kann.

»Ich darf vorläufig in Schilling bezahlen.«

»Gut«, sage ich – die Mädchen werden in Tansania bleiben. Das ist gut für meine kleine Rebekka. Bald wird sie vier Jahre alt, ihr ganzes Leben hat sie nur Tansania gekannt. Und mich als ihren liebevollen Vater. Ja, mich; viereinhalb Jahre habe ich für diese Schweden verschwendet. Jetzt bin ich zwanzig, und all meine Investitionen versickern im Sand.

»Kannst du mir beim Packen helfen?«, fragt mich Katriina.

»Aber was ist mit Marcus?«, will Solja wissen – dreizehn Jahre alt und sehr selbstständig in ihren Gedanken. Katriina seufzt.

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, du kommst zurecht«, sagt sie.

»Es ist eine Katastrophe für mich«, sage ich.

»Ich kann nichts tun«, sagt Katriina.

»Das ist ungerecht«, sagt Solja wütend.

»Ich kann nichts tun«, kommt es noch einmal von Katriina. Und was ist mein Geschenk für lange und treue Dienste? Ein Kühlschrank, eine Gefriertruhe und eine abgenutzte Stereoanlage, die im Grunde nicht mehr funktioniert. Jetzt gehört sie mir, und ich kann die Gefriertruhe verkaufen. Der Kühlschrank wird dem Kiosk nützen, kalte Limonade als Attraktion. Die Stereoanlage muss ich zu einem Mechaniker bringen, wenn ich das Geld für die Reparatur habe.

Bwana Knudsen kommt den langen Weg nach Moshi, um an diesem Exodus teilzunehmen. Der Land Rover wird mit den persönlichen Habseligkeiten wie Kleidern und Küchenausstattung gepackt, denn die Möbel gehören zu dem Regierungshaus. Solja will sich nicht ins Auto setzen. Sie verschränkt ihre Arme.

»Ich will Marcus dabeihaben«, sagt sie.

»Natürlich«, sagt Rebekka auf Swahili. »Marcus soll in dem neuen Haus wohnen.« Mir kommen beinahe die Tränen. Katriina schüttelt den Kopf.

»Nein. Marcus ist jetzt erwachsen. Er braucht sein eigenes Haus.«

»Was?«, sagt Rebekka und beginnt zu heulen. Erst stirbt der weiße Vater, und jetzt soll der schwarze verschwinden. Ahr, es ist hart, sich von meinen weißen Töchtern zu verabschieden. Ich nehme sie auf den Arm und tröste sie, aber Rebekka heult Rotz und Wasser.

»Ich werde dich ganz oft besuchen«, sage ich und streichele das feine blonde Haar.

»Nein, nein, nein!«, schreit sie. Es ist schrecklich. Ich muss dem Auto zum Abschied winken. Katriina nimmt mzee Issa mit, noch nie hatte sie einen so tüchtigen Koch. Mich – den kleinen schwarzen Anhänger – zieht nun kein Auto mehr.

TAXITRÄUME

Autoträume bringen mich wieder nach Daressalaam. Ich will eins kaufen. Es rechnet sich nicht, jedes Mal ein Taxi zu nehmen, wenn ich etwas für den Kiosk besorgen muss: Limonade, Maismehl, Petroleum, Speiseöl, Reis. Und ich kann nicht wie ein Neger in der Sonne hin- und herradeln – das Puzzlespiel des Unfalls in meinem Fuß taugt nicht zu dieser Arbeit. Außerdem kann ich mir Extraeinnahmen verschaffen, wenn das Auto für Taxifahrten verliehen wird.

Ich muss so denken, denn nun muss ich vollkommen allein zurechtkommen. Vor mehr als drei Jahren hat Tante Elna zu mir gesagt: »Du darfst nicht auf die Hilfe anderer warten, Marcus. Darauf kann man sich nicht verlassen. Du musst es selbst tun.« Die alte schwedische mama hatte recht.

In der Möbelfabrik sorge ich dafür, dass Leim fehlt, dann nehme ich den Bus nach Daressalaam auf schwedische Kosten, denn das Projekt läuft noch, obwohl die schwedischen Behörden verwirrt sind: Wohin sind all die Mittel verschwunden?

In Dar miete ich ein Zimmer im YMCA und treffe mich mit meinem alten Klassenkameraden Edson, der aus Moshi geflohen ist. Er hatte seine Frau geschlagen, weil sie einen Sohn zur Welt brachte, der das Gesicht ihres Chefs hatte. Ich habe ihm das Geld für die Flucht geliehen; anderthalb Jahre habe ich das Geld vermisst – Edson muss mir helfen. Er hat mit der Akrobatik aufgehört. Jetzt ist er ebenso breit wie hoch, quadratisch. Das ist Bodybuilding. Er arbeitet als Inkassomann für einen mhindi-Kredithai. Wir gehen in die Stadt.

BETTELGANG

Ich denke an Rebekka, als ich aufwache. Ich vermisse meine kleine weiße Tochter, deshalb gehe ich zu mama Androlis Haus, um Katriina und die Mädchen zu besuchen.

»Hallo?«, rufe ich. Ein Gärtner kommt.

»Was willst du?«, fragt er mich.

»Ich möchte die schwedische Familie besuchen, es sind meine Freunde.«

»Ich kann dich nicht hereinlassen«, sagt er. Tsk, ich bin auf meinen eigenen Beinen gekommen, und er hält mich für einen bettelnden Neger.

»Die schwedische mama hat mich eingeladen. Geh und frag sie.«

Der Gärtner ruft nach Katriina: »Ein Mann sagt, er sei Ihr Gast.«

Ich höre nicht, ob die Mädchen zu Hause sind. Katriina befiehlt dem Wachmann nicht, das Tor zu öffnen. Sie kommt in die Einfahrt und redet mit mir durch die Gitterstäbe.

»Es ist nicht gut, wenn du jetzt kommst«, sagt sie. »Rebekka und Solja sind sehr verstört.«

»Aber ich wollte nur Hallo sagen.«

»Sie können nicht begreifen, was passiert ist. Ich glaube, es ist am besten, wenn sie dich eine Weile nicht sehen.«

»Gut, dann komme ich einfach ein andermal«, sage ich.

»Du musst eine Zeit lang warten«, sagt Katriina. »Ich werde dir Bescheid geben, wenn es okay ist.«

»Auf Wiedersehen«, sage ich. Tsk, glaubt sie, es sind ihre Töchter? Im Herzen sind es meine Mädchen. Viereinhalb Jahre meiner Zeit und Liebe. Selbstverständlich sind sie verstört – ihre Väter werden häufiger gewechselt als ihre Unterhosen. Erst hatten sie zwei – einen weißen und einen schwarzen. Jetzt ist der weiße tot, und der schwarze soll sich fernhalten. Stattdessen haben sie einen dritten Vater, der nicht einmal Schwedisch reden kann. Tsk.

KUHSTALL

Larssons Haus wird von dem einheimischen Burschen übernommen, der jetzt das FITI leitet und von der schwedischen SIDA bezahlt wird.

»Das ist jetzt mein Haus, du musst aus der Dienstbotenwohnung ausziehen«, sagt er.

»Ich kann nicht ausziehen, bevor ich ein neues Haus gefunden habe«, sage ich. Und ich habe bereits vier Monate gesucht, denn ohne ein gutes Haus will Claire so gut wie nie nackt mit mir sein. Mein Name steht auf der Warteliste von National Housing, aber weit unten. Dann erteilt mir der neue König eine bedrohliche Lektion. Das Tor ist verschlossen, als ich nach Hause komme, ich muss das Grundstück umrunden und durch das Loch im Zaun kriechen. Er kommt auf die Veranda.

»Ich könnte dich wie einen Dieb erschießen«, sagt er. »Du musst so schnell wie möglich raus, ich will Kühe in deinem Zimmer halten.«

»Nein, ich ziehe nicht um«, sage ich. »Dieses Haus gehört dem Staat Tansania. Es gibt zwei Zimmer in der Dienstbotenwohnung, und das andere steht leer. Wenn du deine Kühe da reinstellst, okay – ich werde nebenan wohnen, obwohl ich weiß, dass Kühe in der Stadt total illegal sind. Dieses Haus ist für Menschen.«

Ich stehe im Kiosk und rede mit dem Jungen, zähle Ware, kontrolliere die Abrechnung. Die Musik stoppt, der Kühlschrank hört auf zu brummen. Wieder eine Stromunterbrechung. Danach gehe ich durch das Loch im Zaun zu meinem Ghetto. Im Haus ist Licht, der Strom fließt also wieder, ich schalte meinen Kassettenrekorder ein. Nichts. Was ist los? Ich kontrolliere alles, bis ich auf die Leitung gucke, die ich wie ein Elektriker durch die Luft vom Haupthaus über einen Baum bis zu meinem Ghetto gelegt habe: durchgeschnitten. Eeehhh, ich bin wieder in der Dunkelheit.

Irgendwann sagt er: »Vielleicht brennt es mal bei dir, wenn du nicht da bist.« Und wenn Claire am Tor steht und zu mir will: »Marcus? Nein, er wohnt hier nicht mehr – verschwinde von meinem Grundstück.« Also nutze ich politische Kontakte. Ich gehe zum Büro der Regierungspartei und erkläre dem Sekretär meine Probleme. Er gibt mir einen Brief, den ich dem FITI-Leiter im alten Larsson-Haus überbringen soll. Darin steht, dass ich dort wohne, bis ich eine andere Wohnung finde, und er nicht das Tor vor mir abschließen darf. Das Tor, das Haus, alles gehört dem Staat. Und die Firmen, für die wir arbeiten, gehören dem Staat. Auch das Nachbarzimmer, in dem Jonas früher sein Kartoffelmus bekam. Jetzt komme ich nach Hause, und meine Nachbarn sind Kühe und Ziegen. Ich wohne wie ein rückständiger alter Chagga auf dem Berg. Eine Seite des Hauses für die Menschentiere, die andere für die Haustiere.

Abends gehe ich zu den zweistöckigen Reihenhäusern von National Housing an der Uru Road, nicht weit vom YMCA. Ich gehe an die Bar, um mit dem Vorsitzenden der Wohnungsvereinigung zu reden, der die Dinge steuert. Viele Biere an der Bar können deinen Namen auf der Warteliste sehr weit nach oben spülen. »Der Mann in Nummer 17, er hat davon gesprochen, zurück auf den Berg zu ziehen«, sagt der Vorsitzende. Ich finde den mzee, lade ihn auf ein Bier ein.

»Wann ziehst du nach Hause zu deiner Familie im Dorf?«, frage ich ihn.

»Ich kann schon morgen umziehen, aber mir fehlen Möbel für das Haus im Dorf«, sagt er. Solch ein Glück habe ich.

