Christian

Ich bekomme einen Brief von Samantha; am Poststempel sehe ich, dass er lange unterwegs gewesen ist. Hastig reiße ich ihn auf. Sie schreibt, sie will sterben – das schreibt sie mir. Sie hasst ihr Leben. Sie vermisst mich. Sie hasst die Schule. Sie will nicht nach Europa, nach England, wo ihre Mutter ist. Sie will nicht mehr auf die Schule in Moshi gehen. Ihr Vater ist ein Arschloch. Alles ist Scheiße. Und ich sitze in einem Keller in Hasseris. Fuck. Wir sollten zusammen sein. Wir sollten die Kontrolle behalten und unser eigenes Leben führen. Nur an die Dinge zu denken, die wir zusammen tun könnten … Ich schreibe sofort zurück: dass ich im Sommer komme, dass ich überlege, wie man in Tansania ein Geschäft aufbauen könnte, dass sie schön ist, dass sie durchhalten, aber nicht jeden Mist akzeptieren soll, dass sie nicht traurig sein muss – denn sie ist besser als andere Menschen.

Auf dem Gymnasium gründen wir eine Band, Anders, ich und ein Mädchen namens Marianne. Sie singt und spielt Keyboard. Ansonsten ist sie ziemlich still; klug, glaube ich. Sie hat einen klasse Arsch. Wir finden keinen Gitarristen, der einen Reggae-Rhythmus spielen kann. »Du bist zu weiß«, sagt Anders zu einem, der es versucht, und fügt ein »tsk« hinzu, das er von mir aufgeschnappt hat. Marianne singt gut. Die Schule ist okay. Ich erledige fast alle Hausaufgaben, aber es ist trotzdem eine Wüstenwanderung. Noch immer kein Wort von Samantha. Ich schreibe Panos und erkundige mich, aber auch er antwortet nicht. Ich schreibe an Jarno, aber der schickt bloß eine Postkarte, auf der steht: »Ich stecke in der Examenshölle. Danach bin ich in Noralds Haus in Dar. Du bist willkommen.«

Im Gymnasium ist eine Party. Ich bin high, als ich mit Anders eintreffe. Wir hängen an der Bar neben der Tanzfläche. Gespielt wird irgendwelcher Rock, Anders mischt sich unter die Tanzenden. Ich schaue mir die Mädchen an. Geistlos, alles ist für sie in Ordnung – am schlimmsten wäre es, wenn ihnen das Geld für eine neue Bluse fehlen würde. Dann kommt Bob aus den Lautsprechern. Ich verlasse die Bar, stehe am Rand der Tanzfläche und lasse ihn in mich fließen. Schließe die Augen halb, damit ich die weißen Menschen nicht sehen muss. Tanze. Jemand kommt auf mich zu.

»Sag mal, wie tanzt du denn?«, sagt Anders, fasst mich an die Schultern und lacht. Ich schaue mir die Weißen an, einige von ihnen starren mich an. Marianne kommt zu uns.

»Hej«, sagt sie.

»Hast du das gesehen? Christian tanzt wie so ’n beschissener Neger.«

»Ach, weit davon entfernt«, gebe ich zur Antwort.

»Ich finde, du tanzt gut«, sagt Marianne. Ich kommentiere es nicht. »Wollen wir tanzen?«, fragt sie.

»Okay.«

Am Montag gehen wir mittags zu ihr nach Hause. Ihre Eltern arbeiten. Sie fragt nach Afrika. Ich rede über eine Steinzeit-Gesellschaft, die aufgrund der schwierig zu überwindenden Geografie ohne Kontakt zu ihrer Umwelt geblieben ist. Sämtliche Energie ist wegen des harten Klimas in den Kampf ums Überleben geflossen. Die Krankheiten. Der magere Boden. Keine Schriftkultur. Sklavenhandel und Kolonialisierung. Der Versuch, Afrika zweitausend Jahre in der Zeit voranzubringen, hat zu einer inhomogenen Gesellschaft mit Stammesnepotismus und Korruption geführt. Viel zu wenig Ausgebildete, keine stabilen staatlichen Institutionen. Dem Kontinent fehlt eine Zeit der Aufklärung, eine Hochschulbewegung, eine politische Reformation. In Tansania hatten sie eine Genossenschaftsbewegung, aber sie wurde durch von oben gesteuerten afrikanischen Sozialismus, Zentralismus und Planwirtschaft ruiniert. Die Subventionen der EU für Europas Bauern sind gekoppelt an hohe Zollbarrieren für afrikanische Produkte.

»Alles, was Afrika billiger produzieren kann als wir, wollen wir ihnen nicht abkaufen«, sage ich. »Reis, Mais, Baumwolle, Zucker.« Der Klang der Stimme meines Vaters hallt in meinem Kopf; der Klang von Whisky – aber das ist ja auch nur Gerede.

»Ich möchte dein Zimmer sehen«, sage ich.

»Wieso?«

»Einfach so«, entgegne ich und gehe die Treppe hinauf. Das Bett ist gemacht. Ich lege mich drauf. Sie steht in der Tür. Ich strecke die Hand aus. Sie bleibt stehen. »Komm«, sage ich. Sie kommt. Sie ist … bleich. Seltsam weiß. Wir streicheln uns. Nach und nach werden wir nackter. Ich schließe die Augen und denke an Samantha, während ich in sie eindringe. Wir gehen unten ins Bad, weil ich Lust habe, einen Kaffee zu trinken.

Sie beginnt, mich über Afrika auszufragen. Sie würde nach der Schule gern für die UNO in Afrika arbeiten.

»Es ist einfach so ungerecht. Ich meine … wir haben alles, und wir wollen einfach nicht helfen, obwohl sie an Hunger sterben«, sagt Marianne. Ich lache. »Warum lachst du?«, will sie wissen.

»Was willst du? Dass ich heule?«

»Es ist nur so … unnatürlich. Dass du lachst.« Ich lache noch mehr.

»Wirkt das irgendwie krank?«, frage ich sie. Marianne sieht mich an.

»Ja«, antwortet sie. Ich denke an das dröhnende Lachen bei den Huren über dem Fahrradladen.

»Das ist in Afrika so üblich. Man lacht das Schicksal aus, damit es einen nicht erdrückt.«

»Aber du bist kein Afrikaner.«

»Ich bin nicht so weiß, wie ich aussehe.«

Ich bin den ganzen Winter mit Marianne zusammen. Ich lerne, ihr nach dem Mund zu reden, damit ich ihr an die Wäsche kann. Es wird Frühjahr. Sie muss für ihr Examen lernen. Ich telefoniere mit Vater. Er will Geld schicken, damit ich mir ein Flugticket nach Daressalaam kaufen kann. Marianne prüft die Möglichkeit, als Au-pair nach England zu gehen – um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern und für Afrika zu sparen.

»Gehst du auch wieder dorthin, wenn du mit der Schule fertig bist?«, fragt sie mich. Eigentlich will sie sagen: Gehen wir zusammen nach Afrika, wenn ich in England gewesen bin? Aber ich will sie nicht im Schlepptau haben, ich möchte Samantha sehen.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Ich will einfach hin, um meine Freunde zu besuchen. Aber bei dir ist das was ganz anderes.«

»Willst du darüber bestimmen, ob ich nach Afrika gehe?«

»Nein, nein. Es ist dein Leben. Aber ich will Afrika nicht retten, denn das ist unmöglich.«

»Man kann es zumindest versuchen.«

»Nein, kannst du nicht. Du kannst dafür sorgen, dass du dich einigermaßen wohlfühlst mit deinem Schuldgefühl, weiß zu sein.«

»Wenn alle so wären wie du, dann wäre die Welt wirklich ein hässlicher Ort«, sagt Marianne zu mir.

»Haben die Afrikaner dich um deine Hilfe gebeten?«

»Sie brauchen Hilfe«, argumentiert sie.

»Du machst es nur wegen dir.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst?«

»Doch, genau das meine ich.«

Marcus

AUGE IN AUGE

Mit Liebe und in Ehren durch die Liebe Jahs. Das Verderben kommt näher, das Entsetzen in unseren Herzen. Aber bwana Knudsen sagt, Christian käme im Sommer. Oh, hoffentlich kann er helfen.

Endlich kommt ein Brief mit guten Kassetten. Aber es herrscht Verwirrung, wann er in Tansania eintrifft – er erklärt die Probleme mit Geld, Familie, Schule, Mädchen. Das Land der Weißen funktioniert nicht für ihn. Aber ich vertraue darauf, dass es mit der Stereoanlage klappen wird; der Brief ist munter und zeigt, wie sehr er seinen eingeborenen Freund schätzt. Meine Idee eines Exports von Tansania nach Dänemark wird nicht erwähnt. Aber er kommt ja bald, dann können wir Auge in Auge darüber diskutieren.

Ich schreibe sofort zurück und bitte ihn, drei Unterhosen für mich zu kaufen, wenn er kann. Ich laufe fast nackt herum. Medium. Nun ja, aber ich bin so arm, dass ich ihn um alles Mögliche bitte; auch um alte Hemden und Hosen, die er nicht mehr braucht – die Schneider in der Stadt können sie umnähen, damit sie mir passen. Er kann alles mit der normalen Post – dem Schiff – schicken, das ist billig. Oder hat er einen Freund, der etwas für mich hat? Ich bin in einer Lebenskrise, und ich hoffe, er kann sich erinnern und versteht.

PARADE DER SCHWIERIGKEITEN

Jetzt ist es notwendig, dass der Kiosk reibungslos läuft, denn nicht einmal der restliche Lohn von der Imara Möbelfabrik ist gekommen.

Ich vermisse Claire. Auch als Hilfe im Haus. Nicht, damit Claire für mich kocht, ich will keine Maisgrütze essen. Aber wenn Claire hier nicht wohnt, kann ich kein Hausmädchen beschäftigen, wenn ich zu Hause bin, denn dann glauben die Leute, wir wären gottlos, und das würde bedeuten, dass keine Kunden zu meinem Kiosk kämen. Also muss ich viel zu viel für eine christliche Frau aus der Nachbarschaft bezahlen, die putzt und mein Zeug wäscht. Und besonders lästig ist, dass ich jedes Mal meine Dose mit bhangi im Garten verstecken muss, wenn die Frau zur Arbeit kommt. Ihr Sohn soll mein Haus im Auge behalten, wenn ich etwas zu erledigen habe, damit keine Diebe kommen; aber als Gegenleistung muss ich ständig Gratis-Hühner abliefern.

Ich nehme den Bus nach Holili, um direkt bei den Schmugglern an der Grenze ein paar Luxuswaren für den Kiosk einzukaufen. Es ist billiger, als in Moshi zu kaufen. Als meine Tasche voll ist und ich mein Geld ausgegeben habe, entdecke ich Sia. Jetzt ist sie nicht mehr komisch, denn nun trägt sie eine Polizeiuniform – und alles, was sie sagt, ist Gesetz, also lächele ich ihr zu wie ein vorsichtiges Kind.

»Marcus«, freut sie sich. »Wie ich höre, ist der wahnsinnige schwedische Mann tot. Jetzt schaukelt er nicht mehr wie ein verrückter Affe an den titi sämtlicher Hausmädchen.«

»Tja, er ist jetzt in der Erde.« Wir unterhalten uns über die Zeiten des verrückten Schweden und wie das Leben so spielt. Sia lächelt; sie hat ein Haus, sie hat einen Mann, sie hat ein kleines Kind. Wenn man nah der Grenze bei der Polizei arbeitet, lassen die Schmuggler den Geldstrom direkt in die Tasche fließen. Ich frage nach meinem Bruder.

»Dein Bruder ist ein schlechter Schmuggler«, sagt Sia.

»Du kennst ihn?«

»Ja, ich habe ihn verhaftet.«

»Was hat er angestellt?«

»Dein Bruder wollte die Schmiergeldregeln nicht akzeptieren.«

»Aber Bestechung ist doch ungesetzlich?«

»Das ist Schmuggel auch.«

»Er muss schmuggeln, um zu überleben.«

»Und das Schmiergeld sichert mein Überleben.«

»Aber wie soll seine Familie jetzt zurechtkommen?« Sie sieht mich überrascht an.

»Aber er ist doch schon wieder draußen«, sagt sie und erzählt, die Familie hätte ihr gesamtes Hab und Gut verkauft und das Gericht bezahlt. Jetzt fährt er als Busfahrer nach Daressalaam. Ich sage Sia Auf Wiedersehen. Im Bus denke ich: Die Polizei hat viel für Sias Glück getan – solch einen Lebensweg hätte ich auch einschlagen sollen. Wenn man in diesem korrupten Land lebt, dann am besten auf der Seite, die geschmiert wird.

BUSCHRELIGION

Eines Tages kommt ein Junge zu meinem Kiosk, den Claires Mutter geschickt hat.

»Du sollst sofort mitkommen. Deine Tochter wurde in Pasua geboren.« Ich schließe den Kiosk, wir nehmen ein Taxi.

»Es gibt ein Problem mit der Mutter«, sagt er. »Sie redet von einer Hexe, die das Kind verflucht hat.« Claire liegt im Bett, ihre Mutter sitzt mit meiner Tochter im Arm auf einem Stuhl. Die Mutter grüßt nicht mal, redet dafür aber sehr schnell: »Rhema kam gestern als Erste zu Besuch. Am Tag nach der Geburt. Rhema hat die Milchflasche aus der Küche geholt, als Claire sie nicht sehen konnte.« Sie ist die Pfingstkirche, und nun glaubt sie auch noch an diese primitive Religion.

Claire wimmert im Bett: »Warum ist sie in mein Haus gekommen? Gestern am frühen Morgen, am ersten Tag, an dem ich mit unserem Kind aus der Klinik zurück bin. Ich kenne diese Rhema doch gar nicht, obwohl sie … dick ist. Das ist Hexerei.«

Natürlich weiß sie, dass Rhema von mir schwanger ist, und sie weiß auch, wer sie ist, aber sie haben nie wirklich miteinander geredet, es war alles Heuchelei. Und nun gibt es Mystik, Geister und böse Blicke.

Ich sehe mir das Baby an, das fantastisch zart aussieht, und sage zu Claire: »Das ist Aberglaube, Religion aus dem Busch. Das Baby ist fein. Es gibt keinen Grund, dass du wie eine Fessel an deiner Mutter hängst. Wenn du aufstehen kannst, kommst du mit in die Uru Road und übernimmst den Kiosk, dann kannst du das Geld kontrollieren. Gleichzeitig beschaffen wir Geld für das Kind.«

Bereits am nächsten Tag kommt Claire, um sich um den Kiosk zu kümmern, mit dem Kind auf dem Rücken wie eine Chagga auf dem Feld, und ich laufe in die Stadt und besorge Speiseöl, Reis, Maismehl, Mineralwasser, Kaugummi, Streichhölzer, Seife, Kerzen, Petroleum – alles, was man verkaufen kann.

So geht es eine Woche lang. Claire arbeitet in meinem Kiosk bei meinem Reihenhaus und geht abends zurück zu ihrer Mutter in Pasua; und ich muss ohne Zärtlichkeiten und Geflüster schlafen. Es ist schwachsinnig. Wir haben unsere Probleme noch nicht überwunden.

»Komm mit dem Kind und euren Sachen hierher. Dies ist eine viel bessere Gegend. Sehr viel sicherer, du kannst hier bei mir wohnen.«

So fängt es an. Zuerst schläft Claire auf dem Sofa, aber sie mag dieses Sofa nicht. Sie will Ledermöbel, wie sie in Mode sind: große runde, ausladende Möbel, in denen man versinkt. Unmengen von Schaumgummi, bezogen mit braunem Leder. Ich habe meine hellen Holzmöbel aus Imara im schwedischen Stil – sie sehen gut aus und sind bezahlt.

»Dieses Holz ist hässlich«, sagt sie.

»Nein, hier im Haus will ich dich, mein weiches Mädchen, und das harte Holz haben.« Sie ist schockiert. Doch eines Tages zieht sie in das schwedische Bett um.

Claire kann nicht so viel im Kiosk arbeiten, weil das Baby sie als seine Kuh betrachtet, und im Kiosk kann sie nicht mit ihren titi an der frischen Luft hinter dem Tresen stehen. Wir sind in Moshi, nicht in einem Dorf im Dschungel. Ich verliere Einnahmen. Umso wichtiger ist das Kopiergeschäft. Ich habe brauchbare Maschinen, aber mir fehlt das Marketing in meiner Firma, und mir fehlt die ganze neue Musik: Meine alten Bänder sind verbraucht und ruiniert vom Staub der Trockenzeit und der Feuchtigkeit der Regenzeit.

DIE KETTE DES KOLONIALISMUS

Ich fahre zur Imara Möbelfabrik, um mein Recht auf den Restlohn einzufordern.

»Du bist ein kranker Mann«, sagt der Buchhaltungschef. »Wir schulden dir nichts.«

Ich schreibe einen Brief ans State House, dass diese Menschen mich nicht rechtens bezahlen wollen – sie treten nur nach mir. Ich erhalte einen Brief, in dem steht, ich soll ins State House kommen und mich mit dem zuständigen Beamten treffen.

»Komm in zwei, drei Monaten wieder. In der Zwischenzeit werde ich mir überlegen, wie dein Problem gelöst werden kann«, sagt der. Zwei, drei Monate. In der Zeit kann ich vor Hunger sterben. Und kein Geld, um die Wartezeit zu verkürzen. Der Staat ist Miteigentümer von Imara, und jetzt soll ein Teil des Staates einen anderen Teil bestrafen. Siehst du, wie die Hand eines Mannes den eigenen Kopf abschlägt, als Strafe, weil er sich der Dummheit schuldig gemacht hat?

Während der Wartezeit erhält Gösta den Job als Verwaltungsdirektor der neuen TanScan, von der die Möbelfabrik und die Sägewerke geleitet werden. Wenn ich meine Beschwerden aufrechterhalte, würde ich auch mit dem Finger auf Gösta zeigen. Also höre ich auf. Ich denke, ich lasse es wegen Gösta; er sieht ja, dass ich einen Job brauche. Und er kennt mich. Wir haben die ganze Zeit zusammen gearbeitet. Und er weiß, dass ich meine Bezahlung nicht bekommen habe. Er ist der Boss der Abteilungen in Moshi, Mwanza und Mbeya. Mit all den Möglichkeiten kann er mir etwas anbieten, irgendeinen Job. Dieser Buchhalter, der meine Arbeit als Einkäufer übernommen hat, sitzt bereits im Karanga-Prison, weil seine Finger viel zu lang waren. Aber obwohl Jonas’ Leiche in der Erde liegt, fault es auch in der Luft um mich herum, und niemand mag es, wenn ihm dieser Gestank in die Nase steigt.

Christian

Eines Tages komme ich aus der Schule nach Hause und finde einen Brief. Von Samantha. Endlich. Ich reiße ihn auf.

»Ich habe die Schule verlassen. Aber ich glaube, für meine Zukunft ist es nicht von Bedeutung, denn ich will Kosmetikerin werden. Eigentlich ist das nur eine Schönheitsexpertin, aber es klingt imponierender, findest du nicht? Weißt du, mein Schädel ist vollkommen stoned, und heute Abend soll ich zu einem wirklich vornehmen skandinavischen Fest im Jacht-Club, ich hoffe, ich amüsiere mich. Treib’s nie mit einem Mädchen nur wegen ihres Körpers, okay? Denk immer dran. Mein Liebesleben ist total aufgeblüht, aber ich zweifele, ob du es billigen würdest, denn er ist alt genug, um mein Vater zu sein, aber er ist so nett, und vielleicht ist er ja auch so etwas wie eine Vaterfigur. Du darfst jetzt nicht wütend werden – ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich deswegen wirklich schuldig. Verstehst du, was ich meine? Egal, aber es ist schon eine sehr merkwürdige Beziehung, weißt du, der Typ ist achtunddreißig und ein Gast im Haus meines Vaters. Er wohnt jetzt schon ungefähr einen Monat hier, und es hat sich einfach ein starkes Band zwischen uns entwickelt – es ist mehr eine Freundschaft als eine sexuelle Beziehung, aber es ist auch nicht ohne Risiko, denn er ist ein Freund meines Vaters, und meine Schwester wohnt auch hier in Dar. Das Ganze ist also absolut heimlich, verstehst du, und das macht es auch zu einer abenteuerlichen Beziehung. Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche?«

Scheiße. Sie war so zu, dass sie vergessen hat, eine Absenderadresse auf den Brief zu schreiben. Ich kann ans Baobab Hotel in Tanga schreiben, aber wer weiß, ob es weitergeleitet wird? Ich muss hin. Ich muss dorthin. Bald. Es ist Frühling. Die Examina stehen bevor. Marianne geht zu ihren abschließenden Prüfungen und hat mich mehr oder weniger auf Eis gelegt. Mir ist es egal. Bald fliege ich nach Daressalaam.

Marcus

EIN HUNDERTJÄHRIGER KOHLEMINENARBEITER

Das Baby schreit und scheißt, die Hühner unter der Treppe tschilpen und scheißen, die Kunden am Kiosk schreien nach Bedienung. Immer wieder muss Claire ihre Brustwarze aus dem Mund des Kindes ziehen, hinauslaufen und Limonade verkaufen, dann wieder zurück ins Haus und dem Kind die Warze in den Mund gestopft, damit es im Haus nicht ständig nach Krankenwagensirene klingt. Ich suche nach einer neuen Arbeit, aber ich habe keine Fürsprecher, die sich für mich einsetzen, ich muss mir selbst helfen. Es gibt kein Geld für Benzin im Motorrad, deshalb fahre ich wie ein Neger in der Sonne auf einem geliehenen Fahrrad, um Waren zu kaufen: Mehl, Reis, Limonade, Seife, Speiseöl, Kleinigkeiten wie Süßigkeiten, Kugelschreiber, Glühbirnen, Toilettenpapier und Batterien. Und ich muss Hühnerfutter beschaffen und mich um die Vögel kümmern, damit sie groß sind, wenn sie geschlachtet werden. Und wenn es Abend wird und ordentliche Menschen schlafen gehen, habe ich meine Kopieraufträge von Kassetten zu erledigen. Ich nicke im Stuhl ein, aber mein hungriges Baby ist eine Alarmglocke – wenn sie aufwacht und saugen will, dann weiß ich, dass ich das Band umdrehen muss, um an mein Kleingeld zu kommen. Ich versuche alles. Das größte Problem ist selbstverständlich die alte Musik, die bei mir läuft – kein Zugang zu den neuesten Klängen. Mein Gesicht sieht grässlich aus, übermüdet wie bei einem hundertjährigen Arbeiter aus den Kohleminen. Und das Geld reicht nicht. Wie sollen die Leute von meinem Kopierbetrieb erfahren, wenn sich der Laden in einem gewöhnlichen Haus außerhalb der Innenstadt versteckt, noch dazu ohne Schild? Diejenigen, die ich kenne, sind bereits meine Kunden gewesen, und für alle anderen bin ich ein totales Geheimnis.