»Ich kann dir mit sehr billigen Möbeln helfen«, sage ich. Ich umgehe das Büro, kaufe die Möbel bei Imara zu einem herabgesetzten Preis und lasse sie ins Dorf des Mannes fahren. Gleichzeitig muss ich mit National Housing arrangieren, dass ich das Haus übernehmen kann, also gehe ich zum Chef ins Büro. Ich zeige ihm den Brief der Regierungspartei – ich werde bedroht von Kühen und Ziegen.

»Aber dein Name steht nicht ganz oben auf der Warteliste«, sagt er.

»Vielleicht sagen die ganz oben ja, nein danke, weil sie im Moment gar nicht umziehen wollen, dann könnte ich dir auch helfen.«

»Wie kannst du mir helfen?«

»Wie ich höre, fehlt deinem Bruder Holz, um sein neues Haus in Old Moshi fertig bauen zu können – ich könnte das Holz sehr billig besorgen.«

»Mein Bruder hat kein Geld für Holz«, sagt er.

»Vielleicht kann ich es ihm gratis beschaffen, weil du dich als ein guter Freund erwiesen hast«, sage ich.

»Vielleicht kann ich mit den Obersten auf der Liste reden«, sagt er. Ja.

Ich fahre zum West-Kilimandscharo. Es kann schon mal vorkommen, dass sie eine Ladung Bretter an der falschen Stelle abladen. Und dann vergessen, wo die Bretter liegen. Und vielleicht gibt es einen Lastwagen, der einen ganzen Tag für die Aktivitäten der Firma ausfällt, weil er Bretter zu einem Bau in Old Moshi fährt. Einen Jahreslohn verbrauche ich insgesamt, um diese Probleme zu lösen, aber ich schaffe es mit Hilfe der Dollar, die ich hinter dem Foto des Segelschiffs gefunden habe. Der National-Housing-Mann schreibt ein Memorandum für mich, und ich kann Nummer 17 übernehmen. Ich verabschiede mich von den Ziegen und Kühen und ziehe dort ein.

Sofort lasse ich den Kiosk abbauen und in das Wohngebiet transportieren. Ich stelle einen Handwerker an, der ihn gegenüber von meinem eigenen Eingang mitten zwischen den Häusern wieder aufbaut. Er steht nur ein wenig schief nach dem Umzug. Hier gibt es eine Menge Kunden, aber ich habe keinerlei Ware – das gesamte Geld ging drauf, um die Leute mit Möbeln, Holz und Bier zu schmieren. Ich muss den Kühlschrank der Larsson-Familie verkaufen, nur um zu leben. Und wer soll in dem Kiosk stehen und mich bestehlen, wenn ich in der Möbelfabrik oder am West-Kilimandscharo arbeite?

Christian

Der erste Tag. Vorstellungsrunde. Es gibt viele hübsche Mädchen. Wir sollen über uns erzählen: Ich komme aus Seeland. Meine Eltern arbeiten im Ausland. Ich wohne bei meiner Tante. Ich sage nichts über Tansania. Ich weiß wirklich nicht, was ich den Leuten erzählen soll.

Erste Stunde Englisch. Der Lehrer zeigt auf mich.

»Weißt du, was das bedeutet?«, fragt er.

»Was?«

»Was auf deinem T-Shirt steht?« Ich blicke an mir hinab. BLACK UHURU – geschrieben in den Farben der äthiopischen Flagge: rot, gelb und grün auf einem schwarzen Hintergrund, die Buchstaben umschlungen von weißem Stacheldraht.

»Das ist eine Reggae-Band aus Jamaica«, antworte ich.

»Ja, aber weißt du, was uhuru auf Swahili bedeutet?«

»Nein«, lüge ich. Afrika hat mich braun gebrannt, und ich kann auf fünfzig Meter Abstand riechen, dass die Dänische Assoziation für internationale Zusammenarbeit ihn ausgeschickt hatte, um den Neger vom weißen Mann zu erlösen.

»Freiheit«, sagt er. »Schwarze Freiheit.«

»Aha«, erwidere ich, und er fängt an, über Reggae, Rasta und den Kolonialismus zu predigen.

Ich höre ständig Reggae. Ich kaufe LPs statt Lebensmittel. Esse Spaghetti mit Ketchup.

Mutter ist in Genf, dort hat sie irgendeine organisatorische Arbeit für Ärzte ohne Grenzen übernommen. Sie ruft an, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Ich sage, dass ich Geld brauche.

»Was machst du denn damit?«

»Hin und wieder will ich mir auch mal ’ne LP kaufen«, sage ich.

»Aber Christian«, sagt sie.

»Es ist doch nicht meine Schuld, wenn ihr so viel verdient, dass ich keine Ausbildungsförderung bekomme.«

»Dann musst du dir einen Nebenjob suchen.«

Es gibt viele merkwürdige Aufgaben im Leben. Als ich das erste Mal meine Sachen wasche, hat alles Weiße einen blaugrauen Ton, und viele der farbigen Sachen sind hinterher zu klein. Glücklicherweise bekomme ich ein Päckchen von Marcus. Garvey Dread steht auf dem Absender. Tee aus Tansania. In den Päckchen ist Arusha-bhangi, verpackt in Zellophan. Und ein Bettelbrief. Er braucht einen Kassettenrekorder oder neue Tonköpfe für den, den er hat. Er schreibt, er würde fast vor Hunger sterben. Im Augenblick kann ich ihm nicht helfen.

Ich bekomme keine Briefe von Samantha. Auch nicht von Panos oder Jarno. Eine Postkarte von Shakila. Sie vermisst mich, schreibt sie. »Ich bin jetzt auf der Universität von Dar und studiere und arbeite vierundzwanzig Stunden am Tag.«

Im Gymnasium rauche ich Zigaretten und bin stumm – das ist mein Image. Ich habe Musik als Zusatzfach.

»Ich spiele Schlagzeug«, sage ich. Unerschütterlich wie ein Felsen. Und ich kann Reggae-Rhythmen spielen – das kann keiner sonst. Hinterher kommt ein Typ auf mich zu. Anders. Er spielt Bass.

»Das klingt ziemlich gut, was du da machst«, sagt er.

»Danke.« Ich biete ihm eine Zigarette an. Er fragt, ob ich am Wochenende mitkäme, um etwas zu trinken. Ja, klar, sehr gern. »Aber viel Geld habe ich nicht«, sage ich.

»Da mach dir man keine Sorgen«, erwidert Anders.

»Wieso nicht?«

»Es gibt Methoden«, antwortet er.

Donnerstag kommt er in der großen Pause auf mich zu. Ich habe nichts zu essen dabei.

»Lass uns verschwinden«, sagt er.

»Okay.« Ich folge ihm. »Ich habe bis zum Sommer in Afrika gelebt. Viereinhalb Jahre.«

»Was?«

Ich erkläre es ihm.

»Irre, Mann«, sagt er. »Das hast du aber gut für dich behalten. Gehen wir zu mir und rauchen ’ne Tüte?«

»’ne Tüte?«

»Hasch«, sagt er. Komprimiertes bhangi, ich habe davon gehört.

»Okay«, stimme ich zu. Er wohnt im Skelagergaarden, einem sozialen Wohnungsbaugebäude, ein paar hundert Meter vom Gymnasium entfernt. Wir gehen hinüber. Er wohnt zusammen mit seinem Vater, einem Sozialrentner, erzählt er.

»Seine Gesundheit hat er sich in der Eternit-Fabrik versaut«, berichtet Anders. »Er sitzt zu Hause in der Küche und legt Puzzlespiele in der Größenordnung von dreitausend bis viereinhalbtausend Teilchen. Wenn er mit einem fertig ist, klebt er es auf ein Stück Karton und hängt es im Wohnzimmer an die Wand. Vollkommen kaputt vom Stesolid.«

Wir kommen in den vierten Stock. Tatsächlich sitzt der Vater mit einem Puzzlespiel in der Küche. Ausgezehrt. Wir gehen in Anders’ Zimmer, und er holt seinen Tabaksbeutel heraus.

»Was ist mit deiner Mutter?«, erkundige ich mich. Er schnaubt.

»Wir wohnen alle hier draußen. Meine Mutter wohnt in einer Wohnung mit meiner kleinen Schwester, ihrem neuen Mann und dessen Tochter aus einer anderen Ehe. Die Tochter aus seiner ersten Ehe wohnt hier in einer Wohnung mit ihren beiden Kindern, und ihr geschiedener Mann wohnt in einer dritten Wohnung. Und die jüngere Schwester meines Vaters – die mich, nebenbei bemerkt, vor ein paar Jahren das erste Mal ranließ und auf Frischfleisch steht – wohnt in einer vierten Wohnung drei Treppen weiter. Sie ist erstaunlicherweise noch immer verheiratet; mit meinem Halbvetter, aber dir das zu erklären, ist schlichtweg zu kompliziert. Gert, der Bruder meines Halbvetters, hat nicht alle Tassen im Schrank und wohnt eigentlich auch hier, aber im Augenblick sitzt er im Gefängnis, darauf komme ich noch. Na ja. Ich wohne jedenfalls in dieser Wohnung mit meinem Vater.«

»Und dein verrückter Vetter?«

»Der wahnsinnige Halbbruder meines Halbvetters«, korrigiert Anders. »Er ist in ein Haus in Hasseris eingebrochen, aber da lag eine Frau und schlief. Natürlich ist sie aufgewacht. Der Trottel hat sie vergewaltigt und hinterher erwürgt. Und dann hat er Angst bekommen. Er wirft alles Mögliche ein, das ist klar. Im Haus hat er ein paar Jagdpatronen gefunden, die hat er ihr zusammen mit einigen Gasfeuerzeugen in die Möse gesteckt und im Haus Feuer gelegt, um alle Spuren seines Samens zu verwischen. Die Frau wurde … beinahe gebraten. Aber seine kleinen fettigen Pfoten hatten auf der ganzen Hintertür, die er aufgebrochen hatte, Fingerabdrücke hinterlassen. Ich habe ihn einbuchten lassen.« Anders nickt vor sich hin, während er auf den Tabak schaut, den er mit Haschisch vermischt.

»Wie?«

»Er wurde im Radio gesucht. Die Polizei war bereits hier gewesen, als er auftauchte und sich bei mir verstecken wollte; ein halbes Jahr vorher hatte er mich mit einer Katze mit Milben verprügelt«, erzählt Anders und zündet den Joint an.

»Eine Katze mit Milben …?«

»Er hat mich unten an einen Baum gebunden«, fährt Anders fort und zeigt auf das Fenster. »Und dann hat er mich mit einer toten Katze verprügelt, die voller Milben war. Ein totaler Psychopath.«

»Wie bist du entkommen?«

»Er war es irgendwann leid und ließ mich stehen.«

»Und du konntest dich befreien?«

»Es kamen ein paar Leute vorbei und haben das Seil losgebunden.«

»Was ist mit ihm passiert – diesem Halbvetter?«

»Passiert?«

»Ja … Hast du jemanden angerufen?«

»Wen soll man denn anrufen, wenn man mit einer toten Katze verprügelt wurde?«

»Keine Ahnung.«

»Jemand hat Sand in den Benzintank seines Mopeds gekippt.«

»Wer?«

»Rate mal.«

»Und als er auf der Flucht war …hast du ihn reingelassen?«

»Ja, sicher. Und er schickte mich los, um ein paar Flaschen Starkbier zu besorgen, mit denen er seine Beruhigungsmittel herunterspülen konnte. Ich hab das Geld genommen und bin runter zur Telefonzelle, um die Bullen anzurufen – mit seinem Geld«, erzählt Anders und lacht laut. »Jetzt hat ihn ein Gericht eingewiesen, und er ist genau dort eingesperrt, wo er hingehört.«

»Okay«, sage ich. Anders zieht an dem Joint. Reicht ihn mir. Wir rauchen.

»Und mit der Schwester deiner Mutter hast du das erste Mal …?«

»Mit der Schwester meines Vaters. Ist ’ne hübsche Frau, das kann ich dir sagen. Groß an allen richtigen Stellen.«

»Wie … ging das ab?«

»Na ja, sie war voll. Und geil«, antwortet er und grinst.

Wir hören Metallica, und Anders’ jüngere Schwester erscheint.

»Ich will dich hier nicht haben«, sagt Anders.

»Ach, hab dich nicht so«, mault sie. Zwischen ihren Zähnen knallt ein Kaugummi, die Lippen glänzen vor Lipgloss. Er wirft sie hinaus, und sie wackelt übertrieben mit dem Hintern, als sie den Flur hinuntergeht.

»Der Joint hat mich ziemlich umgehauen. Ich würde gern eine Tasse Kaffee trinken«, sage ich.

»Du kannst dir gern eine ganze Kanne kochen. Mach es einfach. Auf meinen Vater brauchst du keine Rücksicht nehmen, er sagt nie etwas.« Ich gehe in die Küche.

»Hej«, werde ich von der kleinen Schwester begrüßt. Ich erwähne den Kaffee. »Ich werde dir helfen«, erklärt sie und stellt sich auf die Zehenspitzen, um an die Kaffeefilter zu kommen, beugt sich dicht zu mir hinüber und kichert. Sie heißt Linda, ist dreizehn und fragt mich aus. Ich erzähle ihr ein bisschen von Afrika. »Wow«, sagt sie. »Du bist ja beinahe ein Neger.«

»Professioneller Afrikaner«, entgegne ich.

»Bis bald«, sagt sie, als ich mit dem Kaffee gehe. Heute wird es nichts mehr mit dem Gymnasium.

Zu Hause im Keller liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Lene ruft von oben: »Dein Vater ist am Telefon.« Ich springe die Treppe hinauf.

»Hej, Vater.«

»Christian«, sagt er. »Es gibt da etwas … das ich dir erzählen muss.«

»Was?«

»Ich … Katriina und ich haben geheiratet.« Seine Stimme kommt mit dem Satelliten-Echo, die Sätze werden zerhackt, die Endungen verschwinden.

»Aha. Okay«, sage ich.

»Christian – du musst verstehen … es ist nicht …« Vielleicht kann er auch nur nicht sagen, was er sagen will.

»Es ist nicht was?«, frage ich nach.

»Es ist nicht … Nun ja, sie war allein mit den Mädchen. Solja und Rebekka.«

»Ja, und?« Ich weiß, wie die Mädchen heißen.

»Sie hat zu Hause niemanden, zu dem sie kann, und sie hat auch nicht die Mittel, um die Schule zu bezahlen.« Habe ich zu Hause jemanden? Ich beginne zu zweifeln.

»Also habe ich jetzt zwei Halbschwestern«, sage ich.

»Ja, aber du musst nicht …« Die Verbindung knistert heftig. Es rauscht in der Stratosphäre.

»Das ist völlig okay, Vater. Es ist, wie es ist. Aber kannst du nicht …«, setze ich an. Doch plötzlich ist das Telefon in meiner Hand tot. Fuck. Ich wollte ihn um ein bisschen Geld bitten, Vater hätte in dieser Situation nachgegeben: Schließlich hat er mir gerade eine Stiefmutter verehrt, deren Mann unter mysteriösen Umständen gestorben ist.

Ich höre nichts von Mutter. Sie ruft einmal an, sagt aber nichts. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass Vater Katriina geheiratet hat. Ich erzähle ihr auch nichts, denn das geht sie nichts an.

Ich vermisse es, mich mit jemandem aus Tansania zu unterhalten. Fühle mich seltsam fremd. Denke an Nanna, die mir auf der TPC meine Unschuld nahm, bevor ihre Familie zurück nach Dänemark ging – vor zweieinhalb Jahren. Ich rufe ihre Eltern an und erfahre, dass Nanna aufs Gymnasium geht. Eines Nachmittags ist sie am Telefon.

»Ich bin Freitag in Århus«, sage ich. »Ich dachte, vielleicht könnten wir uns sehen?«

»Da kann ich nicht. Ich muss was erledigen, ich habe wirklich keine Zeit.«

»Na ja, vielleicht ein andermal.«

»Kann schon sein – ich weiß es nicht«, sagt Nanna. Sie fragt nicht nach meiner Nummer, oder was ich gerade mache.

»Okay. Hej.« Okay, sie werde ich also nicht wiedersehen.

Wieder ein Bettelbrief von Marcus. Ich esse schlechtes Essen und laufe mit löchrigen Hosen herum, aber ich bin weiß. Das Geld wächst in Europa auf den Bäumen, das wissen alle Afrikaner. Kein Ton von Samantha. Shakila schreibt mir, Samantha sei krank gewesen und hätte die Schule verlassen, aber jetzt wäre sie wieder da. Aber sie sprechen nicht miteinander, weil Shakila mit Stefano zusammen ist. Ich würde sie gern sehen. Nächsten Sommer – er kommt ja bald.

Am Abend gehe ich mit Anders ins Rock Nielsen. Wir sehen uns die Mädchen an. Ich weiß nicht, was ich zu ihnen sagen soll, wenn sie so weiß und fröhlich sind. Anders hat ein bisschen Geld. Er kauft uns Bier. Wir trinken, beobachten die Leute. Anders reicht mir ein drei viertel volles Glas Bier und blinzelt mir zu. Er ist extrem gut darin, das Bier anderer Leute vom Tresen oder den Tischen zu klauen. Wir sind ziemlich schnell betrunken.

»Jetzt kann ich nicht mehr«, sagt er. »Wenn ich angetrunken bin, geht es schief, dann bemerken sie es.« Wir sind fast pleite, darum gehen wir, schlendern über die Fußgängerzone in die nächtliche Dunkelheit.

»Wollen wir nicht nach Hause fahren?«, frage ich ihn und denke an das Moped, mit dem wir in die Stadt gekommen sind.

»Ja, lass uns nur noch kurz bei McDonald’s vorbeigehen.«

»Hast du Hunger?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Ich will sehen, ob meine Schwester dort ist.«

Am Nytorv biegen wir um die Ecke. Linda steht mit einer Freundin vor dem McDonald’s – sie sehen gut aus, aber ein wenig überschminkt. Linda scheint sich zu erschrecken, als sie Anders auf sich zukommen sieht. Er packt sie. »Du kleine Nutte«, sagt er und gibt ihr eine schallende Ohrfeige.

»Lass das, du dummes Schwein!«, kreischt die Freundin und schlägt mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein. Ich bin stehen geblieben – fassungslos.

»Hej«, höre ich hinter mir, und eine Gruppe von drei Männern taucht auf und greift sich Anders, der einen Schlag in die Magengrube bekommt.

»Verflucht noch mal, man schlägt keine Mädchen«, sagt einer der Männer.

»Das hast du nun davon!«, schreit Linda und läuft mit ihrer Freundin davon.

»Das ist meine beschissene kleine Schwester«, stöhnt Anders. Sie schlagen ihn noch einmal, und ich stelle mich hinter den, der Anders’ Arme festhält. Als ich seinen Arm zurückziehe, weiß ich, dass ich Angst haben müsste, doch es ist der Alkohol, der mich meine Faust in seine Niere schlagen lässt. Sein Ellenbogen knallt mir ins Gesicht, ich taumele zurück. Anders windet sich los und versetzt dem anderen einen Stoß mit der Stirn. Massenschlägerei. Schläge und Tritte. Sirenen heulen, die Polizei umzingelt uns. Wir werden auf die Rückbank eines Streifenwagens geworfen. Der Polizist auf dem Beifahrersitz dreht sich um und gibt Anders eine Ohrfeige, als er versucht, etwas zu mir zu sagen. Zum Revier. Jeder wird einzeln verhört.

»Ich weiß es wirklich nicht«, erkläre ich, denn ich weiß es tatsächlich nicht. Am nächsten Morgen bekommen wir lauwarmen Kaffee und werden entlassen. Schmerzen im Körper, Schrammen im Gesicht.

»Tut mir echt leid, Mann«, sagt Anders. Ich stelle ihm Fragen. »Ach, Scheiße«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Sie ist ’ne Burgernutte.«

»Was?«

»’ne Burgernutte. Sie hängen am späten Abend bei McDonald’s herum und warten auf Männer, die sie abschleppen. Sie nehmen sie mit in ihr Auto oder einen Hinterhof, und dann bekommen sie von den Mädchen einen geblasen. Und das Geld geht drauf für Burger, Klamotten, Schminke und Schmuck – solchen Scheiß halt. Burgernutten werden sie genannt – ausschließlich Fellatio. Soweit ich weiß.«

»Aber sie ist doch kaum älter als … vierzehn.«

»Dreizehn«, sagt er. »Aber die Schnauze ist groß genug für einen Schwanz.«

Marcus

KINDERWEISHEIT

Katriina hat gesagt, sie würde mir Bescheid geben, wann ich zu Besuch kommen kann. Aber sie hat nichts von sich hören lassen, und ich will nicht warten. Vor vier Monaten sind sie umgezogen, und ich habe die Mädchen nicht einmal gesehen. Ich gehe zu Fuß, weil ich kein Geld für Benzin habe, das sehr teuer ist, wenn die Versorgungssituation schlecht ist. Ich habe Glück, das Tor steht offen. Katriina sitzt auf der Terrasse und sieht mich ein wenig erschrocken an.

»Ist bwana Knudsen auch zu Hause?«, frage ich sie.

»Er ist in Shinyanga, arbeiten.«

»Kommt Christian Weihnachten?«

»Nein. Frühestens nächstes Jahr, wenn er in der Schule Sommerferien hat«, sagt Katriina. Tsk.

Ich höre die Mädchen im Haus. Aber bin ich eingeladen, hineinzugehen? Nein. Katriina ruft den alten Issa, mir wird auf der Terrasse ein Bier serviert, aber die Mädchen halten sich fern.