Ich muss die Chance mit der alten Larsson-Stereoanlage ergreifen. Ich sage es allen: »Ich kann bei euren Feiern spielen, ich kann auch die Party in den feinsten Farbfotos fotografieren, damit ihr eine hübsche Erinnerung an den Tag habt.« Ich fahre mit der Stereoanlage im Taxi zu kleineren Geburtstagen in der Stadt, und endlich, eines Tages: ein Geburtstagsabendessen im Moshi Hotel. Jetzt kann ich berühmt werden.

Die Party läuft. »Dreh auf«, sagen sie. Und ich drehe immer weiter auf, aber ich bekomme Bauchschmerzen, weil der Verstärker so klein ist. Dann kommt der Bursche, der die Reden koordiniert, zu mir.

»Gib mir das Mikrofon«, sagt er. Und ich kann nur sagen: »Sei so nett und rede laut.« Ein Mikrofon gibt es nicht. Um wirklich ein Hit zu sein, braucht man ein Mikrofon, damit der Redner sich wichtig fühlen kann; man braucht kein normales Licht, man benötigt eine Lichtmaschine, die blinkt. Solche Sachen habe ich nicht. Was soll ich machen?

HAUS DER BOSHEIT

Eine alte Frau kommt zu meinem Haus. Ich bitte sie herein. »Rhema hat deinen Sohn geboren«, sagt sie – es ist Rhemas Großmutter. Im Dorf wären Rhemas Vater und Brüder gekommen, sie könnten mich zwingen, sogar töten. Aber Rhema wohnt in Soweto und hat nur einen jüngeren Bruder und eine Großmutter. Sie sagt: »Du musst dich um sie kümmern.« Claire hat dem Hausmädchen befohlen, auf den Kiosk zu achten. Sie kommt herein und grüßt. Ich sage: »Rhema war mit vielen Männern zusammen. Sie hat am West-Kilimandscharo sogar bei einem mzungu gelegen.«

»Das Baby ist schwarz wie du, mit einer Chagga-Nase und einem Chagga-Mund. Und du weißt, dass sie damals nur mit dir zusammen war.«

»Sie kann nicht herkommen, hier wohnt bereits eine Frau im Haus, und wir haben unser Kind bekommen.«

»Du hast die Verantwortung für Rhema«, sagt die Großmutter.

»Es ist unmöglich, mit zwei Frauen in einem Haus zu leben – du darfst nur eine lieben, sonst würde eine von ihnen dich töten.«

»Du kommst in die Hölle, wenn du dich nicht um das Kind kümmerst. Die Bosheit wird in deinem Haus wohnen.«

Vielleicht ist das Kind, das Rhema geboren hat, mein Kind, aber nur ein Richter kann das feststellen und bestimmen, ob ich zu zahlen habe. Rhema hat kein Geld für einen Richter, und ich will nicht in die Richtung laufen, die eine Hexe mir weist.

Christian

Taxi zum Norad-Haus, wo Jarno wohnt. Wir fahren sofort zu einer Bar. Kilimanjaro Hotel. Es ist Nachmittag. Heiß. Ich schwitze. Mentaler Jetlag, obwohl ich in der gleichen Zeitzone bin. Die Aeroflot war laut und hat nach altem Schmutz und billigen industriellen Desinfektionsmitteln gestunken. Die Toilettenbrillen aus Holz waren mit klumpiger schwarzer Ölfarbe überschmiert. Wir trinken. Ich gehe zum Pinkeln aufs Pissoir. Es gibt keine Naphtalinkugeln, sie sind einfach nicht zu beschaffen. Tropischer Stil, meine Pisse plätschert über frische Zitronenscheiben. Aber flüssige Seife gibt es, fantastisch. Ich pumpe sie mir auf die Handfläche, öffne den Wasserhahn und … kein Wasser. Versuche es mit dem anderen Hahn. Nichts. Scheiße. Meine Hand ist voller Seife. Gehe aufs WC. Kein Toilettenpapier, mit dem ich die Seife abwischen könnte. Schaue hinein, braune Kalkspuren an der Innenseite der Toilettenschüssel, aber sauberes Wasser am Boden. Ich stecke die Hand hinein. Bewege sie im Wasser, das von der Seife schäumt, bis die Haut an der Handfläche sich straff und fest anfühlt, wenn ich mit den Fingerspitzen darüber fahre. Spüle, wobei ich die Hand unter das Wasser halte, das vom vordersten Teil der Toilette zurückspritzt. Jetzt ist die Zisterne leer. Saubere Hände. Willkommen in Afrika.

Nach ein paar Bieren nehmen wir ein Taxi nach Msasani und schwimmen in der Oysterbay.

»Hast du Samantha in letzter Zeit gesehen?«, frage ich Jarno.

»Ist lange her«, antwortet er.

»Was macht sie?«

»Keine Ahnung, Christian. Wir haben uns nicht richtig unterhalten.«

»Habt ihr euch … verkracht?«

»Nein, nein, ich weiß nur nicht, mit wem sie herumhängt. Jedenfalls nicht mit mir«, sagt er. Ich belasse es dabei.

Abends sitzen wir mit Diana, die auf der ISM in Samanthas Klasse ging, in einem Drive-in-Kino. Ich habe das Gefühl, als würden winzige Insekten unter meiner Haut krabbeln, die vor Hitze dampft; verbrannt von der Sonne. Wir betrinken uns mit Konyagi und Cola. Um vier Uhr morgens erwache ich niesend und mit einer Rotznase. Am nächsten Tag habe ich Blasen voller durchsichtiger Flüssigkeit am Nacken und auf der Kopfhaut. Die Blasen platzen, wenn ich sie anfasse. Die Flüssigkeit läuft heraus. Die Hautfetzen trocknen, lösen sich und fallen wie Schuppen herunter.

Aus Morogoro ruft Jarnos Mutter an und berichtet, die finnische Botschaft würde nach ihm suchen; es hat irgendwie damit zu tun, dass er seinen Militärdienst zu spät angetreten hat. Und nun ist in Finnland ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden. Er muss mit der Botschaft reden, denn sonst wird er verhaftet, sobald er seinen Fuß auf finnischen Boden setzt. Jarno lacht: »Die brauchen mich als Kanonenfutter, wenn die Russen kommen.« Er fährt in die Stadt. Am Nachmittag wollen wir in den Jacht-Club. Jede Menge Zeit totzuschlagen. Ich suche in einem Telefonbuch die Nummer vom Krankenhaus heraus, das Shakilas Vater leitet; ich weiß, dass sie in ihrer Freizeit immer für ihn arbeitet. Rufe an.

»Ich muss bis zwei im Krankenhaus helfen«, sagt Shakila und gibt mir die Adresse. Es ist nicht weit. Ich kann sie abholen. Ich trinke noch einen Africafé. Rauche Zigaretten. Nehme ein Bad, um die offenen Blasen und Hautfetzen von meinem Körper zu entfernen.

Gehe zu Fuß zum Krankenhaus. Ein paar gut erhaltene einstöckige Gebäude, Platz für ungefähr zwanzig Patienten. Shakila läuft mir entgegen, bleibt stehen.

»Christian«, sagt sie.

»Hej.« Ich gehe ihr entgegen. Wangenkuss mit Luft zwischen den Körpern.

Ich will wissen, ob sie sich auf die Universität freut.

»Man hat mich von der Uni geschmissen.«

»Wieso denn? Ich dachte, du hättest gerade erst angefangen.«

»Ja, ich habe letztes Jahr begonnen, aber jetzt haben sie mich rausgeschmissen.«

»Und warum?«

»Wegen Vater«, sagt Shakila und erklärt mir, ihr Vater – der berühmte Chefarzt – hätte an der Universität gearbeitet, bis er kündigte und sein Privatkrankenhaus eröffnete. Es gibt also einen Haufen Neid unter seinen ehemaligen Kollegen. Die Shakila unterrichten sollten. »Die haben sich gerächt und mich rausgeschmissen.«

»Kannst du irgendwo anders unterkommen?«

»Mein Vater schaut, ob ich vielleicht ins Ausland gehen kann.«

»Hast du Samantha mal gesehen?«, erkundige ich mich und sehe sie an. Die Augen kann ich nicht erkennen, aber ihr Gesicht verändert sich, sie wendet es ab und blickt übers Meer.

»Es läuft nicht gut mit Samantha.«

»Wie … nicht gut?«

»Sie ist mit ziemlich üblen Leuten zusammen.«

»Aber was macht sie?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, sie soll bald nach England.«

»Hast du gehört, was sie so treibt?«, frage ich noch einmal, denn selbstverständlich hat sie etwas gehört; sie ist nur so anständig, nichts Schlechtes über die Leute sagen zu wollen.

»Sie … war eine Weile krank. Und jetzt geht sie auf sämtliche Partys, ständig; es ist ihr egal, was die Leute über sie sagen. Gib mir mal ’ne Zigarette.«

Ich reiche Shakila die Packung und gebe ihr Feuer. Wenn es Samantha egal ist, was die Leute über sie sagen, dann bedeutet das, dass sie absichtlich tut, was sie kann, damit die Leute Schlechtes über sie verbreiten. Anders kann es gar nicht sein. Und ich habe diese Briefe von ihr bekommen; einen, in dem sie wünschte, tot zu sein, und einen, in dem sie mit einem alten Mann ins Bett geht.

»Weißt du, wo Samantha wohnt?«, frage ich Shakila.

»Nein. Vielleicht bei ihrer Schwester, Alison. Sie hat den KLM-Boss in Dar geheiratet, sie wohnen hier irgendwo in der Nähe. Aber du triffst sie im Jacht-Club, denke ich.«

»Okay.«

»Oder sprich mal mit Mick«, rät Shakila.

»Mick aus Arusha? Der noch vor dem Examen die Schule verlassen hat?«

»Ja. Er leitet eine große Autowerkstatt in Kariakoo, die einem Briten aus Sambia gehört.«

»Aber …«

»Aber was?«, fragt Shakila.

»Samantha. Was ist mit ihr passiert? Ich habe fast ein Jahr nichts von ihr gehört«, lüge ich.

»Ich verstehe sie nicht«, antwortet Shakila. »Sie hat alle Möglichkeiten im Leben, aber sie zerstört alles mit ihrem schlechten Benehmen, nur damit die Leute sie beachten. Ich finde es dumm. Sehr dumm.«

Shakila schüttelt den Kopf. »Tsk«, schnalzt sie.

Am nächsten Tag treibe ich mich in der Innenstadt herum. Dann fahre ich raus in den Jacht-Club. Ich werde als Jarnos jüngerer Bruder eingeführt, damit ich auf die up-country membership seiner Eltern hereinkomme.

Ich bestelle Hühnchen, Fritten und Cola. Esse. Schaue mich um. Entdecke eine Frau mit einem Säugling. Die Frau sieht Samantha ähnlich, ist aber älter. Sie ist hübsch. Es könnte ihre große Schwester sein, Alison. Ich gehe zu ihr.

»Entschuldigung, sind Sie Samanthas große Schwester?«

»Wieso?«

»Ich heiße Christian und bin in den Ferien aus Dänemark gekommen. Ich bin mit Samantha bis vor einem Jahr in die Schule gegangen.« Sie lächelt.

»Christian. Ja, ich habe von dir gehört. Ich heiße Alison.« Sie streckt ihre Hand aus.

»Ich habe auch von dir gehört«, erwidere ich und lächele zurück. Sie bittet mich, Platz zu nehmen.

»Samantha ist krank gewesen«, erzählt Alison. »Außerdem gab es jede Menge Ärger mit der Schule, aber jetzt ist sie wieder okay. Es dauert nicht mehr lange, dann fliegt sie zu unserer Mutter nach England.« Das Baby beginnt zu wimmern, und Alison stillt es. Ich kann ihre milchstrotzende Brust sehen – die gleiche genetische Zusammensetzung wie Samanthas. Danach schläft das Kind ein, ein Kindermädchen taucht aus dem Nichts auf und rollt mit dem schlafenden Baby davon. Alison fragt, was ich in Dänemark mache, aber da kommen plötzlich Samantha und Jarno an den Tisch. Samanthas Gesicht wirkt starr hinter der Sonnenbrille und der Zigarette. Ich umarme sie und frage, wie es ihr geht. Erzähle, was in Dänemark passiert ist. Samantha sagt nicht sehr viel. Sie trinkt Cola, raucht, lächelt und lacht – entspannt oder kühl, ich weiß es nicht recht.

»Gehst du mit schwimmen?«, frage ich sie mit einer Handbewegung in Richtung Strand.

»Nein, ich bin ein bisschen müde.«

»Na, okay.«

»Wisst ihr was?«, sagt Alison. »In zwei Tagen veranstalten wir ein Gartenfest mit Barbecue, um unser neues Kind zu feiern, und ihr seid eingeladen. Samantha kommt, außerdem könnt ihr Victor kennenlernen. Seine Frau kann leider nicht kommen, sie ist im Augenblick in England, hochschwanger, sie kann jeden Moment niederkommen.«

»Danke«, sage ich. Jarno nickt. Samantha fragt, wie spät es ist. Ich sage es ihr.

»Ich muss los«, erklärt sie. »Ich habe eine Verabredung.«

»Wann sehen wir uns?«, will ich von ihr wissen. »Wo wohnst du?«

»Können wir uns nicht einfach auf dem Gartenfest sehen?«

»Was ist mit morgen?«

»Kann ich nicht. Ich habe eine Verabredung«, behauptet Samantha. Alison sieht sie an, ohne etwas zu sagen.

»Könnte sein, dass ich morgen mal am Norad-Haus vorbeischaue«, sagt Samantha.

»Okay.«

»Aber wir können nicht den ganzen Tag rumsitzen und darauf warten, dass du irgendwann mal auftauchst«, wirft Jarno ein.

»Ich komme am Vormittag, vor dem Mittagessen, okay?«

»Ja, okay«, erwidert er. »Und wie zum Henker soll ich jetzt wieder in die Stadt kommen?« Jarno ist auf dem Rücksitz von Samanthas Motorrad zum Club gefahren. Wieso bittet sie nicht mich, mit ihr zu fahren?

»Ich fahre euch«, sagt Alison. »Dann kann ich euch auch gleich zeigen, wo wir wohnen. Es liegt direkt am Weg.«

»Wir sehen uns dort«, sagt Samantha und dreht sich um, wobei sie zum Abschied den Arm hebt; dann ist sie weg.

Als Alison uns zurückfährt, gibt sie uns ihre Telefonnummer.

Am nächsten Vormittag warten wir auf Samantha, aber sie taucht nicht auf.

»Auf so was habe ich überhaupt keinen Bock«, sagt Jarno und geht zum Strand. Ich habe Alison nicht gefragt, wo Samantha wohnt, weil sie ja uns besuchen wollte. Und ich habe sie auch nicht nach Samanthas Telefonnummer gefragt. Ich telefoniere mit Alison, lasse mir die Nummer geben und rufe Samantha an.

»Ach ja, entschuldige, aber ich hatte vergessen, dass ich zum Arzt musste«, sagt sie. »Aber wir sehen uns morgen beim Gartenfest. Ich muss jetzt Schluss machen. Hej.«

Der Hörer tutet in meiner Hand.

Ich fahre nach Kariakoo und finde die Autowerkstatt, in der Mick arbeitet, wie Shakila gesagt hat. Es ist ein Platz mit Autos in verschiedenen Stadien des Verfalls. Ein großes Halbdach spendet Schatten für die fünf Fahrzeuge, an denen gearbeitet wird, außerdem gibt es noch ein kleines Büro- und Lagerhaus. Die Mechaniker sind Einheimische, aber vor zwei Lastwagen steht Mick und redet mit einem großen, sehnigen Mann mit ergrautem Haar und vernarbten Unterarmen. Er trägt dunkle Khaki-Kleidung. »Hej, Mick«, grüße ich.

»Wart einen Moment«, antwortet er. »Ich muss das hier gerade noch klären.« Ich stelle mich unter das Halbdach. Mick diskutiert mit dem Mann, sie lachen, geben sich die Hand, und der Mann setzt sich zusammen mit einem schweigsamen Afrikaner in Tarnkleidung in einen der Lastwagen.

»Du heißt doch Christian, nicht wahr?« Mick kommt auf mich zu.

»Ja, das bin ich.«

»Ich kann mich gut an dich erinnern«, sagt Mick und gibt mir die Hand. »Einer von Samanthas Freunden.«

»Ja.«

»Das ist der Mann – Samanthas Vater.« Mick zeigt auf den Laster, der gerade aus dem Tor fährt.

»Okay. Und woher hat er die ganzen Narben?«

»Weißt du das nicht?«

»Nein.«

»Na ja, ich dachte, Samantha hätte es dir erzählt. Er ist Söldner. Ehemaliger SAS-Mann – Special Air Service – britische Kampftruppen. Kämpfte mit ihnen im Osten und auf der arabischen Halbinsel.«

»Echt?«

»Ja.«

»Ist er noch immer …?«

»Klar. Ein Söldner«, antwortet Mick.

»Und wo … kämpft er?«

»In allen afrikanischen Kriegen der letzten zwanzig Jahre – jedenfalls in allen, in denen es um Geld ging.«

»Wieso hat sie mir das nie erzählt?«

»Keine Ahnung«, erwidert Mick. »Was sollte sie sagen? Ihr Vater tötet Neger für andere Neger? Das ist nicht cool.«

»Unglaublich, dass er nicht getötet wurde.«

»Nein«, sagt Mick.

»Nein?«

»Nein. Er schickt seine afrikanischen Soldaten an die Front, damit sie getötet werden – er wird höchstens verletzt. Wie sollte er sonst seinen Lohn entgegennehmen?«

»Er hat afrikanische Soldaten, die für ihn arbeiten?«

»Einheimische Soldaten, die er anheuert, damit sie den Krieg zusammen mit ihm ausfechten. Er trainiert sie und … na ja, es ist nicht so, dass er sie im Kampf geradezu anführt – er dirigiert sie. Sie werden nicht ordentlich bezahlt, also können sie ebenso gut getötet werden«, erklärt Mick.

»Er ist also ein Söldner …«

»Ja, aber auch ein Geschäftsmann. Er hat ein paar Betriebe in der Umgebung.«

»Das Hotel?«

»Ja, das Hotel in Tanga, aber das wird ihm wohl weggenommen.«

»Wieso?«

»Die Regierung von Tansania glaubt, er sei in einen Plan verwickelt, die Führung auf den Seychellen zu stürzen.«

»Und, ist er?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Was macht er jetzt?«, will ich von Mick wissen. »Ist er in Dar, zusammen mit Samantha?«

»Nein, er muss arbeiten. Irgendeine Sache im Kongo. Training von Wachleuten in ein paar Minen.« Mick grinst und fügt hinzu: »Viel weißt du ja nicht. Wahrscheinlich mag Samantha dich deshalb so gern.« Sein Gesicht hat etwas Hässliches, wenn er redet.

»Tja, aber ich kann sie nicht finden, sehe sie nicht mal«, sage ich.

»Wahrscheinlich, weil sie dich so gern hat.«

»Was meinst du damit?«

Mick seufzt: »Sie steckt in der Scheiße.«

»Das sagen alle. Aber was ist das für eine Scheiße?«

»Zu viel Party, zu viel für die Nase«, antwortet Mick und klopft sich mit dem Zeigefinger an den Nasenflügel.

»Aber …« Ich will ihn eben fragen, wieso er ihr nicht hilft, denn er kennt sie schließlich. Aber schlagartig wird mir klar, dass er sie möglicherweise ebenfalls mag. Dass sie ihn vielleicht von sich gestoßen hat. Und dass er in seinem Inneren möglicherweise das gleiche Gefühl empfindet, das ich mit mir herumtrage und, so gut ich kann, verbergen möchte.

»Aber warum gibt es niemanden, der ihr hilft? Ihre Schwester oder ihr Vater.«

»Oder du«, schlägt Mick vor.

»Ich kann sie nicht finden«, erwidere ich. Mick zündet sich eine Zigarette an, reicht mir das Päckchen, hält sein Streichholz an meine Zigarette.

»Man kann keinem helfen, der sich nicht helfen lassen will«, sagt er.

»Was ist eigentlich los mit ihr?«

»Jede Menge Theater mit ein paar Burschen auf der Schule, die sich um sie geprügelt haben. Dann war sie eine Zeit lang krank, und danach gab es einen Inder in ihrer Klasse, der sie beleidigt hat. Sie hat ihn mit einem Stuhl verprügelt und wurde rausgeschmissen«, erzählt Mick. »Jedenfalls habe ich das gehört, denn gesehen habe ich sie schon lange nicht mehr.«

Samantha ist nicht bei ihrer Schwester, als ich mit Jarno auf dem Gartenfest erscheine. Wir tragen die Carlsberg-Twins-Uniform: weißes T-Shirt, blaue Jeans, allerdings mit einem Heineken in der Hand, denn Alisons Mann ist Holländer. Ich trinke das Bier hastig aus, nehme mir ein frisches.

»Sie kommt sicher bald«, meint Alison. Ihr Vater ist da. Steht am Grill, jovial und biertrinkend. Und ein Mädchen, an das ich mich aus der Schule erinnere, Angela. Ich werde Alisons Mann Frans vorgestellt, der in Ordnung zu sein scheint. Kurz darauf höre ich ein Motorrad in der Einfahrt, und einen Augenblick später kommt Samantha um die Ecke, gefolgt von einem großen, blonden Mann mit kalten blauen Augen, der Ende dreißig sein muss. Samantha grüßt kurz.

»Ich muss es mir mal ansehen«, sagt sie, betrachtet das Baby in der Wiege und wechselt ein paar Worte mit ihrem Vater. Sie stellt uns den Mann, mit dem sie gekommen ist, nicht vor. Ich gehe davon aus, dass sie mit ihm fickt. Alison kommt mit dem Blonden zu uns.

»Das ist Victor«, stellt sie ihn vor. »Er arbeitet mit meinem Vater zusammen. Und das hier …«, sagt sie zu Victor, »… sind Jarno und Christian, die mit Samantha auf die ISM gegangen sind.«

Er gibt uns die Hand, drückt ein wenig zu fest zu – pathetischer Narr. Ich trinke mein Bier aus, nehme mir ein neues und gehe zu Samantha.

»Er erinnert dich an deinen Vater, was?« Ich nicke kurz in Victors Richtung.

»Nein«, erwidert sie. »Die beiden sind sehr verschieden.«

»Er könnte dein Vater sein.«

»Ist er aber nicht«, sagt Samantha. »Und es wäre auch kaum möglich. Dann hätte er sehr früh anfangen müssen.« Victor steht mit Angela an der Bar und lacht. Samantha geht zu ihnen. Angela legt einen Arm um ihre Schulter und führt sie zum entgegengesetzten Ende des Gartens. Angela spricht gedämpft, während sie gehen. Ich folge ihnen mit den Augen und sehe, dass Samantha Angelas Arm abschüttelt und einen Schritt beiseitetritt, irgendetwas zischt. Ich stelle mich neben Victor und sage: »Na, und was machst du in Tansania?« Er antwortet irgendetwas, während ich aus den Augenwinkeln bemerke, wie Samantha sich nähert.