»Wie geht es den Mädchen?«

»Es geht ihnen gut«, sagt Katriina und ruft: »Kommt mal raus und begrüßt Marcus, Mädchen!«

»MARCUS!«, ruft Rebekka, fliegt mir entgegen, umarmt mich, zeigt mir Zeichnungen, redet blitzschnell auf Swahili auf mich ein und fragt mich nach meinem neuen Haus, dem Kiosk und Claire aus. Etwas später kommt auch Solja – fast schon wie eine Fremde, die ihren afrikanischen Vater nicht mehr erkennt und mir wie einem Geschäftsmann die Hand entgegenstreckt. Tsk. Es ist gemütlich, aber auch traurig. Ich trinke aus und verabschiede mich, gehe fort von meiner alten Familie. Hinter mir höre ich Schritte. Es ist Solja. Sie läuft neben mir.

»Hej«, sage ich.

»Hast du eine Zigarette?« Ich gebe ihr mein Päckchen und eine Schachtel Streichhölzer. Sie zündet sich die Zigarette an und will mir die Schachteln zurückgeben.

»Behalt sie, aber gib mir auch eine«, sage ich. Sie schüttelt eine Zigarette aus der Packung und reißt ein Streichholz für mich an. Solja geht weiter. Wir gehen. Man muss nur abwarten.

»Sie sind bekloppt«, sagt sie. »Die Erwachsenen.«

»Wie? Bekloppt?«

»Sie haben beide ein Zimmer im Haus, aber nachts schleichen sie sich zueinander, und wir dürfen es nicht wissen.«

»Du musst das verstehen«, sage ich und bleibe stehen.

»Aber sie sind jetzt verheiratet. Wusstest du das?«

»Wer ist verheiratet?«

»Meine Mutter und Niels Knudsen.«

»Wirklich?«

»Eeehhh«, sagt sie.

»Dann dürfen sie auch zusammen schlafen.«

»Sie sagen, sie hätten nur geheiratet, weil Niels’ Arbeitgeber dafür bezahlt, dass ich auf die ISM gehen kann.«

»Wahnsinn.«

»Tsk«, sagt Solja – total mswahili. Dann wirft sie die Zigarette auf die Straße und tritt sie mit der Schuhspitze aus.

»Danke für die Zigaretten«, sagt sie, dreht sich um und läuft zurück zum Haus. Kinder wissen immer, was bei ihnen zu Hause alles passiert.

BETTELEI

Wieder schreibe ich Christian, wie gern ich Sachen wie Schmuck oder Kuriositäten nach Dänemark schicken würde. Er könnte die Sachen verkaufen, und das verdiente Geld könnte geteilt und auf ein Konto eingezahlt werden, das er in einer dänischen Bank einrichtet und mich nicht so im Stich lässt wie Mika. In Zukunft wäre ich vollkommen unabhängig und könnte handeln und alle möglichen Geschäfte aufziehen, um zu überleben. Weil ich weiß, dass ohne die Larssons alle über mich lachen und genießen werden, wie ich leide.

Claire sieht mich mehr und mehr als Enttäuschung an.

»Du solltest die Familie um Hilfe bitten.«

»Deine Familie?«, sage ich, um ihr den Mund zu schließen, denn sie hat nur ihre fromme Mutter, die arm ist, und eine jüngere Schwester, die den Weg zum guten Leben dadurch zu finden hofft, dass sie ihre Papaya für alle mabwana makubwa öffnet.

»Nein, deinen Bruder«, sagt Claire. »Er fährt matatu von Moshi nach Holili – die Fahrer in den kleinen Bussen bekommen eine Menge Schmiergeld, weil sie das Verbindungsglied zur Polizei sind, wenn die Passagiere Schmuggelgut aus Kenia durch die Polizeisperren auf der Straße nach Moshi bringen wollen.«

Das ist richtig. Mein jüngerer Bruder steigt in der Welt auf. Kann ich ihn fragen? Nein, denn ich habe dieses System des afrikanischen Sicherheitsnetzes verworfen und abgeschnitten, bei dem du dir an einem Tag ein Kilo Maismehl bei deinem Bruder leihst und er am nächsten Tag mit vier Kindern und einer dummen Frau in dein Haus zieht. Und du kannst nichts sagen, denn es ist deine Familie und du schuldest ihm noch Maismehl. Das ertrage ich nicht. Nein, denn meine ganze Familie kann mich jedes Mal wieder herunterziehen, wenn ich einen kleinen Schritt auf der Leiter mache. Sie wollen nach oben, ohne ihre Beine zu rühren.

»Aber jetzt, jetzt könntest du ihre Hilfe brauchen, oder?«, sagt Claire mit einem harten Blick.

»Nein«, sage ich. »Wir müssen uns unterstützen und unsere eigene Familie gründen, die richtig funktioniert. Du und ich.« Claire dreht mir den Rücken zu.

»Tsk«, sagt sie und geht.

In der Stadt begegne ich Ibrahim.

»Bist du nicht mehr mit Claire zusammen?«, fragt er.

»Wieso fragst du?«

»Ich sehe einen Haufen Typen, die sie verfolgen und versuchen, sie zu fangen.«

»Wo?«, frage ich.

»Sie kommt zu Jacksons in einem sehr engen Kleid, in dem alles direkt vor den Augen schaukelt«, sagt Ibrahim. Ins Jacksons, dahin kommen gefährliche Burschen. Sie haben eine Menge verschiedener Mädchen, und ich habe Angst – in ihrem Blut könnte der Tod sein. Am Haus der Strangler-Familie kommt der Wachmann zum Tor und erzählt mir, Claire sei nicht da. Vielleicht kommt sie morgen. Ich fahre zu Claires Mutter in einer entsetzlichen Gegend von Pasua. Aber Claire will mich nicht sehen, die Mutter sagt, ich soll gehen.

»Aber warum arbeitet sie nicht bei den Stranglers?«, frage ich.

»Die Familie Strangler reist in zwei Tagen zurück nach Australien«, sagt Claires Mutter.

»In zwei Tagen. Aber wo soll sie dann arbeiten und wohnen?«

»Sie will dich nicht mehr sehen«, sagt die Mutter und schließt die Tür vor meiner Nase. Was soll Claire ohne die Strangler-Familie tun? Warum hat sie nichts gesagt? Claire hat es vor mir geheim gehalten, während sie an dem Plan unserer kirchlichen Trauung arbeitete.

Claire will mich nicht sehen. Was kann ich unternehmen? Ich besuche Rhema, und sie behandelt mich gut, weil ich ihr über Harri Arbeit im Projekt verschafft habe. Aber ihre Familie ist voller Probleme. Erst ist der Vater gestorben, und jetzt ist die Mutter krank.

»Ist es Malaria?«, frage ich.

»Ich glaube schon«, sagt Rhema. Aber Malaria kann jemanden kaum so rasch zerstören. Vielleicht ist die Mutter wie eine alte Negerin aus dem Busch: Ihr Mann ist tot, und nun hat sie entschieden, nur durch Willenskraft auch zu sterben. Rhema will nicht darüber reden. Sie will mich gut lieben. Sie kommt jeden Abend in mein neues Ghetto und öffnet mir ihre Papaya. Trotzdem stimmt etwas mit dem Gefühl nicht. Ich frage sie.

»Wieso willst du mit mir zusammen sein?«

»Du bist gut zu mir gewesen, ich will dir meine Liebe geben.«

Wenn ich bei Rhema liege, denke ich an Claire. Hinterher bin ich müde und wünsche, Rhema würde gehen.

Christian

»Willst du ein bisschen Geld verdienen?«, werde ich von Anders gefragt.

»Wie denn?«

»Schwarzarbeit. Nachisolierung bei ein paar Häusern, Fliesen legen in ein paar Einfahrten, so was halt.«

»Ich weiß nicht, wie man das macht.«

»Das ist egal«, behauptet Anders. »Das erledige ich.«

Anders weiß es auch nicht, aber sein Onkel stellt uns an und zeigt uns, wie es geht, bevor er uns mit der Arbeit allein lässt. Ich überlege, ob der Onkel der Exmann der jüngeren Schwester von Anders’ Vater ist? Der Frau, die auf Frischfleisch steht und Anders im Suff die Unschuld genommen hat? Aber ich frage nicht.

Wir arbeiten in einer großen spießbürgerlichen Villa und sollen Steinwoll-Ballen durch die Dachluke unters Dach bringen. Dort müssen die Steinwoll-Bahnen auf die bereits vorhandene Schicht genagelt werden: Nachisolierung, um Heizkosten zu sparen. Eine sehr weiße Beschäftigung – nicht sonderlich afrikanisch. Es ist kalt und dunkel dort oben. Wir dürfen nur auf die Dachsparren treten, sonst könnten wir direkt durch die Dachbodenbretter brechen, die so konstruiert sind, dass sie nichts als die Isolierung tragen können. Und die bereits vorhandene Isolierung ist von einer feinen Staubschicht überzogen, die aufwirbelt, im Hals kratzt und auf der Haut juckt. Steinwolle – Granit, das bis zur flüssigen Form erhitzt und dann zu Wolle aufgeblasen wurde, wie Zuckerwatte. Aber es ist noch immer Stein. Feine Härchen aus Granit, die sich überall in die Haut bohren. Es juckt. Wir schwitzen, klettern zwischen den Sparren umher, lachen, öffnen die Ballen mit den Steinwoll-Rollen, legen sie aus – es darf kein Zwischenraum bleiben, sonst strömt die Wärme aus.

»Das juckt grauenhaft«, sagt Anders, als der Onkel kommt.

»Ihr werdet euch dran gewöhnen«, entgegnet er.

»Hört es auf, wenn man sich geduscht hat?«, will ich von ihm wissen.

»Wenn ihr ein paar Mal zwischen eiskaltem und brühheißem Wasser wechselt, öffnen sich die Poren der Haut, und es wird abgespült«, erklärt er.

»Toll«, sagt Anders.

Am nächsten Tag müssen wir bei einem anderen Haus Fliesen für die Einfahrt und den Hof schleppen. Wir schwänzen die Schule, um zu arbeiten. Es ist hart, aber wir bekommen Geld in die Finger. Ich kaufe mir für den gesamten Lohn Langspielplatten – träume davon, DJ im Liberty in Moshi zu sein: das gute Leben.

Ich schreibe Samantha von meinen Gedanken, und was ich für sie empfinde. Mir ist schon klar, dass ich es ihr nie sagen könnte, so von Angesicht zu Angesicht, aber … ich liebe sie, vermisse sie. Ich würde gern ihren ganzen Körper küssen. Einen kurzen Moment zögere ich am Briefkasten. Dann lasse ich den Brief fallen.