»Und wann kommt deine Frau nach?«, erkundige ich mich.

»Keine Ahnung«, antwortet Victor. »Der Geburtstermin ist übermorgen, aber es kann sein, dass es länger dauert. Und dann braucht es sicher ein paar Wochen, bis sie mit dem Baby fliegen kann.« Samantha umgeht uns, verschwindet im Haus. Ich schaue mich um. Alison ist ebenfalls drinnen, zusammen mit dem Baby. Ich überlege, ob ich auch reingehen soll, aber ich bringe es nicht über mich. Es fängt an, dunkel zu werden. Wir essen im Sitzen, die Teller im Schoß. Es ist gutes Fleisch. Samantha und Alison kommen wieder in den Garten, Frans bringt Alison einen Teller, er küsst sie. Samantha setzt sich neben Jarno und mich und fängt an, irgendwelchen Bullshit zu erzählen, wie wir einmal nach einer Tour in die Stadt fast am Schultor geschnappt worden wären. Ihre Augen sehen eigenartig aus. Dann klingelt im Haus das Telefon. Frans geht hinein und nimmt ab. Ruft nach Victor. Frans kommt in den Garten.

»Es ist Victors Schwägerin aus dem Krankenhaus. Er wird Vater«, teilt er mit.

»Es ist fantastisch!«, ruft Victor am Telefon im Wohnzimmer. »Ruft an, sobald sich etwas tut!« Er greift sich ein Bier. »Prost!«, ruft er über den Garten. »Ich werde Vater!« Alle heben ihre Gläser und Flaschen. Außer Samantha. Sie zündet sich eine Zigarette an. Ich blicke sie an. Sie schaut auf ihren Vater, der sie anstarrt. Sie steht auf. Geht ein Stück in den Garten. Dreht der Gesellschaft den Rücken zu. Ich gehe ihr nach.

»Bist du okay?«

»Nein«, sagt sie.

»Was willst du tun?«

»Weiß nicht. Ist mir egal. Es wird sich zeigen. Was soll ich denn deiner Meinung nach sagen?«

»Irgendetwas, das nicht vollkommen idiotisch ist.« So habe ich nie mit ihr geredet – nie mit irgendjemandem. Außer mit meinen Eltern.

»Alle halten mir Predigten. Alle. Und jetzt fängst du auch noch an. Dazu habe ich einfach keinen Bock.« Ich halte den Mund. »Tsk«, zischt sie. Es ist total traurig. Ich breite die Arme aus.

»Das ist so beschissen abgefucked«, sage ich und gehe tiefer in den dunklen Garten. Samantha folgt mir. Mir treten Tränen in die Augen. Sie legt ihren Arm um mich.

»Nein, lass das.« Ich schubse sie weg. Sie meint es ohnehin nicht so. Spielt nur mit mir. Sie umarmt mich noch einmal. »Hör auf«, sage ich und winde mich aus ihren Armen, obwohl ihre Arme wunderbar sind. »Du hast …«, beginne ich. Schlucke. Fahre fort: »Du brauchst nur …« Ich schlinge meine Arme um sie, um ihren Körper. Die glatte Haut der Arme, die prallen Brüste, die Taille, der hübsche Hintern. »Das ist das Einzige, was du tun musst«, sage ich.

»Vergiss es, Christian«, sagt Jarno am Sonntagmorgen.

»Was?«

»Samantha. Sie ist fucked up.«

»Verflucht, wie kommst du dazu, so etwas zu sagen? Wir sind Freunde. Samantha ist meine Freundin. Du bist ihr Freund. Sie ist unsere Freundin,«

»Du denkst doch nicht nur an Freundschaft.«

»Fick dich«, erwidere ich und rauche weiter.

Kurz darauf kommt Shakila.

»Kommt ihr mit zum Baden?«

»Ich weiß nicht«, sage ich.

»Ich bin zu müde«, erklärt Jarno.

»Ach, kommt schon«, sagt Shakila. »Jetzt bin ich den ganzen Weg hierhergelaufen, um euch zu holen.«

»Na, okay«, antworte ich, packe Zigaretten und Feuerzeug ein, setze die Sonnenbrille auf und ziehe die Badehose unter die Shorts. Wir gehen durch das Villenviertel zur Oysterbay. Ich sage kein Wort, obwohl ich Shakila wirklich sehr gern mag. Es ist einfach erbärmlich, dass ich nicht weiß, was … ich sagen soll.

»Was ist los, Christian?«, fragt sie mich. Ich zünde mir eine neue Zigarette an.

»Wir waren vorgestern auf einem Fest bei Samanthas älterer Schwester.« Ich erzähle ihr vom Fest, von Victor.

»Sie hat es im Augenblick ziemlich schwer«, sagt Shakila.

»Na ja, aber wieso?«

»Sie …«, beginnt Shakila, bleibt stehen und legt eine Hand auf meinen Arm; ich bleibe ebenfalls stehen. Sie schaut mir in die Augen. »Du darfst das niemandem erzählen, Christian. Ich darf das eigentlich nicht sagen.«

»Okay«, nicke ich.

»Sie hat letztes Jahr eine Abtreibung gehabt.«

»Wer?«

»Samantha.«

»Nein!«

»Doch. Ich weiß es von meinem Vater«, sagt sie. Shakilas Vater – der Arzt.

»Aber wer …«

»Das weiß ich nicht, aber es ist schwer für sie. Es ist ihr nicht leicht gefallen.«

»Ja, aber dann nützt es doch nichts, eine Affäre mit einem Mann zu haben, der ihr Vater sein könnte und obendrein verheiratet ist.« Ich gehe weiter und kneife hinter der Sonnenbrille die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Wer mag der Vater gewesen sein? Stefano? Baltazar, Mick, Victor? Der Gedanke ist nicht auszuhalten.

Wir gehen ohne ein Wort weiter bis zum Strand.

»Wer ist als Erster drin?«, ruft Shakila und fängt sofort an, sich das T-Shirt auszuziehen. Hastig streife ich die Schuhe ab. Wir werfen uns in die Wellen. Schwimmen, spielen Fangen. Shakila ist hübsch. Ich muss aufhören, an Samantha zu denken.

»Lasst uns eine Zigarette rauchen«, sage ich. Wir waten durch die Brandung und wollen uns gerade in den Sand werfen, als Samantha auf ihrem Motorrad erscheint, mit Jarno auf dem Rücksitz. Shakila wirft mir einen ernsten Blick zu. Sie legen sich neben uns.

Samantha schaut mich an: »Bleibst du die ganzen Ferien in Dar?«

»Nein, ich will noch nach Shinyanga, meinen Vater besuchen, außerdem soll ich mich mit ihm in Moshi treffen.«

»Und was ist mir dir, Shakila?«

Shakila lächelt.

»Auf die Universität nach Kuba.«

»Hast du ein Praktikum bekommen?«

»Ja. Mein Vater hat den Leistenbruch des kubanischen Botschafters operiert und ihm ein sehr billiges Ferienhaus in Pangani verschafft. Sie spielen Golf zusammen«, erzählt Shakila, noch immer lächelnd.

»Das ist doch fantastisch«, meint Jarno.

»Das ist normal«, antwortet Shakila. »Wenn Kanada zwanzig Studienplätze als Auslandshilfe finanziert, dann stehen alle Freunde des Kultusministers am Flughafen und winken ihren Kindern zum Abschied, die alle in Kanada studieren sollen. Und der Minister hat plötzlich ganz viele feine Knochen abzuknabbern.« Shakila zuckt die Achseln.

»Verflucht, wieso wollt ihr alle weg?«, fragt Samantha.

»Wir wollen weg«, erwidert Shakila, »weil Gott Afrika vergessen hat.«

»Und was willst du machen, Christian?«

»Was meinst du?«

»Willst du wieder nach Hause und zur Schule gehen, oder bleibst du hier, aber, fuck, wovon willst du leben?«

»Noch ein Jahr zur Schule. Und dann vielleicht eine Taucherausbildung in Dänemark und ein Tauchzentrum für Touristen hier in Dar oder irgendwo an der Küste starten.«

»Da wird niemand kommen«, meint Samantha. »Wir hatten so was in Tanga, aber sowohl Tanga wie auch Dar sind zu weit weg von der nördlichen Touristenroute. Es funktioniert nicht. Wer tauchen will, geht nach Mombasa oder auf die Seychellen.«

»Ich habe auch schon daran gedacht, in Moshi eine Diskothek zu eröffnen.«

»Du hast keine Anlage.«

»Ich kann was in Dänemark besorgen. Ich muss nur die Möglichkeiten abchecken, dann könnte ich eine Anlage hierherschicken und in einem Jahr anfangen.« Samantha erwidert nichts. Wenn sie in England ist, könnten wir uns dort oder in Dänemark treffen. Aber ich kann das nicht vorschlagen, denn sie behandelt mich, als wäre es ihr lieber, wenn ich verschwände.

»Wann fliegst du nach England?«

»Ich weiß nicht, ob ich nach England gehe … Und was hast du in den nächsten Tagen noch so vor?« Sie fragt, obwohl es ihr eindeutig egal ist.

»Ich geh schwimmen«, antworte ich, stehe auf und laufe ins Wasser. Shakila und Jarno kommen nach. Samantha bleibt am Strand und zündet sich eine Zigarette an. Wir bespritzen uns. Shakila steigt nass und schwarz glänzend aus dem Wasser und wälzt sich in dem feinen Sand, der große Teile ihrer Haut hell werden lässt.

»Würde es dir besser gefallen?«, fragt sie mich.

»Was?«

»Wenn ich weiß wäre?«

»Nein, zum Teufel, wasch’s ab!« Ich packe sie und schleppe sie zum Wasser. Sie entkommt meinem Griff.

»Magst du mich, weil ich schwarz bin?«

»Ich mag dich, so wie du bist. Und schwarz ist hübsch.« Ich werfe einen Blick auf Samantha. Ihr Gesicht ist eine unbewegliche Maske – der Blick hinter der Sonnenbrille verborgen. Ich würde sie gern umarmen. Gleichzeitig habe ich Lust, sie anzuspucken.

Jarno fliegt nach Finnland, der Militärdienst wartet. Wir haben abgemacht, uns im Winter irgendwo in Skandinavien zu treffen. Ich habe mit Vater gesprochen. Er hat dafür gesorgt, dass ich für ein paar Tage bei einigen Norwegern in Valhalla wohnen kann. Dann soll ich den Bus nach Moshi nehmen und bei Katriina und den Mädchen wohnen, bis er eine Woche später zu uns stößt. Danach wollen wir auf Safari. Shakila ist mit ihrer Abreise nach Kuba beschäftigt. Samantha … ich weiß nicht, wie ich sie erreichen soll, und wenn sie mich nicht sehen will, dann ist es auch egal. Ich verstehe es nicht. Ich rufe Alison an und hinterlasse die Adresse und Telefonnummer des Hauses in Valhalla, bitte Alison, Samantha die Nummer zu geben.

Ich latsche herum. Hänge am Strand ab. Schwimme und laufe, liege in der Sonne, rauche Zigaretten und trinke Cola. Jarno ist weg. Samantha … Ich freue mich auf Moshi und Marcus. Vielleicht sollte ich schon früher hinfahren. Ich habe ohnehin nicht mehr so viel Geld. Ich gehe zurück nach Valhalla, schwitze wie eine Kuh in der Sonne. Das Gelände ist eingezäunt, es gibt Wachen am Tor. Ich gehe zu dem Reihenhaus, dessen Stil vollkommen skandinavisch ist. Setze mich ins kühle Wohnzimmer. Die Norweger arbeiten. Sie haben keine Kinder. Das Hausmädchen hantiert in der Küche. Ich trinke noch eine Cola, gehe ins Gästezimmer, lege mich aufs Bett und rauche. Es klingelt. Ich höre, wie das Hausmädchen öffnet. Ich stehe auf und gehe in den Flur. Es ist Samantha.

»Hej«, sagt sie. »Ich muss mal auf die Toilette.« Sie läuft an mir vorbei. Ich höre, wie sie abzieht und sich die Hände wäscht. Ich gehe zum Kühlschrank und hole zwei Dosen Carlsberg.

»Möchtest du etwas trinken?«, frage ich, als sie aus der Toilette kommt.

»Ich muss gleich wieder los, das Taxi wartet.« Samantha weist mit einer Handbewegung in Richtung Straße.

»Ah ja, ich dachte …«

»Ich muss packen und so. Ich habe wirklich keine Zeit, Christian.« Ich bleibe stehen und sehe sie an. »Es tut mir leid«, sagt sie. Na, super. Sterben. »Aber ich esse mit meinem Vater zu Abend, dann fährt er mich zum Flughafen. Du könntest kommen und mit uns essen …?«

»Glaubst du, er hält das für eine gute Idee?«

»Nein, aber er hat sich mir gegenüber sowieso schon wie ein Schwein benommen. Komm schon – dann muss er sich wenigstens nicht wiederholen.«

»Okay.«

»Oysterbay Hotel. Um acht.« Sie umarmt mich, küsst mich auf die Wange. Ich hebe nicht die Arme. Stehe still. Es ist kalt hier.

»Bis dann, um acht«, sagt sie und geht zu ihrem Taxi.

Samanthas Vater Douglas sitzt an einem Tisch. Ich gehe auf ihn zu.

»Guten Tag.«

»Guten Tag«, erwidert er den Gruß. »Was machst du hier?«

»Samantha hat mich eingeladen.«

»Na, okay. Sie ist noch nicht da. Du heißt Christian, nicht wahr?«

»Ja.« Er fängt an, mich auszufragen, was ich in Dänemark mache. Was meine Eltern machen. Ich erzähle von der momentanen Situation und dass ich meinen Vater und seine neue Frau in Moshi besuchen will.

»Deine Eltern sind also geschieden. Na, ich muss Samantha zu meiner Frau nach England schicken. Ich weiß nicht, was ich hier mit ihr anstellen soll.«

Ich habe keine Antwort darauf. Glaubt er, Samantha weiß, was sie mit sich in England anstellen soll?

»Was soll sie in England?«, erkundige ich mich, da er nichts darüber erzählt hat. Ihr Vater lacht: »Tja, das frage ich mich auch.«

Wir trinken Bier, rauchen, Samanthas Vater schaut auf die Uhr. »Verflucht«, sagt er und steht auf. »So was macht sie ständig«, sagt er zur Erklärung. »Wir müssen zu ihr fahren.« Wir gehen zu seinem Land Rover. »Sie ist bei Alison.«

Als wir zum Haus von Alison und Frans kommen, ist niemand zu Hause. Der Wachmann sagt, sie wären im Jacht-Club, aber Samantha saß nicht im Wagen, als sie abfuhren.

»Hm«, brummt Douglas. »Scheiße. Dann ist sie vielleicht bei mir, um noch ein paar Dinge zu holen. Sie hat bis vor Kurzem bei mir gewohnt, aber jetzt wohnt dort einer meiner Kompagnons.« Er fährt schnell und sagt nichts mehr. Wir rauchen beide. Als wir zum Haus kommen, wird das Tor von einem alten Wachmann geöffnet.

»Shikamoo mzee«, grüßt ihn Douglas und fragt, ob er Samantha gesehen hat.

»Nein, heute nicht.«

»Könnte sie im Haus sein?«

»Das glaube ich nicht. Vor nicht allzu langer Zeit kam eine Dame aus dem Haus gelaufen, sie hat geweint. Und dann kam bwana Victor mit einer Tasche und fuhr auf dem Motorrad davon. Ich glaube, er fuhr der Dame nach. Es ist zu spät für eine Dame, wie ein Hund allein in der Dunkelheit herumzulaufen.«

»Eine weiße Frau?«

»Ja.«

»Aber Samantha hast du nicht gesehen?«

»Nein, aber sie kann durchaus hier gewesen sein. Ich bin gerade erst gekommen. Vorher war meine Tochter hier.«

»Dann frag sie, ob Samantha hier gewesen ist«, befiehlt Douglas ungeduldig.

»Aber sie ist gegangen, um mbege zu trinken«, antwortet der alte Mann und blickt zu Boden.

»Okay«, sagt Douglas und schaltet den Motor ab. Wir steigen aus und gehen zum Eingang. Douglas fasst an die Tür. Abgeschlossen. Er zieht einen Schlüsselbund aus der Jackentasche, schließt die Tür auf, geht hinein. Ich folge ihm durch die Küche und pralle fast gegen seinen Rücken, als er im Wohnzimmer abrupt stehen bleibt. »Samantha«, sagt er – mit rauer Stimme. Ich blicke um ihn herum, ein Zucken durchläuft meinen Körper. Samantha. Auf dem Sofa. Blut aus Augen, Nase, Ohren. Sie sitzt ganz still. Rot eingefrorener Blick. Das Blut ist dunkel – geronnen auf Wangen, Hals, Unterhemd, Höschen. Ihre Hände sind regungslos, bräunlich rot. Auf dem Sofa Blutflecken, als hätte sie gelegen, bevor sie sich aufsetzte. Auf dem Couchtisch vor ihr ist weißes Pulver verstreut. Ein zusammengerollter Geldschein. Douglas geht langsam auf seine Tochter zu und fühlt ihren Puls. Natürlich nichts. Das Leben ist in den Adern geronnen, mit dem Blut ausgelaufen. Ich übergebe mich. »Mach die Tür zu«, befiehlt Douglas. Ich schließe sie. Douglas hockt sich hin und streichelt Samanthas Wange, blickt in ihre roten Augen. »Samantha«, sagt er und schüttelt leicht den Kopf. Zigarettenrauch, ich halte eine angezündete Zigarette in der Hand. Führe sie zum Mund. Douglas ist aufgestanden. Er stellt den Couchtisch um, betrachtet den Sisalteppich darunter. Geht ins Schlafzimmer und kommt mit einem Laken zurück. Douglas greift nach dem Sisalteppich, zieht ihn zur Seite und breitet das Laken über den Boden aus, legt den Sisalteppich darauf – Samanthas Todeslager. Er hebt sie hoch, legt sie hin. Rollt sie in den Teppich ein wie eine Puppe. Die Zigarette verbrennt meine Finger. Ich lasse sie fallen. Stehe wie eingefroren an der Tür. Douglas ist vor mir – der Mund bewegt sich, aber lautlos. Er gibt mir eine Ohrfeige. »Hilf mir, sie anzuheben.« Ich bewege mich. Hebe. Samantha ist schwer. Der Wachmann öffnet die hintere Klappe des Land Rovers. »Setz dich rein«, sagt Douglas. Ich tue, was er sagt. Er spricht mit dem Wachmann, dann setzt er sich hinters Steuer. »Wo übernachtest du?«, erkundigt er sich.

»In Valhalla.« Er fährt. Samantha liegt hinter uns, eingepackt in ein Laken und einen Teppich, tot.

Wir kommen an. Sie lassen uns durch das Tor – wir sind Weiße. »Welche Nummer«, will er wissen. Der Ton seiner Stimme ist weit weg.

»Achtunddreißig.«

Douglas hält vor dem Haus.

»Hol deine Sachen.« Ich gehe hinein. Sage den Norwegern, ich hätte eine Mitfahrgelegenheit nach Moshi gefunden. Werfe meine Klamotten in die Tasche, gehe hinaus und setze mich wieder ins Auto. Wir fahren. Aus der Stadt hinaus. »Wenn wir sie begraben haben, fahre ich dich nach Morogoro. Von dort kannst du einen Bus nach Moshi nehmen. Wenn irgendwelche Behördenvertreter dich fragen, sagst du … erzähl einfach die Wahrheit«, sagt er. Was ist die Wahrheit? Der Wagen fährt von der Straße in den Busch, hält. In der Ferne bellen Hunde. Wir graben mit den Spaten des Land Rovers ein Loch. »Es muss tiefer sein, sonst graben die Hunde sie aus«, sagt Samanthas Vater. Weiß er nicht, dass die Hunde sie bereits haben? Wir legen sie hinein. Ich bete zu Gott, während wir die Erde auf sie werfen. Gott hört nicht zu. Hinterher stehen wir still an dem zugeschaufelten Grab. Douglas murmelt: »Ich verspreche dir, ich werde ihn töten, Samantha.«

Wir fahren. Den ganzen Weg über starre ich aus dem Fenster in die Dunkelheit.

Am frühen Morgen erreichen wir Morogoro. Douglas lenkt den Wagen über Feldwege voller Schlaglöcher bis vor ein verdrecktes Backsteingebäude. Paradise Guesthouse. Er bremst und lässt den Motor im Leerlauf laufen. Ich nicke kurz, greife nach dem Winston-Päckchen auf der Ablage und steige aus. Er fährt. Die Tür zur Rezeption ist geschlossen, ich setze mich in einen Sessel auf der Veranda. Rauche. Schon bald taucht die portugiesische Eigentümerin auf. Sie macht einen verhärmten Eindruck. Geflüchtet vor der Unabhängigkeit in Angola. Sie gibt mir einen Schlüssel. Ich finde das Zimmer im hinteren Gebäude. Es hat einen Betonfußboden, eine weiß gestrichene Decke aus Pappmaschee-Platten und nackte, schmutzig gelbe Wände. Das Moskitonetz vor dem Fenster ist voller Löcher und Staub. Die Fensterbretter sind verdreckt, ebenso die Gitterstäbe und die dunklen Gardinen. Die Schaumgummimatratze ist in der Mitte eingedellt. Ich spüre jede Lamelle des Rahmens an meinem Rücken. Eine leere Fassung hängt an einem Rest Leitung von der Decke. Eine andere leere Fassung kommt aus der Wand über dem Bett. Ich liege auf dem Bett und starre an die Decke. Stehe auf und gehe auf die Toilette, in der es aus den Flanschen des Abflussrohrs am Waschbecken tropft. Das Handtuch ist ausgefranst und hat eine undefinierbare Farbe, riecht aber ein wenig nach Waschpulver. Endlich fangen die Schatten an, lang zu werden. Ich finde ein indisches Restaurant. Esse etwas. Trinke Bier und Konyagi. Gehe zurück zum Paradise Guesthouse.

Ich habe nicht genug getrunken, um ohnmächtig zu werden. Ich setze mich auf den Stuhl und rauche eine Sportsman – Nummer vierzig heute. Drücke sie in einem schwarzen, gesprungenen Porzellanaschenbecher aus, der für Black&White wirbt. Öffne in der Dunkelheit ein weiteres Päckchen. Zwinge mich, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Lege mich wieder hin. Ich schwitze mit dem Laken über mir und friere, wenn ich es abziehe.

Am nächsten Morgen gehe ich auf den Berg.

Der Weg wird schlechter, je höher ich komme. Irgendwann teilt er sich – rechts geht ein Weg ab zum Gebäude der Post in der Nähe des Gipfels. Ich gehe nach links in Richtung Morningside. Der Weg ist zugewachsen und schließlich nur noch ein Pfad. Jarno hat mir erzählt, dass man noch vor zehn Jahren mit einem Geländewagen bis zum Gipfel fahren konnte. Die Böschung neben dem Pfad versperrt die Aussicht, als ich mich zum Gipfel über der Schlucht vorarbeite, an deren Ende Morningside liegt. Nach einer Ecke habe ich das Gebäude vor mir. Ein Backsteinhaus, das auf einem kleinen Plateau mitten in all diesem Grün liegt. Auf der Erhebung darüber sehe ich eine Gruppe gigantischer Zypressen, die sich merkwürdig losgelöst und majestätisch zum Himmel recken. Ich erreiche das Haus aus dem Jahr 1911. Es steht noch, wirkt aber verfallener als bei meinem letzten Besuch.

Ich setze mich einen Moment, fühle mich innerlich krank. Dann beginne ich die steile Klettertour hinauf zu den großen Zypressen. Von dort kann ich über den Rand des Regenwaldes sehen, der sich seit dem letzten Mal ein Stück zurückgezogen hat. Der Boden ist bis oben bestellt. Ich will an den Rand, will in der kühlen Dunkelheit stehen, inmitten der schweren Gewächse. Ich breche auf, um dorthin zu gelangen. Ein Pfad schlängelt sich den kleinen Bach entlang, der vom Regenwald herunterfließt, an Morningside vorbei. Hier gibt es Maisfelder und eine Menge Wirsingkohl.

Ich sehe keinen Menschen, bis ich einen jungen Mann bemerke, der mir vom Waldrand aus zuwinkt. »Njoo!«, ruft er. »Karibu sana«, ich soll kommen. Ich bin willkommen. Er steht oberhalb des Feldes und des Baches neben einer niedrigen Hütte aus Rohr und einem Dach aus Palmblättern. Ein Stück weiter steht eine kleinere Hütte – seine Toilette. Ich klettere auf Händen und Füßen an der Grenze zwischen Feld und Regenwald zu ihm hinauf.

»Mambo. Vipi?«, frage ich in Straßen-Swahili – hej, wie geht’s.

»Poa«, erwidert er lächelnd und streckt die Hände aus, damit ich seine Handflächen abklatschen kann – es geht gut. Wir lachen uns an.

»Ist das dein shamba?«, erkundige ich mich.

»Ja«, antwortet er mit einer Armbewegung und zeigt, wie weit sich sein Feld erstreckt – ein kleiner Morgen Land. »Ich habe die Erde selbst gerodet, damit ich etwas anbauen kann. Kohl, Mais, Bohnen, Tomaten, Karotten. Bald werde ich Passionsfrüchte pflanzen.« Ich mache ihm ein Kompliment für seine Felder. Sie sehen gut aus, obwohl sie illegal angelegt sind. Er hat ein Stück befriedeten Regenwald gerodet. Aber was soll er machen? Der Rest des Bodens ist verteilt. Er versucht zu leben.

»Komm und setz dich in den Schatten«, sagt er. »Ruh dich ein wenig aus.« Am Giebel seiner Hütte hat er das Dach verlängert, sodass es einem kleinen Platz Schatten spendet, auf dem zwei schmale kurze Holzbänke und ein kleiner Tisch aus grob zugeschnittenen Planken stehen. Ich muss mich bücken, um mich hinzusetzen. Er lächelt und setzt sich. Direkt am Eingang der Hütte gibt es eine kleine Feuerstelle mit einem Aluminiumtopf, in dem er sich Maisgrütze oder Bohnen zubereiten kann. In der Hütte steht eine Pritsche mit einer Lage Gras und ein paar Decken. Die Wände sind an der Innenseite mit Futtersäcken isoliert, die ihn vor Kälte, Wind und Tau schützen. Nachts wird es kalt hier oben. Ich erzähle, wie ich heiße, wo ich herkomme, und erkundige mich, wie er heißt.

»Johnny Costa Winston«, sagt er. Ich lächele, wiederhole seinen Namen. Cool. Ich hole einen Kugelschreiber und meine Schachtel Sportsman-Zigaretten aus der Tasche, schreibe seinen Namen darauf und halte sie ihm hin, damit er ihn lesen kann.

»So?«

»Ja«, sagt er. Ich wollte ihn nicht bitten, seinen Namen auszuschreiben; wenn er nicht schreiben kann, hätte ich ihn in Verlegenheit gebracht.

»Willst du eine Zigarette?« Er nickt. Ich suche in meinen Taschen. Habe ich noch welche? Ja. Das zerknüllte Winston-Päckchen, das ich aus dem Land Rover mitgenommen habe, als ich ausstieg. »Winston«, sage ich. Wir lachen, klatschen die Handflächen gegeneinander. Ich biete ihm eine Zigarette an – er bekommt etwas Andächtiges in seinen Blick.

»United States«, sagt er und raucht entrückt. »Safi kabisa« – total gut. Ich hole mein letztes Päckchen Erdnüsse heraus und biete sie ihm an; das ist alles, was ich habe.

Ich erzähle ihm, dass ich aus Europa komme, in den Ferien bin und meinen Vater besuchen will, der für die ushirika arbeitet, die Genossenschaftsbewegung. »Wohnst du hier?«, frage ich Winston.

»Wenn ich auf dem Feld arbeite, dann schlafe ich hier. Sonst wohne ich in dem Dorf etwas weiter unterhalb.«

Johnny Costa Winstons Frau heißt Jane und ist vierundzwanzig Jahre alt. Er ist fünfundzwanzig. Im Augenblick ist sie in der Stadt, um Gemüse zu verkaufen. Ihr Sohn heißt France und ist fünf Jahre alt. Manchmal besucht Winston sie im Dorf, manchmal kommt sie in seine kleine Hütte. Das Wasser strömt mitten durch sein Stück Land, es lässt sich gut trinken, man kann sich darin waschen und damit die Erde bewässern. Er brennt ein wenig Holzkohle für seine eigene Familie.

»Ist das nicht illegal?«

»Ja, schon«, sagt er und lacht laut. Ich schaue mich um und entdecke die kleinen bhangi-Pflanzen, die entlang der Hüttenwand stehen.

»Was ist das denn?«, frage ich und zeige darauf. Wir lachen.

»Willst du etwas davon haben?«

»Nein, danke, nicht jetzt«, erwidere ich. »Es sind sehr kleine Pflanzen«, füge ich hinzu.

»Ja.«

»Gibt es mehr?«

»Sie sind überall«, sagt Winston mit einer großen Armbewegung, und wieder klatschen wir die Handflächen gegeneinander.

»Rauchst du Pfeife?«

»Nein, ich drehe.« Winston vollführt mit den Fingern Rollbewegungen.

»In einer Zeitung?«

»Nein«, antwortet Winston und sieht mich mit einem etwas merkwürdigen Gesichtsausdruck an. »Kitabu.« Buch.

Er holt eine kleine Plastiktüte aus der Seitentasche seiner zerschlissenen Militärhose. Er will mir das Beste präsentieren, was er besitzt. Zusammen mit der Tüte zieht er ein kleines Buch mit schwarzem Einband aus der Tasche. Sein Drehpapier – es fehlen Seiten.

»Du bwana«, sage ich und grinse. »Du rauchst Gottes Buch, habe ich recht?« Das Neue Testament. Er schlägt sich auf die Schenkel.

»Das ist vollkommen richtig«, erwidert er und gibt mir das Buch. Das Matthäus-Evangelium hat sich bereits in Luft aufgelöst. Im Moment arbeitet er sich durch Markus.

»Das Buch raucht sich gut.«

»Ja. Das Papier ist besser als Zeitungen.«

Am Abend setze ich mich vors Paradise Guesthouse und rauche Winstons Joint – gedreht aus dem Evangelium. Hinterher liege ich auf dem Bett und höre der Nacht zu. Ich höre Samantha unter der Erde, den Verfall ihres Fleisches.

»Du siehst blass aus«, sagt Katriina. »Bist du krank?«

»Möglicherweise habe ich Malaria«, lüge ich. Vielleicht erklärt das meine Erscheinung. Ich sehe aus wie ein Chemopatient.

»Hast du Marcus gesehen?«, fragt sie – ein wenig nervös, wie ich finde.

»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen. Ich wollte noch warten.«

»Na, okay. Ich glaube, er kommt ganz gut zurecht«, sagt sie und fügt hinzu: »Ich weiß nicht, wo du schlafen kannst. Hm, im Wohnzimmer ist es nicht so gut, wenn du länger schlafen willst als die Mädchen.«

Ich sitze mit einer Cola auf dem Sofa. Solja ist in der Schule, um zu schwimmen, denn der Swimmingpool ist offen, obwohl die Ferien begonnen haben. Rebekka ist bei einer Freundin. Es ist ein typisches, schlecht durchdachtes Haus im Kolonialstil: zwei Schlafzimmer, die Mädchen haben das eine, Katriina das andere.

»Was ist mit der Dienstbotenwohnung?« Sie wäre mir sehr recht, denn ich habe keine Lust, mit irgendjemandem zu reden.

»Ja, das ist möglich. Issa wohnt in einem der Zimmer, aber das andere nutzen wir als Abstellraum. Ich glaube, die Sachen können wir auch in der Garage unterbringen.« Issa ist jetzt der Koch. Juliaz musste gehen, als Vater mit Katriina zusammenzog.

»Gibt’s da ein Bett?« Ich bin erschöpft.

»Nein. Aber ich habe noch eine Reserve-Matratze.« Sie klingt skeptisch, ich bin es auch. Matratze auf dem Boden: Kakerlaken, vielleicht Ratten, Spinnen.

»Ich schau mal, ob mir irgendwas einfällt«, sage ich. Ich gehe in die Dienstbotenwohnung im Garten hinter dem Haus und schaue sie mir an. In dem Raum stehen zwei große Transportkisten aus Aluminium von Ostermann. Sie reichen mir bis zur Mitte des Oberschenkels. In der Garage finde ich ein paar lange Bretter, die ich zwischen die beiden Kisten legen kann. Ich befestige die Bretter mit breitem Klebeband, damit sie sich auf dem glatten Aluminium nicht verschieben. Es fühlt sich gut an. Also nicht … Samantha ist überall. Ich kommuniziere mit der Toten. Sie ist nicht zufrieden. Ich bin auch nicht zufrieden.

Eine der Kisten von Ostermann ist schwer und verschlossen. Ich finde einen Kuhfuß und hebele das Vorhängeschloss auf. In der Kiste liegen eine Menge Unterlagen über FITI, die Imara Möbelfabrik, TanScan, den West-Kilimandscharo und die Sägemühlen: Jonas’ Sachen. Ich hebe einen Stapel Papier hoch – darunter liegt eine Plastikschachtel, die ich öffne. Ein Revolver. Marcus hat mir mal erzählt, dass Jonas einen Revolver hätte. Es gibt auch eine Schachtel mit Patronen. Vorsichtig nehme ich die Waffe heraus. Sie hat leichte Rostflecken. Ich klappe die Trommel auf. Der Revolver ist nicht geladen. Ich packe ihn wieder ein und lege die Papiere darauf. Dann baue ich mein Bett zu Ende. Lege mich drauf und starre an die Decke. Was nun? Vater kommt in einigen Tagen aus Shinyanga. Er arbeitet dort mit der Baumwollunion SHIRECU, hofft aber, wieder Arbeit in Moshi zu bekommen, denn hier ist es weitaus angenehmer. Außerdem möchte Katriina nur ungern umziehen und Solja aufs Internat schicken, obwohl sie bereits vierzehn ist. Ich gehe davon aus, dass DANIDA ihr Schulgeld zahlt, nachdem Vater Katriina geheiratet hat.

Was soll ich jetzt unternehmen? Vielleicht gehen wir auf eine Safari, wenn der Alte kommt – ich weiß es nicht. Ich schaffe es nicht.

Am Abend gehe ich früh zu Bett. Ich onaniere, denke an Marianne – es sagt mir nichts. Sif. Irene. Shakila. Nichts passiert. Ich versuche, es zu lassen, aber es endet damit, dass ich an sie denke – die Tote. Es ist furchtbar. Es funktioniert. Ich schlage Victor tot.

Marcus

AFRIKA SIEGT

Kommt Christian, oder kommt er nicht? Ich fahre mehrmals zu Katriinas und bwana Knudsens Haus und erfahre: »Nein, er ist in Dar, wir wissen nicht, wann er kommt.« Und eines Tages kommt Katriina in ihrem Nissan Patrol direkt zu meinem Ghetto und sagt: »Christian ist gekommen.«

Ich recke den Hals, um zu sehen, ob er im Auto sitzt. Katriina schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, wo er ist«, sagt sie. »Vielleicht … Ich glaube, er ist krank.«

»Krank? Etwa Malaria?«

»Nein, er ist müde und … ich weiß auch nicht. Kannst du vorbeikommen?«

»Klar«, sage ich. »Ist er jetzt zu Hause?«

»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Ich komme heute Abend.« Katriina fährt wieder. Krank?

Als ich komme, ist er nicht da. Niemand weiß, wo er ist.

»Vielleicht ist er im Club und spielt Golf«, sagt Solja.

»Es ist dunkel.«

»Vielleicht hängt er in der Bar.«

Ich fahre in der Dunkelheit mit dem Motorrad langsam in Richtung Moshi Club und achte auf den Straßenrand, wo Hirten ihr Vieh zum Schlachthof in Pasua treiben. Und dort geht er, wie eine Ziege in der Nacht.

»Christian!«, rufe ich, fahre vor ihn und stelle den Motor ab. »Willkommen in Tansania. Ich habe dich gesucht.«

»Hej, Marcus«, sagt er und lächelt seltsam müde.

»Wie geht’s dir?«, frage ich. Er wirft mir einen schrägen Blick zu, zuckt die Achseln, schaut weg.

»Lass uns zum Uhuru Hostel fahren und eine Limonade trinken«, sagt er. Ich trete den Kickstarter. Er setzt sich hinter mich, und ich kann in seiner Kleidung das bhangi riechen. Es ist ein merkwürdiger Tanz. Er mit einer schwelenden Wut, die überdeckt wird von einer total leeren Traurigkeit – dieses Gefühl ist sehr weiß, und ich weiß nicht, wie man darüber spricht. Also erzähle ich einfach, was alles passiert ist. Es ist spät, und das Uhuru Hostel schließt.

»Was sollen wir machen?«, frage ich ihn.

»Ich weiß nicht.«

»Wir können in mein neues Ghetto fahren, es gibt eine Bar in der Gegend. Und Claire ist mit unserer Tochter bei ihrer Mutter.«

»Okay. Ich brauche nur noch einen Pullover von zu Hause.« Wir fahren hin.

Ich stelle die Maschine ab, weil ich gern mit hinein möchte. Hat Christian gute Sachen aus Dänemark mitgebracht? Er geht zur Dienstbotenwohnung, dreht sich auf halbem Wege um und grinst: »Ja, jetzt wohne ich in einem Ghetto, genau wie du.«

»Wohnst du da drin?«

»Ja«, sagt er. Ich folge ihm. Er wohnt in einem Raum, wie ein Gärtner mit der Matratze auf Kisten.

»Hast du keine Musik?«

»Die steht im Haus.« Ja, natürlich, sonst würde sie gestohlen. Christian nimmt sich einen Pullover, schließt mit dem Vorhängeschloss ab. »Lass uns fahren«, sagt er.

»Willst du Katriina nicht sagen, wo du bist?«

»Ich weiß nicht.« Dann sagt Christian zu dem Wachmann: »Mimi nitakaa nyumbani ya Marcus mpaka kesho« – er wohnt bis morgen bei mir. Wir fahren zu meinem Haus. Ich schiebe das Motorrad ins Wohnzimmer und schließe es ab. Wir gehen in eine Bar ganz in der Nähe. An einem Tisch sitzen vier fette mabwana makubwa, sonst ist es leer.

»Hast du irgendwelchen Zaire-Rock?«, fragt Christian an der Bar. So etwas hat das Mädchen nicht. Christian bestellt Getränke und setzt sich. »Ich bin inzwischen ein ziemlich guter Schlagzeuger«, sagt er. »Ich könnte mir vorstellen, hier mal in ’ner Band mitzuspielen.«

»In Moshi? Livemusik gibt’s bei uns nur in der Kirche, aber das ist selten.«

»In den Hotels in Arusha«, sagt Christian. Das Mädchen bringt uns Bier und Konyagi.

»Bist du krank gewesen?«, frage ich, weil Christian schlecht aussieht.

»Nein, es geht mir nur nicht so … ich bin müde.« Ich frage, warum, und er erzählt von Dänemark – er mag es nicht.

»Hattest du ein paar Mädchen?«

»Ja, eine. Sie redete viel darüber, nach Afrika zu kommen, aber … ich weiß nicht.«

»Dir fehlt noch ein Jahr auf der Schule?«

»Ich habe die Schule satt«, sagt er. »Fuck off. Lass uns noch was bestellen …« Christian wechselt ins Schwedische: »Und dann gehen wir zu dir nach Hause und rauchen ein bisschen.« Er ruft die Bedienung und bestellt mehr Bier, mehr Konyagi.

»Natty Dread Rides Again«, sage ich, denn es ist schön, dass er gekommen ist und wir uns nach über einem Jahr wiedersehen, trotz aller Wirren des Lebens.

KRIEGSERINNERUNG

Am Samstag gehen wir zu dem großen Kiosk, der in der Mitte des National-Housing-Geländes steht – abends gibt es hier auch eine Bar, in der guter Zaire-Rock gespielt wird.

»Ist das Liberty noch immer die beste Disco in der Stadt?«, fragt Christian.

»Nein, jetzt ist es das Moshi Hotel.«

»Lass uns hingehen und ein bisschen zuhören.«

»Okay«, sage ich, obwohl die Innenstadt nicht gut ist.

»Es ist schön, zurück zu sein«, sagt er. Aber ich mag es nicht mehr. Die Mädchen heutzutage sind halb nackt. Malaya gibt es so viele wie Grashalme in der Ebene. Alle Menschen in der Stadt sind irgendwie verrückt. Wir sollten aufs Land fahren, uns mit den Leuten auf einem althergebrachten ngoma treffen. Das Fest müsste saftig sein. Die Menschen spüren. Heutzutage ist der Juice verdorben. Die Mädchen sind Köter, sie sind nicht menschlich. Du bist ein Mann und suchst ihre Zärtlichkeit. Und wenn du versuchst, den Regenmantel anzuziehen, dann halt deinen Samen unter Kontrolle, denn sie könnte dich abkochen; wenn du nackt bist vor Lust, ist sie die Spinne, und du bist die Fliege. Rhema … die Fliegenfängerin. Eeehhh – ich muss heute Abend starkes gongo trinken, um mir mein doppeltes Baby-Problem aus dem Kopf zu spülen.

Der Abend führt auch zur Konfrontation mit meinem Fiasko. Wer ist im Moshi Hotel? Nechi. Mein alter Klassenkamerad, dessen Familie meinen Kiosk bestohlen hat, weil er gegenüber von der Polizeischule auf ihrem Grundstück stand. Nechi, der mir täglich Josephinas Spezialessen brachte, als ich im KCMC im Sterben lag. Nechi, dessen korrupte Familie ihm ein Stipendium zur Journalistenausbildung in Kanada verschafft hat. Jetzt ist er zurück, ein ganz dicker Fisch.

»Ich bin Daily-News-Korrespondent der Kilimandscharo-Region«, sagt er. Feine Klamotten, Bauchansatz, Mädchen um ihn herum – die sprachlichen Betrügereien gehen ihm sehr schnell und glatt von den Lippen. Jetzt werden die Parteibosse ihn schmieren, damit er schreibt wie ein Blinder, und sein Leben wird die fetteste Leckerei.

»Bis bald, Marcus«, sagt er schnell und hinterlässt mich in meinem Sumpf. Ich hätte in Europa sein und mir ein solides Fundament aufbauen können. Aber meine schwedischen Sponsoren haben mit gespaltener Zunge nur leere Versprechungen gegeben. Jetzt bin ich gezwungen, meine Chancen bei einem weißen Jungen auszuprobieren.

Christian

»Ich hasse es«, erkläre ich meinem Vater. »Ich will nicht zurück.«

»Christian«, seufzt er. »Beende das Gymnasium, dann kannst du immer noch hierherkommen; nimm ein Sabbatjahr, ich werde das Ticket bezahlen. Aber es ist wichtig, dass du eine Ausbildung erhältst.«

»Aber ich weiß nicht, was ich will.«

»Es ist nicht so wichtig, was für eine Ausbildung man bekommt, Hauptsache, man hat eine. Hinterher wirst du sie brauchen können, auch wenn du etwas anderes machst.«

»Hörst du mir eigentlich zu?«, frage ich ihn. »Ich hasse es, dort zu sein. Ich hasse es, bei Tante Lene zu wohnen. Die Schule ist sterbenslangweilig. Und Aalborg ist das Allerletzte. Ich hasse es.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragt er. »Vielleicht solltest du dir eine Lehrstelle suchen.«

»Als was?«

»Was könntest du dir denn vorstellen?«

»Weiß ich doch nicht.«

»Du warst es, der dafür gesorgt hat, dass du von der ISM geflogen bist.«

»Ja, weil du mich als Internatsschüler ins Gefängnis gesteckt hast, obwohl du hier gewohnt hast.«

»Ich kann dich ebenfalls gern an die historischen Tatsachen erinnern«, erklärt Vater. »Wenn ich gearbeitet habe, hast du in der Schule dermaßen über die Stränge geschlagen, dass sie mich gezwungen haben, dich ins Internat zu stecken – anderenfalls wärst du geflogen!«

»Ja, und als ich aufs Internat kam, haben sie mich ja auch gefeuert.«

»Es war deine eigene Schuld.«

»So sehe ich das aber nicht.«

»Du bist neunzehn Jahre alt, Christian. Wenn du dich aufführen willst wie ein Säugling, bitte. Aber ich muss mir das nicht anhören.« Er steht auf und geht hinaus.

Während des Abendessens versuchen wir, uns zivilisiert zu benehmen.

»Was ist mit Jarno?«, erkundigt sich Vater. »Was soll er in Finnland?«

»Er muss zum Militär. Es gibt dort die Wehrpflicht.«

»Und was sagt er dazu?«

»Er ist nicht gerade begeistert.«

»Aber du hast ein Freilos gezogen, oder?«

»Das habe ich dir doch erzählt. Kannst du dich nicht erinnern?«

»Doch, doch«, sagt er und isst, legt sich nach. Wir essen eine Weile schweigend weiter, dann fragt Vater: »Hast du Samantha in Dar gesehen?« Ich schlucke und lüge hastig: »Nein. Sie ist nach England geflogen.«

Ich bringe Victor um.