Ich kann nicht ständig zu Anders gehen, aber ich kenne sonst kaum jemanden. Ich laufe in Aalborg mit den Händen in den Hosentaschen herum. Fühle mich ausgeschlossen. Wo soll ich hin? Es ist bedeckt, ich gehe am Kunstmuseum vorbei, und durch den Kildepark hinüber zur Busstation, um an einem coolen Flipper zu spielen, der in der Imbissbude steht. Sehe mir die Busse an, rauche Zigaretten. Ich kenne niemanden, zu dem ich fahren könnte. Das Geld habe ich für die Musik verbraucht. Niemand will hier meine abgetragenen Jeans oder meine ausgetretenen Turnschuhe kaufen. Ich habe keine Münzen mehr, schlage den Kragen hoch und trete hinaus in den Wind. Schwarze Frauen. Dort stehen zwei schwarze Frauen und unterhalten sich auf Swahili.

»Habari gani?«, frage ich – wie geht’s.

»Nini?«, antworten sie – was? Sie sind schockiert. Ich lache, sie lachen, wir lachen. »Wo hast du das gelernt?«, will eine von ihnen wissen. Ich erzähle. Sie stammen ursprünglich aus der Gegend von Mwanza. »Dein Akzent ist absolut perfekt«, sagt die andere.

»Was macht ihr hier?«, frage ich und füge hinzu: »In Dänemark?«

»Na ja, wir wohnen hier – im Stadtteil Vestbyen.«

Ich stelle mich vor. Sie heißen Olivia und Sheila. Sheila ist die Hübschere – üppig.

»Wollt ihr mit dem Bus fahren?«, erkundige ich mich.

»Nein, wir müssen nach Hause«, antwortet Sheila. »Kommst du auf einen Kaffee mit?« Wir gehen in die Weststadt und kaufen unterwegs Kuchen. Sie wohnen in einer Wohnung über einem Fahrradhandel in der Borgergade. Wir gehen die Hintertreppe hinauf und betreten die Küche. Die Tür zum Rest der Wohnung ist geschlossen.

»Wir setzen uns einfach hier hin«, sagt Olivia. Sheila schickt ihr ein merkwürdiges Lächeln. Ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Sie schalten einen kleinen Radiorekorder ein, der Zaire-Rock spielt.

»Africafé«, sage ich, als Olivia die Dose mit dem Pulverkaffee aus Tansania auf den Tisch stellt.

»Ja, meine Familie schickt ihn mir.« Und dann sitzen wir in der Küche, unterhalten uns auf Swahili, trinken Kaffee, essen Törtchen, rauchen Zigaretten, lachen. Ich frage noch einmal, was sie hier machen.

»Na ja, wir haben dänische Freunde«, sagt Sheila.

»Wollt ihr heiraten?«

»Nein«, antwortet sie. »Wir wollen nur ein bisschen Geld verdienen und dann wieder nach Hause.«

Okay. Ich frage nicht, wie sie ihr Geld verdienen. Ich höre Schritte auf der Treppe.

»Ah, das ist wahrscheinlich mein Freund«, sagt Olivia. Zur Tür herein kommt ein Typ in einem blauen Overall mit Öl an den Händen. Der Fahrradmechaniker.

»Hej«, grüßt er. »Wie geht’s?« Auf Englisch.

»Gut«, erwidern Olivia und Sheila. »Das ist Christian aus Tansania«, stellt Sheila mich vor.

»Hej«, grüße ich. Er nimmt sich eine Tasse Kaffee und fragt, was ich in Tansania gemacht habe. Ich erzähle. Wir unterhalten uns ein wenig, bis der Groschen endlich fällt – langsam. Er fällt, und ich denke, ja, natürlich, wieso hast du das nicht sofort kapiert? Der Fahrradmechaniker ist ihr Zuhälter, möglicherweise ist er gekommen, um zu kontrollieren, ob sie arbeiten? Ich habe gehört, es gibt im Osten der Stadt eine Kneipe, die Das Narrenschiff heißt und in der man immer schwarze Huren treffen kann. Vielleicht sind sie abends dort. Jetzt ist Freizeit oder Überstunden. Der Mann ist ziemlich nett, trinkt eine Tasse Kaffee, raucht eine Zigarette, fragt, was ich mache, geht wieder.

»Na, ich muss sehen, dass ich nach Hause komme. Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen«, erkläre ich.

»Ja, es ist wichtig zu studieren«, sagt Olivia, während Sheila etwas auf ein Stück Papier schreibt, das sie mir überreicht.

»Komm mal irgendwann wieder auf einen Kaffee vorbei«, sagt sie. »Aber ruf kurz vorher an, damit du weißt, ob wir Zeit haben.«

»Danke«, erwidere ich. Sie schmunzelt frech, und ich habe Lust zu bleiben – und mit ihr hinter die geschlossene Tür zu gehen.

Ich trete aus dem Treppenhaus, stehe auf der Straße. Der Geschmack von Africafé am Gaumen und die Erinnerungen an Zaire-Rock kollidieren hart mit dem kalten Regen, der mir vom Wind ins Gesicht gepeitscht wird. Mein Gesicht fühlt sich starr an. Ich bohre die Hände in die Hosentaschen und gehe in Richtung Hafen. Der Klang von Zaire-Rock oder Reggae – ich halte es kaum aus, weil … es hier so grau ist. Obwohl es noch immer später dunkel wird als in Tansania, hat die Sonne doch keine Kraft; sie hängt lediglich schwach am Himmel. Niemand redet, niemand lächelt, alle rennen grau umher. Bei den Futtermittelfirmen biege ich ab und gehe in der Stadt in die Zentralbibliothek, dort ist es warm. Ich gehe zu den Kisten mit den Comics, nehme mir fünf Blueberry-Alben, setze mich und lese, bis ich Hunger bekomme. Verlasse sofort die Fußgängerzone, um der Menschenmenge zu entkommen – gehe durch kleinere Straßen. Das Narrenschiff steht plötzlich auf einem Schild, an einem Eckgebäude – die Kneipe mit den schwarzen Huren. Zum Teufel, nach Dänemark kommen und fette, leberpastetenfarbene Schweine ficken. Ich gehe rasch weiter. Ich rufe sie nie an, obwohl ich an Sheila denke, wenn ich mit den Händen unter der Bettdecke liege. Und an Samantha, Shakila, Irene.

Marcus

DER STEINDSCHUNGEL

Christian antwortet nicht auf meine Briefe, nicht mit einem einzigen Wort. Was zum Teufel in der Hölle auf Erden ist los? Ich muss wissen, wie es mit ihm und seinem Leben in Dänemark läuft. Hat er bereits ein Mädchen? Gibt es Geld für einen Kassettenrekorder, damit ich leben kann? Ich könnte ihm alles Mögliche zum Tausch schicken. Tansanische Schillinge sind Klopapier. Ich kann Schmuck und Makonde-Figuren, Kaffee, Cashewnüsse oder Batik schicken, um es in Dänemark zu verkaufen – alles legal.

Und ich sende Päckchen von Garvey Dread mit bhangi, versteckt in Tee-Packungen; Tanzania Tea Blend, Brook Bond Tea. Es steckt mitten in den Päckchen, eingewickelt in sehr dünne Küchenfolie; darüber, darunter und daneben ist Tee, damit kein Zöllner das Kraut riechen kann. Der Rauch kann ihn aufstehen lassen, ihn nach Afrika bewegen; so kann er die Danksagungen und Huldigungen vornehmen. Aber wenn der Zoll es findet, dann weiß er von nichts; es muss sich bei der Sendung um einen Fehler handeln, er kennt keinen Garvey Dread. Der Mann, der das geschickt hat, muss verrückt sein! Ich verstehe nicht, warum er nicht schreibt, es ist wie ein Stachel in meinem Fleisch, wenn keine Antwort kommt. Ich hoffe, er ist in Ordnung, und wenn etwas nicht okay sein sollte, dann soll er es mich wissen lassen, damit wir ehrlich miteinander umgehen und voneinander lernen. Es tut mir leid, dass ich ein Opfer bin, aber die Familie ist reich – Christian muss helfen.

VERWIRRUNG

Ich trinke Bier und Whisky in der Stereo Bar, weil Claire mir in den Ohren liegt, eine stabile Zukunft aufzubauen. Ein Mann lehnt sich an meiner Seite auf den Bartresen.

»Jetzt sehen wir den Mörder deutlich«, sagt er. Ich kneife meine Augen zusammen. Wer ist dieser Mann?

»Welchen Mörder?«, frage ich.

»Von dem mzungu in der Schwitzhütte. Jetzt hat der Mörder die Witwe des toten Mannes übernommen«, sagt der Mann. Es ist der Polizeiboss, der hier in Zivil neben mir steht.

»Nein, nein. Der Tod war ein Unfall.« Der Polizist grinst, und ich sehe zu, dass ich hinauskomme. Meine weißen Mädchen sind noch immer in Tansania. Wenn jemand zu viele Fragen über Jonas und seinen Tod stellt, dann ist das gefährlich.

Ich besuche sie wieder. Solja ist mit ihrem Hund im Garten.

»Solja!«, rufe ich. Sie kommt lächelnd zum Tor.

»Marcus«, sagt sie, als sie öffnet. »Wie geht’s dir?«

»Alles bestens«, sage ich, um sie nicht mit den Problemen Erwachsener zu belasten. »Ist Rebekka zu Hause?«

»Leider nein. Sie ist auf einem Kindergeburtstag, aber Mutter kommt bald.« Solja holt mir eine Cola. Wir setzen uns auf die Veranda und unterhalten uns gemütlich. Sie ist eine gute Tochter.

Dann kommt Katriina heim, und Solja geht ins Haus.

»Ich finde, du solltest nicht so häufig herkommen«, sagt Katriina.

»Es ist erst das zweite Mal.«

»Solja ist sehr verwirrt.«

»Auf mich macht sie einen sehr vernünftigen Eindruck«, sage ich.

»Ich kann es spüren, ich bin ihre Mutter«, sagt Katriina, die dem Kind gegenüber niemals so mütterlich gewesen ist wie ich.

»Diese Verwirrung liegt nicht an mir.«

»Du solltest jetzt gehen«, sagt Katriina. Tsk.

AUFREGUNG

Rhema ist einige Tage nicht zur Arbeit erschienen, und ihr Haus ist leer. Wie ich höre, ist nun auch ihre Mutter tot, und Rhema ist mit ihrer alten Großmutter und dem kleinen Bruder in einen Schuppen in dem elenden Stadtteil Soweto gezogen.

Auf der Arbeit kommen Gösta und Harri ins Lager.

»Das Lager am West-Kili ist ein Verhau«, sagt Harri zu mir. »Du kümmerst dich nicht ordentlich darum.«

»Wir brauchen einen Lagerassistenten am West-Kili«, sagt Gösta.