Marcus

GROSSE ATTRAKTION

Christian ist mit seinem Vater, Katriina und den Mädchen auf einer Safari gewesen. Als sie zurückkommen, erzählen sie mir, dass Christian in Arusha ist. Aber nach einer Weile sagt Phantom, er hätte den weißen Jungen in der Stadt gesehen. Ich fahre zu bwana Knudsens Haus. Christian sitzt vor der Tür.

»Wo ist deine Musik?«, frage ich ihn.

»Im Wohnzimmer«, sagt Christian. Niemand sonst ist im Haus. Ich gehe sofort ins Wohnzimmer – eeehhh, Langspielplatten und Kassetten, von denen du nicht zu träumen wagst: viele, spannende, neue, lebendige.

»Mit dieser Musik und nur einem Plattenspieler und einem guten Kassettenrekorder kann man den besten Kopierladen in der Stadt aufmachen. Alle werden kommen, denn diese Töne … gab es noch nie in Moshi.«

»Wirklich?«, fragt Christian. Und ich erkläre und male ein leuchtendes Bild: Geld, das in unsere Taschen fließt.

»Man könnte einen Laden in der Stadt mieten und einen einzigen Lautsprecher auf die Straße stellen – das wäre eine große Attraktion.« Ich frage nicht: Woher soll das Geld für den Laden kommen? Das Senfkorn wird in die Erde gesteckt, jetzt bleibt abzuwarten, ob die Pflanze wächst und Christian die Idee für fantastisch hält.

»Hm«, sagt er.

»Wenn du kommst, sobald du mit der Schule fertig bist, können wir ein gutes Geschäft aufziehen, von dem wir beide satt werden. Wenn du die Musik hier lässt, kann ich sogar Geld für uns verdienen, während du deine Schule beendest. Und wenn du zurückkommst, habe ich das Geld für den guten Start eines richtigen Disco-Ladens gespart. Dann fehlt nur noch die große Ausrüstung.«

»Hm«, sagt Christian noch einmal. »Was für eine Ausrüstung braucht man denn, um die Discos hier zu bespielen?« Ich erkläre es ihm.

»Und Claires Schwester Patricia hat mir erzählt, ihre Kirche hätte einen guten Gitarristen, der den Zaire-Stil kann«, sage ich.

Am Tag vor seinem Abflug landet seine Musik in meinem Ghetto.

»Du darfst die Platten nicht verleihen. Sie müssen hier im Haus bleiben«, sagt er. »Niemand außer dir darf daran herumfummeln.«

»Ja«, sage ich.

HOLOCAUST

Am frühen Morgen stehe ich auf und gieße Wasser in Eimer, die ich zum Schuppen der Hühner trage. Das Hausmädchen könnte es übernehmen, aber versteht sie etwas von Hühnern? Nein. Es gab Probleme mit Magenverstimmungen und geringem Wachstum, der Hühnerfarmer Marcus muss also aufmerksam sein. Und was sehen die Farmer-Augen, als er die Tür aufmacht? Den Holocaust. Die Hühner liegen übereinander, still, schlapp – Tod und Verderben –, nur ein kurzes Zucken der Nerven hier und da. Nein, nein, nein, nein, nein. Direkt aus den Augen, ein großer Fluss. Tsk, noch mehr Probleme kann ich nicht bewältigen. Sollen wir hungern? Ich gehe zur Hintertür des Hauses und höre das Hausmädchen in der Küche hantieren.

»Toka! – nenda kulala!«, rufe ich mit grimmiger Stimme, bevor ich die Tür öffne. Sie soll mich nicht als jammerndes Weib sehen. Das Hausmädchen verschwindet, aber Claire hat das Geschrei gehört und kommt mit unserem Baby auf dem Arm in die Küche.

»Was ist denn los?«, flüstert sie und nimmt meinen Kopf in ihre Hände.

»Es geht nicht. Ich kann nicht mehr.«

»Was ist passiert?«

»Die Hühner – sie sind tot.«

»Alle?«

Ich nicke.

»Pole«, sagt sie und streichelt meinen alten Kopf. Sie fragt nicht, was wir tun sollen. Das ist mein Problem – ich bin der Mann. Es ist an der Zeit, sich Gedanken zu machen. Harte Gedanken. So ist das afrikanische Leben: Bevor ein Stein eine Skulptur werden kann, braucht es viele Schläge.

»Hol Zigaretten«, sage ich. Das Hausmädchen holt sie. »Komm mit Kaffee.« Sie bringt mir Kaffee. »Ich will Omelett.« Sie kommt mit einem Omelett, von dem ich ein bisschen esse, dazu Kaffee mit viel Zucker und eine Zigarette nach der anderen.

Es gibt keine Antwort. Das Kopiergeschäft ist gut gelaufen mit Christians neuer Musik. Alle, die mich kennen, haben Kassetten gekauft – sogar DJ Faizal, obwohl es unglücklich sein könnte, wenn er im nächsten Jahr, wenn Christian zurückkommt, auch alle guten Songs hat. Ich hoffe, die Marcus & Christian Ltd. wird der neue Disco-King in der Stadt. Jetzt ist der Kundenstrom des Kopiergeschäfts versiegt. Denn von der Uru Road aus bin ich total unsichtbar in meinem Haus.

Claire befiehlt dem Hausmädchen, sich um den Kiosk zu kümmern, obwohl sie nicht zwei und zwei zusammenzählen kann. Claire schenkt mir mehr Kaffee ein, gibt Zucker dazu, rührt um.

»Ich habe mir etwas überlegt«, sagt sie und setzt sich.

»Eeehhh.« Niemand kann uns hören. Es ist der Mann, der denken soll. Wenn die Frau anfängt zu denken, wo bleibt dann die Notwendigkeit eines Mannes?

»Willst du es hören?«, fragt Claire. Ich gucke sie an. Sie sieht unglücklich aus – das ist die Furcht vor der Zukunft.

»Ja«, sage ich. Claire will Kleider verkaufen.

»Wenn du einen kleinen Laden in der Stadt mietest, könntest du dort das Kopiergeschäft betreiben und ich davor Kleider verkaufen.«

»Und wer passt auf das Baby auf?«

»Meine Mutter und meine Schwester, sie können mir helfen. Es könnten gebrauchte Kleider vom Markt in Kiborloni sein. Meine Mutter könnte sie waschen und flicken. Die reichen Frauen aus der Innenstadt sieht man nie in Kiborloni. Und wenn wir einen Überschuss erwirtschaftet haben, könnten wir uns vornehme Sachen aus den Nähstuben Sansibars besorgen.«

»Es ist teuer, nach Sansibar zu fahren.«

»Ich könnte den Bus nach Daressalaam und eine billige Schiffspassage nehmen und exklusive Kleider kaufen. Und Taschen, ein bisschen Schmuck und Halstücher – alles zum Einkaufspreis. Wenn wir uns einen kleinen Laden besorgen, könnte ich alles in der Stadt verkaufen.«

»Wie sollen wir so einen Laden finden?«, frage ich und seufze. Aber Claire hat bereits einen Laden gefunden, auf der Rengua Road zwischen der Stereo Bar und dem ABS Theatre. Es gibt sogar einen kleinen Platz davor. Man kann Stühle, Tische und einen Kühlschrank mit Limonade aufstellen, damit die Leute etwas kaufen können, und wenn man einen Lautsprecher auf die Straße stellt, der die verlockenden Töne spielt, bestellen die Leute Kassetten mit Musik – ein großes Geschäft.

Ich frage nicht, wie wir am Anfang die Miete für den Laden bezahlen sollen. Das ist nicht ihr Problem. Und es stimmt, Claire könnte es machen – sie ist eine gute Händlerin und war immer sehr chiki-chiki in ihrer Kleidung.

Ich muss tun, was ich nicht will. Ich stehe auf, gehe ins Schlafzimmer, schraube den Benzintank des Motorrads auf, schüttele ihn. Ja, ein bisschen ist noch da. Ich schiebe das Motorrad aus dem Schlafzimmer, setze die Sonnenbrille auf und fahre zu Zahra’s Restaurant, das ziemlich heruntergekommen ist, aber gutes indisches Essen hat. Daneben liegt ein Papierhandel mit einer kleinen Druckerei, die Musa Engineers dickem Sohn gehört. Ich setze mich einfach mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette vor die Tür, denn Musas Sohn fragt mich immer, wenn er mich sieht. Und schon kommt er heraus.

»Wie viel willst du für das Motorrad haben, Marcus?« Ich nenne meine Zahl.

»Wirklich? Das ist viel zu viel.«

»Nein, das ist der richtige Preis. Du kannst es haben, wenn du das Geld in einer Stunde für mich bereithältst.« Er geht direkt in seinen Laden und kommt mit dem Geld wieder heraus. Wir füllen die Papiere aus. Ich gehe. Keine Räder mehr. Eine Ziege auf der Straße. Ich gehe zur National Housing Commission im Zentrum. Neben der Stereo Bar ist ein kleiner Laden, der leer steht. Ich miete ihn auf der Stelle und gehe hin, um die Verhältnisse zu studieren. Sehr dreckig, aber gut gesichert durch eine dicke Tür und ein Faltgitter, das man nachts abschließen kann. Ein bisschen Farbe, und es wird schön. Langsam gehe ich zu Fuß nach Hause, um Claire die Neuigkeit zu überbringen. Als sie mich auf meinen Beinen sieht, wird sie auf der Stelle nervös.

»Was ist mit dem Motorrad?«

»Ich habe es verkauft und den Laden gemietet.«

Claire behandelt mich sehr vorsichtig.

Christian

Es ist unmöglich. Ich komme nicht aus dem Bett, um aufs Hasseris-Gymnasium zu gehen. Ich habe kein Geld. Finde heraus, wie ich beim Kaufmann Cognac klauen kann. In Hasseris sind sie simplen Diebstahl nicht gewohnt, sie passen gar nicht erst auf. Meine große Jacke und dann eine Flasche in jede Innentasche. Auf diese Weise kann ich mein Geld für Zigaretten ausgeben. Ich melde mich krank. Es kommt ein Brief. Die Schule will ein ärztliches Attest. Anders kommt vorbei.

»Was ist los, Christian?«

»Ich habe keinen Bock mehr.«

»Sie werden dich rausschmeißen.«

»Ja.« Es stimmt. Eine Woche später kommt ein Brief, in dem ich zu einem Gespräch ins Büro der Schule vorgeladen werde. Ich gehe aufs Sozialamt. Ziehe eine Nummer. Setze mich auf einen Stuhl. Schaue mir die anderen Verlierer an, blicke auf den Linoleumfußboden. Warte. Eine Frau tritt aus einer Tür und ruft: »Christian Knudsen.« Ich gehe hinein.

»Guten Tag«, sage ich. Wir setzen uns. Ich berichte. Schluss mit dem Gymnasium, kein Job, kein Geld. »Ich muss Sozialhilfe beantragen.«

»Aber willst du nicht eine Ausbildung beginnen?«

»Nein. Ich komme damit nicht klar.«

»Was ist mit deinen Eltern, können die helfen?«

»Meine Eltern?«

»Ja.«

»Hm, zu meiner Mutter habe ich keinen Kontakt. Sie arbeitet für Ärzte ohne Grenzen in Genf. Wenn Sie sie anrufen wollen, bitte sehr.« Ich breite die Arme über dem Telefon auf dem Schreibtisch der Sachbearbeiterin aus.

»Wie ist ihre Nummer?«, will sie wissen.

»Keine Ahnung«, sage ich. »Sie müssen es über die Auskunft probieren.« Sie starrt mich an.

»Und was ist mit deinem Vater?«

»Er wohnt in Shinyanga.«

»Wo …?«

»In Shinyanga in Tansania.«

»Was macht er denn da?«

»Arbeitet für DANIDA – Außenministerium. Auslandshilfe.«

»Und was sagt er dazu, dass du die Schule geschmissen hast?«, erkundigt sie sich.

»Keine Ahnung.«

»Aber …«, setzt sie an und sieht mich ratlos an.

»Ich kann mir nicht leisten, ihn anzurufen. Ich habe kein Telefon. Und es ist so gut wie unmöglich durchzukommen – die beste Chance ist mitten in der Nacht, aber dann wird er sauer. Aber wenn Sie seine Nummer haben möchten, können Sie es gern versuchen.«

»Kannst du ihm nicht schreiben?«

»Schon, aber das kann mehrere Wochen dauern, bis der Brief dort ankommt. Wenn er überhaupt ankommt.«

»Also habt ihr … gar keinen Kontakt?«

»Hören Sie … was glauben Sie, warum ich hier bin, während er in Afrika und meine Mutter in Genf ist? Das liegt daran, dass sie ein Scheißinteresse an mir haben.«

»Hast du keinerlei Einkünfte?«

»Nein«, antworte ich.

Die Sozialarbeiterin legt mir ein Papier vor und gibt mir einen Kugelschreiber. Ich unterschreibe auf Treu und Glauben. Ich bekomme etwas Geld. Ich gehe zum Arbeitsamt und werde erfasst: arbeitslos. Sie geben mir eine Pappkarte, die ich alle vierzehn Tage abstempeln lassen muss. Okay. Eine Woche später kommt der Brief der Schule: Man schmeißt mich raus, wenn ich nicht erscheine.

Anders hat wieder Schwarzarbeit beschafft – noch einmal Isolierungen mit Glaswolle und Splitter in den Händen.

»Am Freitag findet in der Schule eine Fete statt«, erzählt er. »Kommst du mit?«

»Ich würde gern die beiden großen Lautsprecher und das Mischpult mit dem Verstärker klauen, das im Musikraum steht.«

»Ja? Die Sachen braucht man nur durchs Fenster heben.«

»Eben. Aber ich muss jemanden haben, der auf der anderen Seite steht und sie annimmt. Und mir hilft, sie wegzutragen. Außerdem habe ich keine Ahnung von der Alarmanlage.«

»Wie willst du denn in den Musikraum kommen?«, grinst Anders. Er will wissen, ob ich die Sache im Griff habe. Habe ich nicht.

»Glaubst du nicht, es ist bei einer Fete offen? Vielleicht brauchen sie die Anlage?«

»Nein«, sagt Anders. »Aber ich habe einen Generalschlüssel.«

»Echt?«

»Ich habe ihn im Büro des Hausmeisters mitgehen lassen.«

»Okay.« Ich nicke. Er ist clever. »Aber was ist mit dem Alarm – diese Metalldrähte an den Fenstern?«

»Die sind bei einer Fete abgeschaltet«, erklärt Anders. »Sonst würde es ständig klingeln. Es gibt so viele Schüler, die Blödsinn machen und Türen öffnen, die eigentlich geschlossen bleiben sollen, das ist kein Problem.«

»Hilfst du mir? Und nimmst die Sachen am Fenster an?«

»Na, klar. Selbstverständlich. Aber du wirst sie annehmen. Die haben dich jetzt nämlich ein paar Wochen nicht gesehen, und plötzlich läufst du bei einer Fete auf den Fluren herum? Nein, du bist zu verdächtig. Ich reiche die Sachen heraus und helf dir beim Abtransport.«

»Super, Anders. Das ist klasse.«

»Aber …«, sagt er.

»Aber was?«

»Was willst du damit? Willst du einen Übungsraum einrichten, oder was?«

»Ich gehe nach Tansania.«

»Ernsthaft?«

»Ja.« Ich erzähle ihm meinen Plan. Kopiergeschäft und Disco mit Marcus in Moshi.

»Kann man davon leben?«

»Ja. Ein kleines Haus mieten, mich nur um mich kümmern – das gute Leben.«

»Ich komm dich dann gern mal besuchen«, sagt Anders und entwickelt seinen Plan. Ich soll mich nicht beim Sozialamt abmelden. Man wird nur alle Vierteljahre zu einem Gespräch einbestellt. Das Arbeitsamt hat man mit seiner Pappkarte alle vierzehn Tage aufzusuchen, aber das kann Anders in meinem Namen erledigen. Wenn ich direkt nach einem Gespräch auf dem Sozialamt abfliege, kann ich drei Monate Sozialhilfe bekommen, während ich weg bin. Anders kann das Geld von meinem Konto abheben, ein Drittel behalten und den Rest in Travellerschecks wechseln und nach Moshi schicken.

»Was willst du mit deinem Drittel machen?«, frage ich ihn.

»Auf das Flugticket sparen.«

»Wenn du das machst«, verspreche ich, »dann bezahle ich dort unten sämtliche Ausgaben, überhaupt kein Problem.«

»Abgemacht.«

Es geht glatt. Anders hebt die Sachen aufs Fensterbrett, ich nehme sie draußen an. Trage das Mischpult, ein Tonbandgerät, einen Plattenspieler und die beiden Lautsprecher in ein Gebüsch am Ende des Geländes. Ich warte bis halb fünf morgens – dann fahre ich mit dem Fahrrad zum Gymnasium, hebe das Mischpult auf den Gepäckträger, befestige es und schiebe das Fahrrad nach Hause. Das Rad wackelt unter dem Gewicht. Ich verstaue das Mischpult unter meinem Bett. Vier Fahrten, um den Rest nach Hause zu bringen. Jetzt habe ich die Ausrüstung. Jetzt muss ich sie nur noch nach Tansania schaffen.

Rock Café in der Jomfru Ane Gade. Anders ist schon gegangen. Ich bin angetrunken und habe keine Lust mehr, hier zu sein. Trete auf die Straße. Die Nacht ist kalt. Harte, weiße Gesichter. Geschminkt, mit leeren Augen, eckigen Bewegungen. Auf der Jagd nach irgendetwas. Was? Ich bewege mich geschmeidig zwischen ihnen die Fußgängerzone hinauf. Will noch nicht schlafen. Überquere den Nytorv, gehe in die menschenleere Algade. Ich bin nie dort gewesen – Das Narrenschiff. Ich werde ein einziges Bier trinken, mir den Laden ansehen und nach Hause gehen. Das Lokal ist dunkel, eng, heiß. Dicke bleiche Männer. Eine große schwarze Barmama. Ein paar schwarze Mädchen sitzen an den Tischen, es gibt eine kleine leere Bühne. Am Ende der Bar steht ein Mädchen mit dem Rücken zu mir und schiebt sich geradezu an einem weißen Mann mit Bierbauch hinauf. Das Mädchen trägt enge Shorts, so dass ihr Arsch fast die Nähte sprengt. Ich setze mich auf einen Barhocker und bestelle ein Bier. Auf Swahili. Die Barmama lacht. Sie fragt, wo ich die Sprache gelernt habe. Ich erkläre es ihr. Sie selbst stammt aus Entebbe in Uganda und ist mit dem Besitzer der Bar verheiratet.

»Njoo«, ruft die Barmama das Mädchen am Ende der Bar – komm.

»Christian«, sagt das Mädchen. »Mr. Africafé.« Ich drehe mich auf dem Barhocker um. Sheila von der Busstation. Ihre Augen schwimmen ein wenig, sie hebt die Arme über den Kopf, kommt schaukelnd auf mich zu und fängt an, vor mir zu tanzen, bis zwischen meine Beine. Ihre Schenkel reiben sich an meiner Hose, ihre Brüste an meinem Pullover.

»Was möchtest du heute Abend, Baby?«, fragt sie mich auf Swahili.

»Mein Bier trinken.«

»Und du willst nichts anderes?« Sie dreht sich um, ihr strammer Hintern schiebt sich in meinen Schritt. Sie schaut mich über die Schulter an, während die Kugellager rotieren. Es passiert, was passieren muss. Ein anderes schwarzes Mädchen ist auf die kleine niedrige Bühne gestiegen und windet sich – zieht sich die Stofffetzen herunter. Sheila dreht sich wieder zu mir um. Ich schaue auf ihre violetten Lippen, den dunklen Spalt zwischen ihren Brüsten, sehe ihr in die Augen – große schwarze Mandeln.

»Möchtest du ein Bier?«, frage ich sie. Jetzt hat sie die Hände auf meinen Knien, meinen Oberschenkeln.

»Ich trinke nur Champagner«, sagt sie und lächelt unverfroren – spöttisch, glaube ich. »Wollen wir heute Abend Champagner trinken, Mr. Africafé?«, fragt sie. Ich will sie ficken. Ich kann mir Champagner nicht leisten. Sie lässt ihre Hand über meinen Oberschenkel gleiten, in meinen Schritt. »Mmmm«, sagt sie, als ihre Hand das Harte erreicht. Sie lächelt mich vieldeutig an, massiert mich mit der Hand durch die Hose, beugt sich über mich. Fragt mich auf Englisch: »Willst du mich ficken.« Ist das eine Frage?

»Entschuldige bitte, aber ich kann nicht«, sage ich.

»Hast du kein Geld?«

»Nein.«

»Geld ist wichtig«, sagt sie.

Marcus

UHURUS GEFÄNGNIS

Die verkommene Frau meines Bruders sitzt wie ein heulender Engel mit ihrem kleinen Kind in meinem Wohnzimmer. Claire serviert ihr Tee.

»Was ist los?«

»Dein Bruder sitzt im Gefängnis«, sagt Claire und zieht mich in die Küche. »Dein Bruder ist aus Daressalaam nach Hause gekommen und hat sie mit einem anderen Mann im Bett erwischt«, flüstert Claire mir zu. »Und dein Bruder hat den Mann verprügelt, schwer. Den Kopf auf den Fußboden, oft. Und nun ist der Mann tot, und dein Bruder sitzt im Distriktgefängnis von Rombo.«

»Und was willst du von mir?«, frage ich meine Schwägerin und denke gleichzeitig, dass ich sie auch gern pumpen würde, wenn mein Bruder nicht mehr da ist. Gut, dass Claire zur Stelle ist, um mich vor den Krankheiten zu retten, mit denen dieses lose Weib mich lockt.

»Ich brauche Schmiergeld, damit er aus dem harten Gefängnis in Rombo herauskommt und nach Karanga überführt wird.«

»Das ist egal«, sage ich. »Dein Mann kann in Rombo ebenso gut sterben wie in Karanga.«

»Marcus!«, ruft Claire.

»Du bist herzlos«, sagt die Schwägerin.

»Ja, wie du. Aber ich bin kein Mörder oder eine Hure.«

»Marcus!«, ruft Claire noch einmal.

»Warum sollen wir bezahlen? Wir haben sie schließlich nicht gepumpt.«

»Sie ist die Mutter der kleinen Tochter deines Bruders«, sagt Claire.

Ich zeige auf das Kind.

»Glaubst du wirklich, das ist die Tochter meines Bruders? Wenn sämtliche Hunde in Holili bei der Hündin gelegen haben, die sich seine Frau nennt?«

»Ich weiß es nicht«, sagt Claire und senkt den Blick.

Ich gehe nicht zu der Containerbar in der Nähe des Hauses, meine Rechnung ist zu lang. Ich gehe in die große Bar auf dem Gelände des Cooperative College. Und ich weiß, Claire wird der Hure Geld geben, damit sie in ihr Dorf fahren kann, um dort ein Leben in Schande zu verbringen.

Viele Stunden später komme ich nach Hause zu Claire. Ich schaue auf unser Baby, das mit Armen und Beinen in der Luft strampelt.

»Sie soll Rebekka heißen«, sage ich – der Name meiner weißen Tochter.

»Okay«, sagt Claire. »Das ist ein guter, christlicher Name.« In Soweto habe ich ein anderes Kind, einen kleinen Jungen. Zwei Kinder mit zwei Frauen. Und Nummer drei in Finnland mit Tita. Meine uhuru nach dem Unfall ist lediglich ein anderes Gefängnis.

Christian

»Kann Katriina meine Sachen am Flughafen abholen – und durch den Zoll schaffen?«, frage ich Vater zum zweiten Mal über die knisternde Satellitenverbindung vom Wohnzimmer meiner Tante in Hasseris zu Vaters Haus in Shinyanga. Es ist Nachmittag, und Tante Lene kauft ein, also missbrauche ich ihr Telefon.

»Christian«, sagt er. »Warte bis zum Sommer. Dann bezahle ich auch das Ticket.«

»Ich habe mir bereits ein Ticket gekauft.« Von der Stütze. Das sage ich nicht.

»Aber du kehrst zurück und beendest das Gymnasium.«

»Das weiß ich nicht so genau«, murmele ich. Der Satellit beginnt, seine Sätze zu zerschneiden – Endungen verschwinden, es gibt Ausfälle, Echos, Verzögerungen, Verzerrungen.

»… schwerer, eine Ausbildung zu beginnen, je länger man … noch bereuen … eine ordentliche Ausbildung … ob es das Richtige ist … hinterher immer gebrauchen.«

»Gibt es jemanden, bei dem ich ein paar Nächte in Dar übernachten kann?«, erkundige ich mich, denn Aeroflot landet nicht in Moshi und KLM kann ich mir nicht leisten.

»Ingemar«, antwortet Vater. Drei Mal muss er die Telefonnummer wiederholen, bis ich alle Ziffern verstanden habe. Ingemar, ein alter Schwede, dessen Familie nach Schweden zurückgekehrt ist. Er wohnt draußen in Msasani.

»Kommst du mich abholen?«

»… mit deiner Mutter … sei ordentlich … benimm dich, wenn …«

»Ich verstehe dich nicht. Der Satellit ist Scheiße.« Seine Stimme kommt durch das Knattern und Sausen aus weiter Ferne, zerhackt in kleine Fetzen.

»… nicht in Tansania … Mick erzählte … dass Samantha tot ist … sinnlos.«

»Kann Katriina meine Sachen im Flughafen abholen und durch den Zoll bringen?«, frage ich noch einmal.

»Nein«, lautet die Antwort.

»Vater, ich verstehe dich nicht mehr«, spreche ich in den Hörer. »Ich bleibe eine Woche in Dar, und wenn du nicht dorthin kommst, sehen wir uns in Moshi.« Ich unterbreche die Verbindung, atme langsam aus, gehe in den Keller und rauche in aller Hast zwei Zigaretten.

Am Abend ruft mich meine Tante: »Marianne ist am Telefon, aus Cambridge.« Die Tante weiß natürlich, dass ich zu Hause bin, also kann ich mich nicht drücken, obwohl ich Marianne eigentlich nicht sonderlich vermisse. Wir sind letztes Jahr zusammen gewesen, aber das scheint lange her zu sein. Ich gehe nach oben und benutze den Apparat in ihrer Wohnküche; Tante Lene kocht, ich kann sie schlecht bitten hinauszugehen.

»Hej«, melde ich mich.

»Hej, ich bin’s«, sagt Marianne. »Wie geht’s dir?«

»Ist schon okay«, antworte ich und drehe der Tante den Rücken zu.

»Fliegst du in den Weihnachtsferien nach Tansania?«

»Ja. So ist der Plan.«

»Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, dich wiederzusehen«, sagt sie.

»Ich muss runter.«

»Wann kommst du zurück?«

»Ich weiß nicht genau.«

»Was meinst du damit?«

»Dass ich es nicht weiß.«

»Aber … was ist mit der Schule?«

»Was soll damit sein?«, frage ich zurück. »Ich hab sie geschmissen.« Sie ist einen Moment still, dann sagt sie: »Ich habe mir auch überlegt, hier aufzuhören und auf Reisen zu gehen. Ich checke gerade ein paar UNO-Lager in Ostafrika.«

»Da kenne ich mich nicht aus.«

»Nein, nein, aber so könnten wir uns sehen. Wir könnten uns besuchen.«

»Das ist sicher möglich«, antworte ich. Ich spüre, dass meine Tante mich ansieht.

»Bist du … okay, Christian?«, fragt Marianne jetzt. Ich muss lachen.

»Tja, ich denke schon«, sage ich. Die Adresse und die Telefonnummer in Moshi hat sie noch vom letzten Sommer. Ich muss nur darauf setzen, dass sie doch nicht aufbricht.

»Ich weiß nicht, ob das wirklich eine so gute Idee ist, wenn du kommst.«

»Was ist los? Hast du eine andere kennengelernt?«

»Nein, ich weiß nur nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

»Ich will für die UNO arbeiten, in einem Flüchtlings- oder Kinderheim. Du wirst es doch wohl noch ertragen, wenn ich dich mal besuche?« Sie fügt ein »Leb wohl« hinzu, bevor sie auflegt. Hinterher weint sie, da bin ich sicher – sie ist so weiß. Es steckt nicht viel Samantha in ihr. Aber es könnte auch sein, dass ich eine Band auf die Beine gestellt habe, bevor sie kommt. Marianne singt gut.

Dann folgt ein noch anstrengenderes Telefonat mit meiner Mutter, die aus Genf anruft und mit Nachdruck »so enttäuscht« ist.

Wie sich herausstellt, kann ich es mir nicht leisten, die Ausrüstung mit dem Flugzeug zu verschicken, sie ist zu schwer. Ich leihe mir das Auto meines Onkels und fahre die geklaute Ausrüstung zu Anders. Dort kann sie stehen bleiben, bis ich das Geld für die Fracht beschafft habe. Ich breche mit einem Stapel LPs und einer kleineren Ausrüstung auf, die aus einem gebrauchten, aber guten Luxman-Verstärker und einem Bausatz besteht, um einen oder zwei Lautsprecher zu bauen, die okay sind. Marcus hat einen Kassettenrekorder und einen Plattenspieler. Zumindest können wir Musik machen.

Die Msasani-Halbinsel in Daressalaam, wo die Reichen wohnen. Ich gehe von Ingemars Haus bei Alison und Frans vorbei. Durch die Hecke sehe ich, dass sie nicht mehr da sind. Der Garten gleicht einer Wüste. Afrikaner sind eingezogen. Ich besuche Diana, die sich auf der Schule mit Samantha ein Zimmer geteilt hat. Sie sind so westlich, dass sie einen Gärtner beschäftigen. Diana ist in den Semesterferien von ihrem Studium in Kanada zurückgekehrt, ihr Vater bewohnt selbstverständlich eine große Villa auf Msasani. Diana ist die Einzige, die weiß, dass ich in Dar bin. Shakila ist auf Kuba, Jarno in Finnland. Alle sind fort.

Es ist eigenartig, mit Diana auf der Veranda zu sitzen, während das Hausmädchen Kaffee und Juice serviert. Wir sind nie gute Freunde gewesen, aber es tut gut, sie zu sehen.

»Was ist mit Sharif?«, erkundige ich mich. »Ist er in Tansania?«

»Tsk«, antwortet Diana. »Er ist ein totaler Fanatiker geworden.«

»Ein Fanatiker?«

»Moslem. Als er aus Dubai zurückkam, hatte er sich einen Mullah-Bart stehen lassen und lief in muslimischem Zeug herum. Als ich ihm begegnet bin, wollte er mir nicht die Hand geben.«

»Wie meinst du das?«

»Er wollte nicht die Hand einer Frau berühren – meine Hand!«

Im Krankenhaus treffe ich Shakilas jüngeren Bruder Valentine.

»Kommt Shakila in den Ferien nach Hause?«

»Nein, sie kommt nicht. Sie fliegt zu unserer Mutter in die USA, wenn sie Ferien hat.«

»Und du?«

»Ich bin auf dem Weg in die USA«, antwortet Valentine.

»Darfst du denn einreisen?«

»Ich stelle mich Onkel Sam als Soldat zur Verfügung, nach fünf Jahren bekomme ich dann automatisch die Staatsbürgerschaft.«

»Oder du bist tot.«

»Es gibt immer ein Risiko.«

»Glaubst du, Shakila kommt nach der Ausbildung zurück nach Tansania?«

»Nein, Kuba ist nur die Grundausbildung. Ich glaube, sie wird nach Chicago gehen, bei unserer Mutter wohnen und sich dort spezialisieren.«

»Braindrain«, bemerke ich.

»Nein«, erwidert Valentine. »Evolution.«

Will ich Sharif besuchen, wenn er Frauen nicht mehr die Hand geben will? Nein. Ich nehme den Nachtbus nach Moshi. Die Straßen sind in einem jämmerlichen Zustand, und es ist noch immer so gut wie unmöglich, neue Autoreifen zu bekommen: Also ziehen die Fahrer es vor, nachts zu fahren, denn der heiße Asphalt zehrt an den Laufflächen, wenn die Fahrzeuge überlastet sind – und das sind sie immer. Der Bus rumpelt am frühen Morgen in Moshi ein. Ich nehme von der Busstation ein Taxi. Lasse mich zum Haus fahren, ziehe wieder in der Dienstbotenwohnung ein. Die Sachen stehen so da, wie ich sie vor einigen Monaten verlassen habe. Solja und Rebekka sind bereits in der Schule beziehungsweise im Kindergarten. Katriina sagt nicht sehr viel zu mir.

»Shikamoo mzee«, begrüße ich den alten Issa, der mir sofort ein Frühstück gebracht hat. Ich esse und schlafe ein paar Stunden. Wache überrascht auf. Was ist der nächste Schritt? Ich will erst einmal zur Ruhe kommen, bevor ich mit Marcus rede. Ich gehe ins Haus, finde die Golfschläger des Alten und trotte über den Golfplatz zum Moshi Club. Worauf soll ich setzen? Versuchen, eine Band auf die Beine zu stellen? Wenn Marianne kommt, könnte sie singen; sie wird schon Arbeit mit Kindern oder Flüchtlingen finden – und sie wird es rasch satthaben. Oder soll ich bei kleinen Discoabenden mit meiner Ausrüstung spielen? Parallel dazu könnte Marcus meine Platten auf Kassetten überspielen. Aber Marcus hat auch Claire, die Kleine und den Kiosk – vielleicht muss ich jemand anderen finden, der mir helfen kann.

»Hast du aus Schweden Süßigkeiten mitgebracht?«, fragt Rebekka, als sie mich sieht.

»Nein.« Als Solja aus der Schule zurück ist, kommt sie zu mir in die Dienstbotenwohnung.

»Hier ist ein Brief für dich«, sagt sie und reicht ihn mir.

»Wann ist der gekommen?« Er ist von Anders, meine Sozialhilfe gewechselt in Travellerschecks, abzüglich seiner Vermittlungsgebühr – der Betrug funktioniert.

»Hast du ’ne Prince für mich?«

»Du kannst eine ganze Schachtel haben.« Ich gebe ihr die Zigaretten. Sie ist sehr hübsch geworden. Solja steckt das Päckchen in die Tasche und zieht das T-Shirt herunter, damit man die Ausbuchtung nicht sehen kann.

»Danke.« Sie dreht sich um und geht. Ich stehe auf meinen eigenen Beinen. Ich habe eine Tasche voller Langspielplatten und Kassetten sowie einen Luxman-Verstärker und einen Bausatz für die Lautsprecher. Ich habe meine große Ausrüstung, die versandbereit in Dänemark steht. Zeit, das Terrain zu sondieren.

Marcus

GEHEN WIE DIE ZIEGEN

Das Narbengewebe des zerstörten Fleischs juckt wie ein Ameisenhaufen in meinem Fuß und in der Wade. Aber ich gehe den ganzen Weg zu Katriinas Haus zu Fuß, denn Christian ist gekommen.

»Nanu, ich habe gar kein Motorrad gehört«, sagt Christian.

»Das Motorrad ist weg.«

»Geklaut?«

»Nein, ich hab’s verkauft«, sage ich.

»Scheiße, aber wieso denn?«

»Um Geld fürs Essen zu haben.«

»Du hättest dir doch nur was leihen müssen.«

»Von wem?«

»Von mir.«

»Du warst nicht da«, sage ich.

»Wir müssen also gehen, wenn wir irgendwo hinwollen?«

»Wie die Ziegen«, sage ich.

»Solja sagt, du hast einen Kassetten-Kopierladen eröffnet.«

»Ja, gleich neben der Stereo Bar.«

»Stehen meine Platten nachts auch da drin?«

»Nein, ich schleppe jeden Tag alles mit nach Hause«, lüge ich, denn tatsächlich habe ich das heute zum ersten Mal gemacht, als Solja mir erzählte, dass Christian gekommen ist. »Hast du die Ausrüstung mitgebracht?«

»Einen guten Verstärker und kräftige Lautsprecher – allerdings müssen die Rahmen noch gebaut werden.« Er zeigt mir die Sachen und gibt mir eine Zeichnung. Meine Aufgabe ist es, für einen Tischler der Imara Möbelfabrik zu sorgen, der die Lautsprecherkästen baut, und einen elektronischen Mann, der die Kabel verlegt. Hinter der Pappe der Lautsprecher soll die Kiste mit Kapok ausgestopft werden, wie ein Sofakissen.

»Ja«, sagt Christian. Es ist gut, dass er gekommen ist, denn das Kopiergeschäft hat ein bisschen nachgelassen. Alle Schüler mit Geld haben die Musik gekauft, die ich anbiete.

»Wann fliegst du zurück?«, frage ich ihn.

»Zurückfliegen?«

»Ja, zurück nach Dänemark.«

»Ich bleibe hier.«

»Aber ist deine dänische Schule nicht erst in einem halben Jahr zu Ende?«

»Ich habe die Schule geschmissen.«

»Und was willst du jetzt machen?«

»Hier leben. Ich glaube, meine dänische Freundin kommt auch vorbei. Sie kann singen. Ich würde gern eine richtige Band gründen.«

»Aber die Schule ist wichtig«, sage ich.

»Die Schule kann warten«, sagt Christian. Ich hatte mir gedacht, die Musik und die Ausrüstung zu nutzen und bis zum nächsten Sommer Geld zu verdienen. Und parallel dazu kann Christian möglicherweise noch weitere Ausrüstungsteile besorgen, die groß genug sind, um das Liberty oder das Moshi Hotel zu bespielen.

»Aber wenn du mit der Schule wartest, wirst du vielleicht nie damit fertig.«

»Du klingst wie mein abgefuckter Vater«, sagt Christian. Ich halte den Mund. Die Weißen können alles haben, was sie wollen – und wissen es doch nicht zu würdigen. Ich folge jetzt Christians Gedankengang: Er will eine Band gründen, die in Arusha spielen kann, mit einem weißen Mädchen als Attraktion. Er will nicht nach Dänemark zurück, sondern in Tansania bleiben und Geld verdienen. Soll ich seine Gedanken bremsen, wenn sie auch meine Situation verbessern können?

»Du hast gesagt, du würdest einen Gitarristen kennen«, sagt er.

»Ja.«

»Kannst du ein Treffen mit ihm organisieren?«

»Morgen«, antworte ich.

»Morgen …«, sagt Christian. »Vielleicht muss ich nach Dar, um mich mit meinem Vater zu treffen. Aber lass uns ein Bier trinken gehen.«

»Können wir nicht warten, bis Katriina mit den Mädchen zurückkommt?«

Ich würde sie gern begrüßen.

»Nein, sehen wir zu, dass wir loskommen.«

TANSANIT

Wir gehen zur Container-Bar in meinem Wohngebiet. Sie ist in einem großen Metallcontainer untergebracht, der auf Schiffen aus Europa gekommen ist. An der einen Seite gibt es eine große Metallklappe. Die Klappe lässt sich öffnen, man kann hineinsehen: Der Container ist jetzt ein Kiosk mit allen Waren und einem Kühlschrank. Vor dem Container wurde eine Betonplatte gegossen und ein Dach darüber gesetzt – sogar in der Regenzeit sitzt man hier nachts trocken und kann sich innerlich benetzen. Mit Alkohol könnte ich in meinem Kiosk auch Geld verdienen, aber Claire ist da sehr streng: »Wenn du auch nur ein Bier verkaufst, bin ich fertig mit dir.« Gottes Heiligkeit. Mein Kiosk ist eher ein Süßigkeiten-Laden für Kinder, aber ich ziehe auch die frommen Frauen an, die Mehl und Öl nicht bei Dickson kaufen wollen, weil er viel Geld mit den gottlosen Getränken verdient und seine Kunden die ganze Nacht über Krach machen.

Dickson sitzt draußen. Ich stelle ihm Christian vor, obwohl ich eigentlich nicht möchte, dass er etwas mit Dickson zu tun bekommt.

Dickson stellt sofort seine Fragen: »Hast du Interesse an Steinen? Tansanit? Oder Diamanten aus Shinyanga? Ich kann sie besorgen.« Das Bier wird von dem Mädchen serviert, das sich um den Kiosk kümmert. Sie stellt es mit einer überlegenen Attitude auf den Tisch – als ob sie über diese Arbeit erhaben ist. Sie hat gleichmäßige, feine Gesichtszüge, aber ihr Blick ist hart. Und ich sehe, wie der weiße Junge bereits von zwei Seiten angegriffen wird: Im Ohr hat er das Gerede über Edelsteine und im Auge dieses Mädchen mit ihren festen Brüsten, der Taille, den kräftigen Oberschenkeln und diesem fabelhaften runden Arsch. Afrikas Hexerei.

»Dickson war in den Minen in Merelani«, sage ich.

»Fünf Jahre«, sagt Dickson und nickt. »Fünf Jahre habe ich in diesem Scheißloch gegraben und gegraben, bis ich meine Ader fand. Und fünf Jahre sind noch schnell.«

»Warst du tatsächlich unten in der Mine?«, fragt Christian.

»Ja«, sagt Dickson und nickt wieder. »In der Dunkelheit, tief unter der Erde. Überall Staub, so gut wie keine Luft. Ich habe Maisgrütze und Bohnen gefressen und gelebt wie ein Hund, bis ich auf Tansanit stieß – ein großer Fund.«

»Und dann hast du aufgehört?«

»Ja.« Dickson breitet die Arme aus: der Container mit dem Kiosk und der Bar, der große amerikanische Pick-up. »Jetzt bin ich Geschäftsmann.«

»Hast du noch andere Geschäfte?«, fragt Christian.

»Ich habe zwei matatu, die zwischen Marangu und Moshi beziehungsweise Holili und Moshi fahren.«

»Dann musst du nicht mehr da raus … in die Minen?«

»Nein, nein. Fünf Jahre! Das reicht. Man kann da draußen sterben. Es ist heiß da unten – du schwitzt, bis deine Klamotten so nass sind, dass du tropfst. Du arbeitest Tag und Nacht. In dem Loch ist der Tag Nacht, und es gibt keinen Grund, aufzuhören und nichts anderes zu tun, als bloß ein paar Stunden zu schlafen und weiterzumachen. Du bist da nicht zu deinem Vergnügen, sondern um den großen Coup zu landen. Dann kannst du pumpen, saufen und vergessen.«

Jetzt hat Dickson den Haken bereits tief in meinem weißen Jungen.

»Aber dann seid ihr auf eine große Ader gestoßen, oder wie?« Christian ist ganz gefangen in diesem Spinngewebe aus Lügen.

»Eeehhh, ja. Jede Menge Geld. Das erste halbe Jahr danach war ein einziges Fest. Jeder Abend – ein Fest!« Dickson erhebt sich und fasst mit der Faust nach seiner Pumpe, schüttelt sie durch den Hosenstoff. »Jeden Tag, eeehhh, ein neues Mädchen. Ich habe Hunderte gepumpt, vielleicht mehr.«

»Keine Mädchen – malaya«, sage ich.

»Tsk. Keine malaya«, erwidert Dickson und schüttelt den Kopf. »Junge Mädchen, große Ärsche, große Schenkel, kleine titi – sehr chiki-chiki.« Dickson tanzt ein bisschen auf der Stelle, setzt sich wieder. »Und jetzt habe ich meine Container-Bar, meine matatu und mein amerikanisches Auto mit einer guten Stereoanlage, zweitausend Watt.«

»Tsk, zweitausend«, sage ich.

»Das steht auf den Lautsprechern!«

Ich will ihn nicht zu hart korrigieren, Christian hört ja selbst, wie er übertreibt. Zweitausend Watt – Dicksons Eingeweide wären Mus.

»Lass uns was rauchen«, sagt Christian auf Schwedisch, damit Dickson die Botschaft nicht versteht. Wir trinken aus und stehen auf.

Dickson sagt: »Sag Bescheid, wenn du Steine kaufen willst, ich kann sie dir billig besorgen.« Als wir gehen, erkläre ich Christian die wahren Zusammenhänge.

»Dickson lügt. Sein Vater besitzt fünf Minen, und Dickson hat nie in seinem Leben eine Schaufel in der Hand gehabt. Er hat nur die armen Teufel geschlagen, die dort ohne Lohn arbeiten – nur für das Essen und die Hoffnung auf den großen Gewinn.«

»Keinen Lohn?«

»Nein, sie bekommen keinen Lohn. Sie bekommen etwas zu essen, und wenn sie auf eine Ader treffen, erhalten sie einen Anteil.«

»Das ist nicht viel«, sagt Christian.

»Doch, wenn sie es schaffen. Dann kann es genug für den Rest des Lebens sein. Dann kannst du mehrere Häuser, neue Autos, alles kaufen.«

»Und pumpen.«

»Ja, Dickson pumpt alles. Sogar das Mädchen, das sich um seinen Kiosk kümmert.«

»Aber … sie ist doch noch ziemlich jung?«

»Nein. Nur ein Mädchen vom Dorf. Sie wohnt in Dicksons Haus. Und er pumpt sie. Wenn sie nicht will, kann sie ja verschwinden – er findet eine andere für den Job.«

Glücklicherweise ist Claire mit dem Baby bei ihrer Mutter, weil sie ein paar Kleider flicken wollte. So können wir unsere Joints rauchen, ohne dass sich meine Frau beschwert.

Christian

Ich schlafe lange. Marcus trinkt Kaffee.

»Hej, bist du frisch?«, frage ich ihn.

»Ja. Willst du ein Spiegelei?« Er muss nur das Hausmädchen rufen, schon geht sie in die Küche.

»Nein, danke.« Ich mische mir eine Tasse Africafé und esse zwei zusammengeklappte Toastbrote mit Erdnussbutter. Der Kopf ist ein wenig schwer, aber sonst geht es.

»Wollen wir uns mal den Laden ansehen?«, schlägt Marcus vor.