»Rhema muss dorthin ziehen«, sagt Harri und guckt mich böse an. Eeehhh, er hat Rhema einen Job gegeben, aber ich bin es, der von der Papaya nascht, wenn Harri im Wald ist. Jetzt will er die Papaya im Wald verspeisen. »Wir haben oben im Sägewerk bereits ein Zimmer für Rhema eingerichtet«, sagt er. Weiß Rhema, dass Harri verheiratet ist und in Schweden zwei Kinder hat? Er wird ihr nie ein Ticket geben. Aber vielleicht glaubt er es selbst.

Mein Leben passt sich dem tansanischen Rhythmus an. Jedes Mal, wenn ich etwas für das Projekt einkaufe, will ich ordentlich geschmiert werden. Und jedes Mal, wenn etwas vom Projekt verschwindet, weiß ich nicht, wer es gestohlen haben könnte, und verkaufe es dann in der Stadt.

Ich fahre mit Öl für die Motorsägen und Lohngeldern für die Tagelöhner auf den Berg. Rhema ist dort. Sie erzählt mir, was im Lager fehlt.

»Wo ist Harri?«, frage ich sie.

»Er musste nach Mbeya zu einer Sitzung.«

Als ich Harri das nächste Mal am West-Kilimandscharo begegne, bekommt er schnell einen roten Kopf vor Zorn.

»Wieso hast du nicht das richtige Öl beschafft?«, sagt er, obwohl das Öl richtig ist. »Du arbeitest sehr schlecht. Du hast in der Stadt zu sein und die richtigen Dinge zu beschaffen, anstatt ständig hierherzukommen, um dich auszuruhen.« Er hat bereits unter falschen Voraussetzungen meine Freundin gestohlen, und nun fängt er an, mich zu hassen, weil ich ihm zuvorgekommen bin. Vielleicht konnte ich die Papaya ja besser füllen? Die wazungu glauben, die waafrika hätten große Waffen zwischen den Beinen, so wie unsere Frauen große Ärsche haben – eines von beiden macht ihnen Sorgen und raubt ihnen den Nachtschlaf.

Rhema sagt nichts. Harri ist die große weiße Hoffnung.

DROHUNGEN

Bwana Knudsen kommt in seinem Land Rover und hält direkt vor meinem Haus.

»Du sollst Katriina und die Mädchen nicht so oft besuchen«, sagt er. »Katriina will das nicht.« Ich starre ihn an, total erschüttert.

»Ich versuche nur, euch zu helfen. Ich treffe den Polizeichef in einer Bar in Moshi, und er erzählt mir sofort, dass er Jonas’ Mörder sieht, wenn er sieht, wer im Bett der Witwe liegt.«

»Aber das ist nicht wahr«, sagt bwana Knudsen, sein Gesicht wird rot.

»Sind Sie sicher?«, frage ich.

»Wenn du glaubst, dass es wahr ist, dann geh zur Polizei. Ich will dieses Gerede jedenfalls nicht mehr hören.«

»Ich will nichts von Ihnen«, sage ich. »Aber warum kann ich nicht die Familie besuchen? Es ist auch meine Familie.«

»Es ist nicht deine Familie. Und wo sind deine Beweise für deine Behauptungen über Jonas? Es gibt sie nicht«, sagt bwana Knudsen wütend.

»Die Beweise sind in uns – unmöglich zu sehen.«

»Bleib weg«, sagt er, steigt ins Auto und fährt davon.

HEXEREI

Claire kommt zu meinem Haus. »Ich bin schwanger«, sagt sie.

»Du hast mit anderen Männern geschlafen«, sage ich.

»Es ist deins. Ich war bei niemand anderem.« Claire kann nicht lügen, denn ihr Gott hört alles.

»Aber du sagst, du hasst mich.«

»Nein«, sagt Claire. »Ich weiß es auch nicht. Mir ging es einfach so … eigenartig, so innerlich verwirrt. Als würde das Ganze explodieren.«

»Willst du in mein Haus ziehen?«

»Nein, erst musst du mich heiraten.«

»Ich will nicht heiraten«, sage ich. »Wir stammen nicht aus derselben Kirche.«

»Dann musst du die Kirche wechseln. Meine Kirche hat den wahren Glauben an Gott.« Es ist die Mutter, die aus ihrem Mund spricht.

»Meine Kirche ist ebenso richtig wie deine.«

»Ich hasse dich«, sagt Claire, und von einem Moment zum nächsten ist die Unterhaltung vorbei. Claire liegt auf dem Sofa über mir, fast nackt, und sie reißt an meinen Klamotten, um meinen Körper freizulegen.

»Du musst es jetzt tun«, sagt sie, als wäre sie von Geistern besessen. Das Gerede ist christlich, aber die Methoden stammen direkt aus dem Busch – Hexerei im Name Jesu. Nie zuvor habe ich so etwas bei ihr erlebt.

Hinterher frage ich sie noch einmal: »Willst du einziehen?«

»Ich bleibe bei meiner Mutter, bis ich das Kind zur Welt gebracht habe«, sagt sie, während sie ihr Kleid richtet und das Haar ordnet. »Ich weiß nicht, was ich tue.«

HÜHNERZAUBER

Alles Geld, das ich zusammenkratze, stecke ich ins Warenlager des Kiosks. Aber wer soll darin stehen?

Ich besuche meine Mutter.

»Gib mir meine größte Schwester, dann werde ich für sie sorgen«, sage ich. Meine Mutter ist böse auf mich, stimmt aber zu, weil sie selbst Probleme im Leben hat. Die größte meiner kleineren Schwestern heißt Ida und kann rechnen. Ich stelle sie in den Kiosk. Das Leben wird sonderbar. Ich habe ein Reihenhaus, aber ich schlafe im Kiosk, damit er nachts nicht geplündert wird. Ida schläft im Reihenhaus. Aber sie ist gut. Nur für das Essen und ein Dach über dem Kopf arbeitet sie von früh bis spät. Am späten Nachmittag macht sie im Kiosk eine Pause, wenn sie unser Essen zubereitet.

Claire macht mir große Sorgen. Soll sie mein Kind zur Welt bringen und es von ihrer frommen Mutter versorgen lassen, während sie selbst als Hausmädchen arbeitet? Das Kind wäre vom Beginn seines Lebens an zu religiös vernebelter Verwirrung gezwungen. Ich muss alles regeln und Claire dazu bringen, bei mir einzuziehen.

Sowie ich den Kiosk in Ordnung gebracht habe, beschaffe ich eine Ladung Abfallholz vom West-Kilimandscharo und gebe das letzte Kleingeld aus, um Handwerker anzuheuern, die im Garten hinter dem Haus ein Hühnerhaus bauen sollen. Ich brauche weitere Einnahmen, ich muss Valuta beschaffen, um eine neue Ausrüstung zu kaufen, mit der ich das Kopiergeschäft und eine große Diskothek betreiben kann.

Die Schulzeit hat mich das Alphabet trainiert, und das Lesen verschafft mir Vorteile. Die Genossenschaftsvereinigung betreibt einen Laden mit Futterstoffen und Medizin für Haustiere, und sie geben mir ein kleines Buch, in dem alles über die Produktion von Hühnchen erklärt wird.

Es dauert zwei Monate, um Hühner zum Verzehr zu produzieren. Ich bekomme sie als kleine Küken von einem Züchter, zwei bis vier Tage alt. Zuerst halte ich sie im Haus, im Raum unter der Treppe. Obwohl du nicht an Gott glaubst, liegst du in der kritischen Periode für kleine Küken jeden Abend auf den Knien: »Oh Gott, lässt du bitte das Elektrizitätswerk in Moshi die ganze Nacht ohne Unterbrechung laufen – sonst gibt es eine Katastrophe.« Die Küken werden gewärmt, eine Woche unter einer Sechshundert-Watt-Birne, eine Woche unter dreihundert Watt. Der Geruch der Hühnerscheiße hängt ekelhaft in sämtlichen Räumen, allen Klamotten. Ein grässliches Leben. Und nach zwei Wochen hinaus in den Schuppen und die Wärme auf zweihundert Watt absenken. Sechs Wochen im Schuppen, immer bei eingeschaltetem Licht, denn so fressen sie Tag und Nacht. Wenn ich das Licht abschalte, schlafen sie. Eingeschaltet. Fressen. Statt nach drei Monaten kann ich sie bereits nach acht Wochen Wachstum verkaufen. Ich gebe ihnen eine Futtermischung mit verschiedenen Kornsorten, Chemikalien, Vitaminen, Kalk und Salz – alles vermischt und vermahlen mit zerstoßenen Gräten und kleinen Fischen. Erst eine fein gemahlene Mischung, dann eine gröbere.

Nach zwei Wochen impfe ich die Küken gegen Krankheiten, indem ich antibiotische Chemikalien ins Wasser schütte. Zwei Wochen später wiederhole ich die Prozedur mit einer anderen Medizin. Der Züchter der kleinen Küken hat mir Instruktionen gegeben: Wenn ihre Immunabwehr zu schwach ist, bekommen sie dawa ya kuku – eine einheimische Hühnermedizin, die aus zerstoßenen Aloe-Vera-Blättern besteht, die mit Wasser vermischt werden. Es schmeckt nicht gut, deshalb gebe ich ihnen zunächst Futter, das mit fein gemahlenem pili-pili kichaa vermischt ist, das heißt mit Wahnsinnspfeffer – winzigen Chilischoten, die ungefähr ein Zentimeter lang sind. Wenn die Hühnchen richtig Hunger haben, fressen sie das scharfe Futter, doch das Wasser habe ich bereits entfernt und durch den Aloe-Vera-Juice ersetzt. Der wahnsinnige Durst lässt sie die unangenehme Flüssigkeit trinken. Und blitzschnell ist ihre Immunabwehr Spitze. Manche sagen, dass die wazungu-Frauen sich dawa ya kuku ins Gesicht schmieren, um eine hübsche Kinderhaut zu bekommen, aber das habe ich nie gesehen. Die Hühnchen wachsen und sind bald klar zum Grillen. Vielleicht bekomme ich den Auftrag eines Hotels und muss morgens fünfzig Stück abliefern. Ich gehe zu Tagelöhnern und sage: »Kommt morgen früh um fünf – ich habe fünfzig.« Ich bezahle einen kleinen Vorschuss. Sie kommen und fangen an zu arbeiten, stapeln im Garten hinter dem Haus Holz für ein Feuer, darüber ein großer Kessel mit kochendem Wasser. Sie schlachten und tauchen die Hühnchen ins Wasser, ziehen sie wieder heraus, rupfen die Federn aus und – man könnte kotzen bei dem Gestank – nehmen die Hühnchen aus. Sie packen sie in eine Plastiktüte und verknoten sie. Wenn es fünfzig sind, um acht Uhr mit einem Taxi, direkt zum Hotel, zum Supermarkt oder wo auch immer hin.

SCHULDIG

Das Reihenhaus ist gut, der Kiosk läuft, jeder Schilling ist ausgegeben, um das Hühnerhaus zu bauen und Hühnchen zu kaufen. Alles ist investiert, ich esse Maisgrütze, während ich darauf warte, dass die Dinge sich entwickeln. Aber schon jetzt hat mein Einsatz einen großen Splitter in die Augen der Nachbarschaft gepflanzt. Wenn ein Afrikaner anfängt, Erfolg zu haben, wollen alle ein Stück seines Arsches. Wenn er sich mit seinem Auto davonstiehlt, hält ihn die Polizei wegen zu schnellen Fahrens an. Wie willst du ihnen widersprechen? Ich habe jetzt angefangen, und alles, was ich unternehme, ist legal. Doch der Boss von National Housing droht mir ganz direkt, mich rauszuschmeißen, weil meine Trockenschnur schief hängt.

»Du darfst deinen kapitalistischen Kiosk nicht in unser Gebiet stellen«, sagt er. Aber die Frage ist nicht der Kiosk. Die zugrunde liegende Forderung ist Geld für seine Hand. Aber ich habe kein Geld.

Die Körper der Hühnchen haben erst die Größe einer Faust, aber bereits jetzt sind die ersten diesem Mann als Geschenk versprochen, bloß als Zeichen des Respekts und der Dankbarkeit, weil er mir in allen Bereichen des Lebens so behilflich gewesen ist – ich kann ihm gar nicht genug danken. Um an die Wohnung zu gelangen, bin ich den verdeckten Weg gegangen; um sie zu behalten, muss ich schmieren. Du musst schuldig werden, um in Tansania zu überleben.

Claire kommt eines Nachmittags an meine Tür.

»Ich brauche Geld für den Arzt«, sagt sie.

»Ich habe kein Geld.«

»Du hast mich dick gemacht. Jetzt musst du helfen.« Ich hole das Geld, das ich noch habe. Gleichzeitig sehe ich, wie mein alter verdreckter Vater auf den Kiosk zugeht.

»Pack deine Sachen«, sagt er zu meiner kleinen Schwester Ida. »Wir müssen los.«

»Ich muss Marcus helfen«, sagt sie.

»Nein. Wir kennen keinen Marcus«, sagt mein Vater.

»Aber … er ist mein Bruder.«

»Ich habe keinen Sohn, der Marcus heißt, also kann er auch nicht dein Bruder sein.«

»Aber Mutter hat gesagt …«, fängt Ida wieder an, aber eine Hand unterbricht sie. PAH – direkt ins Gesicht. Ich renne von meiner Veranda zum Kiosk.

»Du sollst sie nicht schlagen, du alter Idiot«, sage ich. Er versucht, mich zu schlagen. Ich packe seine Hand in der Luft und biege sie um, bis es schmerzt und er zurücktritt.

»Du hast meine Tochter entführt«, sagt er. »Wenn ich die Polizei hole, kommst du ins Karanga-Prison.« Ja, er hat das Recht auf seiner Seite.

»Hol deine Sachen«, sage ich zu Ida. Sie tut es und geht mit meinem verdreckten Vater, wobei ihr die Tränen in die Augen schießen.

»Tsk«, sagt Claire. »Ihr seid genauso wie die Gegend, aus der ihr kommt.«

»Was meinst du?«

»Deine Familie – ihr seid aus der Serengeti. Keine Menschen, sondern wilde Tiere.« Sie geht mit meinem Geld. Kein Geld und niemand, der sich um den Kiosk kümmert.

Abends kommt Phantom vorbei und gibt mir ein Bier aus.

»Alwyn hat seinen Kopierladen geschlossen. Sein Gerät war hinüber«, sagt er. Jetzt gibt es nur noch einen in der Stadt, unten an der Busstation, aber er hat die Musik nur auf Kassetten, und der Sound ist verrauscht. Und wenn es regnet, dringt bei ihm überall Feuchtigkeit ein, und die Bänder der Kassetten gehen auf wie ein Teig mit zu viel Hefe. Im tropischen Klima können die Spulen einer C90-Kassette gegeneinander drücken, dann drehen sie sich nicht mehr. Sein Sound ist Scheiße. Ich sehe mir Larssons kaputte Stereoanlage an, die ich für lange und treue Dienste geerbt habe, aber ich habe nicht mal das Geld für die Reparatur. Jetzt müsste ich bereit sein – der Markt ist offen für mich, aber ich habe keine Ausrüstung, und aus Dänemark kommen keine Sendungen.

FOOD AND AGRICULTURE ORGANIZATION

Als ich das nächste Mal zum West-Kilimandscharo komme, weint Rhema. »Ich bin schwanger«, sagt sie.

»Dann musst du mit deinem mzungu reden.«

»Er will nicht mit mir reden. Es ist nach Daressalaam gefahren.«

»Dann muss die Polizei mit ihm reden, wenn dein Schokoladenbaby kommt.«

»Aber … es ist nicht seins. Er hat die ganze Zeit eine Socke benutzt.«

Eeehhh, das ist richtig. Man wird nur schwanger mit einem mzungu-Mann, wenn er es will – er geht geizig mit seinem Samen um. Ich habe gesät, und nun darf ich die Probleme ernten: Scheißerei, Schreierei und Hunger.

»Du bist zu dem mzungu gegangen«, sage ich. »Ich bin jetzt wieder mit Claire zusammen.«

»Aber du hast mich geschwängert.«

»Claire ist auch schwanger.«

»Nein! Was soll ich machen?«, fragt Rhema. Und was soll ich machen?

Nach einem Jahr Stille kommt ein Brief von Mika aus Finnland. Wieder raus aus dem Gefängnis und noch immer am Leben – vielleicht war Aids nur eine von Mikas Lügen gegenüber Katriina? »Ich bin draußen und frei«, schreibt er. »Tritt auf keinen Fall in Kontakt mit mir, denn sie behalten jede meiner Bewegungen im Auge, jeden Kontakt. Halt dich fern von mir.« Und dieser Kerl schuldet mir über zweitausend Dollar, mit denen er seine Strafe für das bhangi und das Zebrafleisch bezahlt hat, und ich werde ihn nie wiedersehen. Träume. Ich muss mit dieser Sorte von Menschen abschließen. Nie wieder werde ich zu Mika Kontakt aufnehmen, der in Moshi erst Drogen missbrauchte und wie ein Stück Scheiße nach Finnland zurückgeschickt wurde, und dann zurückkam, um mein Leben zu ruinieren.

CATCH-22

Der afrikanische Sozialismus ist schon lange tot. Jetzt stinkt das Aas wie eine Hyäne, und wir sollen es mit Marktwirtschaft versuchen. Die Imara Möbelfabrik wurde zu einem Joint Venture, in dem Inder und Schweden als private Anteilseigner mit einundfünfzig Prozent und der Staat Tansania mit neunundvierzig Prozent beteiligt sind. Gösta wurde Miteigentümer, denn nach dem Tod von Jonas wurde die gesamte Korruption aufgedeckt und den bösen Taten des Toten angelastet. Harri fliegt nach Hause, und in der Firma herrscht eine andere Atmosphäre. Rhema ist bereits mit einem Fußtritt zu ihrer Großmutter in Soweto befördert worden, weil mein Samen in ihrem Bauch wächst. Und in der nächsten Sekunde stehe ich unter der Anklage des Chefbuchhalters: »Du betrügst uns, du behältst Geld für dich.«

»Nein, das stimmt nicht«, sage ich. Der Buchhalter ist interessiert an meinem Job als Einkäufer; er will billig bei den wahindi in der Stadt einkaufen, die einen sehr großen Betrag auf die Quittungen schreiben – dann können sie teilen und die Differenz als Schmiergeld behalten. Der Buchhalter redet auf Gösta ein: »Marcus hat immer Geld. Ich sehe ihn jeden Abend in der Stadt Bier trinken. Woher kommt all das Geld? Aus der Kasse von Imara.«

Ich schüttele den Kopf: »Ich verdiene Geld mit meinem Kiosk und der Hühnerfarm. Alle wissen, dass ich nebenher hart arbeite.«

Der Buchhalter hebt die Stimme: »Diese Hühnerfarm ist vollständig mit Brettern gebaut worden, die am West-Kilimandscharo gestohlen wurden. Wo ist die Quittung für den Ankauf der Bretter?«

»Nein«, sage ich. »Die Bretter habe ich von dem Sägewerk bei Rongai gekauft.« Das ist der große Konkurrent am West-Kilimandscharo.

»Du lügst ständig«, sagt der Buchhalter. »Du sagst, du hättest Diesel gekauft, aber wir können diesen Diesel nicht finden.«

Aber Gösta schlägt sich auf meine Seite: »Marcus hat sehr gute Arbeit für mich geleistet, und er weiß, wo man alles bekommen kann. Wenn ich Schrauben bestelle, beschafft Marcus die richtigen Schrauben. Ich will ihn behalten.«

»Ich kann nicht unsere Buchhaltung führen, wenn du einen Mann anstellst, der aus meiner Kasse stiehlt. Soll ich etwa alle Diebstähle direkt dem Ministerium melden?«, sagt der Buchhalter mit einem bösen Blick; er weiß etwas von der dreckigen Wäsche der Schweden.

Gösta bekommt Angst, ich sehe es. Vielleicht hatte Gösta selbst seinen Rüssel in der Kasse, denn jetzt lernt er ja alle tansanischen Methoden von seiner tüchtigen Chagga-Frau.

»Marcus«, sagt Gösta. »Dann fährst du zum West-Kilimandscharo und übernimmst die Aufgabe, die Baumstämme und Bretter zu zählen und das Lager zu leiten.«

»Ich kann nicht so weit weg leben«, sage ich. »Ich kann nur am selben Tag hin- und zurückfahren, denn wenn irgendetwas in mir kaputt geht, muss ich in der Nähe des KCMC und der Ärzte sein.«

»Das ist doch einfach gelogen«, sagt der Buchhalter.

»Dann musst du uns einen Brief deines Arztes bringen«, sagt Gösta. Er will den Buchhalter nicht direkt angehen, denn jetzt bläst ein neuer Wind, und dieser Wind kann die Wahrheit über Göstas diebische Natur direkt vom Mund des Buchhalters zu den Ohren des Ministeriums tragen.

Am Abend gehe ich mit meinem Chirurgen in die Bar und gebe ihm Bier aus, um an Beweise zu kommen: Er schreibt mir einen Brief. Ich gehe zurück und liefere den Brief im Büro ab.

»Du bist gefeuert«, sagt der Buchhalter.

»Was?«

»Der Brief beweist, dass du nicht in der Lage bist, deine Arbeit zu erledigen – dein Körper schafft es nicht.« Und dafür haben mich die Schweden fast ermordet.

»Wo ist mein Restlohn?«

»Schicken wir dir zu«, sagt der Buchhalter. Ich verlasse das Büro und setze mich aufs Motorrad. Der Buchhalter ist mir gefolgt.