»Ja. Ich muss nur noch auf die Toilette.« Es ist jedes Mal dasselbe bei Africafé – mein Magen hat die notwendige Bakterienkultur noch nicht wieder aufgebaut. Ich frage, ob sie Zahnbürsten im Kiosk haben. Marcus ruft durchs Fenster, und der Bursche kommt angelaufen. Marcus schickt ihn zurück, eine Zahnbürste holen. Der Junge gibt sie mir, wobei seine Hand den ausgestreckten Arm festhält – eine traditionelle Geste, um zu zeigen, dass er keine Waffe trägt.

Claire kommt mit der Tochter Rebekka, die sie in einer kanga auf dem Rücken hängt. Wir begrüßen uns. Ich erkundige mich nach Rebekka.

»Sie ist sehr krank gewesen, aber jetzt ist sie bald zehn Monate alt und wächst gut«, erzählt Claire lächelnd. Dann redet sie mit Marcus. Ich höre zu. Mein Swahili ist eingeschlafen, wacht aber mehr und mehr wieder auf. Claire bekommt Geld, damit sie für den Kiosk einkaufen kann, der schräg gegenüber der Wohnung steht. Sie will Speiseöl, Maismehl und Limonade einkaufen – schwere Dinge, die sie in einem Taxi nach Hause bringen muss.

Marcus und ich gehen zu Fuß in die Stadt. Es ist halb eins, und die Sonne brennt. Wir laufen zum Clocktower-Kreisel, am Coffee House vorbei und die Rengua Road hinauf in den christlichen Teil der Innenstadt. ROOTS ROCK heißt Marcus’ Laden, der Name steht mit großen roten und schwarzen Buchstaben vertikal auf der Fassade. Das Geschäft liegt eingeklemmt zwischen der Stereo Bar und einem geschlossenen Kino, dem ABC Theatre. Schräg gegenüber ist das Hauptbüro des staatlichen Stromerzeugers Tanesco. Unter der Markise vor dem Laden steht ein Kühlschrank mit Limonade, gesichert durch ein kleines Vorhängeschloss; außerdem gibt es eine eingezäunte Veranda mit Grünpflanzen in Zwanzig-Liter-Speiseölkanistern. Bei der Veranda handelt es sich eigentlich um den Bürgersteig, der von Marcus annektiert wurde; sein Nachbar, die Stereo Bar, hat das Gleiche getan.

Marcus schließt das Vorhängeschloss an dem Faltgitter auf, dann die Doppeltür. Er trägt zwei Tische sowie zwei ramponierte Sonnenschirme heraus, damit wir den Laden betreten können. Der eigentliche Raum ist ein schmaler Schlauch, viereinhalb mal zwei Meter groß, mit einer kleinen, zwei Quadratmeter großen Ausbuchtung gleich links neben der Eingangstür, in der die Plastikstühle für die Veranda gestapelt sind. Im Laden stehen eine Pioneer-Stereoanlage mit einem DUX-Plattenspieler, ein paar AIWA-Boxen, eine ordentliche Sammlung Platten sowie ein Haufen Kassetten. An den Wänden entdecke ich einige Bob-Marley-Plakate, die ich ihm geschickt habe.

»Kannst du die Sachen hier stehen lassen?« Es wäre relativ einfach, das Vorhängeschloss mit einem Bolzenschneider aufzubrechen und den Laden auszuräumen, von dem Kühlschrank vor der Tür gar nicht zu reden.

»Die Tanesco hat Wachleute, die die ganze Nacht patrouillieren – und wir sehen zu, dass sie uns gewogen bleiben. Es passiert nichts.«

Ich schalte die Stereoanlage ein und lege eine LP auf – es klingt annehmbar, aber die Anlage ist nicht sonderlich laut. Für eine Disco ist sie nicht zu verwenden. Marcus hat ein paar kleine Lautsprecher, die er auf den Fußweg stellt, wenn der Laden geöffnet ist. Mit neuen LPs könnten wir das Kopiergeschäft wieder in Schwung bringen, wenn wir uns einen ordentlichen Kassettenrekorder besorgen. Vielleicht kann ich den von meinem Vater leihen.

Außerdem stehen noch ein paar Holzstative und Kisten mit Klamotten im Laden.

»Was ist das?«

»Claires Schwester Patricia verkauft ein paar Sachen und die Limonade«, erklärt Marcus.

»Und wo ist sie?«

»Sie lebt nach afrikanischer Zeit.« In diesem Moment kommt sie. Patricia ist hübsch, lächelt mich an, lacht. Marcus ignoriert sie, dann sagt er sehr schnell irgendetwas zu ihr, das ich nicht verstehe. Sie schleppt die Holzstative unter einen großen Baum, der am Bürgersteig steht, und hängt die Kleidung auf: lange Hosen, Polohemden, langärmelige Hemden, Socken, Boxershorts.

»Sind das gebrauchte Sachen?«, frage ich Marcus.

»Von europäischen Hilfsorganisationen. Claires Mutter kauft sie auf dem Markt in Kiborloni und flickt und wäscht sie. Dann verkaufen wir sie den Snobs aus der Innenstadt.«

»Eigentlich sollten sie doch umsonst verteilt werden, oder?«

»Nichts ist umsonst«, erwidert Marcus.

Wir essen bei einer Garküche, die in einer aufgelassenen Autowerkstatt hinter Tanesco untergebracht ist. Ein Hof ohne Belag und ein hohes Halbdach über einem Betonboden voller Ölflecken.

Wir setzen uns an einen leeren Tisch. Das Mädchen, das uns das Essen bringt, ist klein; sie hat ein etwas vierschrötiges Gesicht mit kräftigen Kinnladen, aber mit einer sehr feinen Nase, mandelförmigen Augen und einem Mund, dessen Lippen voll sind, ohne zu groß zu sein. Die Lippen zeichnen sich fantastisch scharf ab, und die Art und Weise, wie ihre hoch angesetzten Brüste unter dem T-Shirt strotzen und die kräftigen Hinterbacken unter einem langen, strammen Nylonrock mit Leopardenmuster wippen, erregt mich. Ich finde sie fantastisch, und sie schaut mich an. Wir bestellen und bekommen Fisch.

Das Mädchen kommt an unseren Tisch.

»Ist das Essen zufriedenstellend?«, erkundigt sie sich.

»Ja, sehr gut«, gebe ich zur Antwort. Sie lacht.

»Du sprichst Swahili?«

»Dieser mzungu war schon mal hier«, erklärt Marcus.

»Ich spreche ein bisschen«, füge ich hinzu.

»Das ist gut«, sagt das Mädchen. Marcus schaut sie an.

»Welcher Teil des Fischs ist der beste?«, will er wissen.

»Die sind alle gleich gut«, antwortet sie.

»Nein«, widerspricht Marcus. »Es muss einen Teil an dem Fisch geben, der besser schmeckt als die anderen.«

»Nein«, sagt sie. »Es ist doch alles derselbe Fisch.«

»Und was ist mit dir?«, fragt Marcus. »Gibt es nicht ein Stück an dir, das besser schmeckt als andere Teile?« Sie zögert einen Moment.

»Doch, schon.«

»Na, welches Stück denn?«, bohrt Marcus weiter. Sie richtet ihren Blick auf einen Punkt in der Ferne. Dann fährt sie mit der Hand locker über ihren Unterleib und lächelt.

»Dieses Stück hier«, sagt sie, und wir kichern, alle drei. Ich schaue sie an, wir lachen, sie dreht sich um und geht – es ist absolut fantastisch, wie langsam sie geht und wie ihr Hintern dabei schaukelt. Sie setzt sich, und kurz darauf schaut sie zu mir herüber. Sie schlägt den Blick nicht nieder, als ich ihr in die Augen sehe – schließlich bin ich es, der den Blick abwendet, aber es dauert nicht lange, bis ich wieder hinsehe. Wir essen auf.

»Komm her!«, ruft Marcus das Mädchen. Sie kommt. »Wie heißt du?«

»Rachel«, sagt sie. Ich bezahle das Essen und gebe ein ordentliches Trinkgeld.

»Stimmt so.«

»Danke.«

»Wie findest du meinen mzungu?«, will Marcus wissen.

»Ich weiß nicht«, erwidert Rachel.

»Doch, sag schon.« Sie schlägt die Augen nieder und lächelt. Dann hebt sie den Kopf.

»Ich kann ihn gut leiden«, erklärt sie und schaut mir in die Augen, bevor sie sich umdreht und den Tisch verlässt.

Ich lache.

»Das Mädchen ist hübsch«, sagt Marcus. Sie erinnert mich an Irene, nur toller. Und hübscher als Shakila. Die Art, wie sie geht, steht … und sich spreizt.

Ich trinke bei Marcus eine Tasse Africafé, während er sich fertig macht. Ein hübsches, pummeliges Baby hat Claire zur Welt gebracht. Wir gehen hinaus in die Nacht – in die Stadt, Diskotheken checken.

»Wir können uns am YMCA ein Taxi nehmen«, schlägt Marcus vor.

»Lass uns doch einfach zu Fuß gehen«, sage ich, denn wir haben viel Zeit, und ich mag es, nachts in Moshi herumzulaufen. Weil es so dunkel ist, obwohl man sich mitten in einer Stadt befindet; es gibt so gut wie keine Straßenbeleuchtung.

»Es ist nicht sonderlich sicher.«

»Wurden Leute überfallen?«

»Manchmal.«

»Das passiert überall auf der Welt. Ist es schlimmer als früher?«

»Ja«, behauptet Marcus. »In Majengo würden sie nachts sogar einen Mann vergewaltigen. Aber aus ’nem Arsch soll was herauskommen und nichts hineingesteckt werden.«

»Okay, aber wir wollen ja nicht nach Majengo.« Also gehen wir weiter. Es ist bei Marcus auch eine Frage der Haltung. Wir nehmen ein Taxi – ich bezahl’s ja. Und den Eintritt. Wir trinken ein Bier an der Bar – ich bezahle. Ich bin weiß, ergo habe ich Geld. Aber ich habe nicht besonders viel – allzu lange reicht es nicht mehr. Trotzdem sehen alle in mir eine wandelnde Brieftasche, die geöffnet oder zum Altar gezerrt werden muss. Als ich hier gewohnt habe, war ich ein großer Junge, ein Passagier meines Vaters: Alle wussten, dass ich selbst kein Geld hatte. Wir begegneten uns auf Augenhöhe. Hingen miteinander herum, weil wir Lust dazu hatten. Aber jetzt wollen alle beim weißen Mann mitfahren.

Der weiche pulvrige Staub auf der sonnenverbrannten Erde. Der Geruch nach getrockneten Pflanzen. Samtwarme Dunkelheit auf der Haut. Mir gefällt es.

»Hast du gehört, dass Rogarth von der TPC im Moshi Hotel ist?«, fragt Marcus.

»Rogarth? Nein. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Ich dachte, er sei im Ausland, um zu studieren.«

»Wenn die reichen Eltern zugrunde gehen, müssen die Kinder leiden.«

»Sind seine Eltern abgestürzt?«

»Ja.« Marcus erzählt, dass Rogarths Vater wegen Korruption eingesperrt wurde, kurz nachdem die TPC 1985 eine tansanische Leitung bekam – kurz nachdem ich aus der Schule geschmissen wurde.

Bereits von Weitem sehe ich Rogarths hagere Gestalt, er lehnt an der Mauer der Treppe, die zur Terrasse des Moshi Hotels führt. Er trägt schwarze geputzte Schuhe, eine dunkle Gabardinehose und ein eng sitzendes violettes Nylonhemd. Die Hände in den Hosentaschen, ein Bein eingeknickt, mit der Schuhsohle an der Mauer, macht er einen entspannten Eindruck. Als ich näher komme, sehe ich allerdings, dass seine Kleidung nicht ganz neu und das Haar ungepflegt ist – nicht so wie früher. Und das Entspannte seiner Haltung wird durch sein Gesicht ins Gegenteil verkehrt: Die Haut spannt sich über den Schädel, und auf seinem Gesicht zeigen sich harte, glänzende Flächen.

»Rogarth!«, rufe ich. Er wendet den Kopf. Bedenkt mich mit einem kühlen Blick, der in Verwunderung übergeht, dann leuchtet sein Gesicht auf.

»Christian!« Er stößt sich von der Mauer ab, breitet die Arme aus, lächelt breit, umarmt mich fest und klopft mir auf den Rücken. Aber ich sehe auch den gehetzten Ausdruck in seinem Gesicht.

»Wie läuft’s denn so?«, erkundige ich mich, als er nach meinen Fingern greift. Er hält sie, während wir reden – afrikanische Art.

»Alles okay«, antwortet er. »Und was machst du hier?«

»Ich bin runtergekommen, um meinen Vater zu besuchen. Und Marcus. Und jetzt dich.«

»Gut, gut. Wie lange?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Wir müssen uns mal sehen. Vielleicht morgen.« Sein Blick flackert über die Straße; ein Auto kommt und biegt in eine der Parkboxen vor dem Hotel.

»Klar. Aber was ist mit dir? Was treibst du zurzeit?«

»Wollt ihr da rein?«, fragt Rogarth und zeigt hinter sich aufs Moshi Hotel. Ich nicke. »Gut. Dann treffen wir uns später drinnen. Im Augenblick habe ich ein paar Dinge zu regeln.« Er lässt meine Hand los und geht auf den Mann aus dem Auto zu, Anfang vierzig, Anzug, gedrungen und dick. Geschäftsmann oder öffentlicher Angestellter, korrupt.

»Lass uns reingehen«, schlägt Marcus vor, während ich Rogarth sagen höre: »Shikamoo mzee. Kann ich Ihnen heute Abend irgendwie behilflich sein?«

Oben auf der Treppe bezahle ich für uns beide. Wir betreten die gut besuchte Terrasse. Die rechte Tür zur Tanzfläche und der Bar steht offen, Musik pulst heraus, der Sound ist ausgezeichnet. Nicht diese schnarrenden Lautsprecher, die man in kleineren Bars hört. Wir finden einen Tisch im Freien, eine Kellnerin nimmt unsere Bestellung entgegen und kommt kurz darauf mit Bier zurück. Rogarth erscheint mit dem dicken Mann auf der Treppe. Sie gehen zusammen hinein.

»Rogarth ist jetzt Laufbursche«, erklärt Marcus. »Der große Mann hat ihn für eine gewisse Zeit angeheuert. Der Mann darf sich nicht mit einer malaya sehen lassen, er ist ein respektabler Mann, gut verheiratet, seriös. Bwana mkubwa bezahlt dem Burschen den Eintritt und gibt ihm im Laufe des Abends ein paar Biere aus. Der Bursche hat auch die Aufgabe, hin und wieder hinauszugehen und das Auto des großen Mannes im Auge zu behalten. Der große Mann vertraut den Wachleuten der Disco nicht. Außerdem hat der Bursche dafür zu sorgen, dass die Kellner sofort angesprungen kommen, wenn der große Mann Durst hat. Und er schickt seinen Laufburschen zu ein paar Mädchen: ›Der bwana mkubwa dort drüben möchte euch gern ein Bier ausgeben.‹ Ist die Antwort ja, läuft die Sache. Vielleicht erzählt der Bursche den Mädchen, wer von ihnen den Appetit des bwana mkubwa geweckt hat, oder es gibt einen Wettbewerb unter den Mädchen. Aber vielleicht will der bwana mkubwa ja auch zwei malaya, wer weiß? Wenn sich bwana mkubwa entschieden hat, geht der Laufbursche zu der erwählten malaya und erklärt, bwana mkubwa müsse dann und dann aufbrechen. Ob das dem Mädchen passen würde? ›Das passt ausgezeichnet‹, sagt sie, wenn sie willig ist. Dann muss nur noch die Frage des Seifengelds geklärt werden.«

»Und dann verschwinden sie und pumpen«, sage ich, während ich beobachte, wie Rogarth mit einem der Mädchen redet, die mit ihrem Hintern wackelt.

Ich winke dem Mädchen hinter dem Tresen und bestelle drei Bier, eins für Rogarth. Marcus geht auf die Toilette. Bestimmt trinkt er einen Konyagi an der Bar, bevor er zurückkommt – auf eigene Rechnung. Hier am Tisch erwartet er, dass ich alles bezahle. Ich bemerke, wie die Mädchen mich beobachten. Ich vermeide den Augenkontakt, es ist unangenehm, auf diese Weise beobachtet zu werden.

»Christian«, sagt Rogarth. Er steht neben mir.

»Hej«, begrüße ich ihn und breite die Arme aus. »Setz dich. Ich habe dir ein Bier bestellt.« Ich hole meine dänische Zigarettenschachtel aus der Tasche und werfe sie vor ihn auf den Tisch. »Nimm dir eine Prince.«

»Oh, Prince«, sagt Rogarth. »Ich erinnere mich daran.« Er fischt eine Zigarette aus der Packung, schnüffelt daran, zündet sie an, nimmt einen tiefen Zug. »Nicht wie der DDT-Tabak aus Tansania«, sagt er.

Marcus steht auf und geht. Noch ein Konyagi, vermute ich. Rogarth sieht ihm nach.

»Tsk. Marcus ist ziemlich versoffen, seit du fort bist.«

Es tut gut, mit Rogarth zusammenzusitzen. Wir unterhalten uns über Fußball, Golf, alte Zeiten bei der TPC, über alles Mögliche. Wir reden über Tansanit-Steine, und ich erzähle von Dickson und erwähne, dass ich gern ins Minengebiet Zaire fahren würde. Rogarth warnt mich: Es ist gefährlich. Er versucht nicht die ganze Zeit, noch ein Bier zu schnorren oder den Weg zu meiner Brieftasche zu finden.

Katriina steckt ihren Kopf zur Dienstbotenwohnung herein. Es ist Vormittag. Ich bin noch nicht aufgestanden.

»Deine Freundin hat gestern Abend angerufen.«

»Wer?«

»Marianne. Wie viele hast du?«

»Ich weiß nicht, ob sie meine Freundin ist.«

»Ach ja? Auf mich hat sie allerdings einen etwas anderen Eindruck gemacht«, erklärt Katriina. »Sie landet in vierzehn Tagen.«

»Ach, du Scheiße!«

»Wieso sagst du das?«

»Ich habe sie ein halbes Jahr nicht gesehen, und jetzt will sie einfach hier auftauchen.« Ich setze mich im Bett auf.

»Sie versucht, sich irgendeine Arbeit bei der UNO zu suchen.«

»Ich werde sie wohl anrufen müssen.«

»Ja, das denke ich auch«, erwidert Katriina und geht. Kurz darauf fährt das Auto davon, und ich gehe ins Haus. Es ist niemand zu Hause außer Issa, der mir ein Frühstück serviert. Hinterher wähle ich Mariannes Nummer in England, aber sie ist bereits wieder in Dänemark. Ich nehme die Nummer ihrer Eltern in Hasseris, allerdings ist es unmöglich, eine Verbindung zu bekommen. Fuck. Verflucht, wieso habe ich ihr nicht einfach gesagt, dass ich sie hier nicht haben will? Dass sie wegbleiben soll.

Wegen der Hitze esse ich zu wenig, außerdem renne ich viel herum, um ein Gefühl für die Situation zu bekommen: Welche Bars haben eine Tanzfläche, in denen man eine Disco veranstalten könnte, und sind deren Besitzer daran interessiert? Werden die Einnahmen geteilt? Sind sie vertrauenswürdig? Ich hatte zwei Scheiben Toast mit Erdnussbutter zum Frühstück, außerdem natürlich Kaffee und eine Zigarette. In Swahilitown habe ich einen frisch gepressten Passionsfrucht- und Karottenjuice getrunken, im Shukran Hotel, das von ein paar Somaliern betrieben wird. Gutes Essen, billig – ein Ort zum Abhängen. Aber jetzt ist es halb zwei, und die Garküche schließt um zwei. Ich würde am liebsten bei der mama hinter dem Kaufmann essen, denn sie hat gute Chapati, leckeren Basmatireis mit geriebener Kokosnuss und eine gute Soße mit Rindfleischstücken. Meine Augen würden allerdings lieber in dem Laden hinter Tanesco essen, obwohl das Essen schlecht ist. Ich gehe dorthin. Entdecke Rogarth, der an einem Tisch sitzt, bleibe stehen und sehe mich um. Ja, Rachel ist da. Heute trägt sie eine schwarze Gabardinehose mit Nadelstreifen, ein schwarzes T-Shirt und Flip-flops. Sie sieht cool aus. Sexy.

»Na, wie geht’s, Schwester?«, frage ich, als sie mich sieht. Und sie lächelt, glücklich und verlegen zugleich. Ich bestelle, sie ist mit der Bedienung der anderen Gäste beschäftigt. Ich setze mich zu Rogarth, der beinahe aufgegessen hat. Rachel kommt mit meinem Essen. Abgesehen von Maisgrütze mit Bohnen, die ich nicht mag, gibt es nur noch Pilaf.

»Bitte sehr«, sagt sie.

»Danke.« Sie bleibt stehen und sieht mich an.

»Magst du ihn?«, erkundigt sich Rogarth.

»Vielleicht«, antwortet Rachel und geht. Rogarth grinst. Er hat ein paar Dinge zu erledigen und muss gehen, aber wir verabreden, uns später zu treffen. Ich würde gern mit ihm über die Disco-Branche sprechen, darüber, wo er die besten Möglichkeiten sieht. Ich esse. Nach dem Mittagessen wird die Garküche geschlossen, und auch Rachel bekommt nun einen Teller – mit dem, was noch übrig ist. Sie geht zu dem entferntesten Tisch, der im Garten unter einem Baum im Schatten steht. Sie setzt sich, um zu essen. Marcus hat mir erzählt, dass Rachel aus der Region Tanga an der Küste kommt; er hat es an ihrem Akzent gehört. Aus dieser Gegend kommen die höflichsten und fleißigsten Mädchen, sagt er. Sie bekommen die Kellnerinnen-Jobs in Moshi, obwohl es sehr viele arme Mädchen in Moshi gibt, denen es an Arbeit fehlt. Ich zünde mir eine Zigarette an, bezahle bei der mama und gehe zu Rachels Tisch. Sie sitzt schräg am Tisch, mit den Füßen auf einem anderen Stuhl. Sie isst weiter – ihr Essen besteht überwiegend aus Reis und Bohnen –, als ich meine Hand auf der Stuhllehne platziere und mich vorbeuge.

»Warum sitzt du hier, wenn ich dort drüben sitze?«

»Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Ich dachte nur, du wolltest allein sein.«

»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich setze?«

»Nein.«

»Das ist gut«, sage ich und setze mich. »Wo wohnst du?«

»Unten in Majengo.« Die elende Vorstadt, in der Rogarth auch wohnt.

»Mit deiner Familie?«

»Bei meiner Tante und ihrer Tochter.«

»Tanzt du?«, frage ich sie.

»Ja.«

»Das Liberty ist wieder geöffnet, gehst du am Wochenende hin?«

»Ist das da unten auf der anderen Seite des Kreisels?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht«, antwortet sie. Ich halte mich zurück.

»Ich weiß es auch noch nicht so genau. Möglicherweise habe ich in Arusha etwas zu erledigen, vielleicht komme ich erst Samstag ins Liberty.« Das ist richtig, aber es ist auch … sie wartet nur darauf, dass ich sie frage, wo sie wohnt und ob ich sie abholen kann. Dann würde sie okay sagen, und wir würden zusammen ins Liberty fahren. Und zusammen tanzen. Und dann … die Konsequenzen sind gewaltig, und Marianne … Marianne landet bald.

Meine Handflächen schwitzen, als ich morgens in der Mountain Lodge in der Nähe von Arusha anrufe – die Besitzerin und Betreiberin ist Micks Mutter. Eine Frau nimmt den Hörer ab und redet Englisch mit einem schwachen dänischen Akzent. Sie heißt Sofie.

»Are you Danish?«, frage ich sie.

»Nein, ich bin aus Grönland«, antwortet sie auf Dänisch.

»Okay. Hej. Ich heiße Christian und suche Mick – wir sind zusammen auf die ISM gegangen.« Sie teilt mir mit, Mick würde am Nachmittag zurückkommen. Ich gehe zur Arusha Road und warte auf einen Bus. Die Busse sind bereits voll, wenn sie die Busstation verlassen, unterwegs werden trotzdem noch mehr Menschen hineingestopft. Ich stehe den ganzen Weg, aber das ist allemal besser, als mit einer alten Massaifrau auf den Schenkeln zu sitzen und den Rest des Tages nach Kuhscheiße, Schnupftabak und geronnenem Blut zu riechen.

An der Abzweigung zur Mountain Lodge steige ich aus und gehe den Feldweg zwischen den hohen Bäumen hinauf. Es ist ein Luxushotel auf einer ehemaligen deutschen Kaffeefarm aus dem Jahr 1911. Ich höre den Fluss in der Nähe des Wegs. Ich laufe ein paar Kilometer durch Felder mit Kaffeebüschen, bis ich an den Forellenteichen der Lodge vorbeikomme und das zweistöckige Haupthaus erreiche.

»Christian?« Ich schaue nach oben. Auf dem Balkon steht eine dunkelhaarige junge Frau mit grönländischen Zügen.

»Sofie?«

»Ja, hej. Komm herein und setz dich. Mick ist noch nicht da.«

Wir setzen uns auf die Terrasse. Der Kellner serviert Juice und Kaffee.

»Oh, Prince!«, freut sie sich, als ich ihr eine Zigarette anbiete. »Hast du auch noch eine dänische Mettwurst in der Hosentasche?«, fragt sie und lächelt frech. Ich erröte.

»Nein, nicht wirklich.«

»Tja, ich bin mit Pierre verheiratet, Micks großem Bruder.« Sie erzählt mir, dass sie eine halbe Grönländerin ist. In den Siebzigern kam sie mit einem ehemaligen französischen Fremdenlegionär nach Afrika, dann hat Pierre ihr in Nairobi ein Kind gemacht.

»Und jetzt bin ich eine Kolonialistin, und das ist sehr viel besser, als kolonisiert zu sein.«

»Kolonisiert?«

»Ja, wie in Grönland.«

»Ach so, okay.«

Sofie führt mich herum. Das Haupthaus mit einem großen Ess- und Kaminzimmer für die Gäste. Die Wohnung der Familie liegt darüber. Eine Reihe weiß gekalkter Bungalows in dem großen üppigen Garten. Die Forellenteiche. Der Pferdestall. Die Garage mit den Fahrzeugen für die Safari-Gesellschaften. Sie steht fast leer, weil die meisten Autos gerade benutzt werden. Sie haben alles im Griff, und es funktioniert.

Kurz darauf kommt Mick. Er sieht nachdenklich aus, als er mich sieht.

»Lange her«, sagt er.

»Ja«, erwidere ich, ein wenig nervös.

»Du hast Samantha begraben.«

»Ja«, bringe ich heraus – ein Kloß sitzt mir im Hals, der brennend heiß, übel und trocken wird.

Wer weiß es sonst noch?

»Woher weißt du das?«

»Ihr Vater hat es mir erzählt, aber nicht sonderlich zusammenhängend. Er war voll. Was ist passiert?«

Es ist schwer. Ich erzähle es stockend. Ich weine.

»Sie hat den leichten Ausweg gewählt«, meint Mick.

»Ich glaube nicht, dass es leicht gewesen ist.«

»Nein, verdammt noch mal, aber sie hat das Leben nicht leichter gemacht, indem sie abgehauen ist.« Ich sage nichts. Er schüttelt den Kopf: »Viele von uns haben sie gemocht. Wenn sie jetzt hier wäre, bekäme sie von mir einen ordentlichen Tritt in den Arsch.«

Ich schlucke den Kloß hinunter.

»Ich wünschte, sie hätte mir davon erzählt … diese ganze Geschichte mit ihrem Vater«, sage ich.

»Hättest du ihr dann geholfen, und sie wäre nicht tot?« Mick sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Ich habe keine Antwort.

»Es ist unmöglich, Leuten zu helfen, die sich nicht helfen lassen wollen«, erklärt Mick. Ich zünde mir eine neue Zigarette an.

»Was ist mit Alison und Frans?«, frage ich, obwohl ich nicht auf diese Frage eine Antwort haben will.

»Nach Thailand gezogen«, sagt Mick. »Weg von … all dem.«

»Und Douglas?«

»Im Kongo verschwunden.«

»Victor?«

»Kongo.«

»Verschwunden?«, frage ich nach.

»Nein, am Leben.«

»Tsk.« Die Frage wurde gestellt, aber die Antwort ist nicht so, wie ich sie mir gewünscht habe.

Ich bringe ihn um.

»Tja. Lass uns ein Bier trinken«, sagt Mick und ruft den Kellner. Er fragt mich, was ich so treibe. Ich erzähle ihm von dem Kopiergeschäft, den Diskotheken, Marcus.

»Ja. Ich kann mich gut an ihn erinnern. Eine Menge guter Musik.« Mick hat die Arbeit, die er in Dar hatte, aufgegeben; jetzt arbeitet er für seine Mutter und organisiert Luxussafaris für reiche Amerikaner und Japaner.

»Aber ich komme mit Pierre nicht klar«, erzählt er. Sofie lacht. »Ich werde bald eine eigene Autowerkstatt in Arusha aufmachen und die Wagen für die Safaris warten.«

Ich erzähle ihm, dass ich ein Motorrad suche.

»Hast du Dollar?«

»Travellerschecks.« Mick steht auf.

»Komm mit«, sagt er. Wie sich herausstellt, hat er fünf spanische Bultaco-Maschinen. Ein paar von ihnen hat er um einige Reserveteile für die anderen Maschinen erleichtert.

»Wo hast du die her?«

»Ich habe sie bei Oxfam gekauft. Die hatten ein Projekt, bei dem sie im gesamten Gebiet des Kilimandscharo und Mount Meru herumgefahren sind und den Kleinbauern Ratschläge zum Kaffeeanbau gegeben haben. Aber dann ging der Weltmarkt in die Knie, und sie haben aufgegeben.« Er verkauft mir eine 250cc, die ausgezeichnet fährt.

»Kannst du dich an Savio erinnern?«, fragt Mick.

»Den Inder aus Goa?«

»Ja, genau. Er betreibt eine Tansanit-Mine in den Merelani Hills. Das solltest du dir mal ansehen, Mann.«

»Verkauft er Steine?«

»Man kann mit ihm reden«, erwidert Mick und gibt mir Savios Telefonnummer.

»Okay. Ich muss sehen, dass ich loskomme, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein will.«

»Ja. Ich würde dich ja einladen, bei uns zu übernachten, aber ich muss noch dringend etwas erledigen. Bis zum nächsten Mal, schau mal vorbei.«

Das Motorrad läuft fantastisch – große Kraftreserven, gute Straßenlage. Ich komme in der Dämmerung in Moshi an und stelle das Motorrad in die Dienstbotenwohnung; ich brauche eine ordentliche Kette, mit der ich auch das Vorderrad anschließen kann, bevor ich es in der Stadt benutze.

Marcus

UHURU NI KAZI

Ich gehe zum Haus von Katriina, um Christian abzuholen. Rebekka ist zu Hause, aber inzwischen ist einige Zeit vergangen, seit wir zusammen im Haus des Wahnsinns gelebt haben – anderthalb Jahre –, und allmählich vergisst sie ihren schwarzen Vater. In ihrem Herzen ist Marcus jetzt ein entfernter Bekannter, fast ein Fremder. Eeehhh, es ist traurig.

Christian hat in Arusha ein Bultaco-Motorrad von Mick gekauft. Ich erinnere mich an Mick, als er auf die ISM ging und bei mir Kassetten kaufte. Seine Haut ist weiß, aber dieser Mensch ist eine totale Verschmelzung, der alle Tricks kennt: sowohl die weißen Systeme wie die schwarze Wildnis. Mick gehört zur zweiten Generation der mzungu in Tansania.

Und Christian hat Geld für ein Motorrad – gut. Aber wie viel Geld hat er noch?

Meine Lebenskrise geht weiter. Rhema kommt mit meinem kleinen Sohn auf dem Arm aus Soweto direkt zu Roots Rock, sie hat Hunger: »Du hast jetzt einen weißen Kompagnon, der dich reich macht. Gib mir etwas.«

»Er macht mich nicht reich. Wir arbeiten lediglich bei einem kleinen Geschäft zusammen.«

»Ahhh, immer lügst du, um deinen Geiz zu vertuschen. Aber ich war nie geizig und habe dir immer einen warmen Nachtisch gegeben, wenn du zum West-Kilimandscharo gekommen bist«, sagt Rhema und streckt mir den kleinen Jungen entgegen. »Und jetzt willst du nicht mal deinen eigenen Sohn anerkennen, tsk.« Sie verlässt den Laden, sehr wütend, stolz und enttäuscht.

Am Abend gehe ich mit Christian in die Disco des Liberty.

»Alwyn ist wieder DJ. Kannst du dich aus der Schule noch an ihn erinnern?«, frage ich Christian.

»Hat der nicht deinem Freund Mika damals eine Menge bhangi verkauft?«

»Ja, das ist er.« Wir gehen durch die Blumenbeete am Arusha-Kreisel, in dessen Mitte ein kleiner Turm steht. An der Spitze des Turms ist die Skulptur eines Arms, der die Fackel der Freiheit hält – Uhuru Torch. An den Seiten des Turms stehen Slogans unserer einzigen Partei: »Freiheit und Arbeit« und »Unsere Politik heißt Landwirtschaft«. Aber die Landwirtschaftspolitik ist schwachsinnig. Sie besteht aus Menschen mit Hacken, die noch nie einen Traktor gesehen haben. Nennt man so etwas Freiheit?

Christian

»Du kannst jetzt schon hören, wie jämmerlich das klingt«, sagt Marcus, als wir durch den breiten Gang mit den Türen zu den Büroräumen gehen, die niemand mieten will. Die Lautsprecher im Liberty schnarren vor Überlastung; es klingt, als hätten sich die Pappmembranen losgeschlagen oder wären perforiert. Wir kommen zum Toiletteneingang, links liegt die Küche. Geht man weiter, gibt es noch eine Tür, dahinter befinden sich eine Reihe kleiner Räume zum Vögeln. Wir treten durch die Tür links in den Hinterhof und bleiben unter einem kleinen Streifen Himmel direkt an dem Holzgebäude stehen: Ein altes Lagerhaus, das den ganzen Hinterhof einnimmt, das ist das Liberty. An einer der Längsseiten befindet sich der Eingang. Ein länglicher Raum mit hoher Decke und Betonfußboden; an beiden Längsseiten ziehen sich vergitterte Öffnungen direkt unter der Decke entlang, damit Luft hineinkommen kann. An den Wänden stehen Tische und Eisenstühle. Links von der Eingangstür ist der Zugang zur Treppe, die zum DJ-Raum führt, der über der Bar in einem der Giebel untergebracht ist – mit einem zweimal ein Meter großen Glaskasten, der in den Raum ragt wie eine Kommandobrücke, damit der DJ sehen kann, wie der Sound auf die Menschen wirkt. Es sind eine Menge Leute da, aber Rachel entdecke ich nicht.

»Komm.« Marcus öffnet die Tür zur Treppe. »Aber kein Wort, dass du planst, in die Disco-Branche einzusteigen.« Wir steigen die Treppe hinauf zu Alwyn.

»Ah«, begrüßt mich Alwyn. »Du bist nach Tansania zurückgekehrt.«

»Ja. Dänemark ist mir zu kalt.«

»Oh ja, ich erinnere mich. Wie ein Kühlschrank. Dann warst du es, der Marcus die ganze gute Musik mitgebracht hat.«

»Ja, das war ich.«

»Und was willst du in Tansania machen?«, erkundigt sich Alwyn.

»Weiß noch nicht. Im Augenblick besuche ich die Familie.«

»Hast du Interesse an Steinen? Tansanit? Diamanten aus Shinyanga?«

»Nein, danke.« Wir gehen wieder runter.

»Ein kräftiger Verstärker, ein paar ordentliche Plattenspieler, einige gute Lautsprecher, und wir könnten den Laden übernehmen oder irgendwo in der Stadt eine bessere Disco aufziehen«, meint Marcus. Er hat recht. Die Ausstattung des Liberty liegt halb im Grab. Die Klientel ist arm, der Eintritt billig. Das Moshi Hotel war besser, teurer. Mit unserer Musik und meiner Anlage, die in Dänemark steht, könnten wir sie aus dem Rennen schlagen.

Ich kaufe uns Bier, und wir setzen uns an einen Tisch in der Nähe der Bar.

Ich muss pinkeln. Der Gestank des Pissoirs treibt mir fast die Tränen in die Augen. Ich spüle die Hände unter dem Wasserhahn, es gibt keine Seife. Als ich die Toilette verlasse, sehe ich Rachel aus der Damentoilette kommen.

»Du bist gekommen!«, ruft sie und umarmt mich. Ich lege die Arme um sie.

»Ja«, sage ich. »Hej.« Sie hält meine Hand und will wissen, ob Marcus auch da ist. »Ja. Wir sitzen gleich da vorn.« Sie blickt sich ein wenig nervös um.

»Ich sitze mit jemandem zusammen. Bis später.«

»Okay«, erwidere ich. Sie lässt meine Hand los und geht ins Lokal. Ich gehe ihr nach, bis zu einem Tisch, an dem ein gut gebauter Bursche in meinem Alter sitzt. Er trägt eine schicke Uhr, gute Klamotten, ausgezeichnete Schuhe – aber das sagt nichts aus über ihn. Er kann sich trotzdem mit anderen ein schäbiges Zimmer teilen und im Besitz von zwei Garnituren Kleidung sein: die Festtagskleidung, die er jetzt anhat und am Sonntag in der Kirche trägt, und die Alltagskleidung, mit der er zur Arbeit geht. Vielleicht ist er ihr Freund. Sie setzt sich auf ihren Stuhl. Ich beuge mich hinunter, damit ich gehört werden kann. »Guten Abend«, begrüße ich ihn und strecke meine Hand aus. Er schaut auf die Hand, dann auf mich.

»Ich weiß, was du willst«, sagt er. »Du willst meine Freundin ficken. So sind alle Weißen.« Ich lächele.

»Was?«, sage ich schmunzelnd. »Nein, das will ich nicht. Beruhig dich.«

»Führ dich nicht so auf«, sagt Rachel zu ihm. Er wird wütend. Er hat recht.

»Du bist vollkommen im Irrtum«, behaupte ich. Rachel macht ein verlegenes Gesicht. Ich zeige auf unseren Tisch. »Ich sitze gleich da drüben mit Marcus, wenn du ihm gern Guten Tag sagen möchtest.« Dann gehe ich.

Warum um alles in der Welt sitzt Rachel mit diesem Idioten zusammen? Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich sie heute abholen und mitnehmen würde. Es ist meine eigene Schuld, aber … ich kann doch nicht einfach … oh, scheiße. Und plötzlich kommt so ein kleines Luder. Rachel ist süß, sie arbeitet in einer Garküche. Sie könnte ebenso gut eine Hure sein, aber sie sitzt nicht in einer Bar, um große Männer zu fangen. Sie führt ein ehrliches Leben. Aber Marianne kommt bald. Mist.

Marcus

JUJU

Ibrahim kommt eines Abends vorbei und ringt seine Hände, als er auf dem Sofa sitzt.

»Großes Problem«, sagt er.

»Was ist los?« Ibrahim wirft Claire einen kurzen Blick zu, bevor er antwortet.

»Es geht um Rhema. Sie hat wirtschaftliche Probleme und schlägt einen schlechten Weg ein.«

»Was macht sie?«, will Claire wissen.

»Sie geht in Soweto in die Bars«, sagt Ibrahim.

»Was ist mit dem Jungen?«, frage ich.

»Der Junge wird bei seiner Großmutter gelassen, während Rhema fischen geht.«

»Tsk, wenn sie krank wird, muss mein Sohn bei dieser verrückten Großmutter leben«, sage ich.

»Nicht, wenn du vom Gericht Papiere hast, dass du der Vater bist«, sagt Ibrahim. Ich gehe nicht darauf ein, was diese Papiere kosten: Bevor mein Name auf dem Papier steht, werde ich Rhema jeden Monat, Jahr um Jahr, bezahlen müssen.

»Wirst du es tun?«, fragt mich Claire.

»Wir können es uns nicht leisten, so etwas zu tun.«

Claire sagt: »Das ist eine schlechte Situation. Wir müssen uns alle gegenseitig helfen. Ich werde morgen mit Rhema reden.«

Als Claire am nächsten Tag nach Hause kommt, ist sie außer sich.

»Rhemas Großmutter ist eine Hexe. Sie hat unser Kind mit einem juju belegt. Hier, sieh.« Sie streckt mir unsere kleine Rebekka hin. Sie sieht gut aus.

»Es ist alles in Ordnung«, sage ich. »Lass diese altmodischen Gedanken.«

»Rhemas Großmutter hat sie in die Küche mitgenommen, um ihr Milch zu geben. Und jetzt hat sie Bauchschmerzen.«

Das stimmt. Das Kind ist krank. Sie brüllt wie eine Stereoanlage und schläft zwei Tage nicht. Wir auch nicht. Das Baby schreit, kotzt, trocknet aus. Claire füttert sie mit einem Löffel mit Zuckerwasser; das Einzige, was das Kind bei sich behält. Ich bin ständig bei einem Arzt, der alles untersucht und versucht. Im KCMC wollen die Ärzte nicht einen Finger rühren, bevor die Hand nicht geschmiert ist. Das Geld rinnt mir aus den Taschen.

Abends kommt Christian mit dem Motorrad. Er könnte Katriinas Nissan Patrol fahren, aber er braucht das Motorrad, um sich zu amüsieren. Ich erzähle ihm von den Problemen mit dem Baby. »Armes Kind«, sagt er und schaut sich Rebekka an, die aussieht wie ein Bündel Stöckchen mit Haut und übel aus dem Mund riecht. Claire ist kreuzunglücklich.

»Das ist Rhemas juju«, sagt sie. Es ist wahr. Ibrahim erzählt mir, Rhema führe wahnsinnig aggressive Reden, weil Claire bei mir wohnt. Dadurch kann Rhema niemals hier wohnen. Das Spiel, mit meinem Samen dick zu werden, sollte die Fahrkarte sein, aus dem ärmlichen Leben mit ihrer verrückten Großmutter in Soweto auszubrechen, aber dieser Plan ging nach hinten los. Und nun hegen Rhema und Claire nur noch Hexengedanken gegeneinander. Claire geht in die Kirche, und dennoch finde ich auch Pulver vom Hexendoktor in den Ecken unseres Hauses. In Soweto heißt es, Rhemas Großmutter sei eine Hexe, die Rhema dazu bringt, diese Dinge zu tun. Das Kind ist ausgetrocknet und dürr, auch wir sind dünn vor Müdigkeit. Tod und Verderben. Überall riecht es nach Krankheit.

EUROPÄISCHE TRÄUME

Ich habe Christian gesagt, er soll mit den einheimischen Mädchen aufpassen, die keine Schulbildung oder eine ordentliche Familie haben. Sie sehen Christian alle nur als den fettesten Fisch. Aber er flirtet mit allen Mädchen im Laden – es sind nicht die richtigen.

»Du glaubst, du kannst in die Stadt gehen und findest eine Frau mit Gefühlen? Niemals. Diese Mädchen und Gefühle für dich? Gefühle für einen Tag, für einen halben Tag, für eine Minute? Nein. Es ist der Traum von Europa. Nur, damit du es verstehst, Rachel aus der Garküche hinter Tanesco zum Beispiel ist genau so ein Mädchen.« Die Wahrheit ist heraus, und der weiße Junge wird total sauer.

»Marcus, hör endlich auf! Das ist kein Traum von Europa. Ich lebe hier. Das weiß sie genau. Du glaubst, alle Mädchen außer Claire wären malaya; und sie ist so fromm, dass selbst du das Kotzen kriegen könntest! Und du sagst, Claires Schwester wird eine malaya auf der Straße, wenn sie keine Hilfe von euch bekommt. Aber gleichzeitig versucht Claire, mich mit ihr zu verkuppeln. Ihr spinnt doch.«

Christian

Ich habe eine Vereinbarung mit dem Shukran Hotel getroffen; jetzt habe ich meine erste kleine Disco in Swahilitown, auf der anderen Seite des Marktes. Zunächst kommen nicht viele Gäste, denn es kostet einen kleinen Eintritt – die Leute bleiben auf dem Fußweg stehen und hören zu. Bringt’s die Musik? Mir läuft der Schweiß den Rücken hinunter. Kommt schon rein, verflucht. Und dann passiert es. Alle erscheinen an der Tür, bezahlen, kommen herein, kaufen Getränke und reden mit dem DJ – mit mir. Was für Musik ich hätte? Alles. Auch Gregory Isaac? Na klar! Es funktioniert. Der Besitzer ist glücklich. Ich lerne einen Typ kennen, der Big Man Ibrahim heißt und total nett ist. Er ist vor einigen Jahren mit Marcus in die Schule gegangen und unterrichtet Karate im CCM-Gebäude. Ibrahim greift nach meiner Hand und hält sie vor mein Gesicht.

»Ich kann sie zu einer tödlichen Waffe machen«, behauptet er lachend.

Kilimanjaro International Airport, Sonntagmorgen und Kopfschmerzen. Ein seltsames Gefühl, dass Marianne kommt. Wir waren in der zweiten Hälfte des ersten Schuljahres auf dem Gymnasium in Hasseris zusammen – es scheint sehr lange her zu sein. Ich weiß nicht recht, was sie hier will. Was sie sich vorstellt. Ich stehe zusammen mit Katriina und Solja auf der Dachterrasse des Flughafens, wir sehen, wie die KLM-Maschine ausrollt. Marianne steigt aus. Irgendwie habe ich schon Lust auf sie, aber der Gedanke an eine Unterhaltung lässt mich sehr müde werden.