»Das Motorrad bleibt hier«, sagt er. »Es gehört dem Projekt.«

»Nein, es ist meins«, sage ich. Dieses Motorrad habe ich selbst aus zwei Leichen zusammengebaut, die das Projekt total abgeschrieben hatte, aber ich habe eine lebendige Maschine daraus gemacht.

»Ich rufe die Polizei«, sagt er.

»Mach nur«, sage ich und fahre direkt zu Gösta nach Shanty Town – zum Haus, in dem er mit seiner klugen Chagga-Frau wohnt.

TOTENÄRZTE

»Ich kann im Augenblick nichts machen«, sagt Gösta. »Nachdem es ein Joint Venture geworden ist, habe ich nicht mehr so viel zu sagen. Du musst das Motorrad im Büro des Projekts abliefern. Aber ich werde versuchen, dir deinen Job wiederzubeschaffen.«

Ich blicke auf diesen Mann, der mir eine Reise nach Schweden versprochen hat. Während ich nicht in Schweden bin, ist dieser Schwede in Tansania und hat sich eine hübsche Chagga-Frau genommen, tsk. Aber ich habe im Economist von besonderen Ärzten gelesen, die nach Idi Amins Regime in Uganda die Leichenberge untersuchten. Ich bohre wie eine Maschine in Göstas Gewissen: »In Europa gibt es Ärzte, die in einer Leiche wie in einem offenen Buch lesen können. Wurde ihr auf den Kopf geschlagen, als die Leiche noch lebte? Wie viel Zeit verging vom Schlag bis zum Tod der Leiche? Und wenn du über diese Ermittlungen mit dem Polizeichef in Moshi sprichst, der sagt, dass eine Leiche nicht auf eine Bank fliegen kann – was ist dann das Resultat? Die Leiche verletzte sich den Kopf, bevor sie starb. War es ein Sturz oder ein Schlag? Wir wissen es nicht. Aber der Neger hat der Frau geholfen, die Leiche auf die Bank der Schwitzhütte fliegen zu lassen. Der Neger war zur Stelle.«

»Die Untersuchung ist abgeschlossen«, sagt Gösta.

»Ich kann eine Menge Krach schlagen.«

»Du kannst gar nichts tun.«

»Der tansanische Polizeiboss ist gekauft und bezahlt, ja. Und der Richter wird einen Mercedes und einen Marmorpalast fordern, um die Untersuchung wiederaufzunehmen. Aber wenn die Europäer diese Informationen hören, werden sie fragen: Hätte die Frau der Leiche nicht einen Arzt rufen müssen? Und ihre Antwort wird ja sein.«

»Warte hier«, sagt Gösta und geht ins Haus. Nach einigen Minuten kommt er mit einem manipulierten Stück Papier zurück, das beweist, dass das Motorrad mir gehört. Vor zwei Jahren vom Projekt durch ihn persönlich an mich verkauft. Ich stecke das Papier in die Tasche – später werde ich es der Polizei zeigen, um die Behauptungen des Buchhalters zu entkräften.

»Wann hast du mein Ticket nach Schweden?«, frage ich Gösta lächelnd.

»Pass auf«, sagt er und lächelt ebenfalls. Wir grinsen beide, und ich fahre in diesem Leben weiter.

Wenn ich in der Stadt bin, frage ich Ibrahim, ob er Claire gesehen hat.

»Sie ist jetzt dick«, sagt er. »Aber es gibt Probleme.«

»Was für Probleme?«

»Rhema geht zum Hexendoktor, um euch umzubringen.«

»Ich glaube nicht an Gespenster und Voodoo«, sage ich.

»Nein, aber Claire ist sehr nervös.«

Ich muss mich jetzt mit Claires Familie auseinandersetzen. Es gibt eine Mutter, die geradezu heilig ist, und die unfähige Schwester Patricia, die nur daran denkt, einen bwana makubwa ins Netz zu bekommen, damit sie ein gutes Leben in Faulheit führen kann.

»Ich war mit Claire heute Morgen in der Kirche«, sagt die Mutter. Erwartet sie eine Antwort? Ich sage nichts. »Es ist schwer für Claire, in die Kirche zu gehen.« Schwer? Eeehhh, wegen des Bauches. Niemand in der Kirche hat sie je heiraten sehen – und trotzdem trägt sie einen großen Samen in sich. Sie ist schlimm gewesen.

Ich sehe die Schwiegermutter direkt an, rede langsam und deutlich: »So viele Männer können diesen Samen in deine Tochter gepflanzt haben. Der Samen wird nur meiner, wenn ich sage, es ist meiner. Sonst kannst du deine Tochter behalten und hast ein zusätzliches Maul zu stopfen.«

Sie sagt nichts. Claire kommt herein. »Möchtest du eine Tasse Tee, Marcus?«, fragt sie. Ich nicke. »Wie viel Stück Zucker möchtest du, Marcus?«

»Drei«, sage ich. Sie nimmt den Löffel und rührt um, wie eine anständige Frau für ihren Mann. Der Aufenthalt bei der Mutter hat bei Claire für klare Sicht gesorgt: Die Mutter wird sie in den Wahnsinn treiben. Sie kann hier nicht wohnen, das Verhältnis zu mir muss mit aller Süße wiederaufgebaut werden. Der erste Schritt: Zucker in den Tee.

»Ich werde hier bei meiner Mutter wohnen, jedenfalls bis das Kind geboren ist«, sagt Claire. Wir haben wieder Kontakt, schwanken aber noch auf unsicherem Grund, obwohl sie meine Zärtlichkeiten in jeder Sekunde möchte, die wir allein sind: weibliche Eigenarten.

TRÄNEN

Im Kibo Coffee House sehe ich Katriina allein an einem Tisch sitzen, vor sich ein Glas Eiskaffee. Ich gehe an den Tisch, setze mich ihr gegenüber und lasse die Tränen fließen.

»Ich vermisse Solja und Rebekka so. Sie sind viereinhalb Jahre bei mir gewesen, und jetzt sind sie fort. Und eine Tochter in Finnland, die ich nie gesehen habe. Und bald ist Weihnachten. Ich würde ihnen so gern etwas schenken.« Katriina seufzt.

»Dann komm uns besuchen«, sagt sie.

»Ich werde nicht wieder darüber sprechen«, sage ich.

»Jonas?«

»Wer? Ich habe noch nie von diesem Mann gehört.«

MTOTO MSWAHILI

In der Stadt kaufe ich Süßigkeiten und zwei lustige T-Shirts, bevor ich zu Katriina und den Mädchen fahre. Solja ist den ganzen Nachmittag in der Schule, aber meine weiße Tochter ist zu Hause. Rebekka – sieht total mswahili aus. Wie sie den Blick bewegt und lächelt, aber wenn man sie zu antworten zwingt oder etwas verlangt – kann sie die Gardinen hinter den Augen vollkommen verschließen, so dass der Blick flach und leer wird; wie bei einem Neger, der eine irritierend gefärbte weiße Person leid ist.

Katriina bringt mir eine Cola auf die Terrasse und schaut auf Rebekka, die mit Lego spielt.

»Ich bin froh, dass sie sich nicht an sehr viel erinnert«, sagt sie.

»Und Solja?«

»Solja ist sehr zornig«, sagt Katriina.

»Aber sie ist auch stark. Sie wird zurechtkommen.«

»Und was ist mit dir, Marcus?«, fragt Katriina und sieht mich direkt an. »Musst du denn sämtliche Frauen schwängern?«, sagt sie und lacht.

Ich schüttele den Kopf: »Die Frauen sind so erotisch, ich höre einfach auf zu denken.«

Katriina geht in die Wohnung. Wie sehr kann sie mir helfen? Früher reiste sie auf Jonas’ Ticket, jetzt auf bwana Knudsens. Unter dem Aspekt der Menschlichkeit ist das besser, aber ökonomisch unabhängig ist sie nicht. Katriina kommt zurück.

»Das ist alles, was ich habe«, sagt sie und gibt mir einen Umschlag.

»Danke«, sage ich und fahre. Dollar – zusammen mit meinen paar eigenen ist es nicht genug für eine neue Stereoanlage, aber dennoch eine Hilfe, um die alte reparieren zu lassen. Ich gehe direkt zu den Indern und wechsele schwarz, nehme einen Bus zum besten Hi-Fi-Mechaniker in Arusha und liefere die tote Maschine dort ab. Bald wird das Kopiergeschäft wieder laufen und belebende Musik in meinem Ghetto spielen.

LOCKENDE KRANKHEIT

Ich sitze mit meinem Kaffee vor der Tür, und die Sonnenbrille verbirgt den roten bhangi-Blick. Eine junge Frau kommt durch meinen Vorgarten. Wenn ich in ihre Augen sehe, komme ich auf sexuelle Gedanken – eeehhh, an all das, was ich mit ihr anstellen und was meine Kopfschmerzen lindern könnte.

»Ich bin die Frau deines Bruders«, sagt sie. »Dein Bruder braucht deine Hilfe.«

Sie erzählt, er sei an der Grenze bei Holili mit Schmuggelware erwischt worden, die konfisziert wurde. Und nun soll er eine große Strafe zahlen, um aus dem Gefängnis zu kommen.

»Dein Mann ist dumm«, sage ich. »Die Polizei konfisziert nur, wenn man sie nicht genügend geschmiert hat.«

»Ja, aber wir müssen uns in der Familie gegenseitig helfen«, sagt sie und schaut direkt durch meine Sonnenbrille: »Wenn du mir hilfst, dann kann ich dir helfen – wir können uns gegenseitig helfen. Vielleicht muss dein Haus mal geputzt werden? Vielleicht soll ich dir das Bett machen, damit es hübsch aussieht? Ich könnte es sofort tun.«

Ich kann nicht einmal aufstehen und ihr eine Tasse Tee anbieten – meine Hose sähe wie ein Zelt aus. Sie ist auf diese dreckige Art frech; gefährlich für einen Mann. Als würde sie viele Krankheiten in sich tragen, und man wünschte sich auf der Stelle, sich durch ihre Papaya von diesen Krankheiten anstecken zu lassen. Aber die gesamte Nachbarschaft guckt zu. Marcus ist ein Mann, der allein in seinem Haus wohnt und zwei schwangere Freundinnen in der Stadt hat, und jetzt kommt eine einsame Frau – er lädt sie sofort ein und schließt die Tür. Alle wissen es. Nein. Es ist unmöglich.

»Ich habe kein Geld, um zu helfen«, sage ich.

»Tsk. Du hast ein Haus, einen Kiosk und keine Ausgaben für Frau und Kinder. Du bist reich. Wenn du nicht helfen willst, dann ist das reine Boshaftigkeit.« Sie dreht sich um und geht; es ist ein hübscher Anblick, aber schade, dass sie verschwindet. Ja, es ist wahr, ich könnte helfen, aber bin ich meines Bruders Hüter?